Der imperiale Traum - John Darwin - E-Book

Der imperiale Traum E-Book

John Darwin

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Beschreibung

Mitte des 15. Jahrhunderts begannen die europäischen Seefahrernationen, die Seewege Richtung Amerika und Indien zu erschließen. Doch was geschah damals in jenem Teil der Welt, der vom Ausgreifen des Westens zunächst relativ unberührt blieb? In einer meisterhaften Geschichtserzählung schildert John Darwin, dass die asiatischen Reiche - China, Japan, das indische Mogul-Reich, das Osmanische und Russische Reich - lange Zeit erstaunlich stabil blieben. Erst um 1880 erlangte Europa ihnen gegenüber eine ökonomische und militärische Vormachtstellung, die es aber im Zuge der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts bald wieder verlor. "Dieses Buch wird über Jahre zum Standard werden." Rheinischer Merkur "Kaum ein Stein des welthistorischen Mosaiks seit der frühen Neuzeit bleibt von Darwin ungewendet." Die Zeit

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Seitenzahl: 1067

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Information zum Buch

John Darwin bewertet die globalhistorische Rolle Europas seit 1400 neu. Bis ins 15. Jahrhundert gab es keine nennenswerten europäischen Expansionen - die großen Impulse für die Weltgeschichte gingen von der islamischen Welt und von China und den Mongolen aus. Selbst die europäische Expansion zwischen 1480 und 1620 erscheint aus globaler Sicht eher bescheiden. Erst ab 1750 begann der europäische Aufstieg. Doch trotz aller imperialer Eroberungen zeigte sich die asiatische Welt auch in dieser Zeit erstaunlich widerstandsfähig. Um 1880 erringt Europa schließlich eine Vormachtstellung - die es aber im Zuge der Weltkriege bald wieder verliert. Heute ist Asien wieder auf dem Vormarsch, Europa befindet sich auf dem Rückzug. So dreht sich die Weltgeschichte weiter - Reiche entstehen und fallen auseinander. John Darwin erzählt eine atemberaubende Geschichte vom Aufstieg und Niedergang großer Imperien, in der die europäische Hegemonie nur eine Phase war, deren Ende bereits in Sicht gekommen ist.

Informationen zum Autor

John Darwin ist Beit University Lecturer für die Geschichte des Britischen Commonwealth am Nuffield College, Oxford. Er ist Autor von »Britain and Decolonization« (1989) und »The End of the British Empire and Britain« (1991). Sein neuestes Buch zählt aktuell neben Christopher Baylys »Die Geburt der modernen Welt« und Jürgen Osterhammels »Die Verwandlung der Welt« zu den Standardwerken der Globalgeschichte.

John Darwin

Der imperiale Traum

Die Globalgeschichte großer Reiche 1400-2000

Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2010. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39142-7

E-Book ISBN: 978-3-593-40997-9

|5|Für Caroline, Claire, Charlotte und Helen

|9|Vorwort

Timurs Tod im Jahr 1405 war ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Er war der letzte jener »Welteroberer« in der Tradition Attilas und Dschingis Khans, die ganz Eurasien in einem riesigen Reich unter ihrer Herrschaft vereinen wollten. Fünfzig Jahre nach seinem Tod erkundeten die Seefahrernationen des aus eurasischer Sicht Fernen Westens, allen voran Portugal, die Seewege, die zu den Nervensträngen und Schlagadern großer seegestützter Reiche wurden. In diesem Buch wird die Geschichte der folgenden Ereignisse dargestellt.

Sie gilt gemeinhin als bekannte Geschichte, bis man ein wenig genauer hinsieht. Der Aufstieg des Westens zu globaler Vorherrschaft durch den Aufbau von Imperien und wirtschaftlicher Dominanz zählt zu den Marksteinen historischen Wissens. Dieser Prozess hilft uns, unsere Sichtweisen der Vergangenheit zu ordnen. In vielen Standardwerken erscheint dieser Aufstieg als geradezu unvermeidlich, was die Hauptströmungen der Geschichtsschreibung widerspiegelt. Alle anderen Optionen galten als Nebenstraßen oder Sackgassen. Als Europas Imperien zerfielen, traten an ihre Stelle neue postkoloniale Staaten, genau wie Europa selbst ein Teil des »Westens« wurde: ein weltweites Bündnis unter amerikanischer Führung. Dieses Buch soll aufzeigen, dass die Zeitspanne von Timurs Tod bis in unsere Zeit von heftigeren Kämpfen, komplexeren Konflikten und mehr verpassten Chancen geprägt war, als gemeinhin angenommen wird – was freilich nicht verwunderlich ist.

Darüber hinaus stellt die Studie Europa (und den Westen) in einen viel größeren Kontext: Sie bezieht die in anderen Teilen Eurasiens angestoßenen Projekte zur Bildung von Reichen, Staaten und Kulturen mit ein. Erst auf diese Weise, so die These, können der Verlauf, das Wesen, das Ausmaß und die Grenzen der Expansion Europas angemessen erfasst werden, und die im Dunkel der Vergangenheit liegenden Ursprünge unserer heutigen Welt werden ein wenig klarer.

