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Seit den 1990er Jahren gewinnt eine neue Wissenschaft des menschlichen Verhaltens ungeheuer an Dynamik: die kognitive Neurowissenschaft. Ihr Ziel ist die Erforschung des Gehirns, um geistige Pathologien wie Depressionen oder Schizophrenie zu behandeln, aber auch das Lernen oder die Kontrolle von Emotionen zu verbessern. In seinem faszinierenden Buch geht Alain Ehrenberg der Frage nach, ob diese Wissenschaft das »neue Barometer« unseres Verhaltens und Lebens geworden ist. Hat sie den Platz eingenommen, den früher die Psychoanalyse innehatte? Ersetzt der »neuronale« Mensch nun den »sozialen« Menschen?
Ehrenberg zeigt, dass die kognitive Neurowissenschaft und die mit ihr verbundene Verhaltensökonomie ihre wachsende Autorität nicht nur aus ihren wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern auch aus der Einschreibung in ein wichtiges soziales Ideal bezieht: das eines Individuums, das seine Unzulänglichkeiten durch Nutzung seines »verborgenen Potentials« in verwertbare Vermögen umzuwandeln vermag. Diese neue Wissenschaft vom Verhalten ist für Ehrenberg daher die Echokammer unserer zeitgenössischen Ideale der Autonomie.
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Seitenzahl: 596
3Alain Ehrenberg
Die Mechanik der Leidenschaften
Gehirn, Verhalten, Gesellschaft
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Suhrkamp
Für Corinne, noch einmal
11»Eine neue Individualität zu erzeugen, die in Einklang steht mit den objektiven Bedingungen, unter denen wir leben, ist das grundlegende Problem unserer Zeit.«
John Dewey, Individualism. Old and New, 19301
»Es gibt keinen Abstand zwischen dem Sozialen und dem Biologischen.«
Marcel Mauss, »Die Techniken des Körpers«, 19362
»Indem wir das Rätsel dieser außergewöhnlichen Menschen lösen […], können wir auch mehr über uns selbst lernen, die ›Herausforderung unserer Fähigkeiten‹ erforschen und das verborgene Potential enthüllen – den kleinen Rain Man –, das vielleicht in uns allen liegt.«
Darold A. Teffert, »The Savant Syndrome: An Extraordinary Condition«, 20093
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Motto
Inhalt
Einleitung Die neue Wissenschaft des menschlichen Verhaltens
Von der Psychoanalyse zur Neurowissenschaft, von einer modernen Stimmungslage zur nächsten
Die kognitive Neurowissenschaft als moralische Autorität: Welche Ideale der Moderne? Welcher Individualismus?
Das Programm
Kapitel 1 Exemplarische Gehirne Von den Leiden des praktischen Subjekts zum Heroismus des verborgenen Potentials
Die Leiden des praktischen Subjekts
Die Persönlichkeitsstörungen aus Sicht des praktischen Subjekts
Emotion, Kognition, Verhalten: das goldene Dreieck der kognitiven Neurowissenschaft
Die Gehirne des verborgenen Potentials oder die Demokratisierung des Außergewöhnlichen
Vom Typus zum Individuum
Wollen, ohne zu können, Schlüssel zur Individualisierung des neurologischen Patienten
Vom Defizit zum Trumpf: das Tourette-Syndrom als Beispiel des neuen Individualismus
Das autistische Gehirn als zivilisatorischer Wert
Der Autismus – gestern und heute
Das verborgene Potential, spezifische soziale Form des Eintritts in die Moderne
Kapitel 2 Wissenschaftliche Methode und individualistisches Ideal Die Umwandlung der Affekte von der schottischen Aufklärung bis zum neuen Individualismus
Die Mechanik der Affektumwandlung: das gewöhnliche Individuum als aktiver Werteschöpfer
Die Dichotomie von Natürlichem und Künstlichem überwinden
Tugend oder Charakter, Zentralkonflikt beim Eintritt in die Moderne
Das Werte schöpfende Individuum oder die Sozialisierung der Selbsterweiterung
Aufkommen der Polarität von Altruismus und Egoismus und das moralische Moment des Charakters
Vom Social Engineering zur Selbstverwirklichung (1900-1970): die drei Zeitalter des Verhaltens
Der Behaviorismus: den Individualismus in der Massengesellschaft durch Außensteuerung des Menschen neu begründen
Das Ich der sozialen Verhaltenswissenschaften
Wer entschlossen ist, entscheidet frei: die Einführung von Subjektivität und Aktivität
Die »kognitive Revolution« oder der Wissenschaftler als Modell gewöhnlicher Intelligenz
Der neue Individualismus der wissenschaftlichen Psychologie: Jeder soll sein eigener Psychologe werden
Ein Individualismus der Befähigung
Kapitel 3 Das Gehirn als Individuum, eine Physiologie der Autonomie
Eine »Rückkehr« des Subjekts im biologischen Gewand?
Individualisierung: vom reagierenden zum agierenden Gehirn
Von der Neurologie zur Neuropsychologie
Diskonnektionssyndrome: ein anatomisch vollständiges Gehirn
Parallelentladung: ein Gehirn, das physiologisch eine Handlung auslöst
Synaptische Übertragung und neuronale Plastizität: Ist das Gehirn (wie) ein Individuum?
Die Entindividualisierung des Gehirns im Matrixraum der Neurowissenschaft
Vom anatomischen Gehirn zum digitalisierten Raum: die Gehirntätigkeit des Geistes
Das neuroanatomische »Wo«, aber wie steht es um das neurophysiologische »Wie«?
Die Auflösung des individuellen Gehirns in den Big Data: auf dem Weg zu einer Pathologie der Gehirnschaltkreise?
Das Gehirn als Individuum
Kapitel 4 Die soziale Neurowissenschaft oder Wie das Individuum mit anderen agiert
Die Notwendigkeit des Sozialen
Die Neufassung des Charakters im Konzept der »Sozialkompetenz«
Die drei Bedeutungen des »Sozialen« in der Neurowissenschaft
Empathie: emotionaler Bereich und kognitiver Bereich
Das neurobiologische Fundament der Beziehungen: eine neurale Resonanz
Die Verhaltensökonomie, eine kognitive Psychopathologie des Alltagslebens
Die Bedingungen der Regelmäßigkeit: Fairness, um die Unwägbarkeiten des Vertrauens zu beherrschen
Kognitive Verzerrung und die Politik der kleinen Anstöße: ein Mechanismus, um »das Verhalten zu ändern, ohne den Geist zu verändern«
Kapitel 5 Die Autonomieübungen: individualistische Rituale zur Wiederherstellung des eigenen moralischen Wesens?
Soziale Kognition, Achse der Individualisierung von Schizophrenen
Die soziale Kognition wiederherstellen oder Wie man das Individuum zum Urheber seiner eigenen Veränderung macht
Recovery in neurokognitiver Version
Affective Computing und Partnermaschine
Auf dem Weg zum digitalen Coach
Das
World Wide Brain,
Utopie eines Austeilens der Psychologie an alle
Das Biologische, das Psychologische und das Soziale: auf die neuronalen Schaltkreise einwirken oder eine akzeptable Lebensform finden?
Biologie: was das Labor dem Krankenbett bringt
Psychologie: die indirekten Gesamtwirkungen der Übungen des praktischen Subjekts
Soziologie: individualistische Rituale zur Wiederherstellung des eigenen moralischen Wesens
Die Grenzen der starken neurobiologischen Erklärung: ein sprachliches Versäumnis?
Kapitel 6 Sind meine Ideen krank oder ist es mein Gehirn? Neurowissenschaft und Selbsterkenntnis
Der moralische Perfektionismus, eine Philosophie der persönlichen Veränderung
Ursachen und Gründe: die Dilemmata der einen und die Harmonie des anderen
Das zweideutige Zittern der Schriftstellerin Siri Hustvedt
Der fehlende Teil des Musikers Allen Shawn
Der Käfig des Gehirns: woher wissen, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein?
Von der wahnhaften Gewissheit zum Diskonnektionssyndrom
Eine Erkennungstragödie im Identifikationswahn
Die Lösung: zwei große Strategien zur Wiederherstellung unseres moralischen Wesens unterscheiden
Schluss Der Ort des Gehirns. Vom neuronalen Menschen zum totalen Menschen
Die Individualismuserzählung: eine Echokammmer unserer Befähigungsideale
Alltäglicher Umgang und praktisches Wissen: die Reform des neuronalen durch den totalen Menschen
Bibliographie
Danksagung
Fußnoten
Informationen zum Buch
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In den hoch entwickelten demokratischen Gesellschaften hat die medizinische und soziale Bedeutung des Gehirns seit Beginn der 1990er Jahre um ein Vielfaches zugenommen. Nach Meinung von Neurowissenschaftlern soll die Hirnforschung über kurz oder lang beträchtliche Fortschritte nicht nur bei der Behandlung psychischer Erkrankungen (wie Depression oder Schizophrenie), sondern auch beim Umgang mit gesellschaftlichen Problemen ermöglichen, was effizientere Anwendungen im Bereich politischer Strategien, pädagogischer Praktiken oder Methoden der Konsumenten- und Wählerbeeinflussung (Neuroökonomie, Neuropädagogik, Neuromarketing, Neurorecht usw.) erhoffen lässt. Denn die Neurowissenschaft ist zur sozialen Neurowissenschaft geworden und die Entwicklung auf diesem Gebiet ist so stürmisch, dass Nature Neuroscience kürzlich von »einer Forschungsexplosion«4 sprach. Biologen haben nachgewiesen, dass das Gehirn ein offenes, sich ständig wandelndes System ist, dessen Funktion in Antizipation5 oder Rekognition (Wiedererkennen)6 besteht, ein Handlungssimulator, ein Hypothesenschöpfer, dessen Grundeigenschaft die Entscheidung ist. Sagt man mittlerweile nicht, das Gehirn erkenne, ent14scheide und handle? Eine neue Wissenschaft des menschlichen Verhaltens, des normalen wie des pathologischen, ist auf dem Wege der Entstehung: die kognitive Neurowissenschaft. Sie vereint Hirnforschung mit Behaviorismus, Experimental- und Kognitionspsychologie, die heute unter dem Label »Verhaltenswissenschaft« zusammengefasst werden.
