Das unvollendete Weltreich - John Darwin - E-Book

Das unvollendete Weltreich E-Book

John Darwin

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Beschreibung

Englische Piraten in der Karibik, "Rotröcke" in den nordamerikanischen Kolonien, reiche "Nabobs" in Indien, fromme Missionare in Afrika, ans Ende der Welt verbannte Sträflinge in Australien, Marinesoldaten auf den Schiffen der Royal Navy - auch auf ihren Schultern ruhte das Weltreich, das Großbritannien ab dem 17. Jahrhundert im Dienste Ihrer Majestät errichtete. Auf seinem Höhepunkt um 1900 umfasste dieses riesige Gebilde ein Viertel der Menschen und der Landmasse der Erde. Doch wie gelang es den Briten überhaupt, ihr Empire aufzubauen? Wie beherrschten und verteidigten sie es fast 400 Jahre lang? Warum zerbrach es ausgerechnet im 20. Jahrhundert? Und was können andere Imperien daraus lernen? John Darwin, derzeit der beste Kenner der Geschichte des British Empire, verrät in seinem neuen, spannenden Buch die Antworten.

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John Darwin

Das unvollendete Weltreich

Aufstieg und Niedergang des Britischen Empire 1600–1997

Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Auf seinem Höhepunkt um 1900 umfasste das riesige Weltreich, das Großbritannien ab dem 17. Jahrhundert errichtete, ein Viertel der Menschen und der Landmasse der Erde. Wie gelang es den Briten, ihr Empire aufzubauen? Wie beherrschten und verteidigten sie es fast 400 Jahre lang? John Darwin, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des British Empire, analyisert in diesem fesselnd erzählten Buch den Aufstieg und Niedergang eines der größten Imperien aller Zeiten.

Über den Autor

John Darwin ist Beit University Lecturer für die Geschichte des Britischen Commonwealth am Nuffield College in Oxford.

Für Caroline

Inhalt

Vorwort

1. Entwürfe eines Weltreichs

2. Kontaktaufnahme

3. Inbesitznahme

4. Besiedlung

5. Krieg

6. Verkehr und Handel

7. Regierungsmethoden

8. Rebellion

9. Religion und Kultur

10. Die Verteidigung des Empire

11. Das Ende des Empire

12. Das letzte und größte Empire?

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Verzeichnis der Karten

Register

Vorwort

Nur wenige geschichtliche Themen rufen so kritische Beurteilungen hervor wie die Bildung und Entstehung von Reichen. Tatsächlich fühlen sich einige »Imperialhistoriker«, wie sie in der modernen Geschichtswissenschaft genannt werden, sogar dazu genötigt, ihren tiefen moralischen Abscheu gegenüber diesen Reichen zu beteuern (für den Fall, dass jemand glaubt, sie würden diese befürworten, wenn sie über sie schreiben). Andere vermitteln gern den Eindruck, dass eine missbilligende Darstellung dieser Imperien ein äußerst mutiger Akt sei – so als ob deren Befürworter nur darauf warten würden, sich an ihnen zu rächen, oder irgendeine wütende »imperialistische« Öffentlichkeit sie zu Märtyrern machen könnte. Das sind natürlich harmlose, wenngleich ziemlich amüsante Vorstellungen. Trotzdem zeigen sie etwas höchst Interessantes: Trotz der unendlichen Mengen an Tinte, die bei der Beschreibung ihrer Taten und Missetaten vergossen wurden, bleiben Imperien etwas ziemlich Mysteriöses, das in Mythen und falsche Vorstellungen gehüllt ist.

Teilweise liegt das an einer Art »monolithischen« Denkens. »Imperium« ist ein bedeutungsschweres, großes Wort. Hinter dieser Fassade standen jedoch (überall und zu allen Zeiten) eine große Menge von Individuen, ein ganzes Netzwerk von Interessengruppen und vor allem ein Berg von Hoffnungen auf Karrieren, Reichtümer, religiöses Heil oder einfach nur physische Sicherheit. Imperien wurden nicht von gesichtslosen Komitees geschaffen, die großartige Berechnungen anstellten und Pläne schmiedeten; und schon gar nicht waren sie das Ergebnis »unwiderstehlicher« wirtschaftlicher oder ideologischer Zwänge. Sie wurden vielmehr von Männern (und Frauen) errichtet, deren Handlungen von Motiven und Moralvorstellungen getrieben waren, die genauso verworren und bedürfnisgeleitet waren wie die, die uns heutige Menschen bestimmen. Dies galt ganz gewiss für das Britische Weltreich, das Empire. Es war alles andere als das bloße Werk von Königen und Eroberern, sondern weitgehend ein privatwirtschaftliches Imperium, die Schöpfung von Händlern, Investoren, Siedlern und Missionaren (nebst vielen anderen). Der Aufbau eines solchen Weltreichs war nicht nur ein Akt aus Willen und Vorstellung, so wesentlich diese auch sein mochten. Erst eine ganze Reihe von prosaischen Aktivitäten brachte es zustande: die Erkundung von »Zielgebieten«, die Gründung von Brückenköpfen, die Beschaffung des nötigen Geldes, die Rekrutierung von Seeleuten, Soldaten, Siedlern und Abenteurern, das Gewinnen von Verbündeten (nicht zuletzt am Hof oder in der Regierung), die Vereinbarung und Niederschrift von Regeln (vor allem über die Eigentumsrechte in den »neu entdeckten« Ländern), die Regulierung des Handels sowie des moralischen Verhaltens in fernen, exotischen Gegenden und die Gestaltung von Regierungen. Es ist unschwer zu erkennen, was dabei alles schiefgehen konnte. Eine der schwierigsten, gleichzeitig aber auch wichtigsten Aufgaben war die Festlegung der Bedingungen, unter denen die einheimische Bevölkerung und ihre Führer zu Verbündeten, Schutzbefohlenen oder Untertanen des Empire werden konnten. Es wird leicht vergessen, dass dieses Empire in einem Großteil der Welt viel eher von den örtlichen Hilfskräften und -truppen, die die eigentlichen »Reichsgründer« angeheuert hatten, »aufrechterhalten« wurde als von den Imperialisten selbst. Das Ergebnis war ein Weltreich voller hybrider Bestandteile, widerstrebender Traditionen, in dem die Grenzen zwischen den Ethnien und Völkern oft nicht genau festgelegt waren. Dies alles stellte eine Quelle ständiger latenter Unsicherheit dar, jedoch auch einer unbändigen Kraft und Energie.

Vor allem war es im Wesentlichen ein unvollendetes Weltreich. Wenn wir die alten Weltkarten betrachten, auf denen riesige Flächen in dem für die britischen Besitzungen typischen Rot eingefärbt sind, gerät einem leicht aus dem Gedächtnis, dass dieses Empire stets im Werden war und tatsächlich kaum zur Hälfte vollendet wurde. Noch im Jahr 1914 (in dem für viele das Empire auf seinem Höhepunkt stand) gab es dafür überall Anzeichen: der heruntergekommene Zustand einiger der ältesten britischen Besitzungen; die dürftigen Siedlungsstränge, die Kanada und Australien ausmachten; die ausgedünnte Verwaltung des tropischen Afrikas, die bald darauf in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre noch weiter ausgedünnt werden sollte; die chronische Unsicherheit, welche Art von Führung (»Raj«) die britische Herrschaft in Indien sichern und den Aufruhr auf diesem Subkontinent befrieden könnte; die ständigen Bekundungen, dass es keine weitere Ausdehnung des Empire geben werde, die jedoch durch ständige weitere Gebietsgewinne konterkariert wurden (ein Muster, das sich sogar noch bis nach 1945 fortsetzen sollte); die empörte Klage der Imperialisten im Mutterland, dass die öffentliche Meinung nicht empirefreundlich genug sei. Tatsächlich waren selbst die glühendsten edwardianischen Imperialisten der Ansicht, dass die viktorianischen Empire-Erbauer keinesfalls ein dauerhaftes Gebäude errichtet hätten, das nur gelegentliche Verbesserungen benötige, sondern ihren Nachfolgern wenig mehr als einen Bauplatz und eine Reihe von hoffnungslos mangelhaften Plänen hinterlassen hätten.

Es gab gute Gründe dafür, dass dieses Empire bei näherer Betrachtung seinen improvisierten und provisorischen Charakter verriet. Zum Ersten waren seine Gründer von keiner einheitlichen Vorstellung beseelt, was dieses Reich eigentlich sein sollte. Stattdessen brachte die britische Gesellschaft im Mutterland selbst eine Menge miteinander konkurrierender Interessen und Lobbygruppen hervor, die unterschiedliche Arten der Expansion und der Imperiumsbildung vertraten. Zu den »Zielen« des Empire, die in einer gespannten und oft sogar umstrittenen Partnerschaft nebeneinander herliefen, gehörten die von den britischen Auswanderern und Siedlern vertretene »Kolonisierung«, die »Zivilisationsmission« der britischen Beamten, die »Bekehrungsaufgabe« der britischen Missionare und der Handel (vorzugsweise ohne Siedler, Beamte oder Missionare). Die Kolonialpolitik war dabei der Kampfplatz, auf dem die lokalen Protagonisten dieser Parteien ihre jeweiligen Interessen durchsetzen wollten. Zum Zweiten war die Führungs- und Herrschaftsstruktur dieses Imperiums zu allen Zeiten unzureichend und ziemlich oft sogar chaotisch. Die Ansicht, dass ein in London ausgesprochener Befehl überall auf der Welt von diensteifrigen Statthaltern ausgeführt worden sei, ist eine historische Fantasievorstellung (wenn auch eine recht populäre). Dieses Empire hing jedoch von der Kooperation der lokalen Eliten, der Loyalität der Siedler und der (oft nur widerwilligen) Zustimmung der britischen Beamten ab, die mit den Forderungen von Whitehall, dem Sitz des War Office, oft unzufrieden waren. Keine dieser drei Gruppen durfte dabei überfordert werden. Jede von ihnen war unzähligen lokalen Zwängen und Problemen ausgesetzt, die man in London nicht vorausgesehen hatte. Die Regierungsführung des Empire beruhte notwendigerweise auf einer ganzen Reihe von Kompromissen, von denen einige von den explosiven (irischen, amerikanischen, kanadischen, indischen und afrikanischen) Rebellionen erzwungen wurden, die das Reich in regelmäßigen Abständen in seinen Grundfesten erschütterten. Die praktische Aufrechterhaltung des Empire erforderte die ständige Anpassung der Herrschaftsregeln. »Verfassungsreform« wurde dabei zu einem eleganten Ausdruck, mit dem man die Einbeziehung neuer Mitspieler auf dem politischen Spielfeld, die Erweiterung (oder Verengung) von dessen »Torgehäuse« oder den Austausch des Spielballs umschrieb. Ziel dieser Anstrengungen war dabei keine »endgültige Lösung«. Stattdessen wollte man einfach den praktischen Fortbestand des Empire sichern und dafür sorgen, dass das Spiel weitergehen konnte. Wer welchen Gesetzen unterlag, wurde dabei in vielen Kolonien nie ganz klar und stellte einen Grund ständiger Unsicherheit dar. Zum Dritten konnten diese reichsinternen Aktivitäten nicht für sich in einer nach außen abgeschlossenen Sphäre ablaufen. Das Britische Empire war vielleicht mehr als die meisten anderen Imperien starken äußeren Einflüssen ausgesetzt. Dazu gehörten die Ideologien und religiösen Einstellungen seiner Untertanen, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der Wirtschaftskrisen und – am gefährlichsten – die Bewältigung geostrategischer Herausforderungen. Der Preis des Empire war die ständige Berücksichtigung der unkalkulierbaren Folgen des geopolitischen Wandels, der eine fortwährende Umstrukturierung der Planungen und Prioritäten erforderte, wenn neue Gefahren oder Chancen auftauchten.

