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Rosa ist unmöglich, sagen alle in der Klasse. Dabei ist sie nur nicht so gut angezogen. Und das hat seinen guten Grund. Der neunköpfigen Familie geht es nicht gut, sie kann sich kaum etwas leisten. Der Vater ist Frührentner, seit er bei einem Verkehrsunfall beide Beine verloren hatte. Aber solche Gründe interessieren in der Schule niemand. Keiner beachtet sie, keiner lädt sie zu einer Party ein. Nur Hortense, die mit ihren Eltern in einer schicken Etagenwohnung in einem Münchener Vorort lebt, hält zu ihr. Für Hortense ist der Umstand, dass Rosa mit ganz anderen Lebensumständen fertigwerden muss, ein Grund, sie zu bewundern. Und Hortense lässt sich nicht von den anderen Klassenkameraden einschüchtern. Im Gegenteil: Gemeinsam entwickeln sie einen Schlachtplan.-
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Seitenzahl: 112
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Das unmögliche Mädchen setzt sich durch
Das unmögliche Mädchen setzt sich durch (Band 2)
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1975 by F. Schneider, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711719626
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Sonntags gab es bei Schmitts Pudding zum Nachtisch. Das war aber auch das einzige, was diesen Tag von den anderen, gewöhnlichen Wochentagen unterschied. Ein Braten wäre für die neunköpfige Familie zu teuer gewesen, an einen Kirchenbesuch oder einen gemeinsamen Spaziergang dachte niemand. Jeder versuchte sich auf eigene Faust die Zeit zu vertreiben.
Der Vater, ein Frührentner – er hatte bei einem Verkehrsunfall beide Beine verloren –, saß, wie immer, vor dem Fernsehschirm. Klara, Paulchen und Ben, die Kleinen, leisteten ihm gewöhnlich dabei Gesellschaft, wenn sie nicht draußen herumtobten. Marie, die Friseuse lernte, hatte meist eine Verabredung, und alle waren froh darüber. Denn wenn sie zu Hause war, benahm sie sich unausstehlich. Heinz und Otto, die großen Jungen, waren mit einer Bande Gleichaltriger unterwegs.
Die Mutter, die während der Woche in einer Fabrik arbeitete, ruhte sich aus. Morgens schlief sie so lange wie möglich, und auch nach dem Essen zog sie sich in den kleinen Anbau des Schrebergartenhäuschens zurück, der als Elternschlafzimmer diente.
Die zwölfjährige Rosa, die als einzige in der Familie höher hinaus wollte und ein Realgymnasium für Mädchen in der Stadt besuchte, spülte ab und räumte auf. Wenn sie mit der Arbeit fertig war, stellte sie fest, ob eine Sendung lief, die sie interessierte. War das nicht der Fall, hockte sie sich auf ihr Bett, steckte die Zeigefinger in die Ohren und vertiefte sich in eines ihrer zerfledderten Bücher, die sie sorgfältig vor den anderen unter der Matratze versteckt aufbewahrte.
Aber heute war alles anders, jedenfalls was Rosa betraf. Gleich nach dem Abwasch stellte sie eine Schüssel mit heißem Wasser auf den Herd und wusch sich gründlich vom großen Zeh bis zu den Ohren. Dann suchte sie sich saubere Unterwäsche heraus und überlegte, was sie anziehen sollte: groß war die Auswahl gerade nicht.
Auch Marie war damit beschäftigt sich fein zu machen; sie zwängte sich in einen maisgelben Pullover und stellte schmollend fest: „Schade! Der paßt mir wirklich nicht mehr!“
„Gib ihn mir!“ bat Rosa.
„Was krieg ich denn dafür?“
„Du weißt doch, daß ich nichts habe.“
„Du willst ihn mir abschnorren. Kommt nicht in Frage. Dann seh ich lieber zu, daß ich ihn anderswo verscherbele. Er ist ja noch wie neu.“
„Ruhe!“ brüllte der Vater, der sich beim Fernsehen gestört fühlte.