Die kognitive Neurowissenschaft gibt gleichermaßen Anlass zu Erwartungen wie zu Befürchtungen, die weit über den Rahmen einer Diskussion unter Spezialisten hinausgeht. In einem globalen Kontext, in dem psychisches Leid und geistige Gesundheit ein zentrales Anliegen sind, ob im Betrieb und bei der Arbeit oder in Erziehung und Familie, können die theoretischen und praktischen Probleme, die sich aus diesen Disziplinen und ihrem Einsatz ergeben, die öffentliche Meinung nicht unberührt lassen. Immerhin geht es dabei um so entscheidende Fragen wie unser individuelles und kollektives Wohlbefinden, die Behandlungsformen von Psychosen, die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen und unterrichten, mit einer Vielzahl von auffälligen Verhaltensweisen und kriminellen Handlungen umgehen, demokratische Gefühle, wie Empathie, oder gegenseitiges Vertrauen fördern …
In ihren ambitioniertesten Zielen präsentieren sich diese Disziplinen als eine »Biologie des Geistes«, die ein möglichst vollständiges Wissen über den Menschen als denkendes, fühlendes und handelndes Wesen erstrebt, ausgehend von einer Erforschung seines Gehirns (und der Verästelungen des Nervensystems im übrigen Körper). Eine solche These setzt voraus, dass man die Neurowissenschaft als Anthropologie betrachtet, das heißt als eine Auffassung oder gewisse Vorstellung vom Menschen. Gleichzeitig werden die klassischen Unterscheidungen zwischen psychischen und neurologischen Erkrankungen innerhalb der Allgemeinkategorie der Hirnstörungen durch sie neu gefasst. Wir haben hier vorliegen, was man das starke Programm der kognitiven Neurowissenschaft nennen könnte.
Nicht die gesamte Forschung auf diesem Gebiet betrifft die 15Pathologie, doch ist sie aus zwei Gründen unterschiedlicher Natur deren sensibelster Bereich. Zunächst, weil sie das Terrain darstellt, auf dem der Dualismus von Gehirn und Geist, vermittelt durch die beiden Spezialgebiete der Neurologie und der Psychiatrie, konkret in Frage gestellt werden kann. Zum anderen, weil es dort nicht nur um die Fragen psychischen Leids geht, sondern um die des Wohlbefindens oder der Verbesserung jener individuellen Leistungen, hinsichtlich deren die öffentliche Meinung die höchsten Erwartungen hat.
Gegenstand dieses Buches ist die Beschreibung dieser Anthropologie, mit besonderem Augenmerk auf deren Kernproblem, die Beziehungen zwischen Gehirn und Verhalten. Ausgangspunkt ist die These, dass das Gehirn in viel engerer Beziehung zum Rest des Körpers steht als zur Außenwelt, und folglich das Verhalten, was Gedanken, Gefühle und Handlungen einschließt, vorrangig durch zerebrale Mechanismen bedingt wird. Das Wort »Verhalten« ist hier sehr weit gefasst, es schließt insbesondere alles ein, was man mit »Geist« bezeichnen könnte – weswegen ich vorziehe, von der Hirn-Verhaltens-Problematik zu sprechen.
Die Psychoanalyse repräsentierte für die Psychopathologie und die Kultur der westlichen Welt im 20. Jahrhundert, wie der Dichter Auden in Bezug auf Freud schrieb, »ein ganzes Meinungsklima, in dem wir unsere verschiedenen Leben gestalten«.7 Die Neuro16wissenschaft scheint auf dem besten Wege, zum Barometer der Lebensgestaltung im 21. Jahrhundert zu werden.
Die folgende Arbeit beabsichtigt, diesen Klimawandel zu erforschen.
In Das Unbehagen in der Gesellschaft (2011) habe ich beschrieben, wie französische und amerikanische Psychoanalytiker, auf je eigene Weise, das allmähliche Vordringen der Autonomie – dessen, was ich Autonomie als Zustand nenne – in die Kollektivvorstellungen des gesellschaftlichen Menschen begleiteten, indem sie weniger Gewicht auf die ödipalen Problematiken legten, bei denen Schuld und Konflikt im Vordergrund stehen, und mehr und mehr auf narzisstische Aspekte, bei denen eher Scham und Spaltung das Bild beherrschen. Diese Veränderungen der Psychopathologie haben einen Dauerstreit hinsichtlich der Vorzüge und Nachteile des neuen Individualismus, eines Individualismus des fähigen Menschen, in Bezug auf die Gesellschaftsbildung ausgelöst. Der Narzissmus symbolisierte das neue Unbehagen in der Kultur der Gesellschaften, die in die Phase der Autonomie als Zustand eingetreten sind, er lieferte ihnen eine Gestalt, in der die demokratische Sorge über die Auflösung des Sozialen dargestellt werden konnte. Mit der Neurowissenschaft gilt es, sich einer Reihe von Disziplinen zuzuwenden, die offenkundig stärker mit diesen modernen Lebensgewohnheiten in Einklang stehen. Sie werden unter dem Gesichtspunkt einer Naturwissenschaft des autonomen Verhaltens thematisiert, wobei das Problem darin besteht, das »Natürliche« an ihnen zu verdeutlichen bzw. das entsprechende Autonomieprojekt genauer zu formulieren.
Anhand der psychoanalytischen Modelle der Autonomie als 17Zustand habe ich den kanonischen Gegensatz von Individuum und Gesellschaft in Frage gestellt, indem ich aufzeigte, dass man es nicht mit einem Niedergang des Gesellschaftsgedankens, bedingt durch einen entfesselten Individualismus, zu tun hat, sondern mit einer Veränderung unserer Handlungsweisen, die sich in der Gestalt des fähigen Individuums ausdrückt. Die Mechanik der Leidenschaften befasst sich, in Fortführung dieses Ansatzes, mit der biologischen, kognitiven, verhaltenswissenschaftlichen Version dieser Autonomievorstellung, und zwar vermittelt über einen weiteren kanonischen Gegensatz: dem zwischen Biologischem und Sozialem oder zwischen Natur und Kultur. Was beide Bücher verbindet, ist die These, dass diese beiden Gegensätze eng zusammenhängen und zu den gleichen geistigen Zirkelschlüssen führen. Doch zugleich betonen sie den unterschiedlichen Tenor dieser beiden Wissenschaften vom Menschen: Während die Psychoanalyse den Menschen an seine Grenzen erinnert, lädt die Neurowissenschaft ihn dazu ein, sie zu überwinden.
Der Anspruch der kognitiven Neurowissenschaft, eine Vielzahl von Problemen des täglichen Lebens zu klären und zu behandeln, wirft eine Reihe von Fragen auf: Verändert sie wirklich unsere Vorstellungen und unser Verständnis des menschlichen Wesens? Sind die Menschen im Begriff, sich anhand zerebraler oder kognitiver Sprachspiele, nach dem Motto: »Das ist mein Gehirn, das bin nicht ich«, zu erkennen oder zu bestimmen, und was bedeutet das für ihr Leben? Werden wir die neurowissenschaftlichen Begriffe genauso verwenden, wie wir es uns mit den Freud'schen Begriffen angewöhnt haben? Sind die »kognitiven Verzerrungen« drauf und dran, an die Stelle der Fehlleistungen zu treten, und ersetzt das Emotionsmanagement die Erforschung von Triebkonflikten? Stehen neue kognitive oder Verhaltenstherapien, neue Medikamente oder neue biologische Techniken, die selektiv auf diese oder jene Hirnregion einwirken, kurz vor ihrer Entwicklung? In welchem Maße und in welchen Zusammenhängen wird das Gehirn zu einem existentiellen Bezugspunkt, zu einem Identifikations18kriterium für Individuen, die sich in ihrem (gesunden oder kranken) Hirn erkennen?
Um solche Fragen zu beantworten, muss man über die doppelte, erkenntnistheoretische wie politische Debatte hinausgelangen, in der die Neurowissenschaft feststeckt. Die erkenntnistheoretische Debatte wird über das Thema von »Descartes' Irrtum«, um den Titel des berühmten Buches von Antonio Damasio aufzugreifen, an die Neurowissenschaft herangetragen. Damasio stellt dem vermeintlichen Leib-Seele-Dualismus bei Descartes einen materialistischen Monismus entgegen, eine unteilbare Einheit des Seins, die im Gehirn ihren Sitz hätte. Er erhält übrigens Unterstützung von soziologischen oder philosophischen Strömungen, die sich auf den methodologischen Individualismus berufen, demzufolge man kollektives Verhalten nur ausgehend vom Individuum begreift, und die hoffen, das vermeintlich Unzulängliche unserer Disziplinen durch Rückgriff auf die Resultate jener Wissenschaften und ihrer experimentellen Methoden kompensieren zu können.8 Die politische Debatte wird im Wesentlichen durch die kritischen Strömungen innerhalb der Sozialwissenschaften und der Philosophie befördert, die sich auf das Denken von Michel Foucault oder Pierre Bourdieu beziehen: Sie richten sich gegen den Reduktionismus der Neurowissenschaft als Ausdruck einer Biomacht, die ihrerseits im Dienst des herrschenden Neoliberalismus stünde. Ihre Kernfrage lautet: Ist diese Wissenschaft emanzipatorisch oder ein neues Werkzeug sozialer Kontrolle? Diese Strömungen sprechen sich für die Entstehung einer »Biosozialität«9 aus, sie meinen, »die Neurobiologie [sei] unverkennbar auf dem Weg der Neubestimmung einiger der Arten, individuelle und kollektive Probleme verständlich zu 19machen«,10 sodass folglich »die vordringlichste Aufgabe wäre, die Kluft zwischen Sozialem und Neuralem zu überwinden«.11
Die folgende Analyse unterläuft derartige Auseinandersetzungen: Sie versucht, die unbemerkten Verbindungen zwischen wissenschaftlichen Konzepten und gesellschaftlichen Idealen herauszustellen, denn weder die Kluft zwischen Neuralem und Sozialem noch die Umgestaltung unserer Regierungsformen durch die Neurowissenschaft entspricht dem, was in unseren Gesellschaften in Bezug auf die kognitive Neurowissenschaft gerade vor sich geht.