In dieser instabilen Welt konnte keine Version des Empire »endgültig« sein. Jeder vermeintliche »Endzustand« war deshalb nicht mehr als eine zeitweise Atempause. Auch konnte das Ende des Empire vor seinem Eintreten nicht auf realistische Weise vorausgesehen, geschweige denn geplant werden. Tatsächlich glaubten die Briten selbst (zumindest einige ihrer Führer) bis zum allerletzten Augenblick, dass ihr Empire in irgendeiner, wenn auch reduzierten, Form überleben könnte. Ein Großteil ihrer Politik in der Ära der Entkolonialisierung (1945–1965) war auf die Bewahrung eines unsichtbaren Empire der wirtschaftlichen und politischen Einflussnahme ausgerichtet. Die praktische Realität ließ diesen Traum jedoch scheitern. Dessen Auswirkungen – wie die des Empire selbst – klingen jedoch immer noch nach.

Das vorliegende Buch möchte die Aufbauprozesse eines Imperiums untersuchen, die sich im Falle Großbritanniens über drei Jahrhunderte erstreckten, in denen es sich außerhalb Europas immer weiter ausdehnte. Nicht zuletzt sollen dessen Wurzeln im mittelalterlichen englischen Imperialismus aufgedeckt werden.

Ein solches Buch kann schwerlich ohne die Unterstützung und Hilfe zahlreicher Gelehrter geschrieben werden, deren Beitrag ich in den Anmerkungen, die die Kapitel begleiten, nur unzureichend würdigen konnte. Gerade meinen Kollegen in Oxford und anderswo, von deren Wissen und Einsichten ich zu lernen versucht habe, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Auf einige Fragen, die in diesem Buch behandelt werden, brachte mich die Neugier meiner Studenten aus allen Semestern, die wieder einmal die alte Weisheit bestätigten, dass Lehren lernen heißt. Besondere Erwähnung verdient jedoch der kürzlich verstorbene Freddie Madden, dessen monumentale Untersuchung der Verfassungspraktiken des Britischen Empire von seinen mittelalterlichen Anfängen bis zu seinem Ende für das Verständnis der höchst komplexen Funktionsweise dieses Weltreichs unerlässlich ist. Sein Werk zeugt von seiner außerordentlichen wissenschaftlichen Gelehrsamkeit.

Des Weiteren möchte ich mich für die Hilfe und Ratschläge der zahlreichen Bibliotheken und Archive innerhalb und außerhalb Großbritanniens bedanken, auf deren Quellen und Material ich bei der Abfassung dieses Buches direkt oder indirekt zurückgegriffen habe. Mein besonderer Dank gilt dabei dem herausragenden Puke Ariki-Museum und -Archiv in New Plymouth, Neuseeland, und seinen höchst engagierten Mitarbeitern.

Das Schreiben dieses und meiner beiden vorherigen Bücher wäre ohne die Unterstützung und Anregung weit schwerer gewesen, die das Nuffield College seinen Fellows angedeihen lässt. Es gibt wohl kaum einen besseren Ort, um eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen und über Forschungsthemen nachzudenken. Dafür und für die Geduld meiner Familie bin ich äußerst dankbar.

Nicht zum ersten Mal gebührt mein Dank auch und gerade Simon Winder von »Penguin Books« für seine Begeisterung, Unterstützung und klugen Ratschläge. Zuletzt möchte ich mich bei Bela Cunha für das Korrekturlesen meines Manuskripts, bei Richard Duguid für die Überwachung der Herstellung und seine unschätzbaren Vorschläge sowie bei James Pullen bedanken. Jeff Edwards war für die Erstellung der Karten verantwortlich.

Kapitel 1Entwürfe eines Weltreichs

Im Rückspiegel der Geschichte

Wir leben in einer Welt, die von Imperien gemacht wurde. Tatsächlich ist ein Großteil der modernen Welt das Überbleibsel ehemaliger Reiche: kolonialer und vorkolonialer, afrikanischer, asiatischer, europäischer und amerikanischer. Die moderne Geschichte und Kultur sind voller Erinnerungen, Bestrebungen, Institutionen und Missstände, die diese Reiche hinterlassen haben. Deren größtes, wenn schon nicht großartigstes, war das Imperium, das die Briten mehr als drei Jahrhunderte lang unermüdlich zusammenfügten; nicht weniger als ein Viertel aller heutigen souveränen Staaten gehörte früher dazu. Allein aus diesem Grund sind dessen Nachwirkungen mit dem keines anderen Reiches zu vergleichen.

Seine Geschichte ist jedoch zutiefst umstritten. Dies ist auch kaum anders vorstellbar. Vor hundert Jahren, als das Britische Empire noch als eine gut gehende Unternehmung mit einer unbefristeten Zukunft galt, fiel das Urteil der Historiker im Allgemeinen positiv aus. Zwar waren Fehler gemacht und Ungerechtigkeiten begangen worden und sogar Missbräuche geschehen. Die Reform hatte recht spät eingesetzt. Es hatte immer wieder zahlreiche Missverständnisse gegeben. Am Ende hatte jedoch alles, zumindest vieles, ein gutes Ende genommen. Nicht ohne Grund: Im Zentrum dieses Imperiums gab es einen sich selbst korrigierenden Mechanismus, nämlich eine liberale Verfassung, die dafür sorgte, dass sich die politische Gewalt vor der aufgeklärten öffentlichen Meinung verantworten musste. Tatsächlich schien dieses positive Endergebnis sogar die dunkleren Aspekte der Geschichte des Empire zu rechtfertigen. Man argumentierte, dass die weniger schönen Begleiterscheinungen der Eroberungen und Besiedlungen, etwa die Vertreibung und Unterjochung ganzer Völker, als der Preis zu betrachten seien, den man für den Fortschritt barbarischer und zurückgebliebener Menschen und Kulturen zu zahlen hatte, die in ihren »unbeweglichen Zuständen« gefangen waren und deshalb nicht einmal wussten, was in ihrem ureigenen Interesse lag. Die »Errettung« dieser Völkerschaften von ihrem Aberglauben und ihrer Wildheit war leider ein oft ziemlich unsauberes, wenn nicht sogar blutiges Geschäft.

Die Geschichte des Empire gab noch in einer weiteren Hinsicht Anlass zur Zuversicht. Sie zeigte nämlich, dass die Briten selbst eine moralische Verbesserung durchgemacht hatten. In einem gewaltigen kollektiven Gewissensakt hatten sie das System der Sklaverei abgeschafft, das sie zuvor so reich gemacht hatte. Danach hatten sie einen umfassenden weltweiten Kreuzzug gegen all diejenigen begonnen, die weiterhin an ihm festhielten. Darüber hinaus hatten sie die vergebliche Bemühung aufgegeben, den Siedlergesellschaften die Londoner Zentralherrschaft aufzuzwingen, und sich stattdessen deren Loyalität gesichert, indem sie ihnen Selbstverwaltung gewährten. Zumindest aus liberaler Sicht war jedoch die klügste britische Maßnahme die Aufgabe der Schutzzollpolitik, die den Weg zu einem allgemeinen Freihandel geebnet hatte. Das tugendhafte Handeln war zusammen mit der Verfolgung des Eigeninteresses belohnt worden. Der Freihandel war das Geheimnis des britischen Wohlstands und gleichzeitig das beste Mittel zur Beförderung des Weltfriedens. Es war also kaum überraschend, dass Henrietta E. Marshalls populäre Geschichtsdarstellung, die im Jahr 1908 unter dem Titel Our Empire Story veröffentlicht wurde, vor Optimismus nur so strotzte.

Tatsächlich sollte diese positive Sicht noch geraume Zeit bestehen, und zwar fast so lange wie das Empire selbst. Eine mächtige Lobby beförderte die Vorstellung, dass das Britische Empire trotz seiner Unzulänglichkeiten eine »Kraft für das Gute« in der Welt sei. Der Vorgang, dass die »weißen Dominions« im Jahr 1931 durch das Statut von Westminster formell zu souveränen Staaten erklärt wurden, dabei jedoch weiterhin Teil des Empire blieben, galt als Modell einer gedeihlichen internationalen Kooperation und für die Organisation eines verschiedene Nationen umfassenden Bundes.1 Diese Einstellung begann sich allerdings in den von der Weltwirtschaftskrise geprägten 1930er-Jahren zu wandeln. Die marxistischen Angriffe auf die Fehler und Mängel des Kapitalismus trafen zunehmend auf offene Ohren, und es wurde zu einer intellektuellen Mode, das Empire als Werkzeug des Finanz- und Industriekapitals zu verdammen. John A. Hobsons grandiose polemische Streitschrift Imperialism: A Study, die bei ihrer Ersterscheinung im Jahr 1902 noch kein größeres Aufsehen erregt hatte, fand jetzt eine begeisterte neue Leserschaft. Ein schwarzer Historiker aus Trinidad (dessen Premierminister er später werden sollte) namens Eric Williams schrieb an der Universität Oxford eine Doktorarbeit, in der er die These aufstellte, dass die Industrielle Revolution, immerhin die Hauptursache für Großbritanniens Wohlstand und Macht, ohne die Gewinne aus der Sklaverei und dem darauf beruhenden Arbeitssystem des Empire nicht möglich gewesen wäre.2 Diese ersten Anzeichen eines Meinungswandels hatten jedoch zunächst nur begrenzten Einfluss. Eine verlässlichere Messlatte der zeitgenössischen Ansichten war der Ruhm, den der »Empire-Builder« Cecil Rhodes genoss. Zwar hatten sich bereits die ersten Kritiker des im Jahr 1902 gestorbenen Rhodes zu Wort gemeldet.3 Sein Heldenstatus wurde jedoch durch das Königshaus selbst bestätigt. So besuchten der Prince of Wales im Jahr 1925 und der zukünftige Georg VI. im Jahr 1934 sein Grab in der Nähe von Bulawayo (im heutigen Simbabwe). Anlässlich seines hundertsten Geburtstags im Jahr 1953 suchten die Mutter und die Schwester der Queen, Prinzessin Margaret, in Begleitung zahlreicher Würdenträger seine Grabstätte auf. Im gleichen Jahr wurde in der Westminster Abbey eine Gedenktafel für ihn enthüllt.4 Im Spielfilm Rhodes of Africa (1936) wurde Rhodes als kantiger, männlicher und gebieterischer Charakter dargestellt, so wie man sich eben den »Schöpfer eines Imperiums« vorzustellen hatte.