„Du könntest ihn mir ruhig geben“, drängte Rosa, jetzt mit gedämpfter Stimme, „wo du dich hinten und vorn bedienen läßt … sonst kannst du nächstes Mal den Aufwasch machen.“
„Als wenn du das zu bestimmen hättest!“
Rosa hielt den Blick ihrer schwarzen, funkelnden Augen fest auf die Schwester gerichtet. „Ich tu es nicht mehr!“
Marie gab nach, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Rosa nicht zu bremsen war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. „Da haste!“ Sie zog sich den Pullover über den Kopf und warf ihn der Schwester zu.
Rosa fing ihn geschickt auf. „Na also!“ Rasch schlüpfte sie hinein und versuchte sich in dem winzigen Spiegel neben der Tür zu betrachten. Viel sah sie nicht, aber was sie sah, gefiel ihr: das Gelb paßte gut zu ihrer bräunlichen Haut. Maries Pullover war zweifellos eine Errungenschaft, obwohl er an ihr herunterschlotterte, denn im Gegensatz zu der halb erwachsenen Schwester war Rosa spindeldürr. Wenn nur ihr Haar nicht gewesen wäre! Es war stumpf und schwarz und wirkte wie unter einem Blumentopf geschnitten, was der Wahrheit ziemlich nahe kam, denn sie war noch nie bei einem Friseur gewesen.
Nicht ohne Neid blickte sie zu Marie auf, die sie vom Spiegel wegstieß. Marie hatte eine geblümte Bluse angezogen und begann jetzt ihre gepflegte, blondgetönte Mähne zu bürsten.
„Was soll ich bloß mit meinem Haar machen?“ fragte Rosa und bereute die Frage sogleich, denn sie wußte, daß Marie die letzte war, die ihr helfen würde.
„Am besten stülpste dir ’ne Perücke auf“, sagte die Schwester denn auch herzlos.
„Du selten dämliches Luder!“
Marie hielt eine Antwort nicht der Mühe wert, zuckte nur die runde Schulter und begann ihr Gesicht mit reichlich Farbe zu verschönen: Schwarz für Wimpern und Brauen, Blau für die Lider, Rot für die Wangen und noch ein anderes Rot für die Lippen.
Nachdenklich sah ihr Rosa zu, während sie in ihre Strümpfe und die Skihose schlüpfte. Ob sie selber wohl auch hübscher wirken würde, wenn sie erst alt genug war sich anzumalen? Vorläufig konnte sie sich noch nicht vorstellen, daß man sich mit soviel Farbe im Gesicht anders als blöd vorkommen sollte.
Endlich war Marie fertig, hüllte sich in ihren Leopardenmantel aus Webpelz, setzte das passende Hütchen auf, klemmte ihre Handtasche unter den Arm und ging.
„Viel Spaß!“ rief Rosa ihr nach. „Parfümstinkerin!“
Der Vater beachtete Maries Abgang gar nicht.
Rosa trat an das kleine Fenster und blickte Marie nach, wie sie zielbewußt den ausgetretenen Pfad zwischen den Schneehalden entlang, auf denen die kleinen Schlitten fuhren, zur Omnibusstation tänzelte. Als sie außer Sichtweite war, drehte Rosa sich um und machte sich an Maries Schrankfach zu schaffen. Darin fand sie, wie erwartet, allerhand angebrochene Fläschchen mit Haarwaschmitteln, Haarfestiger und Dosen mit Spray, Reste, die im Frisiersalon manchmal stehenblieben und Marie mit nach Hause nehmen durfte. Rosa war absolut ehrlich und hätte niemals gestohlen, aber sie machte sich kein Gewissen daraus, sich ein geeignetes Shampoo herauszusuchen; Marie hatte diese Kosmetikartikel ja auch nicht gekauft, und es war ihre eigene Schuld, wenn sie zu geizig war, den Geschwistern oder der Mutter etwas davon abzugeben. Rosa fand, was sie suchte, ein Shampoo für kräftiges, trockenes Haar, einen Festiget und Lockenwickler.
Dann füllte sie die Schüssel auf dem Herd mit warmem Wasser aus dem Behälter, zog sich den Pullover aus, machte sich das Haar naß und begann es einzuschäumen. Danach spülte sie es gründlich aus, trocknete es ab, schüttete den klebrigen Festiger darüber und bemühte sich, auf Zehenspitzen vor dem kleinen Spiegel, Locken aufzudrehen. Da sie das zum erstenmal in ihrem Leben versuchte, fiel es ihr nicht leicht. Ihre Haare waren kurzgeschnitten und störrisch und rutschten immer wieder von den Wicklern.