Denn die Sichtweisen in der Neurowissenschaft werden zwar durch die Begriffe und Methoden der Naturwissenschaften, insbesondere der Experimentalwissenschaften, geprägt, sind aber auch von moralischen Werten, gängigen Gesellschaftskonzepten und gemeinsamen Ideen beeinflusst – kurzum, von dem, was die Soziologie Kollektivvorstellungen nennt. Darin liegt der heuristische Wert der Neurowissenschaft für eine Soziologie des zeitgenössischen Individualismus. Ihr Erfolg verrät uns etwas über uns selbst als menschliche Gemeinschaft. Aber was? Und wie? Die Antwort auf diese Fragen verlangt danach, sie als einen Raum zu betrachten, wo bestimmte Ideale der Moderne mobilisiert werden. Welche?
Der Erfolg der kognitiven Neurowissenschaft beruht darauf, dass sie eine moralische Autorität erworben hat. Das heißt nicht, dass neurobiologische Konzepte und empirische Beweise irrelevant oder bloße Rationalisierungen wären, vielmehr geht es darum, zu zeigen, auf wie vielfältige Weise spezielle Wissenschaftskonzepte und Kollektivvorstellungen des Menschen in der Gesellschaft oder in Idealen miteinander verknüpft sind. Die Notwendigkeit hierzu macht sich umso deutlicher bemerkbar, als diese biologischen und psychologischen Wissenschaften sich unmittelbar mit menschlichen Angelegenheiten befassen – mit Verhalten, Psychologie, Geist; aber auch Krankheit, Wohlbefinden und Unbehagen. Deshalb mache ich mir Émile Durkheims Schlussfolgerung aus der »Zusammenfassung« der Elementaren Formen des religiösen Lebens zu eigen: »Es genügt für die Begriffe noch lange nicht, selbst wenn sie nach allen Regeln der Wissenschaft gebildet sind, wenn sie ihre Autorität allein aus ihrem objektiven Wert beziehen. Es genügt nicht, daß sie wahr sind, um auch geglaubt zu werden. Wenn sie nicht mit den anderen Überzeugungen und anderen Meinungen harmonieren, mit einem Wort, mit der Gesamtheit der kollektiven Vorstellungen, so werden sie abgelehnt. Die Geister bleiben ihnen gegenüber verschlossen. Es ist folglich, als ob sie nicht existierten.«12 Diese Vorstellungen sind nicht deshalb wirksam, weil sie uns von außen aufgenötigt wären, sondern weil es gemeinsame sind und sie deshalb zugleich ein von jedem Einzelnen unabhängiges Niveau der Verständlichkeit und ein System von Erwartungen bilden, die den Einzelnen prägen, indem sie ihn restlos in Beschlag nehmen, bis hinein in seine Physiologie. Ich spreche unterschiedslos von Kollektivvorstellungen, Idealen oder Wertideen. Ziel dieser Methode ist zu ver21stehen, wie wissenschaftliche oder medizinische Innovation, die Arten des Diskutierens über diese Themen und die Lebensstile sich verschränken in einem sozialen und moralischen Kontext, in dem von jedem erwartet wird, dass er für sich selbst entscheidet und handelt, unter hinreichender Beherrschung seiner Gefühle, kurzum, dass er sich als autonomes Individuum verhält.
Welcher Art ist diese Autorität? Auf welche kollektive Sensibilität verweist sie? Welche Ideale, welche Kollektivvorstellungen des gesellschaftlichen Menschen mobilisieren Neurowissenschaft und kognitive Verhaltenswissenschaft? Welche Geschichte des zeitgenössischen Individualismus und seiner Spannungen erzählen sie? Aber auch, welche Version der Naturalismen ist im Einsatz?
Für Fachleute, die sich auf die Neurowissenschaft berufen, ist die Erklärung von Verhaltensweisen und der zu ihrer eventuellen Änderung vorzunehmenden Maßnahmen vorzugsweise im Gehirn zu finden und nicht in den zwischenmenschlichen Beziehungen, doch sind es gerade diese Letzteren, auf die das Wissen über die Struktur und Funktionsweise des Gehirnapparats abzielt. Die Neurowissenschaft konstruiert vorsätzlich ein von seinen Beziehungen abgeschnittenes Individuum, weil es ihr zufolge die beste Methode sei, um die Mechanismen seines Verhaltens wissenschaftlich zu erfassen. Die zerebrale Perspektive ist keine relationale, sondern eine substantialistische. Der Anthropologe Louis Dumont hat sie folgendermaßen definiert: Sie sei »die Tendenz, ein einziges Agens oder Element als selbstgenügsame Einheit zu setzen – unter Ausschluss oder impliziter Vernachlässigung anderer Agentien oder Elemente –, wobei diese selbstgenügsame Einheit den Inhalt oder Wesenskern des Bereichs als ganzen darstellt«.13
Der Soziologe kann demnach eine erkenntnistheoretische Diskussion anregen, indem er beschreibt, welche Argumente vorgetragen, welche Ideen formuliert, welche Werkzeuge eingesetzt wer22den, um Beziehungen zwischen Hirnfunktionen und Verhalten herzustellen. In diesem Fall betrachtet er die Dinge nach den Kriterien von wahr und falsch. Doch insofern es nicht genügt, dass eine wissenschaftliche Aussage wahr ist, um geglaubt zu werden, besteht der hier gewählte Ansatz weniger darin, die kognitive Neurowissenschaft vorrangig anhand dieser Kriterien zu bewerten, als zunächst die vorhandene kollektive Sensibilität und die mit ihr verbundenen Ideale hervorzuheben, indem man versucht, die allgemeine Kohärenz ihrer Aussagen aufzuzeigen. Es ist unerlässlich, sich den Überzeugungen zuzuwenden, ohne sich zu fragen, ob sie wahr oder falsch sind. Es geht mehr darum, eine Welt zu beschreiben, als ein »Macht-Wissen« zu bewerten und folglich zu arbeiten wie Ethnologen, die versuchen, die gemeinsamen Ideen und die Kultur einer Gesellschaft zu rekonstruieren, indem man sich auf die durch wissenschaftliche Artikel, akademische Mitteilungen, Werke für die breite Öffentlichkeit usw. vermittelten Ideen und Werte bezieht, die direkter Ausdruck der Akteure sind.14
Gleichwohl geht es nicht darum, die erkenntnistheoretische Frage nach wahr oder falsch einfach fallenzulassen, denn das hieße, sich mit einer kleinmütigen Soziologie zu begnügen, sondern sie bei der Beschreibung von Gebräuchen und Praktiken, die sich auf die Neurowissenschaft in den allgemeinen Zusammenhängen des sozialen Lebens beziehen, wieder aufzugreifen. Das soll Thema der Kapitel V und VI sein, die auf ein Verständnis dessen abzielen, wie diese Ideen wirken und aufgrund welcher Bedingungen sie sich in den Lebensalltag einfügen, indem sie mit der gesamten Existenz verschmelzen. Anhand der Beziehungen von Gehirn und Verhalten als Leitgedanken werden wir also zugleich versuchen, diese Wissenschaft als moralische Autorität zu beschreiben, die auf einem 23Aspekt der individualistischen Moderne beruht, und ein Verständnis davon zu erlangen, wie weit eine Erkenntnis des Menschen reichen kann, die vom alleinigen Wissen um sein Gehirn und seinen Organismus ausgeht. Es wird dann möglich sein, genauer zu bestimmen, in welchem Sinne Marcel Mauss' Formulierung zu verstehen ist, dass es »keinen Abstand zwischen dem Sozialen und dem Biologischen gibt«.
Die Mitglieder der neurowissenschaftlichen Gemeinde benutzen zwei große rituelle Formeln, zwei regelmäßig wiederholte Quasi-Mantras, um den Gedanken auszudrücken, dass das Gehirn der Schlüssel zur Entdeckung grundlegender Wahrheiten sei, und zwar nicht nur hinsichtlich geistiger oder neurologischer Erkrankungen, sondern in Bezug auf alles, was die sozialen und moralischen Beziehungen der Menschen untereinander betrifft. Die erste lautet, das Gehirn sei »der komplexeste Gegenstand im Universum«, was zum einen bedeutet, dass es selbst nur als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen ist, dem es untergeordnet wäre, und zum anderen, dass es den höchsten Wert besitzt. Die zweite betrifft die zeitliche Dimension des Forschungsprogramms: »Wir stehen erst am Anfang« – »am Anfang« der Forschungen und ihrer möglichen diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Anwendungen, »am Anfang« der Entdeckung menschlicher Fähigkeiten, deren wir uns vielleicht noch nicht einmal bewusst sind.