Nach 1960 setzte jedoch eine mächtige Gegenbewegung ein. Der Auflösungsprozess des Empire, der mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 seinen Ausgang genommen hatte, war bereits weit fortgeschritten; die Kolonialherrschaft hatte den letzten Rest ihrer moralischen Rechtfertigung als eine Form der aufgeklärten Treuhänderschaft verloren. Die ideale Nachkriegsweltordnung verkörperte sich in der Charta der Vereinten Nationen, in der alle Formen des Kolonialismus abgelehnt und durch das universelle Ideal des souveränen Nationalstaats ersetzt wurden. Den Fortschrittlichen in Großbritannien erschien die imperiale Tradition jetzt als bedrückende Last. Ihre veralteten Werte von Ordnung und Hierarchie blockierten den kulturellen Wandel und die soziale Mobilität. Die Lasten der Kolonialherrschaft hatten Ressourcen vergeudet, die man besser zur Modernisierung der britischen Wirtschaft verwendet hätte. Die »weichen« Märkte des Empire hatten die Fertigungsindustrie viel zu lange in Watte gepackt, mit fatalen Langzeitfolgen. Die Geschichte des Empire wurde jetzt zunehmend als irrelevant betrachtet. Schlimmstenfalls war sie die verstörende Erinnerung an eine überholte Weltsicht, die Großbritannien in der postimperialen Welt gestrandet zurückgelassen hatte. Diese desillusionierte Stimmung war besonders empfänglich für die Art von »nationalistischer« Geschichtsschreibung, wie sie die Entkolonialisierung in den gerade erst unabhängig gewordenen Gesellschaften beförderte. So wie die britische Imperialgeschichte einst die Ausdehnung des Empire und die Taten seiner Erbauer gefeiert hatte, priesen die national geprägten Geschichtsdarstellungen jetzt die Erlangung der Nationalstaatlichkeit und den harten, mühsamen Freiheitskampf gegen die imperialistischen Unterdrücker. Auf diese Weise konnten in einer Art glücklicher Übereinstimmung die Historiker beider Seiten auf ihren hohen Rössern ihre Lanzen am kalten Leichnam des Empire zerbrechen.

Tatsächlich fiel das Urteil über dieses Empire immer negativer aus, je mehr es aus dem Blickfeld geriet. In den 1970er-Jahren verliehen die offensichtlichen Verwerfungen der Weltwirtschaft einer von Marx inspirierten Geschichte der Ausbeutung und des Klassenkampfs erneute Glaubwürdigkeit. Wenn man die imperiale Vergangenheit in diesem Licht untersuchte, schien sie zu einer Extremversion dieser universellen wirtschaftlichen Fehlentwicklung zu werden: Der Kolonialismus hatte einen Großteil dessen, was jetzt zur »Dritten Welt« wurde, in ein grausames Joch wirtschaftlicher Abhängigkeit gezwungen. In einer Spirale wachsender Verarmung mussten diese Länder ständig billiger werdende Rohstoffe gegen importierte Fertigwaren eintauschen. Der einzige Ausweg waren Revolution und Klassenkampf. In den Siedlergesellschaften, wo die Kolonisten das Land und die Arbeitskraft der Einheimischen an sich gerissen hatten, schienen die Ausbeutung und das Empire vollständig zu verschmelzen. Für die Historiker innerhalb und außerhalb Südafrikas, die sich mit den Entwicklungen im Süden des afrikanischen Kontinents befassten, stellte das unmenschliche Apartheid-System eine mehr oder weniger unvermeidliche Folge der weißen Kolonialisierung dar.5 Die vielleicht wichtigste »Lehre« aus der düsteren südafrikanischen Geschichte bestand offensichtlich gerade darin, dass Kolonialisierung und Empire ausnahmslos auf der Grundlage ethnischer Privilegien und Unterdrückung aufgebaut worden waren. In einer entkolonialisierten Welt, in der jedoch Rassendiskriminierung und Ungleichheit (nicht zuletzt in den reichsten und stärksten westlichen Gesellschaften) weiterhin tief verwurzelt waren, wurde das Übel des Rassismus zum zentralen Erbe des Empire, zum ideologischen Kern, der das gesamte imperiale Projekt antrieb, zum entscheidenden Bestandteil der imperialen Wirtschaft und Leitprinzip der imperialen Herrschaft.

Diese Beschreibung des Empire als (vor allem) rassistisches Unterdrückungssystem war jedoch oft nur die schärfste Spitze eines weit umfassenderen Angriffs. Hier wurde das Empire zu einem systematisierten Mittel, mit dessen Hilfe man eine ganze Reihe von »subalternen Gruppen« (ein Begriff, den man von dem italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci übernommen hatte) mit Repressionen überzog. Die »subalterne« Geschichte beschrieb die sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten, die das Empire gegenüber all denjenigen sanktionierte, die keinen Zugang zur politischen Macht besaßen: bäuerliche Gemeinschaften; Randgruppen, etwa die »Tribals« (»Stammesangehörige« oder »Ureinwohner«), die Waldbewohner und Kastenlosen in Indien; Nomaden, Landfahrer und Nichtsesshafte; weibliche Arbeitskräfte und Prostituierte; wie überhaupt die Frauen im Allgemeinen.6 Das Empire stellte eine pragmatische Verschwörung zwischen einer lokalen herrschenden Klasse und dem imperialen Regime dar. Diese »Subalternformel« ließ sich auch auf das Mutterland, das »heimische« Empire, übertragen. Auch hier wurde die Masse der Bevölkerung von einer imperialistischen Elite übervorteilt und ausgenutzt und bezahlte mit ihren Steuern und ihrem Blut den Ruhm, die Profite und die Vergnügungen einer kleinen Oberschicht. Auch hier wurden die Frauen bevormundet. Ihr zweitrangiger Status in einer männerbeherrschten Welt wurde vom maskulinen Ethos der Pioniersiedlungen, des Kolonialkriegs und der imperialen Herrschaft sogar noch weiter verstärkt.

Die Subalterngeschichte warf noch eine weitere wichtige Frage auf. Ihre Vertreter beharrten darauf, dass Zwang für die imperiale Autorität unverzichtbar gewesen sei und es weit mehr Brutalität gegeben habe, als es die gesäuberte Geschichtsschreibung des Empire zugeben würde. Der Gebrauch von Gewalt konnte jedoch unmöglich die ganze Erklärung für die Duldung und Hinnahme der imperialen Herrschaft daheim und draußen sein. So waren die Europäer in der britischen südasiatischen Raj gegenüber den Indern nur eine kleine Minderheit gewesen. Trotzdem gab es nur in den Jahren 1857/58 einige örtlich begrenzte lokale Aufstände. Noch weit weniger haltbar wäre die Behauptung, dass die »imperiale Idee« im Mutterland selbst auf irgendeinen Zwang gegenüber Frauen oder einer anderen subalternen Gruppe angewiesen gewesen wäre. Ein neues Argument erwiderte darauf, dass diese Erkenntnislücke durch den Rückgriff auf den britischen »Kulturimperialismus« geschlossen werden könne. Dieser Vorschlag berief sich auf die auch auf anderen Gebieten höchst einflussreiche Erkenntnis, dass das Geheimnis der gesellschaftlichen und politischen Macht die Herrschaft über die Darstellung von Menschen und Ideen sei. Allgemein akzeptierte Vorstellungen darüber, was es bedeutete, kriminell oder wahnsinnig, moralisch oder unmoralisch, progressiv oder primitiv zu sein, konnten eine stillschweigende Diktatur über das Denken und Verhalten ausüben. Darüber hinaus konnten sie von einer kulturellen Elite manipuliert werden, die damit ihre eigenen Privilegien schützen wollte. Es war eigentlich nur folgerichtig, diese Prämissen auch auf das Empire anzuwenden.