„Na, wartet nur, ihr Biester, ich werd’s euch schon zeigen“, schimpfte sie leise, stampfte vor Zorn und Ungeduld mit dem Fuß auf und schrie auch hin und wieder mal „au weh“, wenn es ziepte.
Endlich hatte sie es doch einigermaßen geschafft, legte sich ein Frottiertuch um die Schultern und machte es sich, nahe dem Herd, mit einem vergilbten Taschenbuch bequem, das sie in einem antiquarischen Angebot gefunden hatte. Es war „Don Carlos“, ein Theaterstück von Friedrich Schiller, das sie ergattert hatte, und obwohl sie nicht alles. verstand, gefiel ihr die hochtrabende Sprache. „Die schönen Tage von Aranjuez sind vorüber“, las sie halblaut, „Königliche Hoheit verlassen es nicht heiterer. Wir sind vergebens hier gewesen. Öffnen Sie Ihr Herz dem Vaterherzen, Prinz! Zu teuer kann der Monarch die Ruhe seines Sohnes, seines einzigen Sohnes, zu teuer nie erkaufen …“
Frau Schmitt kam aus der Kammer geschlurft, eine kräftige Frau mit einem breitflächigen Gesicht und grauen, freundlichen Augen. Als sie Rosa im ungewohnten Schmuck der rosa Lockenwickler sitzen sah, wurde sie aufmerksam: „Ziehst du also jetzt auch schon los?“ fragte sie, aber es klang eher wie eine Feststellung.
Rosa begriff, daß die Mutter glaubte, sie würde sich für einen Jungen schön machen. „Ach, woher denn!“ verteidigte sie sich. „Ich bin bloß eingeladen.“ Als sie merkte, daß sie sich immer noch nicht unmißverständlich ausgedrückt hatte, fügte sie rasch hinzu. „Von einer Freundin.“
Frau Schmitt holte ein zerknittertes Päckchen aus der Tasche ihres Morgenrocks und zog eine Zigarette heraus. „Seit wann hast du ’ne Freundin?“ Sie fragte es ganz nüchtern und ohne beleidigende Absicht.
Dennoch traf es Rosa. Sie hatte in der Grundschule viele Freundinnen gehabt, die sich aber, seit sie auf das Realgymnasium ging, von ihr zurückgezogen hatten. Verschiedene Versuche, die alten Beziehungen wieder aufzufrischen, waren gleich wieder erstickt. Die Interessen der anderen waren zu verschieden von den ihren. Im Gymnasium aber war sie eine Außenseiterin geblieben.
„Die, die neulich hier war“, erklärte sie, „die ich aus dem Wasser gezogen habe.“
„Das Marzipanschweinchen?“ Frau Schmittt hatte sich aus einem Stück Sonntagszeitung einen Fidibus gedreht, zog mit dem Feuerhaken einen Ring aus der Herdplatte, zündete das Papier an und hielt es sich an die Zigarette.
„Sie heißt Hortense … Hortense Mercator.“
„Na, laß sie. Die paßt nicht zu uns.“
„Braucht sie ja auch nicht. Sie ist meine Freundin … nicht eure!“
Frau Schmitt warf den lodernden Fidibus ins Herdfeuer und schob den Ring an seinen Platz zurück. „Die macht sich doch nur ’nen Witz aus dir!“
„Tut sie nicht!“
„Mich geht es ja nichts an, aber ich würde besser die Pfoten von der lassen … sonst verbrennste sie dir noch.“
Rosa selber hatte sich nur mit Überwindung zu diesem Besuch – ihrem ersten offiziellen Besuch bei den Mercators – aufgerafft, denn sie wußte, daß Hortenses Eltern sie bei dieser Gelegenheit unter die Lupe nehmen wollten. Es würde sicher kein angenehmer Nachmittag werden, aber sie hatte sich entschlossen, in den sauren Apfel zu beißen, weil sie es Hortense versprochen hatte und weil sie endlich wieder eine Freundin haben wollte. Daß ihre Mutter ihr abriet, bestärkte sie nur in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Sie war es gewohnt, daß ihre Familie stets alles ablehnte, was ihr selber wichtig erschien.