Aber, könnte man mir entgegenhalten, wie schaffen Sie es, Ideale hinter Worten wie Mechanismen, Ursachen, Faktoren, Variablen, Prognose, Kontrolle, quantitative Methoden usw. auszumachen? Wie soll man in diesem Vokabular etwas anderes erkennen als eine praktische, technische und folglich reduktionistische Auffassung des gesellschaftlichen Menschen?
Meine Antwort lautet, dass man sich die Einstellung Baudelaires, des Malers der Moderne, zum gewöhnlichen Leben zu eigen machen muss: »Der Maler, der wahre Maler, wird derjenige sein, der dem gegenwärtigen Leben seine epische Seite abzugewinnen versteht, der uns, mit Farbe oder Zeichnung, sehen und begreifen 24läßt, wie groß wir sind und wie poetisch in unsern Halsbinden und Lackstiefeln.«15 Nur, dass an die Stelle von Halsbinden, schwarzen Fräcken und Lackstiefeln Synapsen, Skalen, Tests, neuronale Netze, Hirnareale, Versuchsanordnungen, Computerprogramme usw. treten. Es wird darum gehen, dieser Masse wissenschaftlich-technischer Worte eine gewisse Größe zu verleihen, indem man moralische und gesellschaftliche Aspekte des menschlichen Lebens hervorhebt, die durch unsere Polemiken verdeckt werden. Es gilt, einen wenig erkannten Aspekt der Moderne ans Licht zu bringen: Welcher wäre das?
Zwei typische Merkmale neurowissenschaftlicher Publikationen gestatten es, eine allgemeine Hypothese hinsichtlich der impliziten Ideale der Hirn- und Verhaltensforschung aufzustellen.
Das Erste ist, dass man in ihnen wenig nach dem Sinn des Lebens fragt, sondern stattdessen viel Zeit auf die Lösung von Problemen verwendet, die mit praktischen Aspekten des privaten und gesellschaftlichen Lebens zusammenhängen. Das Individuum, ob schizophren, depressiv, hyperaktiv oder in bester psychischer Verfassung, wird systematisch als praktisches Subjekt vorgeführt, das vor Problemen steht, die es zu lösen hat, das eine Wahl treffen oder Entscheidungen fällen muss, indem es Mittel und Zwecke in Einklang bringt. Die Sprache der kognitiven Neurowissenschaft ist eine handlungsorienierte. Der zweite Aspekt bezieht sich auf das Adjektiv »wissenschaftlich« und die Vorstellung von Natur. Menschliches Verhalten wissenschaftlich zu untersuchen, heißt, davon auszugehen, dass es Teil der natürlichen Welt ist. Ob die Akteure die Worte »Verhalten«, »Kognition« oder »Gehirn« benutzen, der Bezug zum Aufbau einer Naturwissenschaft des menschlichen Verhaltens ist stets vorhanden. Doch die Frage der menschlichen Natur beschränkt sich nicht auf das Problem des jeweiligen Anteils von Natur (oder Biologischem) und Kultur (oder Sozialem). Sie be25trifft ebenso sehr, im Zuge der Newton'schen Revolution, die Regelmäßigkeit der beobachteten Phänomene und damit ihre Vorhersehbarkeit. Die empiristische Philosophie, die David Hume in exemplarischer Weise ausgearbeitet hat, erweitert diese Forderung auf die menschlichen Affekte, die es durch Umwandlungsmechanismen zu regulieren gelte.
Betrachtet man den Empirismus nicht als Philosophie, sondern als Ausdruck einer kollektiven Sensibilität, so lässt sich dadurch gerade ein Aspekt erkennen, der im Hinblick auf die Ideale der Selbstreflexion, die das moderne Individuum charakterisieren, wenig wahrgenommen wurde:
Es handelt sich um einen Lebensstil, für den die Sozialisierung durch Mechanismen und Automatismen eine grundlegende Wertidee ist, und der die Antwort auf Probleme darstellt, die vorzugsweise in der britischen Gesellschaft auftauchten. Die Naturwissenschaft des menschlichen Verhaltens kann somit als ein Ensemble von Kollektivvorstellungen angesehen werden, die in einer wissenschaftlichen Sprache formuliert und durch diese veredelt sind.
Meine Generalthese lautet, dass bei dieser Umwandlung der Affekte eine grundlegende Figur des demokratischen Individualismus in Erscheinung tritt, nämlich die des gewöhnlichen Individuums als tätiger Mensch, der, als Schöpfer von Werten, seinen eigenen Wert durch Arbeit und Tausch erhöht – das ist der Beitrag der Schotten zum modernen Individualismus. Anhand der Ideale der Regelmäßigkeit beginnt sich eine Geschichte unserer Vorstellungen des Charakters, aus Sicht des praktischen Subjekts, abzuzeichnen. Diese Ideen haben sich vorzugsweise in den angloamerikanischen Gesellschaften entwickelt, wo sie Mitte des 20. Jahrhunderts durch die amerikanische Sozial- und Verhaltensforschung (Rational-Choice-Theorien, kognitive Verhaltenspsychologie usw.) modifiziert wurden, die ihnen Wahl und Entscheidung, im Hinblick auf Verhaltensprognose und -kontrolle, hinzufügten. Dieses Erbe wurde seinerseits ab den 1960er-1970er Jahren durch neue Kollektivvorstellungen verändert, die das Selbsteigentum zum 26zentralen Wert erhoben bzw. eine starke Dynamik normativer Vielfalt und Vermehrung von Lebensstilen beförderten, innerhalb deren individuelle Initiative, Innovation und Kreativität in einem bis dahin unbekannten Maße aufgewertet wurden. Diese Erweiterung unserer Freiheitsideale ist untrennbar mit neuen egalitären Dynamiken verbunden, deren wichtigste die Geschlechtergleichheit ist (die Frau als Individuum). Im wirtschaftlichen Bereich entstanden, erweiterte sich die Wertschöpfung seit dieser Zeit auf die Lebensstile und brachte dabei eine weitere Tradition von Idealen, die der modernen Kunst und Ästhetik, ins Spiel. Die Moderne (von der Boheme-Existenz des 19. Jahrhunderts bis zu den Kunstavantgarden des 20. Jahrhunderts) hat, aufbauend auf den Gedanken, dass es keine Grenze zwischen Kunst und Leben mehr gibt, den Künstler zum Protagonisten einer Lebensweise erhoben, die sich auf persönliche Erfahrung und nicht auf gesellschaftliche Konventionen gründet.16 Diese längst zur Normalität gewordenen Kollektivvorstellungen eröffnen jedermann den Zugang zur Individualität. In welcher Form präsentieren sie sich?
Eines der mächtigsten Ideale dieser Gesellschaft der verallgemeinerten Autonomie ist das fähige Individuum, das ungeachtet seiner Behinderungen, Abweichungen oder Krankheiten in der Lage ist, sich zu entfalten, indem es seine Handicaps in Trümpfe verwandelt, mittels einer Schöpfung, die seinen Wert als Person erhöht. Nennen wir es das Ideal des verborgenen Potentials. Am Schnittpunkt der beiden großen individualistischen Gestalten der Wertschöpfung (dem Schöpfer von Reichtümern und dem Schöpfer von Lebensstilen) begründet es ein neues Handlungsideal, das darin besteht, in Verbindung der traditionellen Tugenden des Mutes mit den neueren der Kreativität ein unbeherrschbares Leid zu sozialisieren, es in eine Lebensform, einen zivilisatorischen Wert zu verwandeln. Dieses Ideal ist die spezifische gesellschaftliche Form, 27mittels derer Populationen, die als krank, behindert oder verhaltensauffällig diagnostiziert und bisher in Institutionen behandelt wurden, die der Soziologe Erving Goffman als »totale Institutionen«17 bezeichnete, zu Individuen geworden sind, die nicht trotz des Übels, an dem sie leiden, sondern gerade wegen ihm in der Lage sind, Erfüllung zu finden.
Die kognitive Neurowissenschaft ergänzt dieses Ideal (bedingt durch die Legitimität, die die Wissenschaften genießen, weil sie Beweise für ihre Aussagen liefern) um das Versprechen einer grenzenlosen Entwicklung menschlicher Fähigkeiten auf Grundlage endloser normativer Vielfalt – bezeugt durch das Gehirn des Autisten, wie wir im ersten Kapitel sehen werden. Das ist der Erwartungshorizont, den sie aufspannt und von dem sie einen Gutteil ihrer Autorität bezieht.
Fassen wir die These zusammen: Ausgehend von der Hirn-Verhaltens-Problematik als Leitidee werden Neurowissenschaft und kognitive Verhaltensforschung hier als eine der großen Erzählungen des zeitgenössischen Individualismus begriffen, die eine handlungsorientierte, auf die praktischen Aspekte des gesellschaftlichen und privaten Lebens fokussierte Anthropologie entfaltet und eine der geläufigsten und damit meist geschätzten Kollektivvorstellungen der Autonomiegesellschaft, die des verborgenen Potentials, in wissenschaftlichen Sprachspielen veredelt.
Wir werden den Raum erforschen, in dem die vielen Fäden der Begegnung zwischen gemeinsamen Idealen und wissenschaftlichen Begriffen gesponnen werden. Die Vorgehensweise ist ethnologisch 28inspiriert in dem Sinne, dass ich mich der Informationen aus der biologischen und psychologischen Literatur bediene, um die Ideen der untersuchten Protagonisten zu rekonstruieren und ihre Denksysteme sowie die Gründe, die sie dazu veranlassen, so zu denken, wie sie es tun, richtig zu verstehen. Mein Ziel ist zu beschreiben, wie Psychologen und Biologen (aber auch Ökonomen, die im Laufe der 1980er Jahre die Bühne betraten) den Dingen Wert zusprechen, unabhängig von einer kritischen Analyse des Wahrheitsgehalts ihrer Aussagen, und wie diese mit wirkmächtigen Vorannahmen zusammenhängen, die von den Individuen unserer Gesellschaften geteilt werden und kollektive Erwartungen bilden.