Die historischen Untersuchungen des Kulturimperialismus beschrieben das Empire als systematische Herabsetzung und Geringschätzung der Werte, gesellschaftlichen Praktiken und religiösen Vorstellungen der von ihm unterworfenen Völkerschaften sowie der »orientalischen« Völker im Allgemeinen, wobei zu Letzteren fast alle nichtwestlichen Gesellschaften gezählt wurden. Diese kulturelle Anmaßung sollte ganz offensichtlich die imperiale Herrschaft »Außenstehender« als Triumph der Wahrheit, des Fortschritts und der Freiheit über den Aberglauben, die Stagnation, den Despotismus und die Sklaverei, alles Elemente der Barbarei, rechtfertigen. Das Grundprinzip des Kulturimperialismus war die offenkundige Überlegenheit der Europäer (in diesem Fall der Briten) über die nichteuropäischen »Anderen«. Generationenlang hatten akademische Gelehrsamkeit und pragmatisches »Doppeldenk« fast jede Dimension einer bestimmten Kolonialgesellschaft so lange verdreht und zurechtgemodelt, bis sie in ein Bild absoluter Rückständigkeit hineinpasste. Dies war (um nur ein Beispiel zu nennen) die Aufgabe der kolonialen Ethnografie und ihrer offiziellen Betreiber, der Verfasser von »Gazeteers« (Ortsverzeichnissen) und Berichten, Untersuchungen und Datenerhebungen, durch die sich vor allem die Briten in Indien auszeichneten. In einer ungeheuren Arbeit einfallsreicher Geschichtsklitterung entwarfen sie das Bild stagnierender oder rückständiger Gemeinschaften, die nur durch das Eingreifen des Empire vor dem vollständigen Zusammenbruch hatten bewahrt werden können. Ihre mangelnde Entwicklungsstufe machte es auf unbestimmte Zeit unmöglich, sie in die Freiheit zu entlassen. Als Freibrief für eine dauerhafte Bevormundung (und Entschuldigung für grobe Methoden) war das schon schlimm genug. Noch schlimmer, so die Studien, sei jedoch der tiefgreifende Einfluss gewesen, den der Kulturimperialismus auf die beherrschten Völker gehabt habe. Indem er nämlich die Autorität der einheimischen Kulturen zerstörte und durch seine eigene ersetzte, habe er auch das Selbstvertrauen und die schöpferischen Fähigkeiten der einheimischen Eliten vernichtet und einen tiefen Keil getrieben zwischen eine vom Reiz der importierten Vorstellungen verführte kollaborationsbereite Minderheit und den Rest der jeweiligen Gesellschaft. Genau auf diesem Gebiet habe das Empire seine auf Dauer zerstörerischste Wirkung entfaltet. Es habe eine falsche Vorstellung von »traditioneller« Gesellschaft geschaffen und dadurch seine lokalen Verbündeten gegen jeden gesellschaftlichen und politischen Wandel abgeschottet. Noch schädlicher sei jedoch die Schaffung einer »Bildungselite« aus verwestlichten Erfüllungsgehilfen gewesen, während die indigenen Kulturen zu einer eingefrorenen, fragmentierten und minderwertigen Existenz herabgewürdigt wurden und als exotische Überbleibsel einer entwicklungsunfähigen Vergangenheit galten. Bei historischen Darstellungen des Empire ist der ideologische Schlachtenlärm also meist nicht zu überhören. Wir sollten dies jedoch nicht beklagen. Seit es Geschichtsbücher gibt, war es das beständige Ziel des jeweiligen Verfassers, unsere Sicht der Vergangenheit zu »korrigieren« und sie mit seiner eigenen Sicht der Gegenwart und wie es zu ihr kam, zu verknüpfen. In solchen »Geschichtskriegen« wurden selbst längst vergangene Zeiten zur Begründung zeitgenössischer Ideologien »annektiert«.7 Viele, die über die europäischen Überseereiche geschrieben haben (und immer noch schreiben), verfolgten dabei einen missionarischen Ansatz, der sich auf ein tiefes moralisches Unbehagen über die Auswirkung dieser Imperien gründet und oft sogar auf die Vermutung, dass die schlimmsten Übel unserer Zeit (vor allem der Rassismus) auf deren Einflüsse zurückzuführen seien. In Anbetracht dessen sollte die Imperialgeschichte einer strikten Methode folgen und eine klare Botschaft übermitteln. Sie sollte sich bei der Untersuchung der historischen Zeugnisse und Quellen, die die Imperialisten hinterlassen haben – offizielle Dokumente, persönliche Unterlagen und Berichte, zeitgenössische wissenschaftliche Abhandlungen, Zeitungen, Karten, Gemälde, Fotos und alle Formen der bildlichen Darstellung –, immer bewusst sein, dass sie alle unweigerlich von einer imperialistischen Agenda durchtränkt sind, nämlich dem unerbittlichen Beharren auf ihrer ethnischen und kulturellen Überlegenheit, auf ihrem Herrschaftsrecht und auf der welthistorischen Rolle Europas als Quelle der Zivilisation und des Fortschritts. Im Gegensatz dazu sollte die Imperialgeschichte nachweisen, dass diese imperialistische Mentalität verblendet, falsch und zutiefst unmoralisch war. Sie sollte gegen die Nostalgie angehen, die unser Empire-Bild immer noch verklärt, und den imperialen Dünkel aufdecken, der das britische und westliche Denken über die nichtwestlichen Völker immer noch prägt. Eine wahrhaft postkoloniale Geschichte würde uns also die imperiale Vergangenheit als das zeigen, was sie in Wirklichkeit gewesen sei: ein schändliches Protokoll wirtschaftlicher Ausbeutung, kultureller Aggression, physischer Brutalität (und periodischer Gräuel) und spalterischer Missherrschaft. Für einige westliche Historiker gehört es regelrecht zum guten Ton, darauf hinzuweisen, dass jede Form von Imperium für sie »böse« sei.

Man braucht nicht einmal einen dogmatischen Standpunkt zur Wahrheit oder Unrichtigkeit dieser verschiedenen Behauptungen (von denen wir einige später noch näher besprechen werden) einzunehmen, um ihre Beschränkungen bei der Darstellung der europäischen Kolonialreiche und speziell des britischen zu erkennen. Dahinter steht nämlich die Grundannahme, dass Imperien eine abnormale monströse Besonderheit in einer gewöhnlich imperiumsfreien Welt seien. Diese irrige Annahme zeugt von einem tiefsitzenden unbewussten Eurozentrismus. Imperien, als Geltendmachung der Macht (durch Einfluss oder direkte Herrschaft) einer ethnischen Gruppe (oder ihrer Herrscher) über eine Anzahl von anderen Gruppen, stellten während eines Großteils der Weltgeschichte in weiten Teilen der Welt den politischen Normalzustand und Standardmodus der staatlichen Organisation dar.8 Überdies waren auch schon frühere Weltordnungen, nicht erst die heutige, das Produkt von Imperien. Die Bedingungen, die Imperien entstehen lassen, sind somit weder eine Besonderheit der Moderne, noch wurzeln sie in einem Verhalten, einer Technologie oder in Werten, die eine europäische Besonderheit darstellen. Wenn wir unsere Gesamtsicht des historischen Wandels nicht aufgeben wollen, müssen wir darüber hinaus zugestehen, dass Imperien keinesfalls unverbesserliche Feinde des kulturellen und materiellen Fortschritts der von ihnen Beherrschten waren. Tatsächlich räumen Historiker der vormodernen und außereuropäischen Imperien im Allgemeinen ein, dass diese trotz des Mangels an politischer Freiheit kulturell oft fruchtbar waren und den materiellen Wohlstand beförderten. Es wäre kaum verständlich, wenn man diesen ausgewogeneren Ansatz im Falle der europäischen Imperien aus rein dogmatischen Gründen ablehnen würde. (Natürlich könnten die empirischen Befunde der Untersuchungentrotzdem durchaus negativ ausfallen.) Diese doktrinäre Voreingenommenheit ist jedoch auch noch in weiterer Hinsicht problematisch. Sie führt zu einer von Stereotypen geprägten Geschichte, zu einem schablonenhaften Narrativ, in dem die Interessen der Herrscher und Beherrschten als unvereinbare Gegensätze dargestellt werden und die Ambiguitäten und Unwägbarkeiten außer Acht gelassen werden, die einen Großteil des menschlichen Verhaltens auszeichnen. Sie spricht den Akteuren, deren Gedanken und Taten sie nachgeht, einen Großteil ihrer Autonomie ab, da diese ja in einer Gedankenwelt gefangen seien, die ihre Motive bestimme und ihr Verhalten beherrsche. Sie behandelt die Untertanen des Empire als passive Opfer des Schicksals ohne Handlungsfreiheit oder kulturellen Raum, in dem sie ihre eigenen Rituale, Glaubenssysteme oder üblichen Gepflogenheiten bewahren oder entwickeln konnten. Für sie beschränkt sich der Kontakt zwischen Herrschenden und Beherrschten auf eine abgeschlossene zweiseitige Begegnung, die von jedem Einfluss eines regionalen, kontinentalen oder globalen Austauschs abgeschnitten war. Am seltsamsten jedoch erscheint es angesichts unseres derzeitigen Wissens über dieses Thema, dass sie Großbritannien selbst als kulturellen und politischen Monolithen darstellt, der nicht nur von der Idee eines Weltreichs besessen war, sondern eine ganz bestimmte Empire-Version durchsetzen wollte, die auf kultureller Bevormundung, wirtschaftlicher Ausbeutung und Zwangsherrschaft beruhte.

Eine solche Geschichtsdarstellung mag vielleicht ihre Verdienste als »Traktat für unsere Zeit« haben, geht jedoch als Grundlage für eine Vorstellung der zukünftigen Entwicklungen völlig ins Leere. Wir benötigen stattdessen eine Geschichte des Empire, die auf überzeugendere Weise zu erklären vermag, wie das britische Weltreich errichtet wurde. Sie muss vor allem der außergewöhnlichen Vielfältigkeit der Kolonialgesellschaften und damit der Vielfältigkeit und Komplexität ihrer postkolonialen Nachfolgerstaaten gerecht werden. Immerhin waren Barbados, Uganda, Südafrika, Singapur, Neuseeland und Indien allesamt britische Kolonien; die britische Besetzung Ägyptens dauerte mehr als 70 Jahre. Trotzdem ließe sich wohl schwerlich behaupten, dass ihre gemeinsame Empire-Erfahrung zu ähnlichen Ergebnissen geführt hätte. Darüber hinaus muss eine Geschichte des Empire auch den Pluralismus und die Vielfalt der britischen Gesellschaft berücksichtigen. Diese soziale und kulturelle Komplexität (als Ergebnis innerer und äußerer Einflüsse) innerhalb eines einzigen souveränen Staates könnte bis zu einem gewissen Grad auch die weltweite Vorherrschaft Großbritanniens im langen 19. Jahrhundert vor 1914 erklären. Nicht zuletzt die außergewöhnliche Breite und Vielfalt der Interessen, Fertigkeiten und Aktivitäten, die die Aussicht auf eine Ausdehnung des Reiches mobilisieren konnte, ließ die Briten zu solch fähigen »Imperiums-Erbauern« werden. Genau diese Vielseitigkeit der Methoden, Sprachen und Ziele verliehen der »British Connection« (wie die damaligen Kolonisatoren und Kolonisierten diese Verbindung nannten) ihre kaleidoskopische Bedeutung, die für die einen eine Quelle der Anziehung, für die anderen der Ablehnung war. Sie sprach dem britischen Imperialismus jedoch auch die ideologische Kohärenz und politische Solidarität ab, die ihm die monolithischen Darstellungen des »imperialen Großbritanniens« auf naive Weise zugestanden.