Dieses Buch wäre ohne die umfangreiche neuere Literatur der letzten 20 Jahre sowohl zur »globalen« Geschichte als auch zur Geschichte des Nahen Ostens, Indiens, Südostasiens, Chinas und Japans nicht möglich gewesen. Natürlich haben Historiker schon früher die Vergangenheit aus einer globalen Perspektive betrachtet: Diese Tradition reicht immerhin bis Herodot zurück. Die meisten historischen |10|Werke enthalten jedoch eine Reihe von Mutmaßungen, was sich wohl in anderen Teilen der Welt abgespielt haben mochte. Die systematische Untersuchung der Bindeglieder zwischen den verschiedenen Teilen der Welt ist eine relativ neue Erscheinung. »Die Studie der Vergangenheit«, bemerkte Frederick Teggart schon 1939 in seiner Monographie Rome and China, »kann nur dann Wirkung erzielen, wenn umfassend erkannt wird, dass alle Völker eine Geschichte haben, dass sich diese Prozesse gleichzeitig und in derselben Welt abspielen und dass der Vergleich zwischen ihnen der Anfang von Wissen ist.«1 Dieser Herausforderung stellte sich etwa William Hardy McNeill in seinem Werk The Rise of the West (Chicago 1964), dessen Titel der erstaunlichen Reichweite und intellektuellen Subtilität des Werks freilich nicht gerecht wird. In den letzten Jahrzehnten wurden der globalen und nichtwestlichen Geschichte allerdings erheblich mehr Ressourcen gewidmet. Dazu hat nicht zuletzt der wirtschaftliche, politische und kulturelle Einfluss der »Globalisierung« beigetragen. Aber wohl ebenso wichtig sind die Auswirkungen einer wachsenden Zahl von Menschen in der Diaspora und die gestiegenen Migrationen (die eine mobile, »antinationale«, historische Tradition schaffen) sowie die ansatzweise Liberalisierung vieler Regimes, die »Geschichte« einst als Privateigentum des Staates behandelten (das wichtigste Beispiel ist hier China).

Neue Perspektiven, neue Freiheiten und neue Leserschaften, die sich neue Bedeutungen von der Geschichte erhoffen, haben eine enorme Produktion historischer Arbeiten angeregt. Das eröffnete die Chance, die Vergangenheit von Kontinenten und Völkern, die einst nur über die Geschichte der europäischen Expansion zugänglich schien, neu zu betrachten. Heute zeichnet sich viel deutlicher als noch vor einer Generation ab, dass der historische Weg Europas in die moderne Welt viele Merkmale mit sozialen und kulturellen Veränderungen in anderen Teilen Eurasiens gemein hatte und dass der Aufstieg Europas zur Hegemonie erst später einsetzte und viel größeren Beschränkungen unterlag, als man uns häufig glauben machen möchte.

Inwieweit sich meine Thesen auf die Werke anderer Historiker stützen, geht aus den Anmerkungen zu den Kapiteln hervor. Zum ersten Mal machte ich als Schüler des verstorbenen Jack Gallagher Bekanntschaft mit der Faszination, die von der Betrachtung der Weltgeschichte als verbundenes Ganzes ausgeht. Gallaghers historische Vorstellungskraft war schier grenzenlos. Auch von meinen Kollegen in der imperialen und globalen Geschichte in Oxford – Judith Brown, David Washbrook, Georg Deutsch und Peter Carey – habe ich sehr viel gelernt und ebenso von dem Fachwissen vieler anderer Kollegen an der Universität und darüber hinaus profitiert. Ihre klugen Lehren habe ich mir, so gut ich es vermochte, eingeprägt. Mein Verständnis für wirtschaftliche Themen ist erheblich durch die Bekanntschaft mit dem Global Economic History Network verbessert worden, das Patrick O’Brien als Diskussionsforum über die auseinander laufenden |11|Pfade der wirtschaftlichen Veränderung in verschiedenen Teilen der Welt ins Leben gerufen hat. Zum Teil gehen die in diesem Buch dargestellten Ideen auf Streitgespräche mit James Belich und Phillip Buckner in mehreren »Wanderseminaren« zurück. Der Ansporn, den der Unterricht so vieler begabter Studenten mit sich brachte, war unverzichtbar, und mein historisches Wissen ist durch die Betreuung unzähliger Dissertationen im Laufe der vergangenen 20 Jahre enorm erweitert worden. Mein besonderer Dank gilt all jenen Freunden und Kollegen, die erste Versionen der Kapitel kommentierten: Richard Bonney, Ian Phimister, Robert Holland, Martin Ceadel und Andrew Hurrell. Alle Irrtümer und Fehler habe selbstverständlich ich zu verantworten.

Ich habe die Entwürfe von Karten auf Grundlage des Programms »Mapinfo« erstellt, das Collins Bartholomew entwickelt hat. Ohne die Einführung, den Rat und geduldigen Beistand von Nigel James aus dem Kartenraum der Bodleian Library wäre dies nicht möglich gewesen. Es ist mir eine Freude, an dieser Stelle seine Hilfe zu würdigen. Die Endfassungen der Karten wurden von Jeff Edwards gezeichnet. Für das sorgfältige Lektorat des Textes bin ich Bob Davenport zu großem Dank verpflichtet.