Erforschen ist das passende Wort, denn dieses Buch beansprucht vor allem, neue Wege zu erschließen, indem eine These und ein Ansatz getestet werden, die dann durch empirische Forschungsarbeiten präzisiert und verbessert werden müssen.
Diese Erforschung erfolgt in sechs Kapiteln.
»Exemplarische Gehirne« (Kapitel 1) zeichnet das Porträt zweier Gehirntypen, die insofern typisch für die Neurowissenschaft sind, als sie in exemplarischer Weise die Beziehungen zwischen Gehirnfunktion und Verhalten charakterisieren: Der erste steht für einen klassischen Individualismus in seiner pathologischen Version (dem der Leiden des praktischen Subjekts), der zweite verkörpert den neuen Individualismus des »verborgenen Potentials«.
Kapitel 2 und 3 greifen die anhand dieser exemplarischen Gehirne herausgestellten Merkmale wieder auf, um ihre historische Tiefe zu rekonstruieren. Sie sollen ermöglichen, zwei Arten von Naturalismus zu unterscheiden: einen Naturalismus der Regelmäßigkeit und einen Naturalismus der Grundlagen. Die Spannung, Widersprüchlichkeit oder Komplementarität dieser beiden Naturalismen ist der rote Faden dieser Geschichte. »Wissenschaftliche Methode und individualistisches Ideal« (Kapitel 2) beschreibt die Ideale der Regelmäßigkeit, die sich über das Adjektiv »kognitiv« konkretisieren. Diese Geschichte, die im Wesentlichen eine ameri29kanische oder angloamerikanische ist,18 wird unter dem Gesichtspunkt einer Geschichte des Charakterwandels thematisiert.
»Das Gehirn als Individuum« (Kapitel 3) bezieht sich auf das Substantiv »Neurowissenschaft«. Es verschiebt den Analyseschwerpunkt von der wissenschaftlichen Psychologie auf die Biowissenschaft. Es zeigt, wie dieses zum Individuum gewordene Gehirn von Ende der 1940er Jahre bis heute Gestalt angenommen hat.
»Die soziale Neurowissenschaft oder wie das Individuum mit anderen agiert« (Kapitel 4) beschäftigt sich, wie der Titel schon sagt, mit dem Sozialen, und zwar in seiner neurowissenschaftlichen Lesart. Die Neurowissenschaft leugnet das Soziale keineswegs, aber sie reduziert es auf kooperative, sogenannte prosoziale Verhaltensweisen, deren zerebrale Mechanismen sie aufzudecken versucht. Sie hat damit teil an der Neufassung des Charakterbegriffs durch den der Sozialkompetenz oder des savoir-être.
Um welcher Anwendungen willen? Welcher Einsätze im sozialen Leben? Welcher Praxisformen? Es haben sich zwei große Handlungsmechanismen herauskristallisiert, der eine besteht darin, auf möglichst mechanische Weise kooperative Verhaltensweisen zu erzeugen, der andere darin, Gewohnheiten zu vermitteln durch Praktiken, die als Übungen konzipiert sind. Der erste steht im Zentrum der Verhaltensökonomie und Neuroökonomie. Er wird dieses Kapitel beschließen. Der zweite Handlungsmechanismus (»Die Autonomieübungen«), der Gegenstand von Kapitel 5 ist, widmet sich 30den neurokognitiven Versionen der Autonomieübungen, die sich seit Beginn der 1980er Jahre, unter der Bezeichnung »Rehabilitation« und »Recovery«, entwickelt haben. Diese Praktiken zielen nicht darauf ab, die Symptome zu beseitigen, sondern sie so zu verändern, dass das Individuum mit ihnen leben kann. Durch Kombination des (gesellschaftlichen) Ideals des verborgenen Potentials (es gibt immer intrinsische Selbstheilungskräfte19) mit dem (wissenschaftlichen) Faktum der neuronalen Plastizität befördern sie den vielleicht verlockendsten Gedanken der Autonomie als Zustand, den der unbegrenzten, bis zur Metamorphose reichenden Fähigkeit des Individuums zur Selbstveränderung.
»Sind meine Ideen krank oder ist es mein Gehirn? Neurowissenschaft und Selbsterkenntnis« (Kapitel 6) stützt sich auf drei Fallstudien (zwei neurokognitive Erzählungen und einen Roman), um herauszufinden, im welchem Maße, und vor allem wie, die Individuen sich über zerebrale oder kognitive Sprachspiele erkennen oder identifizieren20 und auf welche Weise sich Letztere in den Gesamtkontext eines Lebens einfügen.
Diese beiden letzten Kapitel entwerfen, ihrem Gegenstand (therapeutische Praktiken, Fallstudien) entsprechend, eine Beschreibung dessen, wie die kognitive Neurowissenschaft sich in unser Leben integriert und es prägt. Das beinhaltet, parallel dazu, ein Nachdenken über die beiden großen Strategien, in individualistischen Massengesellschaften sein moralisches Wesen zurückzugewinnen, die Psychoanalyse und kognitive Neurowissenschaft je31weils verkörpern. Dort, wo man nur einen scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz zwischen beiden Disziplinen sieht, wird man erkennen, dass in Wirklichkeit eine gewisse soziologische Komplementarität besteht.
»Das Rätsel ist, wie sie [die Hirnregionen] zusammenarbeiten, wie sie aufeinander abgestimmt sind, das Selbst, die Identität eines Menschen hervorzubringen.«
Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars, 1995.21
Um die These eines vollständigen Wissens vom Menschen auf Grundlage der Kenntnis seines Gehirns aufstellen zu können, braucht es pathologischer Profile, anhand deren die Trennung zwischen Neuropathologie und Psychopathologie konkret in Frage gestellt werden kann. Es braucht Patienten, deren Gehirne diese These stützen – wie Dora, die Hysterikerin, und Ernst Lanzer, den Rattenmann, im Fall der Psychoanalyse –, die den Ehrgeiz der kognitiven Neurowissenschaft verkörpern können, deren Gehirne ihnen ebenso viele affektive und kognitive Streiche spielen wie das Freud'sche Unbewusste, das Triebkonflikte verschleierte und die Ambivalenzen menschlicher Intentionalität offenbarte.
Gehirne sind dann exemplarisch für das starke Programm der kognitiven Neurowissenschaft, wenn sie ermöglichen, die Trennung zwischen Neurologie und Psychiatrie in Frage zu stellen und damit deren zentrales Anliegen voranzutreiben: Fenster zu öff34nen, um fehlende Bindeglieder zwischen Gehirn und Verhalten zu suchen. Es sind Gehirne, die eine Geschichte haben, bei der, gemäß dem hier gewählten Ansatz, Kollektivvorstellungen und wissenschaftliche Begriffe untrennbar verbunden sind.
Der traditionelle neurologische Patient ist offenkundig wenig geeignet, um dafür als Kandidat in Frage zu kommen. Paralysien, Aphasien, Tremor, derartige Symptome lassen eher an ein geschwächtes Individuum denken, an eine beeinträchtigte, defizitäre Person: Es fehlt ihm etwas. Er kann folglich nicht die Verschränkung von Wissen um das Gehirn und Erkenntnis des Menschen verkörpern. Beim defizitären Patienten resultiert die Krankheit aus einer Störung der Gehirntätigkeit in Folge einer Läsion: Sie beschädigt die motorische oder kognitive Leistungsfähigkeit und ist auf infrapersonaler Ebene angesiedelt – weswegen die Neurologie von fokalen Symptomen spricht. Der psychiatrische Patient hingegen ist als Individuum betroffen, sein Leid ist auf der Persönlichkeitsebene selbst angesiedelt – seine Symptome sind global. Das ist das zentrale Problem, das gelöst werden muss, um die Lücke zwischen Neuropathologie und Psychopathologie zu schließen.
Lösungswege sind in Erkrankungen dessen zu finden, was die Neurologen als höhere Hirnfunktionen bezeichnen, bei denen Wille oder Wahrnehmung ins Spiel kommen und die somit als Grenzstörungen zwischen Neurologie und Psychiatrie auftreten können.
Dieses Kapitel gliedert sich in zwei Teile. Der erste befasst sich mit jenem Gehirn, das »Descartes' Irrtum« verkörpert, das heißt jener Art von Patienten, der für die kognitive Neurowissenschaft konkrete Probleme hinsichtlich der Kausalbeziehungen zwischen Hirnfunktion und psychischer Störung aufwarf und auf den sich Hypothesen gründeten, die langfristig ermöglichen, die vollständigste Kenntnis des Menschen auf Grundlage seines Gehirns zu gewinnen. Dieser Teil beschreibt einen neurologischen Patienten, der einem psychiatrischen Patienten insofern ähnelt, als er eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufweist und kein Defizit mo35torischer Fähigkeiten oder geistiger Funktionen. Sein Leid führt zum Verlust seines ethischen Bewusstseins, das selbst von den Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens nicht zu trennen ist, durch das man ihn als für seine Taten verantwortliches Wesen wahrnehmen kann, ein Wesen, dem man glauben kann, ein vertrauenswürdiges Individuum. Und er hat nicht einmal den Vorteil, daraus in seinen täglichen Interaktionen persönlichen Nutzen zu ziehen, deshalb ist sein Verhalten pathologisch: Dieses Gehirn verkörpert die Leiden eines praktischen Subjekts. Antonio Damasio wird hierbei unser sachkundiger Informant sein.