Vielleicht am allermeisten benötigen wir jedoch eine Imperialgeschichte, die möglichst genau die allgemeinen Bedingungen untersucht, unter denen die britischen Interessen und Einflüsse auf der Suche nach Herrschaft oder Handelsgelegenheiten mit einer bestimmten Region in Kontakt traten. Dies war fast nie ohne irgendein lokales Bündnis oder eine Verständigung mit den Herrschern und Völkern möglich, die das betroffene Gebiet beanspruchten und kontrollierten. Tatsächlich war es im Allgemeinen nicht sehr sinnvoll, irgendwohin zu gehen, wo (angeblich) keine Einheimischen lebten, außer wenn man dort Sträflinge abladen wollte. Was wollte man auch in einer Ödnis, in der es kaum Leute gab, mit denen man Handel treiben konnte, oder Güter, die man kaufen wollte. Die Brückenköpfe, die die Briten errichteten, erstreckten sich oft nicht mehr als anderthalb Kilometer von der Küste ins Inland hinein. Ihre weitere Ausdehnung wurde häufig von lokalen Kräften unterbunden, die die Neuankömmlinge daran hindern wollten, ihnen den Handel mit den Völkern und Märkten im Hinterland streitig zu machen (das war lange Zeit in Westafrika, Indien und China der Fall), und die gleichzeitig über die militärischen Mittel verfügten, dieses Verbot auch durchzusetzen. Unter diesen Umständen eröffnete erst eine drastische Änderung des lokalen Machtgleichgewichts den Briten die Möglichkeit, mehr als eine beschränkte Handelspräsenz aufrechtzuerhalten, die gewöhnlich den einheimischen Herrschern und Händlern einen gewissen Nutzen brachte und nur selten lästig wurde, jedoch fast niemals eine Bedrohung darstellte. Manchmal war dieser Umsturz darauf zurückzuführen, dass Regierungen in London plötzlich den Entschluss fassten, eine wirkliche Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet übernehmen zu wollen, und danach die nötigen militärischen Kräfte entsandten, um dies durchzusetzen. Dies war jedoch nur selten eine einseitige oder spontane Entscheidung. Das gewöhnliche Szenario lief viel komplexer ab – und hatte auch viel komplexere Folgen.

Dies lag daran, dass die Briten in fast allen Fällen nur ein Element in einer weit größeren Gleichung darstellten. Bei den Orten, an denen sie sich festsetzten, handelte es sich um keine unberührten Gebiete, keinerlei zeitlichem Wandel unterworfenen Gebiete. Ganz im Gegenteil trafen sie im Nahen und Mittleren Osten, in Indien, Südostasien, China, Ost- und Westafrika auf starke, hochorganisierte Handelswirtschaften und – besonders in Indien und China – auf hochorganisierte Staaten. Diese Regionen waren bereits in das Netz der Handelswege integriert und reagierten oft äußerst dynamisch auf wirtschaftliche Entwicklungen. Sie waren wie Europa selbst in ständiger Bewegung. Änderungen ihrer wirtschaftlichen Aktivitätsmuster, die durchaus mit dem Wandel zu vergleichen waren, den wir heute als »Globalisierung« bezeichnen, konnten nicht selten auch ihre politische Ordnung erschüttern. Neue Quellen des Reichtums kamen neuen gesellschaftlichen Gruppen zugute und erweiterten deren Macht und Prestige, während sie gleichzeitig andere zurückstuften. Neue Fertigkeiten (und eventuell Werte) forderten die alten Besitzerschichten heraus oder bedrohten sogar deren Status. Darüber hinaus entwickelten sich neuartige Staaten, von denen einige jedoch auf gefährliche Weise von den neuen Handelsströmen und den Einkünften, die diese erbrachten, abhängig waren. Wenn es Schwierigkeiten gab, der Handel zurückging oder ganz unterbrochen wurde und dadurch die Einkünfte ausblieben, die das jeweilige Regime finanzierten, brach eine schwere Krise aus. Dies stellte jedoch nicht die einzige Gefahr dar. Einerseits konnte eine Krise »vom Meer her kommen«, also aus der örtlichen Beteiligung am Seehandel entstehen. In vielen Teilen der Welt war es jedoch fast ebenso wahrscheinlich, dass die Krise aus dem Binnenland kam. Binnenimperien, deren Herrscher weit entfernt in Delhi, Peking, dem burmesischen Ava oder Kumasi (der Hauptstadt des Aschantireichs im heutigen Ghana) residierten, konnten plötzlich die Herrschaft über Küstenregionen beanspruchen und sich der Entstehung neuer Händlerstaaten widersetzen. Sie konnten jedoch auch in eine große politische Auseinandersetzung gegen eine Invasion von außen und Aufstände im Inneren hineingezogen werden, wie es die Moguln im Indien des 18. Jahrhunderts erfahren mussten. Auf diese Weise konnten gesellschaftliche und kulturelle Spannungen, von denen die Briten kaum etwas mitbekamen, oder Ereignisse, die weit jenseits ihres lokalen Horizonts stattfanden, die Bedingungen grundlegend verändern, unter denen die britischen Stützpunkte und Küstenbasen existierten. Die britischen Kaufleute konnten durch Aufstände und Kriege ruiniert werden, in denen sie nur Drittparteien waren, und sie selbst mochten dabei als zwielichtige Verbündete neu aufgetauchter Herrschaftsprätendenten erscheinen oder im Gegensatz dazu in den Verdacht geraten, auf deren Sturz hinzuarbeiten. Genau diesen Situationen sahen sich die Briten nach 1740 in Indien ausgesetzt. Sie mussten darauf auf geeignete Weise reagieren oder das Ganze als Verlustgeschäft verbuchen und sich zurückziehen.

In Indien und anderswo sahen sie sich noch einem weiteren Problem gegenüber: Sie waren nur selten allein. Andere europäische Staaten, die oft durch große monopolistische Handelsgesellschaften, etwa die Französische oder die Niederländische Ostindien-Kompanie, vertreten waren, zog es gewöhnlich, angelockt von den gleichen wirtschaftlichen Anreizen, an dieselben Plätze. Dort konkurrierten sie in einem harten Wettstreit um Einfluss und Handelsvorteile. Wenn dann eine lokale Krise ausbrach, waren sie ebenso entschlossen wie die Briten, ihre eigenen Positionen zu schützen und jede Chance wahrzunehmen, um diese zu erweitern und zu stärken. Das Ergebnis war ein Konflikt, in dem sich die europäischen Rivalitäten mit den Auseinandersetzungen der lokalen Herrscher und Führer vermischten. Dessen Ausgang hing (zumindest, was die Briten anging) vom Erfolg ihrer Verbündeten und Freunde ab, wenn sie nicht willens waren, ihre eigenen Ressourcen in diesem diplomatischen und militärischen Wettstreit einzusetzen – und ihre Auftraggeber und Herren in London davon überzeugen konnten, dass sich der ganze Aufwand lohnte. Was Indien anging, war London dazu bereit, obwohl sich seine Hilfe weitgehend auf die Entsendung einer Hilfsflotte beschränkte. Aber selbst in Indien lag der Schlüssel zur erfolgreichen Ausdehnung britischer Küstenpositionen und dem Aufbau eines größeren Herrschaftsgebiets in der hartnäckigen Infiltrierung der lokalen Machtquellen, der Rekrutierung lokaler Ressourcen und der Anpassung ihrer Botschaft und ihrer Methoden an die indischen Verhältnisse. Um den Subkontinent regieren zu können, wurden sie zu »Anglo-Indern«, ein Begriff, mit dem man bis ca. 1900 die Briten in Indien bezeichnete.

Die Folge war, dass die Briten ihre Herrschaft den lokalen Gesellschaften nicht so sehr aufzwangen, sondern sich eher einen Weg in diese bahnten. Selbst dort, wo sie sich wie auf dem amerikanischen Kontinent durch eine Siedlerinvasion einen gewaltsamen Zugang verschafften, hingen ihre Aussichten doch davon ab, dass sie sich mit den »Ureinwohnern« verständigten, die sie als Landverkäufer, Handelspartner und Kriegsverbündete benötigten. Die Siedler mussten sich auf neuartige Landschaften, neuartige Produktionsweisen und eine neuartige Kriegführung einstellen. Sie mussten sowohl die Werkzeuge und Gerätschaften als auch die Institutionen und Werte, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatten, den örtlichen Bedingungen anpassen, was manchmal zu ziemlich drastischen Änderungen führte. So wurde zum Beispiel der akute Arbeitskräftemangel in der Plantagenwirtschaft in der Karibik durch die Einfuhr von Sklaven aus Westafrika gelöst, was zu einer Kluft zwischen den Ethnien und einem Zwangssystem führte, das sich von den gesellschaftlichen Verhältnissen im Mutterland diametral unterschied. In den Siedlungsgemeinschaften war das Empire dagegen wie in anderen Kolonialgesellschaften nicht nur eine Angelegenheit von Herrschaft und Unterdrückung (obwohl es beides auch hier geben konnte), sondern etwas weit Komplexeres: Hier entstanden neuartige oder hybride Gesellschaften, in denen Ansichten über die angebrachte Regierungsform, wirtschaftliche Prämissen, religiöse Werte, moralische Auffassungen, Eigentums- und Rechtsvorstellungen aufeinanderprallten und sich gleichzeitig vermischten, wobei sie neu erfunden, umgestaltet, erprobt oder aufgegeben wurden. Kolonialgesellschaften formten sich also nicht gleich zum Zeitpunkt der Eroberung oder Landnahme. In der ganzen Periode, die wir in diesem Buch behandeln, waren sie im Werden begriffen, wobei sich ihre Politik, Wirtschaft und Sozialstruktur in einem ständigen Umbruch befanden.