Die Arbeit an diesem Buch wurde mir durch das geneigte Interesse und die Aufmunterung Simon Winders vom Verlag Penguin erheblich erleichtert. Bei Simons Enthusiasmus kann es sich kein Autor erlauben, die eigenen Anstrengungen aufzugeben. Dafür und für die klugen und rechtzeitigen Ratschläge in kritischen Phasen bin ich überaus dankbar.

Schließlich haben zum großen Teil die außergewöhnlichen Ressourcen der – umkämpften, aber ungebrochenen – Universitätsbibliotheken in Oxford das Schreiben dieses Buches über einen längeren Zeitraum hinweg parallel zu anderen Aktivitäten ermöglicht, sowie die vortrefflichen Forschungsbedingungen, die das Nuffield College seinen Dozenten bietet.

Eine Bemerkung zu Namen und Schreibweisen

Wenn man ein Buch schreibt, das einen so großen zeitlichen und räumlichen Rahmen behandelt, wirft das einige heikle Fragen zur Schreibweise der Namen und Orte auf. Nicht nur ändern sich die Namen im Laufe der Zeit, diese Änderungen spiegeln auch Verschiebungen der Wahrnehmung, des Status und häufig der Macht wider. In vielen Teilen der Welt war die Veränderung der Namen von Städten und Straßen – und sogar Ländern – ein Weg, das Ende der alten (meist kolonialen) Ordnung und die Wiedereinsetzung einer indigenen Kultur und Identität zu symbolisieren.

|12|In der deutschen Übersetzung wird in der Regel der Name verwendet, der deutschen Lesern wohl am vertrautesten sein dürfte. Wo es angebracht scheint, wird allerdings in Klammern auf die alternative Schreibweise hingewiesen. In Einzelfällen hieß das, den Namen zu verwenden, der einem bestimmten Ort eine besondere, zeitgenössische Bedeutung verleiht. So heißt es durchweg »Konstantinopel«, nicht »Istanbul«, wenn von der Hauptstadt des Osmanischen Reiches die Rede ist. Der Name war im Westen noch lange nach der Eroberung der Stadt durch die Türken im Jahr 1453 gebräuchlich. Er wurde beibehalten, um die Rolle der Stadt als Reichshauptstadt (im Gegensatz zum heutigen Istanbul) zu kennzeichnen, sowie deren umstrittenen Status als – in den Augen vieler Europäer – besetzte christliche Stadt, die eines Tages »befreit« werden sollte. Diese Überzeugung wurde noch im Vertrag von Lausanne im Jahr 1923 ausgedrückt.

Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

Die Romanisierung islamischer Namen ist immer schon etwas willkürlich gewesen, und vermutlich ließ sich das gar nicht vermeiden. Als Europäer versuchten, das Lautbild islamischer Namen wiederzugeben, produzierten sie im Laufe der Jahrhunderte außergewöhnliche Varianten der Schreibweisen, von denen einige heute geradezu bizarr wirken. Hinzu kommt, dass manche Varianten die Unterschiede zwischen den gesprochenen Namen des Arabischen, Persischen und Türkischen widerspiegeln, den drei Hauptsprachen des islamischen Mitteleurasiens. Der wohl bekannteste muslimische Name ist als Mahomet, Mehmed, Mohammed und Muhammad zu finden. Feisal wird auch Faisal oder Faysal geschrieben. In diesem Buch wird bei der Wahl der Schreibweise dem Kriterium der Vertrautheit und Verständlichkeit Vorrang vor der streng wissenschaftlichen »Korrektheit« eingeräumt.

Der Iran. Bis zum Jahr 1935 hieß er offiziell Persien, und dies ist auch der Name, unter dem das Land in der Regel im Westen bekannt war. Allerdings war die Bezeichnung »Iran« im Land und in der Region viel gebräuchlicher, und der Einfachheit halber wird dieser Name als Standardbezeichnung für die territoriale Einheit und seine Bevölkerung während des gesamten Zeitraums verwendet, der hier behandelt wird. Es ist jedoch wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass »Persisch« (ein von »Farsi« abgeleitetes Wort) die vorherrschende Sprache und Kultur war, die auch die größte ethnische Gruppe in einem multiethnischen Land bezeichnet.

China. Mittlerweile ist die Pinyin-Umschrift für die Transkription chinesischer Namen allgemein üblich. Da in diesem Buch jedoch meist auf historische Persönlichkeiten und Orte verwiesen wird, werden mitunter Schreibweisen beibehalten, die deutschen Lesern vertrauter sein dürften und sich an dem älteren Wade-Giles-System orientieren. Vor allem betrifft dies folgende Bezeichnungen:

|13|Peking nicht Beijing

Nanking nicht Nanjing

Kanton nicht Guangzhou

Sinkiang nicht Xinjiang

Kuomintang (KMT) nicht Guomindang (GMD)

Chiang Kai-shek nicht Jiang Jeshi

Mao Tse-tung nicht Mao Zedong

Chou En-lai nicht Zhou Enlai

Sun Yat-sen nicht Sun Yixian

|14|

Eine Rekonstruktion der Weltkarte des Ptolemäus. © Corbis

|16|1. Orientierungen

Timurs Erbe

Im Jahr 1401 lebte der große islamische Historiker Ibn Khaldun (1332–1406) in Damaskus, als die Stadt von dem mächtigen Timur belagert wurde. Da Ibn Khaldun den berühmten Eroberer jener Tage unbedingt kennen lernen wollte, ließ er sich in einem Korb von der Stadtmauer abseilen und wurde in Timurs Lager empfangen. Dort führte er lange Gesprächen mit dem Herrscher, den er in seiner Autobiographie als »einen der größten und mächtigsten Könige« bezeichnet, der »geradezu süchtig war nach Diskussionen und Streitgesprächen darüber, was er weiß und was er nicht weiß«.1 Vielleicht sah Ibn Khaldun in Timur den Retter der arabisch-muslimischen Kultur, um deren Fortbestand er fürchtete. Aber nur vier Jahre später starb der Herrscher auf dem Weg nach China, dessen Eroberung er geplant hatte.