Der zweite Teil beleuchtet zunächst einen anderen Aspekt der Suche nach dem fehlenden Bindeglied: die Individualisierung des neurologischen Patienten. Damit bezeichne ich solche Arten von Gehirnerkrankungen, anhand deren die Kliniker aufgezeigt haben, dass die Persönlichkeit des Patienten und seine Geschichte die Äußerung neurologischer Symptome beeinflussen. Die Physiologie oder vielmehr die Physiopathologie ist personalisiert. Und aus dieser Personalisierung ergibt sich ein Element, das die für die Bedürfnisse ihrer Patienten empfänglichen Kliniker bereits in den 1920er Jahren bemerkten: Die Erkrankungen sind nicht einfach defizitär (eine Läsion beschädigt eine Funktion), denn der Patient verfügt über Trümpfe, auf die der Kliniker sich stützen kann. Der Forscher, der nach Verbindungen zwischen Gehirn und Geist sucht, kann sich dementsprechend um ein Verständnis darum bemühen, wie die individuelle Besonderheit auf die Physiopathologie einwirkt.
Anschließend werden wir von der Individualisierung des Patienten zum neuen, im Laufe der 1960er-1970er Jahre entstandenen Individualismus übergehen: Die Ideale der Persönlichkeitsentfaltung erfassten neue Bevölkerungsgruppen – Kranke, Behinderte, Verhaltensauffällige, Invalide –, Gruppen, die negative Erfahrungen gemacht hatten, deren Schicksal häufig genug darin bestand, in einer Anstalt eingesperrt zu sein. Entfaltung hieß für sie, diese Negativität umzukehren, indem man sie in einen wertvollen, gesell36schaftlich akzeptierten Lebensstil verwandelte: Sich nicht nur allen individuellen Gebrechen zum Trotz, sondern vielleicht mehr noch dank ihnen zu entfalten, durch die Entdeckung des eigenen verborgenen Potentials, wurde zu einem der stärksten Ideale der autonomen Existenz. Der psychiatrische und der neurologische Patient begannen, sich als Individuen zu emanzipieren, das heißt, dass ihr Status sich in Richtung eines moralischen und sozialen Partners verschob, der befähigt ist, seine Autonomie durch eine Kompetenz unter Beweis zu stellen. Diesen Rollenwandel des Individuums, diese mit dem neuen moralischen und gesellschaftlichen Kontext untrennbar verbundene Veränderung gilt es zu beschreiben. Das Gehirn des verborgenen Potentials wird durch den Autismus veranschaulicht. Seit den 1980er Jahren besetzt er eine strategische Position am Schnittpunkt neurowissenschaftlicher Ideale, für die er ein Musterbeispiel der Hirn-Verhaltens-Problematik und der Ideale des neuen Individualismus darstellt. Das Gehirn ist dabei Träger einer singulären Lebensform (ein einzelnes Gehirn als unmittelbarer Ausdruck eines einzelnen Individuums) in einer Welt, die Vielfalt, innovativen Verhaltensweisen und Kreativität einen immer höheren Wert beimisst. Oliver Sacks, der große Chronist des verborgenen Potentials, wird dabei unser zweiter Gewährsmann.
Auf dem Weg von der Pathologie des praktischen Subjekts zur Entdeckung des verborgenen Potentials werden wir das »Paradox des kleinen Rain Man« erforschen.
Die Urszene, die das erste große Patientenmodell der kognitiven Neurowissenschaft in Erscheinung treten lässt, dasjenige eines Patienten, der eine enge Verbindung zwischen einem Gehirn und einem Verhalten aufweist, spielt sich nicht im Wien der 1890er Jahre ab. Ihr Schauplatz befindet sich vielmehr in den Vereinigten Staa37ten, im Vermont des Jahres 1848. Die Szene wurde anderthalb Jahrhunderte später von Antonio Damasio im ersten Kapitel des Buches, das ihn berühmt machte, ausführlich beschrieben.
Phineas Gage ist Vorarbeiter beim Eisenbahnbau. Er ist ein bemerkenswerter Arbeiter, dessen physische Eigenschaften und dessen Sinn für Verantwortung und Organisation von seinen Vorgesetzten gelobt werden. Bei einer Felssprengung durchschlägt eine Eisenstange sein Gehirn. Wie durch ein Wunder überlebt er und erholt sich innerhalb weniger Wochen. Doch während das, was man heute seine kognitiven Fähigkeiten nennen würde, intakt geblieben ist, sorgt sein Persönlichkeitswandel für Aufsehen: »Seine ganze Veranlagung, seine Vorlieben und Abneigungen, seine Träume und Hoffnungen – alles wird sich verändern. Gages Körper mag lebendig und wohlauf sein, aber er wird von einem neuen Geist belebt.«22 Er wird grob, labil, haltlos, das genaue Gegenteil von dem, was er vor dem Unfall war. Der ihn behandelnde Arzt notierte, das »Gleichgewicht zwischen seinen geistigen Fähigkeiten und seinen animalischen Neigungen«23 sei gestört. Er hatte verloren, was die Neurowissenschaftler heute den Sinn für soziale Kognition nennen würden: Er war nicht mehr vertrauenswürdig.
Gage wird in einer Vielzahl neurowissenschaftlicher Bücher und Artikel, akademischen wie populärwissenschaftlichen, zitiert und nahezu durchgängig in denen, die sich mit dem sozialen Gehirn beschäftigen.24 Warum Gage? Weil er der erste Fall ist, bei dem sich der neurowissenschaftliche Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten verdichtet: die Persönlichkeit, das Selbst, das Ich schei38nen ganz offenkundig von ihrer materiellen Basis, dem Gehirn, abhängig zu sein. Er hat keine Ähnlichkeit mit den üblichen neurologischen Patienten, die an motorischen Beeinträchtigungen leiden (wie bei der Halbseitenlähmung) oder eine geistige Funktionsstörung aufweisen (wie bei einer Aphasie). Eigentlich macht er nicht den Eindruck, eine Gehirnkrankheit, sondern eher eine sonderbare Mentalität, einen unsteten Charakter, eine labile Persönlichkeit zu haben. Er ist wie der psychopathologische Patient, denn sein Verhalten stellt ungewollt moralische und soziale Normen in Frage. Er bildet einen Grenzfall, einen Grenzfall zwischen Neurologie und Psychiatrie.
Aus folgendem Grund hält sich Damasio für berechtigt, »diese traurige Geschichte« zu erzählen: »Während andere Fälle neurologischer Schädigung, die sich etwa zur gleichen Zeit ereigneten, deutlich machten, daß das Gehirn für Sprache, Wahrnehmung und motorische Funktionen verantwortlich ist […], ließ Gages Geschichte einen erstaunlichen Umstand erkennen: Offenbar gibt es Systeme im menschlichen Gehirn, die mehr mit dem Denken, vor allem mit seinen persönlichen und sozialen Dimensionen, befaßt sind als mit anderen Tätigkeiten. Wie dieser Fall zeigt, können infolge einer Hirnschädigung soziale Konventionen und moralische Regeln ihre Verbindlichkeit verlieren, ohne daß allem Anschein nach grundlegende geistige und sprachliche Fertigkeiten beeinträchtigt sind. Gages Beispiel zeigte, daß Teile des Gehirns für spezifisch menschliche Eigenschaften zuständig sind, unter anderem für die Fähigkeit, die Zukunft vorwegzunehmen und sie in einem komplexen sozialen Umfeld angemessen zu planen, für das Verantwortungsgefühl sich selbst und anderen gegenüber und für das Vermögen, das eigene Überleben nach Maßgabe des freien Willens zu organisieren.«25 Alles das waren Eigenschaften des alten Gage gewesen, eines Mannes, der sich aufgrund seiner persönlichen Qualitäten im sozialen Aufstieg befand. Sein Verhalten war irrational 39geworden, er war nicht mehr in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen,26 also solche, die ihm zum Vorteil gereicht hätten. Doch vernünftige Entscheidungen zu treffen, ist gerade ein Zeichen dafür, dass die persönlichen und sozialen Fähigkeiten intakt sind. Das Kriterium seiner Krankheit, insofern sie ein moralisches und soziales Verhalten betraf, war, dass er systematisch zu seinem Nachteil handelte. Jedenfalls ist es das einzige Kriterium, das Damasio anführt, und es ermöglicht offenkundig, ein pathologisches Verhalten von einem amoralischen zu unterscheiden, bei dem das Subjekt zu seinem Vorteil handelt. Gage hatte den Sinn für das verloren, was man heute soziale Kognition nennt, er funktionierte nicht mehr in Gesellschaft. Er war kein rationaler Akteur mehr. Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Normativität in das Denken des Klinikers ist unerlässlich. Das hat sich nachdrücklich bestätigt.