Wie lassen sich nun die vielfältigen Veränderungen, die die Kolonialisierung mit sich brachte, auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Vor etwa 50 Jahren skizzierten John Gallagher und Ronald Robinson, zwei der scharfsinnigsten Historiker des europäischen Imperialismus, den Weg Großbritanniens zu einem Weltreich nach 1815.9 In Zentrum ihrer Argumentation befinden sich zwei Grundaussagen: Zum Ersten hätten die Briten ständig den am wenigsten aufwendigen Weg gewählt, um ihre Interessen in allen Teilen der Welt zu befördern. Dies habe nicht zuletzt an ihrem Regierungssystem mit seiner eingebauten Beschränkung der öffentlichen Ausgaben gelegen. Das habe sie zum Zweiten dazu gebracht, sich, wo immer sie konnten, auf eine Zusammenarbeit (»Kollaboration«) mit den lokalen Eliten zu verlassen, in deren Hinterhöfen sie sich festzusetzen gedachten. Diese Kollaboration war jedoch nur dann möglich, wenn man eine Arbeitsübereinkunft fand, mit der beide Seiten leben konnten. Die Briten wollten dabei keinesfalls mehr Ressourcen (an Arbeitskräften oder militärischen Gewaltmitteln) einsetzen, als zur Verteidigung ihrer Interessen absolut nötig waren. Andererseits bauten die lokalen Eliten darauf, dass die Kollaboration die direkte britische Einflussnahme verringern, ihre eigene Machtbasis stützen und ihnen vielleicht sogar Vorteile verschaffen würde. Das Ergebnis war ein komplexes historisches Muster. In einigen Teilen der Welt konnten sich die Briten durch eine energische Diplomatie einen freien Handelszugang sichern, der die lokale Souveränität weitgehend intakt ließ. Dies war das lateinamerikanische Modell. In weniger kooperativen Regionen griff man zu gewaltsameren Mitteln. Wenn die Ortsansässigen nicht freiwillig ihre Tore öffneten, brach man das Schloss auf oder schlug das Tor ein. Diese Zwangsmaßnahmen wandten die Briten zwischen 1839 und 1842 in China an. Um freien Zugang zu dessen Märkten zu erhalten, blockierten sie mit ihren Dampfschiffen die chinesische Hauptverkehrsader, den Jangtse, bis Peking nachgab. Danach hofften sie, mit Hilfe einer Handvoll von »Vertragshäfen« (in denen die ausländischen Kaufleute nicht mehr der chinesischen Autorität und Justiz unterstanden), einer Kanonenbootflotte und eines großen Hafens in Hongkong (das jetzt eine britische Besitzung war) das chinesische »Eldorado« ausbeuten zu können, ohne die Lasten einer direkten Kolonialherrschaft tragen zu müssen. In anderen Teilen der Welt konnten dagegen auch eine bewaffnete Intervention und das Vertragshäfen-System die von ihnen gewünschte Handelsordnung manchmal nicht garantieren. In anderen Fällen wollten sie die alleinige Kontrolle über strategische Plätze erlangen (die selbst oft keinerlei wirtschaftlicheBedeutung besaßen), von denen aus man die Seewege überwachen konnte, die die britischen Interessensphären miteinander verbanden. Dort kam das volle Programm zum Einsatz: Sie übernahmen die Herrschaft, setzten die örtlichen Herrscher ab und einen Gouverneur ein. Auf der Weltkarte war dieses Gebiet ab jetzt rot eingefärbt. Aber selbst hier bestand das Empire größtenteils rein »formell« und folgte der Kollaborationslogik. Es war nur vernünftig, die lokalen politischen Drahtzieher ausfindig zu machen und sich ihrer Unterstützung zu versichern. Eine rein auf Zwang beruhende Herrschaft war dagegen viel zu schwerfällig und gefährlich. Hätte man eine große Zahl von Briten ins Land geholt, um mit ihnen eine Bürokratie aufzubauen, wäre das eine sinnlose Mittelverschwendung gewesen. Bekanntlich regierten die Briten ganz Indien mit seiner Bevölkerung von 250 Millionen mit einem Verwaltungsapparat, der nicht einmal tausend Mitglieder umfasste.

Gallaghers und Robinsons brillante historische Erkenntnisse bilden bis heute den Ausgangspunkt der meisten ernsthaften Arbeiten über die Geschichte des Empire. Dem können wir noch eine Betonung der vielfältigen Standpunkte und manchmal recht gegensätzlichen Aktivitäten all jener Personen und Interessengruppen in Großbritannien hinzufügen – Händler, Missionare, Siedler, Soldaten, Seeleute, Reeder, Wissenschaftler, Diplomaten, Philanthropen, Investoren und Karrieristen –, für die das Empire entweder ein wertvolles Gut oder ein wünschenswertes Projekt darstellte. Bei genauerer Untersuchung stellt sich nämlich heraus, dass die Imperien, die sie jeweils erstrebten, oft ziemlich unterschiedlich waren. Das »Empire der Sklaverei« war Anfang des 19. Jahrhunderts per Gesetz abgeschafft worden. Die Interessen der reichen Sklavenhalter hatten dabei der reformerischen öffentlichen Meinung im Mutterland nichts entgegenzusetzen gehabt.10 Das »Empire der Siedler«, das instinktiv protektionistisch war und bis zur Aufsässigkeit die Selbstverwaltung anstrebte, hatte wenig mit dem größeren »Freihandels-Empire« gemein, von dem die Ausfuhren, Arbeitsplätze und Gewinne abhingen. Beide unterschieden sich jedoch grundsätzlich vom »Empire Christi«, diesem Großreich des christlichen Glaubens, in das die britischen protestantischen Missionare die ganze Welt einzubeziehen hofften. Wiederum anders war das »Empire der Kohlestationen, Stützpunkte und Festungen«. Die Streitigkeiten und Zänkereien dieser rivalisierenden Imperiumsvorstellungen sorgten dafür, dass keine einzelne imperiale Ideologie in der Viktorianischen Zeit die Oberhand gewann. Gleichzeitig unterstützten sie die Untertanenvölker in ihrer Suche nach hochgestellten Freunden und hielten sogar die schwache Hoffnung aufrecht, dass sie eines Tages die Freiheit wiedererlangen würden.

Wir können jedoch noch etwas anderes hinzufügen, das zum Hauptthema dieses Buches werden wird. Die Geschichte der britischen Expansion stellte eine lange Reihe imperialer Begegnungen dar, die mit einem ersten Kontakt begannen und mit der Herausbildung von Kolonialgesellschaften endeten. Auf diese Weise entstand das Empire. Um jedoch diesen Vorgang genau zu verfolgen, müssen wir ihn in Zeitlupe ablaufen lassen und ihn dabei in seine Komponenten und Phasen aufgliedern. Erst dadurch können wir die Ideen herausarbeiten, die das Empire »vernünftig« erscheinen ließen; die Methoden aufspüren, auf die sich die Herrscher über dieses Empire stützten; die Missstände erklären, die zu Aufständen führten; die Mittel nachvollziehen, mit denen diese Revolten gewöhnlich unterdrückt wurden; den Wegen (und Mühen) der Missionare folgen; den Einfluss des Empire auf die Raum- und Identitätswahrnehmung analysieren. Der Aufbau des Empire war eine Abfolge vieler unterschiedlicher Ereignisse und Tätigkeiten: Man stellte Kontakt her, nahm in Besitz, entfesselte einen Krieg, gründete Siedlungen (oder versuchte es zumindest), kaufte und verkaufte (auf ehrliche oder unehrliche Weise), herrschte, rebellierte, unterdrückte, bekehrte und erfand neue Identitäten.

Imperiumsvorstellungen

Die Reichsidee hatte in Großbritannien eine lange Geschichte. Von Anfang an war sie eine unklare und manchmal sogar widersprüchliche Verbindung von territorialem Ehrgeiz, Verwaltungspraktiken, Rechtsverfahren und kulturellen Ambitionen. Ein Großteil des späteren institutionellen Rahmens des Empire wurde in England lange vor Christoph Kolumbus’ Atlantiküberquerung geschaffen. Dazu gehörte etwa das Grundkonzept einer Einheitsmonarchie, die über alle englischen Besitzungen herrschte. Souveränität und Treuepflicht waren streng zentralisiert, und die Krone duldete keine Konkurrenz. Diese absolute Treuepflicht wurde jedoch durch ein zweites bedeutsames Prinzip gemildert: Die Besitztümer der Krone konnten ihre eigenen Gesetze und Sitten beibehalten, wenn diese nicht absichtlich und ausdrücklich geändert wurden. Außerdem war gewohnheitsrechtlich festgelegt, dass die Krone Gesetze für ihre abhängigen Besitzungen entweder durch das Parlament (die statutes) oder durch den »König-im-Rat« (king-in-council) erlassen konnte. In diesem Fall wurde der Monarch selbst auf Ratschlag seines Privy Council (Kronrats) gesetzgeberisch tätig. Tatsächlich wurde Letzteres schließlich aufgrund seiner größeren Flexibilität zum weit gewöhnlicheren Verfahren. Die Verfügung des Kronrats (order-in-council) war ein Exekutivakt, der vom Privy Council verabschiedet wurde, in dem ursprünglich die engsten Ratgeber des Königs saßen. In neuerer Zeit wurde der ganze Vorgang jedoch mehr und mehr zu einer Verwaltungsformalität. Das uralte Recht des Königs, in allen seinen Besitzungen die rechtlichen Appellationen seiner »Untertanen« anzuhören, war fest verwurzelt. Tatsächlich überlebte dessen Schatten bis in unsere postkoloniale Welt in Form der Berufungen an das »Judicial Committee of the Privy Council« (Rechtsausschuss des Kronrats), das bis heute selbst von einigen unabhängigen Commonwealth-Staaten aus rechtspraktischen Gründen noch als höchste gerichtliche Berufungsinstanz anerkannt wird. Diese Verschmelzung eines allgemeinen Treueverhältnisses zur Krone und einer (in der Praxis) dezentralisierten Gesetzgebung prägte die englischen (und später britischen) Vorstellungen über das Empire von Anfang bis Ende.11

Es gab jedoch noch weitere frühe Erfindungen, die die Engländer später in Amerika und Asien kopieren würden. Bereits im Jahr 1363 übertrug die Krone 26 englischen Kaufleuten in Calais bestimmte Selbstverwaltungsrechte. Die Stadt war damals einer der wichtigsten englischen Besitzungen (die England als letzter Teil seines europäischen Festlandbesitzes erst im Jahr 1558 verloren gehen sollte). Im nächsten Jahrhundert verlieh die Krone im Calais Staple Act von 1423 einem Kaufmannskartell in Calais im Rahmen des Stapelrechts ein Monopol für den gesamten Auslandsverkauf der englischen Wolle. Dies war ein Vorläufer der Monopole, die man später der East India Company, der Levant Company, der Hudson’s Bay Company, der Royal African Company und (als Letzter einer langen Reihe) Cecil Rhodes’ British South Africa Company gewähren würde. Im Jahr 1381 versuchte eine Navigationsakte (allerdings nicht sehr erfolgreich) den Handel von und nach England auf Schiffe zu beschränken, die Engländern gehörten und eine englische Besatzung hatten. Hier begegnen wir zum ersten Mal einem System des Geschäftsausschlusses und der Handelsbeschränkung, das (soweit es eben ging) im transatlantischen Empire des 17. und 18. Jahrhunderts perfektioniert werden sollte.