Timur (auch Tamerlan oder Timur Leng, »Timur, der Lahme«) war ein Phänomen, das zu einer Legende wurde. Er wurde vermutlich in den 1330er Jahren in einen niederen Clan der türkisch-mongolischen Stammeskonföderation der Tschagatai geboren, eines der vier großen Teilreiche, in die das Mongolenreich Dschingis Khans nach seinem Tod im Jahr 1227 untergliedert worden war. Bis zum Jahr 1370 war Timur zum Herrscher der Tschagatai aufgestiegen. Von 1380 bis 1390 schickte er sich an, den Iran (damals noch Persien), Mesopotamien (heute: Irak), Armenien und Georgien zu erobern. Im Jahr 1390 fiel er in russische Territorien ein, kehrte ein paar Jahre später zurück und legte die Hauptstadt der Goldenen Horde, der Mongolenherrscher im heutigen Südrussland, in Schutt und Asche. Im Jahr 1398 unternahm er einen gewaltigen Raubzug nach Nordindien, schlug die dortigen muslimischen Herrscher vernichtend und zerstörte Delhi. Anschließend wandte er sich im Jahr 1400 wiederum dem Nahen Osten zu und eroberte Aleppo und Damaskus (Ibn Khaldun entkam dem Massaker). 1402 besiegte er den osmanischen Sultan Bajesid in der Schlacht von Ankara |17|und nahm ihn gefangen. Erst danach begab er sich nach Osten auf seinen letzten Feldzug, der jedoch scheitern sollte.

Ungeachtet seines Rufes als blutrünstiger Tyrann und der erschreckenden Grausamkeit seiner Raubzüge war Timur eine Übergangsfigur in der eurasischen Geschichte.2 Seine Eroberungen waren ein Nachhall des großen Mongolenreiches, das Dschingis Khan und seine Söhne errichtet hatten. Ihr Reich hatte sich vom heutigen Iran bis nach China und im Norden fast bis Moskau erstreckt. Es hatte einen bemerkenswerten Transfer von Menschen, Waren und Ideen über den riesigen Steppenkorridor entlang des eurasischen Gürtels eingeleitet; und die Mongolenherrschaft hatte in einem Zeitalter allgemeiner wirtschaftlicher Expansion vermutlich als Katalysator für kommerziellen und intellektuellen Austausch gewirkt.3 Die Mongolen gestatteten sogar Besuche westeuropäischer Gesandter, die darauf hofften, eine antimuslimische Allianz zu errichten und Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren. Aber schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren die Bemühungen, eine große imperiale Konföderation zu bewahren, so gut wie gescheitert. Die Vernichtungskriege zwischen den »Ilkhanen« im Iran, die Machtkämpfe innerhalb der Goldenen Horde und unter den Tschagatai sowie der Sturz der Yuan-Dynastie in China (im Jahr 1368) markierten das Ende des mongolischen Experiments, ein eurasisches Großreich zu bilden.

Timurs Eroberungen waren nicht zuletzt ein Versuch, dieses verlorene Reich zurückzugewinnen. Aber er bediente sich anderer Methoden. Mit seiner Kriegsführung wollte er, wie es scheint, in erster Linie sämtliche Rivalen vernichtend schlagen, die um die Kontrolle über die große Route des eurasischen Fernhandels rangen, mit dessen Gewinnen Timur sein Reich aufgebaut hatte. Ferner stützte sich seine Macht eher auf die Kontrolle der »kultivierten Landstriche« als auf die Beherrschung der Steppe: Seine Armeen bestanden nicht ausschließlich aus berittenen Bogenschützen (die klassische Waffengattung der Mongolen), sondern aus Infanterie, Artillerie, schwerer Kavallerie und sogar einem Elefantenkorps. Sein Herrschaftssystem war eine Form des Absolutismus, in der sich die Loyalität der Stammesgefolgsleute mit der Hingabe der städtischen und bäuerlichen Untertanen die Waage hielt. Timur bezeichnete sich als »Schatten Gottes« (ein Titel unter vielen, die er sich gab) und behauptete, er übe Rache an den Verrätern und Abtrünnigen des islamischen Glaubens. Die Beute seiner Eroberungen ließ er in die selbsterwählte, nicht weit von seinem Geburtsort liegende Reichshauptstadt Samarkand fließen, wo er architektonische Monumente errichten ließ, die den Glanz seiner Herrschaft weithin verkündeten. Das »Timuridische« Vorbild sollte in ganz Mitteleurasien die Vorstellung eines Weltreichs nachhaltig beeinflussen.