„Ach, Mama“, sagte sie, „das verstehste nicht.“
Frau Schmitt ließ es dabei bewenden; sie hatte sieben Kinder in die Welt gesetzt und brachte nun nicht mehr die Kraft auf, sie auch noch zu erziehen. Außerdem hatte sie ja auch allen Grund daran zu zweifeln, selber das Beste aus ihrem Leben gemacht zu haben. Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, gab sie zwei große Löffel Kaffee in eine vorgewärmte Kanne und goß kochendes Wasser auf, stellte die Kanne, zwei Tassen und eine Zuckerdose auf ein Tablett, trug es zu ihrem Mann und setzte sich neben ihn vor den Fernsehschirm.
Rosa konnte sich weiter ungestört in ihren „Don Carlos“ vertiefen.
Ihr Haar brauchte viel länger zum Trocknen, als sie geglaubt hatte, und zum Schluß konnte nicht einmal mehr das interessante Theaterstück sie ablenken; sie begann kribbelig zu werden. Aber auf keinen Fall wollte sie ihr Kunstwerk zerstören, indem sie die Wickler zu früh herausnahm. Sie hielt eisern durch und hoffte, daß sie dennoch pünktlich zu ihrer Sonntagsnachmittag-Kaffee- und Kucheneinladung kommen würde.
Endlich war es soweit. Ihr ganzes Haar stand in Locken zu Berge, die sich kaum bändigen ließen. Sie mußte bürsten und bürsten und bürsten, und dann hatte sie tatsächlich zum erstenmal in ihrem Leben eine annehmbare Frisur. Das Haar war nicht mehr stumpf, sondern hatte Glanz bekommen, ja, es wirkte sogar – jedenfalls schien es ihr so vor dem winzigen Spiegel in dem schlecht beleuchteten Zimmer – heller als gewöhnlich.
Rosa war sehr mit sich zufrieden.
Rasch räumte sie auf, legte die Lockenwickler an ihren Platz in Maries Schrankfach zurück, zog den maisgelben Pullover an, ihren geliebten Parka – eine ausrangierte amerikanische Militärjacke, in der sie fast versank – darüber und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Hortense sah dem Besuch mit Bangen entgegen. Auch sie sehnte sich nach einer richtigen Freundin. Obwohl sie beliebt in der Klasse war, ließ ihr Kontakt zu den Mitschülerinnen in letzter Zeit zu wünschen übrig. Daß ihre Eltern die schicke Etagenwohnung im Vorort Haidhausen erworben hatten, bedeutete für sie eine räumliche Trennung von den alten Freundinnen. Zuerst hatte sie das gar nicht wichtig genommen, aber inzwischen hatte sich gezeigt, daß die richtige Vertrautheit eben doch verlorenging, wenn man sich nur noch in der Schule und zu besonderen Anlässen traf, und nicht mehr, wie früher, jeden Nachmittag.
Außerdem war Rosa für Hortense etwas Besonderes, ein Mädchen, das aus einer ganz anderen Welt kam und mit Problemen fertig werden mußte, von denen Hortense bisher nicht einmal etwas geahnt hatte. Sie bewunderte Rosa und hatte gleichzeitig das Gefühl, daß die Freundin sie brauchte; das war ein ganz starkes Band zwischen den beiden.
Hortense verstand, daß Rosa in den Augen ihrer schönen und eleganten Mutter kein Umgang für sie war. Aber selbst der Mutter zuliebe wollte sie diese Freundschaft nicht aufgeben. Bei ihrem Vater konnte sie schon eher Verständnis erwarten.
Aber alles hing davon ab, wie Rosa sich aufführte, und Hortense wußte nur zu gut, daß gutes Benehmen, auf das Mercators besonderen Wert legten, Rosas schwächste Seite war.
Kein Wunder also, daß Hortense heute ungewöhnlich nervös war. Immer wieder sagte sie sich, daß ja eigentlich gar nichts schiefgehen könnte, weil sie den Auftritt mit Rosa gründlich geübt hatte. Es gab aber noch eine andere günstige Voraussetzung: Mercators pflegten sonntags keinen großen Aufwand zu treiben und sich einfach und bequem anzuziehen. Der Vater trug seine schwarze Cordsamtjacke über einem offenen Hemd und leichte Mokassins an den Füßen.