Die späteren Imperiumserbauer erbten jedoch von den mittelalterlichen politischen Entscheidungsträgern nicht nur eine Reihe rechtlicher und administrativer praktischer Hilfsmittel. Seit dem 10. Jahrhundert (vielleicht sogar noch früher) beanspruchten die englischen Könige das »Hochkönigtum«, also die Oberherrschaft über die gesamten Britischen Inseln. Eduard der Bekenner (Edward the Confessor) nannte sich selbst Rex totius Britanniae, König von ganz Britannien.12 Im »Normannischen Jahrhundert« (1066–1154) wurde diese Entwicklung unterbrochen, als die englische Seemacht vorübergehend abnahm. Seit dem späten 12. Jahrhundert machten die Engländer jedoch energisch ihre Oberherrschaft über Irland (wo Heinrich II. im Jahr 1172 die »Lordship of Ireland«, die Lordschaft über Irland, annahm) und Wales geltend, wo Eduard I. seine Eroberungszüge durchführte und durch den Bau zahlreicher Burgen absicherte. Die Versuche, Schottland gefügig zu machen, verliefen dagegen weniger erfolgreich. In der Bekämpfung der zu mächtig gewordenen Siedler in Irland (sowie der einheimischen Iren) und der Ansiedlung englischer Siedler in Wales (denen man Selbstverwaltungsprivilegien gewährte, nachdem man sie in East Anglia angeworben hatte)13 können wir bereits die Zwickmühlen und Taktiken des späteren Kolonialismus erkennen. Darüber hinaus offenbarte dieses englische Expansionsmuster auch einen starken Gegensatz zwischen der englischen Idee von »Kultur« als den Eigenschaften einer geordneten und friedlichen Gesellschaft, und jenen Vorstellungen, die in den britischen »Randgebieten« vorherrschten. Das englische Modell umfasste folgende Bestandteile: eine gut bevölkerte Gegend voller gefestigter Dorfgemeinschaften; eine Landschaft aus Gutshöfen und »common fields« (Gemeinschaftsfelder als einer speziell englischen Allmende-Form), auf denen meist Getreide angebaut wurde; eine Bauernschaft, die in der Abhängigkeit einer Grundbesitzerklasse und deren kirchlicher Verbündeter stand; ein Netzwerk aus Städten, Märkten und Messen; ein aktiver Land- und Grundstücksmarkt, der eine gewisse soziale Mobilität erlaubte; und vor allem eine Monarchie, die für die Bewahrung des Friedens sorgte, Städte gründete, Steuern erhob und den Handel förderte.14 In Irland und Wales herrschte jedoch ein völlig anderes Gesellschaftssystem. Dort gab es auf Blutsverwandtschaft beruhende Gemeinschaften, deren Treue und Loyalität nicht dem König, sondern ihren Sippengenossen und Clan-Führern gehörte. Sie waren zumeist umherziehende Hirten und keine sesshaften Ackerbauern. Ihr Eigentumsbegriff war lose und informell. Die Kämpfe zwischen den Clans (die einige englische Beobachter für eine unvermeidliche Folge ihrer Weidewirtschaft hielten) begünstigten Raub und Sklaverei. Städte waren dünn gesät, es herrschte Geldmangel. Die Umgangsformen und Manieren waren entsetzlich. Eine Welt voller rauer Hirten hatte keine Verwendung für Tische, an denen man gesittet speiste, oder für irgendeine andere Form von ausgeklügelter sozialer Etikette. In Abwesenheit der strikten Sozialkontrolle, die der englische Priester über seine Gemeinde ausübte, förderte ihre Clan-Kultur die Probeehe, die Scheidung und die nachträgliche Anerkennung unehelich geborener Kinder. Für die englischen Beobachter handelte es sich um gesetzlose, chaotische, brutale Gesellschaften, deren politisches Leben sich auf unterschiedliche Formen von Schutzgelderpressung beschränkte. Ordnung und Fortschritt mussten deshalb von außen aufgezwungen werden. Auf keinen Fall durfte man es den Engländern in Irland gestatten, einheimische Sitten anzunehmen. Darin lag unter anderem der Zweck der Kilkenny-Statuten von 1366, die den Einwanderern (unter anderem) die auch bei ihnen in Mode gekommenen irischen Frisuren verboten. Die wirkungsmächtige Gleichsetzung von kultureller Überlegenheit und imperialer Herrschaft wurde also ganz in der Nähe des Mutterlandes geboren.

Natürlich beschränkte sich der englische Ehrgeiz nicht auf die Britischen Inseln. Die Dynastien der Normannen und Plantagenets brachten territoriale Interessen und Ansprüche auf dem europäischen Festland nach England mit. Die Normandie ging zwar im Jahr 1204 an die Könige von Frankreich verloren, doch die englische Krone hielt auch danach noch ihren Anspruch auf das Poitou und Aquitanien aufrecht, eine riesige Landmasse im heutigen Südwestfrankreich, und bezog große Einkünfte aus der weinexportierenden Gascogne und ihrer Hauptstadt Bordeaux. Allein die gaskognische Weinsteuer brachte genauso viel ein wie die gesamten englischen Zolleinnahmen. Über die ganze Bretagne verstreut lagen englische Garnisonen. Die strategische Bedeutung dieser Halbinsel für den Seeweg in die Gascogne nahm diejenige Ägyptens für den Seeweg nach Indien 500 Jahre später vorweg.15 Trotzdem übte die dynastische Herrschaft auf dem europäischen Festland bei weitem nicht denselben Einfluss auf die Imperiumsvorstellungen der Engländer aus wie ihre Erfahrungen in Irland und Wales. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen war der englische Monarch als Herzog von Aquitanien in diesen Gebieten zumindest formal Lehnsmann der Könige von Frankreich, was natürlich den Spielraum für die Schaffung neuer Institutionen stark einschränkte. Zum anderen hatte die Berufung auf die englische Kultur und Gesellschaftsstruktur in dieser wohlhabenden Besitzung mit ihrer hoch organisierten Regierung und reichen Handelswirtschaft nur wenig Sinn. Noch wichtiger war jedoch, dass die Engländer bis zum Jahr 1453 mit Ausnahme der Enklave Calais vom gesamten europäischen Festland vertrieben wurden.

Dieser eigentlich eher zufällige Zeitpunkt war von gehöriger Bedeutung. Denn im nächsten Jahrhundert, als die Bandbreite der englischen Ziele und Ambitionen dramatisch größer wurde, richteten sich ihre Expansionsbestrebungen auf die Britischen Inseln und das Meer und nicht auf den europäischen Kontinent. Tatsächlich drängten die Konsolidierung von Spanien und Frankreich als dynastische Staaten und die Familienallianz zwischen Österreich und Spanien, die beide von den Habsburgern regiert wurden, die Engländer in Europa in die Defensive. Dieses Gefühl der Verwundbarkeit wurde durch die Krise noch weiter verschärft, die die Auseinandersetzung über die religiöse Orientierung Englands hervorrief. Sie begann mit Heinrichs VIII. Streit mit Rom wegen seiner gewünschten Ehescheidung und führte über die katholische »Restauration« unter Königin Maria (1553–1558) zum protestantischen »Settlement« (»Religionsregelung«) nach der Thronbesteigung Elisabeths I. im Jahre 1558, durch die England in einen unüberbrückbaren Gegensatz geriet zur stärksten europäischen See- und Landmacht, dem Spanien Philipps II. Heinrich untermauerte seinen Anspruch auf absolute religiöse Autonomie im Appeals Act von 1533 (»Statute in Restraint of Appeals«) durch die Aussage, dass England ein »Imperium« und deshalb keinem anderen irdischen Herrscher unterworfen sei. Die Angst, dass diese spezielle Form des englischen Protestantismus von innen durch einen Staatsstreich oder von außen durch eine Invasion (was die spanische Armada im Jahr 1588 tatsächlich versuchte) gestürzt werden könnte, wurde mit der Zeit chronisch und zwanghaft. Die angeblich nötige ständige Wachsamkeit des gesamten Volkes vor einem katholischen Umsturz, der zu Despotismus, Verfolgung und der Unterjochung Englands durch Spanien (später Frankreich) führen würde, wurde zu einer Quelle des Patriotismus und der protestantischen englischen Identität. Nach der Union von 1707 half er, die gegenseitigen Antipathien der Engländer und Schotten einzuebnen und beiden das Gefühl einer gemeinsamen »Britishness«, einer »britischen Wesensart«, zu vermitteln.16 Selbst auf dem viktorianischen Höhepunkt der britischen Weltmacht hatte er immer noch die Kraft, gegebenenfalls die öffentliche Meinung zu alarmieren und immer wieder missionarischen Eifer anzustacheln. Trotzdem war er nur eine, wenngleich äußerst explosive, Imperiumsvorstellung der Elisabethaner.

Genauso wichtig war das geostrategische Sicherheitskonzept, das sich nach ca. 1560 immer mehr durchsetzte. Die Angst vor einer Invasion von außen beförderte die Erkenntnis der notwendigen Kontrolle des Ärmelkanals zwischen England und den Niederlanden – den wahrscheinlichsten Ausgangspunkt eines spanischen Angriffs – und der »Western Approaches«, die »Westansteuerung«, wie man den Seekorridor nannte, der vom Atlantik in die Irische See und den Ärmelkanal führte. Bis 1560 waren eine eigene »Queen’s Navy« sowie ein Verwaltungssystem entstanden, das sie unterhalten und beliefern sollte.17 Die Niederlage der spanischen Armada im Jahr 1588 brachte eine kurze Atempause. Aber bereits in den 1590er-Jahren schickte Elisabeths Regierung Expeditionstruppen in die Niederlande und die Bretagne, um einem erneuten spanischen Angriff vorzubeugen. Die Reformation in Schottland milderte die englischen Ängste vor einem Einfall aus dem Norden. Andererseits bereiteten das offensichtliche Scheitern der Reformation in Irland, die Verwundbarkeit des »Pale«, des hauptsächlich von Engländern besiedelten Gebiets um Dublin, und die Gefahr, dass Irland zum Stützpunkt für eine Invasion quasi durch die Hintertür werden könnte, Elisabeths Ministern immer größere Sorgen. Zwischen den Sechziger- und Achtzigerjahren des 16. Jahrhunderts stieg die Zahl der englischen Garnisonstruppen in Irland kontinuierlich von 1500 auf über 8000 Mann an.18 In den 1590er-Jahren fasste man die drastische Entscheidung, einen großen Eroberungskrieg zu beginnen, um das gälische Irland nach rein englischen Vorstellungen umzugestalten. Diese Bemühungen hatten hier und in Festlandseuropa nur einen vorübergehenden und zudem schwer erkauften Erfolg. Trotzdem beherrschte die Doktrin, dass die englische Sicherheit von der aktiven Flottenüberwachung ganz Nordwesteuropas und der wirksamen Kontrolle über die gesamte irische Insel abhing, von da an bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die strategischen Vorstellungen der Regierungen in London.