Doch trotz seiner Wildheit, seines militärischen Genies und der raffinierten Instrumentalisierung der Stammespolitik für seine imperialen Ziele zerfiel Timurs Reich bald nach seinem Tod. Wie er womöglich selbst intuitiv gespürt hatte, war |18|es nicht länger möglich, das kultivierte Land von der Steppe aus zu beherrschen und auf dem alten Fundament der mongolischen Militärmacht ein eurasisches Reich zu errichten. Die Osmanen, der Staat der Mamelucken in Ägypten und Syrien, das muslimische Sultanat in Nordindien und vor allem China waren zu widerstandsfähig, um von seinen blitzartigen Feldzügen hinweggefegt zu werden. Tatsächlich markierte Timurs Tod in mehrfacher Hinsicht das Ende einer langen Phase in der Weltgeschichte. Erstens war sein Reich der letzte ernsthafte Versuch, die Aufteilung Eurasiens zwischen den Staaten des Fernen Westens, des islamischen Mitteleurasiens und des konfuzianischen Ostasiens zu verhindern. Zweitens zeigten seine politischen Experimente und sein letztendliches Scheitern, dass sich die Macht allmählich unwiderruflich von den Nomadenreichen zu sesshaften Staaten verlagerte. Drittens trugen die Kollateralschäden, die Timur Mitteleurasien beifügte, sowie der unverhältnismäßig starke Einfluss, den Stammesgesellschaften dort noch ausübten, erheblich dazu bei, das Kräftegleichgewicht der Alten Welt (wenn auch nur allmählich) zu verschieben, und zwar auf Kosten des Zentrums zugunsten des Fernen Ostens und des Fernen Westens. Schließlich fiel sein Tod zusammen mit den ersten Anzeichen für eine Veränderung der bis dahin bestehenden Fernhandelswege, jener Ost-West-Route, um deren Kontrolle er gekämpft hatte. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod war die Vorstellung eines Weltreichs, das von Samarkand aus regiert wurde, völlig illusorisch geworden. Die Entdeckung, dass die Ozeane als globale Gemeingüter maritime Wege in nahezu alle Teile der Welt boten, veränderte die Wirtschaft und imperiale Geopolitik. Zwar sollten drei Jahrhunderte vergehen, bis sich diese neue Weltordnung deutlich abzeichnete, aber nach Timur trat kein Welteroberer mehr auf den Plan, der Eurasien dominierte – und Timurs Eurasien umfasste nicht länger fast die gesamte bekannte Welt.

Globale Geschichte

In diesem Buch durchschreiten wir eine gigantische historische Landschaft mit Blick auf drei Themen: Das erste ist das Ausweiten der globalen »Verknüpftheit« bis zu ihrer intensivsten Form, die man heute gemeinhin »Globalisierung« nennt. Das zweite ist die Rolle, die in diesem Prozess die Macht Europas (später des »Westens«) und jene Reiche spielten, die mit dessen Ressourcen aufgebaut wurden. Das dritte ist die Widerstandsfähigkeit vieler Staaten und Kulturen Eurasiens angesichts der europäischen Expansion. Jeder einzelne dieser Faktoren hatte maßgeblichen Anteil an der Umgestaltung der Welt, die im 20. Jahrhundert zu einem riesigen, locker verbundenen politischen und wirtschaftlichen System wurde, zu |19|einer gemeinsamen Arena, aus der sich kein Staat, keine Gesellschaft, Volkswirtschaft oder Kultur völlig heraushalten konnte.

Wie facettenreich oder undurchsichtig ein Thema auch sein mag, es ist Aufgabe der Geschichtsschreibung zu erklären, wie wir an den Punkt gekommen sind, an dem wir uns befinden. Natürlich kritisieren Historiker oft gegenseitig ihre jeweiligen Darstellungen der Vergangenheit, weil sie beispielsweise über die Natur der »Gegenwart« – des Endprodukts der Geschichte – verschiedener Meinung sind. Zudem ändern wir fortwährend unsere Betrachtungsweise der Gegenwart und aktualisieren sie im Abgleich mit den laufenden Ereignissen, und dabei stellen wir zugleich die Fragen neu, die wir an die Vergangenheit richten. Aber derzeit herrscht zumindest allgemeiner Konsens, dass sich das aktuelle Zeitalter in vielen, wesentlichen Punkten von der Welt unterscheidet, die noch vor gut einer Generation existierte: vor 1980. In der Umgangssprache fassen wir die Merkmale, die unsere Welt am stärksten prägen, in einem Schlagwort zusammen: »Globalisierung«. Globalisierung ist ein ambivalenter Begriff. Er klingt nach einem Prozess, wird aber häufig gebraucht, um einen Zustand zu beschreiben, den Endpunkt nach einer Phase des Umbruchs. Alles deutet darauf hin, dass das Tempo der weltweiten Veränderungen, zumindest in den wirtschaftlichen Beziehungen (sprich: der Verteilung von Reichtum und Produktion auf verschiedene Regionen und Kontinente), zunehmen wird. Gleichwohl können wir die allgemeinen Merkmale der »globalisierten Welt« – das Stadium, das die Globalisierung mittlerweile erreicht hat – in einer verständlichen Form skizzieren. Das ist die »Gegenwart«, deren nicht vorauszusehende Entstehung die in diesem Buch dargestellten historischen Ereignisse zu erklären versuchen.