Doch die Behauptung, das Gehirn sei betroffen, genügt nicht. Denn die (anatomische) Frage lautet: Wo im Gehirn? »Doch um Gages Verhaltensveränderung zu verstehen«, so Damasio weiter, »hätte man sich zu der Auffassung durchringen müssen, daß normales Sozialverhalten auf eine bestimmte Gehirnregion angewiesen ist, und an ein solches Konzept mochte man weit weniger glauben als an eine entsprechende Lokalisierung der Bewegung, der Sinneswahrnehmungen oder auch der Sprache.«27 Man mochte nicht daran glauben, weil das Sozialverhalten, damals zumindest, noch nicht Sache der Neurologie war. Die betroffene Region war der präfrontale Kortex. Hannah Damasio hat Gages Schädel (der in der Harvard Medical School aufbewahrt wird) mit den bildgebenden Verfahren der modernen Neuroanatomie noch einmal untersucht. Die Untersuchung bestätigte, dass nicht die für Motorik und Sprache zuständigen Regionen betroffen waren, sondern ein Teil der präfrontalen Region, der ventromediale Bereich des Kor40tex, wo sich die Frontallappen befinden.28 Sie nehmen fast die Hälfte des menschlichen Gehirns ein, sind also ausgedehnter als bei den Primaten, während sie bei allen anderen Säugetieren fehlen. Gage erscheint als paradigmatischer Fall der sozialen Neurowissenschaft. »In neueren Forschungsarbeiten haben wir nachgewiesen«, so wiederum Damasio, dass diese Region »eine wichtige Rolle in normalen Entscheidungsprozessen spielt«.29 Der Frontallappen, das menschliche Spezifikum im Vergleich zu anderen Säugetieren, ist der Dreh- und Angelpunkt der »exekutiven Funktionen«, das heißt der vielfältigen Bedingungen des individuellen Handelns, insbesondere der Vorwegnahme seiner Folgen. Seine Rolle innerhalb der Sozialisierung ist also eine ganz und gar entscheidende. Die krankhafte Zerstörung der normalen Charakterzüge produziert keine Symptome des schuldigen Menschen, der unbewusst in Konflikten zwischen erlaubt und verboten befangen ist, sondern solche eines praktischen Subjekts in dem Sinne, dass sein Gehirn, weil es krank ist, auf irrationale Weise Mittel mit Zwecken vereint und systematisch das Ziel verfehlt, indem es gegen die eigenen Interessen handelt. Es problematisiert unser Verständnis von Selbstregulierung.
Hier haben wir also einige schöne Fälle an der Grenze von Neurologie und Psychiatrie vorliegen. Das Symptom ist von hinreichender Subtilität, weil es zum Beispiel nicht mit den offenkundigen Artikulationsproblemen des Aphasikers einhergeht, aber gleichwohl ein verheerendes Zerstörungspotential aufweist, da es das Beziehungsleben des betroffenen Subjekts zunichtemacht.
Heben wir zwei Punkte hervor. Der erste betrifft die von Damasio verwendete Sprache: Mittel und Zwecke vereinen, Rationalität und Irrationalität der Entscheidungen, gegen seine eigenen Interessen handeln, Sorge um die Konsequenzen des Handelns – man 41erkennt hier ein Vokabular und Ideale, die sich im angloschottischen 18. Jahrhundert herausgebildet haben und von der amerikanischen Verhaltensforschung seit den 1940er Jahren modifiziert wurden. Im Gage'schen Gehirn brechen sich diese Ideale. Das ist ein entscheidender Punkt, um die Art von moralischer Autorität zu verstehen, auf welche die Neurowissenschaft sich stützt. Wir werden sie im folgenden Kapitel in ihrer historischen Tiefendimension darstellen.
Der zweite Punkt betrifft die Verbindung von Frontallappen und Entscheidungsfindung, Entscheidungsfindung und Sozialverhalten: Sie sollte den Weg vorgeben zu einer aktualisierten Erkenntnis des Menschen auf alleiniger Grundlage seines Gehirns. Doch um diesen Weg, den der Emotionen, zu erkennen, brauchte es das Gehirn eines lebendigen Patienten. Dazu kommen wir gleich.
Der Fall Gage ist insofern beispielhaft, als er gleichzeitig neurologische Fragen (eine Stange hat sein Gehirn durchschlagen) und psychologische Fragen (seine Persönlichkeit und sein Verhalten haben sich verändert) aufwirft, die sich im Verlust eines normalen Sozialverhaltens verdichten. Denn Damasio interessiert sich sehr wohl für das soziale Wesen: »Gage büßte eine spezifisch menschliche Eigenschaft ein, die Fähigkeit, seine Zukunft als soziales Wesen zu planen.«30 Sicherlich war Gage ein neurologischer Patient, aber die Schlussfolgerungen, die man aus seinem Fall ziehen könne, gehen, so Damasio, über das Nervensystem hinaus: »Es gibt viele Gages unter uns, die einen sozialen Abstieg von bestürzender Ähnlichkeit erleben«, doch haben sie nicht alle Hirnschädigungen oder Kopfverletzungen erlitten, sind von neurologischen Erkrankungen betroffen »und verhalten sich trotzdem wie Gage. Die Gründe mö42gen in ihrem Gehirn liegen oder in der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden.«31 Diese Gages sind keine Verrückten, keine Schizophrenen oder Paranoiker, sie haben keine somatoformen Störungen hysterischer Art, leiden nicht unter Zwangsvorstellungen und sind auch keine Neurotiker; sie sind vielmehr verhaltensgestört, fallen in den Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Es geht um »irrationale Verhaltensweisen«,32 die verheerende Folgen für diejenigen haben, die von ihnen betroffen sind, insofern sie deren soziale Beziehungen zerstören, ohne dass sie sich dagegen wehren könnten, sich entsprechend zu verhalten.
Wenn es viele Gages in unserer Gesellschaft gibt, dann weil uns sein Gehirn, in der Sprache der kognitiven Neurowissenschaft, vom weiten Feld der Persönlichkeitsstörungen erzählt (Asozialität, Verhaltensstörungen, Psychopathien, narzisstische Störungen, Borderline-Zustände), die einen zentralen Platz innerhalb der zeitgenössischen Psychopathologie und der individualistischen Vorstellungswelt unserer Gesellschaften einnehmen. Die Symptome für Persönlichkeitsstörungen, die durch Schädigungen des Frontallappens ausgelöst werden, sind zahlreich: »Teilnahmslosigkeit, Puerilismus, affektive Störungen, Auslösung von Verhaltensweisen, die gegen soziale Regeln verstoßen«.33 Diese von einen Neurologen erstellte Liste ist ebenso auf Verhaltensweisen anwendbar, die in den Bereich der Psychopathie wie in den der narzisstischen Störung und der Borderline-Zustände fallen. Es sind auch deshalb schöne Fälle, weil sie auf vertraute Figuren der Psychopathologie verweisen, Figuren, die seit den 1950er-1960er Jahren zentrale Anliegen der Psychoanalyse sind und Gegenstand einer intensiven medialen Berichterstattung wurden. Sie verleihen neurologischen Patienten einen psychopathologischen Stil.
Den Persönlichkeitsstörungen wird in den Vereinigten Staaten 43seit den 1950er Jahren vermittelt durch die psychoanalytische Debatte über narzisstische Störungen und Borderline-Zustände eine wachsende Aufmerksamkeit zuteil.34 Sie sind zu vertrauten Erscheinungen des Alltags geworden, die jeder, ob zu Recht oder zu Unrecht, in seinem Umfeld entdecken kann. Sie bilden sogar eine der Achsen des DSM seit der dritten Auflage von 1980 und ihre Zahl ist in den folgenden Auflagen beträchtlich gestiegen (die fünfte wurde 2013 veröffentlicht). Solche Patienten, in denen sich die Schwerpunktverlagerung der Psychoanalyse von den ödipalen Neurosen zu den Charakterneurosen (narzisstische Störungen und Borderline-Zustände) äußert, stellten in den 1980er Jahren den Großteil der psychoanalytischen Klientel in den Vereinigten Staaten. Seither sind diese Patienten, obwohl Kernbestand der psychoanalytischen Profession, selbst zum Gegenstand einer im zerebralen Sinne neu ausgerichteten Forschung geworden.
Diese vielen Gages, Personen ohne sichtbare neurologische Störungen, aber mit emotionalen oder psychischen Problemen, sind personifizierte Gestalten einer neuropsychiatrischen Auffassung von Geisteskrankheiten als Grenzstörungen: »Die Unterscheidung zwischen Erkrankungen des ›Gehirns‹ und des ›Geistes‹, zwischen ›neurologischen‹ Leiden und ›psychischen‹ und ›psychiatrischen‹ Problemen ist ein unglückliches kulturelles Erbe, das tief in Gesellschaft und Medizin verwurzelt ist. Sie offenbart eine fundamentale Unkenntnis der Beziehung zwischen Gehirn und Geist. Gehirnerkrankungen werden als Tragödien begriffen – sie suchen Menschen heim, denen man keinen Vorwurf daraus machen kann –, während Geisteskrankheiten, vor allem solche, die Verhalten und Emotion in Mitleidenschaft ziehen, als soziale Verfehlungen verstanden werden, für die die Betroffenen weitgehend selbst verantwortlich sind.«35 Das Argument ist von bestechender Schlichtheit: 44Ist das Symptom psychischen Ursprungs, erscheint es als nicht greifbar und seine pathologische Dimension als zweifelhaft, ist die Störung hingegen eine des Gehirns, besitzt sie ein wirklich pathologisches Fundament.
Ausgehend von seinem Interesse für die pathologischen Auswirkungen von Schädigungen des Frontallappens auf die Patienten hatte Damasio Gelegenheit, ähnliche Subjekte wie Gage zu beobachten. »Wie Gage« heißt, dass sie die Unterscheidung zwischen Neuropathologie und Psychopathologie augenscheinlich in Frage stellten.
Elliot ist etwa dreißig Jahre alt. Auch er hat »eine radikale Persönlichkeitsveränderung erlebt«, während seine geistigen Fähigkeiten intakt geblieben sind. An einem Meningiom leidend (einem gutartigen Tumor der Meningen), wird er erfolgreich operiert, doch seine Persönlichkeit hat sich verändert: »[I]n vielerlei Hinsicht war Elliot nicht mehr Elliot.«36 Auch er ist in seiner »sozialen Kognition« beeinträchtigt, ist unfähig geworden, rationale Entscheidungen zu treffen. Die Gehirntomographie zeigt, dass nur die Region des präfrontalen Kortex betroffen ist, vor allem im ventromedialen Abschnitt. Neuropsychologische Tests ergeben normale geistige Funktionen, aber eine Unfähigkeit, Entscheidungen in persönlichen und sozialen Fragen zu treffen.