Der dritte entscheidende Einfluss war Englands Hinwendung zu den Weiten des Ozeans. Es wurde schon oft festgestellt, dass die Engländer bei der Erkundung und Eroberung des Atlantiks Nachzügler waren, die weit hinter den Portugiesen, Spaniern und Franzosen hinterherhinkten. Dabei brachte sie erst eine kommerzielle Katastrophe zum Handeln. Die Kaufleute von Bristol waren durch den Handel mit Gascogne-Wein reich geworden, den sie in Bordeaux gegen Getreide und Tuche eintauschten. Der Zusammenbruch der englischen Herrschaft im Jahr 1453 brachte diesen Handel zum Erliegen und zwang sie, nach Süden in Richtung Portugal und Spanien zu blicken. Hier lernten sie das neue Seefahrtswissen kennen, das die portugiesischen und spanischen Navigatoren in die Karibik und nach Westafrika gebracht hatte. Seeleute aus Bristol begannen, nach der »Brasilinsel« (wahrscheinlich Neufundland) zu suchen, die angeblich irgendwo im Atlantik lag. John Cabot (Giovanni Caboto), ein Genuese wie Kolumbus, wurde mit der Suche nach einem »neugefundenen Land« im Nordatlantik beauftragt. Vielleicht sollte er dort einen Ersatz für die Fischerei vor Island auftun, aus der die Leute aus Bristol von ihren Konkurrenten von der Hanse verdrängt worden waren.19 Zuerst hatte das ganze Unternehmen nur wenig Erfolg, aber seit den 1550er-Jahren nutzten die Seeleute aus dem Südwesten Englands und ihre Geldgeber in der Händlerschaft das neu gewonnene seemännische Wissen, um die Vorherrschaft der Portugiesen und Spanier auf dem Atlantischen Ozean herauszufordern. Im Jahr 1562 erreichte John Hawkins die westafrikanische Küste, wo er Sklaven erwarb, die er in Spanisch-Amerika weiterverkaufte. Sein Vetter und Protegé Francis Drake übernahm später Hawkins’ Praxis, seine »Handelsgeschäfte« in spanisch-amerikanischen Häfen mit Waffengewalt durchzuführen, wobei er große Reichtümer erbeutete.20 Die englischen Minister »missbilligten« dies. Doch sie wiesen auch die Behauptung der Spanier und Portugiesen zurück, dass die päpstliche »Schenkung« von 1494, der Vertrag von Tordesillas, den Atlantik zwischen ihnen aufgeteilt und damit alle Ansprüche anderer Nationen ausgeschlossen habe. Stattdessen bestanden sie auf der Doktrin des Mare Liberum: »Da nun die See und der Handel nach Natur- und Völkerrecht ein Gemeingut darstellen, war es weder für den Papst rechtens, noch ist es für die Spanier rechtens, andere Nationen vom Zugang und der Teilhabe an diesem Recht auszuschließen.«21 Die Vorstellung, sie seien Außenseiter, die sich unter Berufung auf die »Freiheit der Meere« in die abgeschotteten Handelssysteme der Spanier, Portugiesen, Niederländer und (später) Chinesen einzubrechen bemühten, wurde zu einem der dauerhaftesten Bestandteile des britischen Imperialismus, und ihr Einfluss war noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spürbar.

Der bekannteste Imperiumsplaner dieses Zeitalters war Walter Ralegh (1554–1618), der »energisch drängende Außenseiter«,22 dessen galante Erscheinung und Talent zum Verseschmieden ihn zu einem Günstling an Elisabeths Hof machten, wo er durch Ämter, Einkommen und Besitzungen gebührend belohnt wurde. Der Seekrieg mit Spanien und Elisabeths Probleme in Irland eröffneten dem Angehörigen des Landadels von Devonshire reiche Gewinnmöglichkeiten. Raleghs Halbbruder war Humphrey Gilbert, dessen Karriere einen großen Aufschwung nahm, nachdem er in den 1570er-Jahren durch einen besonders brutalen Feldzug einen Aufstand in Irland unterdrückt hatte. Gilbert war überzeugt, dass man eine Nordwest-Passage nach China finden könne. Außerdem schlug er vor, eine Kolonie in Amerika zu gründen, um die Armut in England zu lindern. Im Jahr 1583 segelte er nach Neufundland und nahm auf der Grundlage eines Patents von Königin Elisabeth den Hafen und die Umgebung des Ortes in Besitz, der später zur Provinzhauptstadt St. John’s werden würde. Als Gilbert auf der Rückfahrt nach England mit seinem Schiff unterging, trat Ralegh in seine Fußstapfen. Auf seine Veranlassung hin verfasste Richard Hakluyt im Jahr 1584 seinen Discourse of Western Planting, das erste bedeutende Manifest des englischen Übersee-Imperialismus.23 Es verneinte die spanischen Ansprüche auf Nordamerika, brandmarkte die Grausamkeit, mit der die Spanier die Indianer behandelt hatten, und forderte eine systematische Kolonisation, um damit die Arbeitslosigkeit, die Überbevölkerung und die Wirtschaftsflaute im Mutterland zu beheben. »Alle Güter unserer alten und gefährlichen Handelsverbindungen in Europa, Afrika und Asien… könnte man in kurzer Zeit für wenig oder nichts… aus dem Teil Amerikas beziehen, der zwischen dem 30. und 60. Grad nördlicher Breite liegt«, behauptete er. Ziel sollte es sein, Rohstoffe zu importieren und Fertiggüter zu exportieren, »um im Gegenzug die Beschäftigung einer wunderbaren Mehrheit der armen Untertanen dieses Königreichs« zu gewährleisten. »Bei der Anzahl von Dingen, die bearbeitet ausgeführt und unbearbeitet eingeführt würden, müsste keine einzige arme Kreatur mehr stehlen, verhungern oder betteln, wie sie es heute noch tut…«24 Wie Gilbert verband Ralegh die Kriegsführung in Irland, wo ihm die Königin aus beschlagnahmten Ländereien einen riesigen Grundbesitz verlieh, mit seinen amerikanischen Unternehmungen. Mit dem Geld, das er von Londoner Kaufleuten auftrieb, und der praktischen Hilfe Thomas Harriots, des führenden englischen Mathematikers und Astronomen seiner Zeit, sandte er in den Jahren 1585 und 1587 zwei Expeditionen nach Roanoke (an der Küste des heutigen North Carolina) aus. Er wollte einen Handelsstützpunkt gründen, gleichzeitig jedoch von dort aus die spanische Schatzflotte angreifen, die einmal im Jahr auf dem Rückweg nach Spanien durch die Floridastraße segelte. Wie viele führende Persönlichkeiten an Elisabeths Hof glaubte Ralegh, dass man durch eine Unterbrechung der Edelmetalllieferungen die spanische Vormachtstellung in Europa verringern könnte und damit auch die Gefahr vermindern würde, die diese für das protestantische England darstellte. »Es ist sein indisches Gold, das alle Nationen Europas bedroht und in Unordnung bringt…«, bemerkte er über Philipp II.25

In Sachen Imperiumsbildung waren die Engländer am Ende des Jahrhunderts immer noch Außenseiter. Ihr Versuch, in Roanoke eine Kolonie zu gründen, war kläglich gescheitert, und sie hatten nichts zu bieten, was auch nur entfernt mit dem spanischen silberreichen Imperium in Mexiko und Peru oder mit Portugals Estado da India mit seiner Hauptstadt im »Goldenen Goa« zu vergleichen gewesen wäre. Auf den Gewürzinseln in Ostindien waren ihnen die Niederländer zuvorgekommen. Ihre Vereenigde Oostindische Compagnie oder »VOC« sollte sich ihrer in London sitzenden Rivalin mehr als gewachsen zeigen. Dass jedoch jenseits des Atlantiks große Reichtümer zu erwerben seien, hatte sich in die englische Vorstellungswelt fest eingenistet. Es war deshalb nur folgerichtig, dass immer weitere wirtschaftliche Mittel bereitgestellt wurden, um diese Überseeunternehmungen zu finanzieren. Ausgerechnet im Jahr der Armada verfasste Richard Hakluyt seine Sammlung von Reiseberichten englischer Kapitäne und Entdecker Principall Navigations… of the English People, die im Jahr darauf veröffentlicht wurde. Diese erweiterte er zu dem riesigen Kompendium The Principal Navigations, Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation (1598–1600), einer epischen Feier der maritimen englischen Vergangenheit. Der Sieg über die Armada im Jahr 1588 bestätigte Hakluyts und Raleghs Behauptung, dass man Spanien auf dem amerikanischen Doppelkontinent herausfordern könne. In den 1590er-Jahren führten Krieg und Beutelust zu weiteren derartigen Versuchen, einschließlich Raleghs eigener Entdeckungsfahrt ins »große, reiche, schöne Reich Guiana« (das heutige Guyana) im Jahr 1595. Aber auch daraus wurde nichts. Im Jahr 1607 errichtete jedoch eine in London sitzende Aktiengesellschaft einen anfänglich stark gefährdeten amerikanischen Stützpunkt, dessen Versorgung und Widerstandskraft gerade einmal ausreichten, um die Schwierigkeiten und Katastrophen zu überleben, die die Engländer in Roanoke überwältigt hatten. Der Name dieser Kolonie lautete Virginia.

Das lange 17. Jahrhundert bis 1713 war in England, Schottland und Irland eine Zeit der Revolutionen und Kriege. An seinem Ende hatten die Engländer jedoch ihre Position in Europa und darüber hinaus zum Positiven verändert. Daheim hatten sie eine zunächst noch recht labile Verfassungsregelung erreicht, die dann jedoch selbst den heftigen Parteienhader während der Herrschaft von Königin Anne (1702–1714) überstand.26 Die Eroberung Irlands, die Elisabeth nicht gelungen war, wurde auf äußerst gewalttätige Weise nach 1690 vollendet. Die Union mit Schottland (die bald durch den Jakobitenaufstand von 1715 auf die Probe gestellt werden würde) wendete die Gefahr zweier unterschiedlicher Erbfolgeregelungen auf der britischen Hauptinsel ab. Der Spanische Erbfolgekrieg (1702–1713) bestätigte Englands Status als große See- und Militärmacht, die jetzt sogar mit Menorca und Gibraltar zwei Flottenstützpunkte im Mittelmeer besaß. Am Ende dieses Kriegs erhielten die Briten im Friedensvertrag mit dem Asiento de Negros