Diese Merkmale sind zusammengefasst:

die Entstehung eines einzigen, globalen Marktes – nicht für alle, aber für die gebräuchlichsten Produkte und für die Bereitstellung von Kapital, Krediten und Finanzdienstleistungen;

die intensive Interaktion zwischen Staaten, die geographisch zwar voneinander entfernt liegen mögen, deren Interessen aber inzwischen (selbst im Falle sehr kleiner Staaten) global, nicht regional ausgerichtet sind;

die tiefe Durchdringung der meisten Kulturen durch global organisierte Medien, deren ökonomische und kulturelle Botschaften (vor allem durch die Sprache der »Marken«) fast untrennbar geworden sind;

das gigantische Ausmaß der (erzwungenen wie selbstgewählten) Migrationen und Diaspora, durch die Netzwerke und Verbindungen entstehen, die dem Einfluss der großen europäischen Auswanderung des 19. Jahrhunderts oder dem atlantischen Sklavenhandel den Rang streitig machen;

das Hervortreten einer einzigen »Hypermacht« aus den Trümmern des »bipolaren Zeitalters« (1945–1989), deren wirtschaftliche und militärische |20|Stärke in Relation zu allen anderen Staaten beispiellos in der modernen Weltgeschichte ist;

der dramatische Aufstieg Chinas und Indiens als Industriemächte. Aufgrund der enorm gesteigerten Weltproduktion und der Verschiebung des Gleichgewichts in der Weltwirtschaft ist die wirtschaftliche Mobilisierung ihrer Bevölkerungsmassen (1,3 bzw. eine Milliarde Menschen) vergleichbar mit der Erschließung riesiger neuer Ländereien im 19. Jahrhundert.

Diese Liste sollte zu denken geben. Weshalb konnte in einer globalisierten Welt ein einzelner Staat so außergewöhnliche Macht erlangen? Warum hat der wirtschaftliche Aufstieg in China und Indien erst vor vergleichsweise kurzer Zeit begonnen? Warum hatten die Länder des Westens (einschließlich Japans) bis vor kurzem einen so großen Vorsprung in Bezug auf die technische Entwicklung und den Lebensstandard? Wieso genießen immer noch überwiegend die Produkte der westlichen Kultur in der Naturwissenschaft, Medizin, Literatur und Kunst den besten Ruf? Warum spiegelt das internationale Staatensystem mit seinen Gesetzen und Normen die Konzepte und Methoden der europäischen Staatskunst und die territoriale Ausgestaltung nach dem westlichen Modell wider? Die globalisierte Welt des späten 20. Jahrhunderts war nicht das absehbare Ergebnis eines globalen, freien Marktes. Ebenso wenig kann man sie aus dem Zustand der Welt vor fünf Jahrhunderten ableiten. Sie ist das Produkt einer langen, verworrenen und häufig gewaltsamen Geschichte, überraschender Schicksalswenden und unvermuteter Niederlagen. Die Wurzeln reichen (so wird gemeinhin angenommen) bis ins »Zeitalter der Entdeckungen« zurück – im Grunde bis zum Tod Timurs.

Die Geschichte (und Vorgeschichte) der Globalisierung war stets umstritten. Da die meisten Kennzeichen der Globalisierung allem Anschein nach eng mit dem Wachstum der europäischen (und später westlichen) Vorherrschaft zusammenhängen, ist das nicht weiter verwunderlich. Die Fronten wurden schon früh gezogen. Die ab 1830 wirkenden, von Adam Smith inspirierten britischen Verfechter eines freien Handels waren die ersten, die von einer globalisierten Welt träumten. Ein weltweiter Freihandel, so argumentierten sie, werde Kriege undenkbar machen. Wenn jedes Land auf ausländische Lieferanten und Kunden angewiesen wäre, dann wäre das Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten so stark, dass niemand es zerreißen könne. Kriegerische Adlige, die Konflikte zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs brauchen, wären damit obsolet. Das bürgerliche Ideal einer repräsentativen Regierung würde, verbreitet über die Händler und den Handel, universale Gültigkeit erlangen.

Die optimistische Annahme, ein aufgeklärtes Eigeninteresse könne die Welt zum Nutzen aller transformieren, wurde von Karl Marx scharf kritisiert. Er ging davon aus, dass der industrielle Kapitalismus früher oder später (seiner Meinung nach früher) die eigenen Märkte mit Waren überschwemmen würde. Eine Zeitlang |21|könnten sich die Kapitalisten noch halten, indem sie die Kosten senkten und die Löhne unter die Kosten für die Subsistenz drückten. Aber wenn die Arbeiter rebellierten – was nach Marx zwangsläufig geschehen musste –, würde der Kapitalismus in sich zusammenstürzen und das Proletariat die Herrschaft übernehmen. Auch die Welt außerhalb Europas würde von diesem Kampf erfasst werden. Auf der Suche nach Märkten würden die europäischen Kapitalisten zwangsläufig in Asien eindringen (Marx führte Indien als Beispiel an) und dessen vormoderne Volkswirtschaften zugrunde richten. Die indischen Weber würden zugunsten der Profite von Lancashire ausgebeutet werden. Die Dorfgesellschaft Indiens und die soziale Ordnung würden »nicht so sehr infolge des brutalen Eingreifens des britischen Steuereintreibers und des britischen Soldaten [verschwinden], als vermöge der Wirkung des englischen Dampfes und des englischen Freihandels«.4 Die einzige Rettung aus diesem Werk der Zerstörung bestehe in einer unbeabsichtigten Folge. In Asien werde eine soziale Revolution ausbrechen, ohne die wiederum (so Marx) auch der Rest der Welt sein sozialistisches Schicksal nicht erreichen werde.