Gleichwohl tritt ein weiteres Element hinzu, das Damasio verblüfft: Elliot erzählt seine Tragödie mit großer Distanz: »Nie verlor er die Beherrschung, stets beschrieb er die Vorgänge aus der Sicht eines leidenschaftslosen, unbeteiligten Zuschauers.«37 Sein 45Leben scheint stets in der »gleichen neutralen Gestimmtheit«38 an ihm vorüberzuziehen, und Damasio leidet beim Anhören seiner tragischen Geschichten mehr als er selbst. Elliot ermöglicht Damasio, ein Problem zu lösen, das sich bei Gage nicht stellte: das der Emotionen. Ihr Fehlen hindert Elliot daran, seine Entscheidungen abzuwägen, ihnen unterschiedliche Wertigkeiten beizumessen und, folglich, sich rational zu verhalten, und wäre es nur in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse. Er hat Läsionen, das fällt in den Bereich der Neurologie, doch führen diese zu emotionalen Problemen, und das ist psychologisch.
Von Gage zu Elliot schreiten wir voran zu einer Menge mit drei Elementen, Emotionen, Entscheidungsfindung, Frontallappen, selbst wenn auch noch andere Regionen an der Gefühlsbildung beteiligt sind. Kognition (die Fähigkeit zu denken, um Entscheidungen zu treffen) und Emotion bilden demnach ein unauflösliches, verhaltensbedingendes Paar. Kognition – Emotion – Verhalten, hier haben wir das goldene Dreieck der Neurowissenschaft, innerhalb dessen es möglich sein wird, bahnbrechende Perspektiven zu eröffnen durch die Begründung der Einheitswissenschaft des denkenden, fühlenden und handelnden Menschen.
Bleiben wir bei der Rolle dieser Regionen für das ethische und soziale Verhalten. Elliot hat seine Hirnschädigung im Erwachsenenalter erlitten. Im Labor durchgeführte psychologische Tests ergeben, dass er ein echtes soziales Wissen, etwa die Folgenabschätzung einer Entscheidung, aufbieten kann, die Erinnerung an dieses Wissen also nicht beeinträchtigt ist. Allerdings handelt es sich um ein Schulbuchwissen, um rein formale Kenntnisse, denn im praktischen Leben ist er unfähig, sie anzuwenden. Daher die Frage: Was passiert, wenn das Gehirn bereits im Kindesalter geschädigt wird? In einem 1999 von Damasios Team in Nature veröffentlichten Artikel heißt es, »Informationen über die frühen Anfänge dieser Zustände sind essentiell zur Klärung der Frage, wie ethische und so46ziale Kompetenzen sich aus neurobiologischer Sicht entwickeln.«39 Über die Kindheit kommt die Entwicklungsdimension ins Spiel. Zwei Patienten werden untersucht. Der erste, weiblich (20 Jahre), hat im Alter von 15 Monaten einen Schock erlitten. Ab dem Alter von drei Jahren zeigt sie sich Tadeln und Strafen gegenüber gleichgültig, mit herannahender Pubertät wird ihr Verhalten immer aufsässiger. Ihre Lehrer halten sie für intelligent und lernfähig. Aber systematisches Lügen, Stehlen, Weglaufen usw. belasten ihr Leben. Finanziell ist sie völlig auf ihre Eltern und Sozialleistungen angewiesen; sie hat keine Zukunftspläne. Der zweite Patient, männlich (23 Jahre), hat im Alter von drei Monaten einen chirurgischen Eingriff durchgemacht, bei dem ein Tumor aus dem rechten Frontallappen entfernt wurde. Ab dem Alter von neun Jahren machen sich Wutausbrüche und andere Verhaltensprobleme bemerkbar, er wird fettleibig, lügt, begeht kleinere Straftaten, zeigt aber keinerlei Schuld oder Reue über seine Taten und hat keine Pläne für die Zukunft. Das gesellschaftliche oder familiäre Umfeld ist keine Ursache: Beide Patienten sind in stabilen Mittelstandshaushalten aufgewachsen, mit aufmerksamen und engagierten Eltern, und ihre Geschwister haben sich normal entwickelt. Die Ausschaltung sozialer Faktoren führt zu der Schlussfolgerung, dass es etwas mit dem Gehirn zu tun haben muss.
Die neurologische Bewertung der beiden Patienten erweist sich als unauffällig, »mit Ausnahme der Verhaltensmängel«.40 Ihre kognitiven Fähigkeiten sind nicht beeinträchtigt und liefern folglich keine Erklärung für ihre Probleme. Hingegen weisen sie Defizite im Umgang mit sozialen Situationen auf, sie scheitern an Tests, bei denen es darum geht, Verhaltensregeln zu lernen, ihr moralisches Urteilsvermögen befindet sich auf dem Stand von zehnjährigen Kindern, und bei der Prüfung ihrer Entscheidungsprozesse 47stellt man fest, dass sie stets eine Wahl treffen, die für sie ungünstig ist. Die Magnetresonanztomographie zeigt bei beiden Patienten Schädigungen in den präfrontalen Regionen, die bekanntermaßen für emotionale Schwierigkeiten sowie die Entscheidungsfindung verantwortlich sind.
Im Vergleich zu Patienten, deren Erkrankung im Erwachsenenalter begonnen hat (wie Gage und Elliot), ist ihre zerebrale Beeinträchtigung schwerwiegender, sie entwickeln asoziale Verhaltensweisen und sind schon auf der bloßen Erklärungsebene unfähig, sich ein Regelwissen anzueignen (Elliot versteht die Regeln auf der Erklärungsebene, scheitert aber auf emotionaler Ebene, sie berühren ihn nicht).
Während Elliot und Gage Unbesonnene sind, die vor allem sich selbst schaden, kennen diese beiden Patienten Probleme von ungleich größerer Dramatik. Denn »sie ähneln Patienten mit Psychopathie oder Soziopathie (›Verhaltensstörungen‹ oder ›asoziale Persönlichkeit‹ nach der Nosologie von DSM-IV), eine weitere Störung mit frühzeitigem Beginn, die durch eine tiefreichende Missachtung ethischer und sozialer Regeln, ausgeprägte Verantwortungslosigkeit und einen völligen Mangel an Schuldgefühlen charakterisiert ist«.41 Es folgt, was man als extensive Hypothese der Verhaltensneurologie bezeichnen kann: Der gestörte Hirnmechanismus gibt Auskunft über die Psychopathologie. Die Autoren fügen gleich hinzu: »Die Psychopathie könnte mit Funktionsstörungen in den präfrontalen Regionen in Verbindung gebracht werden, insbesondere bei Personen ohne Vorbelastung durch psychosoziale Risikofaktoren.«42 Soll heißen: die sich nicht in einem nachteiligen oder ungeordneten sozialen Umfeld befinden.
Die beiden Fälle von Frontalläsion während der Kindheit legen nahe, dass »frühzeitige Funktionsstörungen in bestimmten Abschnitten des präfrontalen Kortex die Ursache für eine anomale 48Entwicklung des ethischen und sozialen Verhaltens zu sein scheinen, unabhängig von sozialen und psychologischen Faktoren, die bei der Erkrankung anscheinend keine Rolle gespielt haben. Das deutet darauf hin, dass asoziale Verhaltensweisen zumindest teilweise von Störungen eines mehrfach abgestuften Nervensystems herrühren können […]. Die Gründe für diese Störungen erstrecken sich vom biologischen Substrat (zum Beispiel genetische Wirkungen auf molekularer oder zellularer Ebene) bis zur Umwelt.«43
Insofern sie keine gemeinschaftlichen Regeln einhalten, betrifft das Verhalten dieser Subjekte das gesellschaftliche Leben, und insofern diese Regelverletzung ein Symptom bildet (sie schlägt systematisch zu ihrem persönlichen Nachteil aus), befinden wir uns im Bereich der Psychopathologie. Die Erweiterung auf das Soziale erscheint notwendig, um das Wissen vom Gehirn mit einer Form von Selbsterkenntnis gleichsetzen zu können.
In all diesen Fällen führt das Herstellen von Beziehungen zwischen Verhaltensstörungen und Schädigungen bestimmter Gehirnregionen zu einer unausweichlichen Schlussfolgerung: »[E]s [gibt] offenbar eine Reihe von Systemen im menschlichen Gehirn, die einerseits für den zielorientierten Denkprozeß zuständig sind, den wir Schlußfolgern oder Urteilen nennen, und andererseits für die Reaktionsselektion, die wir als Entscheidungsfindung bezeichnen – was vor allem für Ereignisse im persönlichen und sozialen Bereich gilt.«44 Ist dieses Wissen um den persönlichen und sozialen Bereich auf alleiniger Grundlage des Gehirns nun eine bloße Redensart, eine Metapher, oder bezeichnet es etwas real Vorhandenes?
Wie die Freud'schen Patienten ist dieser neue neuropsychiatrische Patient ein Medium, anhand dessen Konzepte und Theorien erarbeitet werden. Er ist wie ein Webstuhl, mit dessen Hilfe sich eine Reihe wissenschaftlicher Fäden verknüpfen lassen, die ermöglichen, dem goldenen Dreieck Emotion – Kognition – Verhalten Sub49stanz zu verleihen. Die Theorie wird verwandte Konzepte entwickeln, die man in allen Varianten der kognitiven Neurowissenschaft wiederfindet – diese bilden gewissermaßen Zweige, die von einem gemeinsamen Stamm ausgehen.