Marx hatte argumentiert, dass eine globale Wirtschaft aus den Interessen Europas hervorgehen werde. Lenin insistierte hingegen, dass der Kapitalismus auf einen wirtschaftlichen Imperialismus angewiesen sei, und sagte seinen Sturz durch eine globale Erhebung der Kolonialvölker voraus.5 Die marxistisch-leninistische Sichtweise, halb Geschichte, halb Prophetie, schien der Schlüssel zur Weltgeschichte. Seit den 1920er Jahren übte sie einen nachhaltigen intellektuellen Einfluss aus. Die wirtschaftliche Expansion Europas wurde als unwiderstehliche Kraft interpretiert, der sich der Rest der Welt beugen musste. Doch statt das bürgerliche Utopia zu schaffen, das die britischen Protagonisten des Freihandels verheißen hatten, wurde durch sie die Welt gespalten. Die kapitalistisch-industrielle Zone, die in Europa (und seinem Ableger Amerika) ihr Zentrum hatte, war immer reicher geworden. Dem Rest des Erdballs bescherte die koloniale Unterwerfung oder halbkoloniale Abhängigkeit jedoch lediglich wachsende Verarmung. Mit dem kapitalistischen Reichtum und der imperialistischen Macht Europas wurde ein extrem ungleicher Handel durchgesetzt. Der »freie Handel« war in der nichtwestlichen Welt dazu eingesetzt worden, traditionelle Handwerke zu ruinieren, das industrielle Wachstum zu verhindern und lokale Volkswirtschaften zu billigen Rohstofflieferanten zu degradieren. Weil diese Rohstoffe stets billiger sein würden als die Industriegüter, für die sie eingetauscht werden mussten (so die Argumentation), würden sich Armut und Abhängigkeit zwangsläufig verschärfen, sofern nicht das »globale System«, aus dem sie hervorgegangen waren, gewaltsam zerstört werde.6

Im 20. Jahrhundert schien diese pessimistische Betrachtung der Motive und Bedeutung der Globalisierung (auch wenn der Begriff noch nicht verwendet wurde), |22|gelegentlich kombiniert mit einem bemerkenswerten Vertrauen in das revolutionäre Endergebnis, weitaus glaubwürdiger als die Verheißung der Optimisten, die das Ergebnis einer vollständig globalen Wirtschaft als »Modernisierung« (sprich: Nachahmung der Gesellschaftsstruktur des Westens) betrachteten. Beiden Haltungen lag die nicht hinterfragte Annahme zugrunde, dass Europa (oder der Westen) die einzige wahre Quelle für historischen Wandel sei. Beide Seiten machten sich die verblüffenden Erkenntnisse (und den noch erstaunlicheren Eifer) des deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920) zunutze. Weber war fasziniert von dem Sonderweg, den Europa im Vergleich zu Indien und China eingeschlagen hatte. Während Marx die gesellschaftliche Revolution hervorhob, in deren Verlauf die Feudalgesellschaft Europas durch die bürgerlich beherrschte, kapitalistische Gesellschaft ersetzt wurde, wollte Weber erforschen, worin sich die Institutionen und Wertvorstellungen Europas im Vergleich zu denen anderer Regionen »unterschieden« hatten. Kapitalistische Herrschaftsformen hatten sich auch in anderen Teilen Eurasiens entwickelt, aber nur Europa hatte den Übergang zum modernen, industriellen Kapitalismus vollzogen und dadurch weltweite Vorherrschaft erlangt. Weber ging davon aus, dass eine aktive, rational denkende Mentalität die wichtigste Voraussetzung des modernen Kapitalismus sei. Der chinesische Konfuzianismus (rational, aber inaktiv), der Islam (aktiv, aber irrational) und der Hinduismus (inaktiv und irrational) würden allesamt diese entscheidende Kombination eher behindern als fördern. Laut Weber führte von der magischen Religiosität der nichtintellektuellen Klassen Asiens kein Weg zu einer rationalen, methodischen Lebensführung.7 Der europäische Protestantismus habe jedoch (zufällig) die entscheidende geistige Haltung und den institutionellen Rahmen hervorgebracht, welche diesen Durchbruch ermöglicht haben sollten.

Webers Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Seine These, dass sich die Besonderheit Europas nur mit Blick auf einen spezifischen, soziokulturellen Komplex erklären lasse, fand enorme Resonanz und inspirierte zahlreiche Publikationen. Sie war für all jene besonders reizvoll, welche die verkürzte marxistische Sichtweise ablehnten, Europa habe Wohlstand und Macht durch die Ausplünderung und Ausbeutung der restlichen Welt erworben. Webers These spornte zur Suche nach den maßgeblichen Faktoren an, die in Europa produktive Investitionen und permanente technische Entwicklung förderten. Vordergründig bestätigte dies die Überzeugung (die bereits lange vor Weber europäisches Gemeingut war), dass die europäische Gesellschaft eine einzigartige Dynamik aufweise und dass es anderen Hochkulturen, so eindrucksvoll sie auch gewesen sein mochten, an den entscheidenden Voraussetzungen für materiellen Fortschritt mangele. In dieser zentralen Frage bestand in der Tat kein nennenswerter Unterschied zwischen Webers Geschichtsbild und jenem, das von den Verfechtern des marxistischen »Weltsystems« für selbstverständlich gehalten wurde. Ob zum Guten oder zum |23|Schlechten, ob aus eigensüchtigen Motiven heraus oder ohne besondere Absichten, es galt als erwiesen, dass Europa eine statische Welt mit neuem Leben erfüllt hatte.

Es verwundert nicht, dass in jüngsten Jahren diese eurozentristische Version der modernen Weltgeschichte in die Kritik geraten ist. Im Zuge der raschen Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach 1945 entstanden viele neue Nationen, und alle brauchten eine Darstellung der Vergangenheit, die ihren eigenen Fortschritt ins Zentrum der Geschichte rückte. Jede hatte ihre eigenen Helden, deren nationaler Freiheitskampf im Widerspruch zur kulturellen Arroganz Europas geführt worden war. Neue »nationalistische« Geschichtsversionen stellten die Herrschaft (oder den Einfluss) Europas als ungerecht und repressiv dar. Das Eingreifen der Europäer hatte den statischen Teilen der Welt keineswegs den Fortschritt gebracht, vielmehr hatte es die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstöße blockiert, die bereits im Gang waren. In den 1970er und 1980er Jahren tauchte die »subalterne« Geschichtsschreibung (subaltern history) in das Gefüge vieler exkolonialer Gesellschaften ein. Sie brachte komplexe bäuerliche Gesellschaften ans Licht, die sich heftig gegen jede Kontrolle durch Außenstehende wehrten und deren Leben durch den plumpen, wenn nicht brutalen Versuch gestört wurde, eine koloniale »Ordnung« einzuführen.8 Die »dekolonisierte Geschichte« spornte viele verschiedene, soziale, ethnische, religiöse oder kulturelle Gruppen an, aus dem Schatten zu treten. Die alten Kolonialgeschichten, nach denen die Europäer vor dem finsteren einheimischen Hintergrund hell erstrahlten, erschienen nunmehr wie Karikaturen: grobe und unvollständige Skizzen einer komplexen Realität. Die Ziele und Projekte kolonialisierter Völker – Lehrer, Schriftsteller, Händler, Bauern, Migranten und Minderheiten – wurden beschrieben und dokumentiert. Die angeblich »statischen Welten«, in denen sich Europäer als die einzige »dynamische« Kraft hervortaten, strotzten nunmehr vor Lebendigkeit. Nach dieser Lesart wurden Europäer von den Einheimischen (die sich im Übrigen um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten) häufig ausgetrickst, ausgenutzt oder schlichtweg ignoriert – alles andere als eine selbstbewusste Herrschaft.

Das war keineswegs das erste Mal, dass Historiker die Ansicht vertraten, auch die kolonialisierten Völker hätten eine autonome Geschichte, die eine ernsthafte Erforschung verdient habe. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der junge holländische Historiker Jacob C. van Leur (1908–1942) kein gutes Haar am Schreiben der indonesischen Geschichte aus europäischer Perspektive gelassen, »vom Deck der Schiffe, den Brustwehren der Festungen, von der höchsten Galerie der Handelshäuser« aus, als ob ohne einen Europäer in der Nähe oder ohne dessen Anregung nichts geschehen könne.9 Van Leur kam im Krieg um, und seine Ideen fanden erst Ende der 1950er Jahre ein breiteres, internationales Publikum. Doch sein Werk fügte dem Angriff der Historiker auf eine eurozentristische Weltgeschichte |24|eine neue, maßgebliche Dimension hinzu. Es widerlegte die Vorstellung, dass die Ankunft der Europäer über das Meer im 16. Jahrhundert den Handel Asiens grundlegend verändert habe. Vielmehr waren die Europäer Nachzügler auf einem riesigen Seehandelsmarkt, auf dem die Asiaten Pionierarbeit geleistet hatten. Dieser Seehandel verband China, Japan, Südostasien, Indien, den Persischen Golf, das Rote Meer und Ostafrika miteinander. Die Region hatte mitnichten auf die prometheische Inspiration durch Händler aus Europa gewartet, eine »globale« Wirtschaft existierte zu jener Zeit bereits.10 Als die globale wirtschaftliche Verschmelzung ein dominierendes Thema in der modernen Weltgeschichte wurde, durfte die Rolle der Asiaten und anderen Nichteuropäer auf keinen Fall ignoriert werden. Tatsächlich konnte man »Globalisierung« – im weiteren Sinne des Begriffs – nicht länger als ein rein europäisches Projekt betrachten.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden van Leurs ursprüngliche Erkenntnisse noch weiter vertieft. Das Ausmaß der globalen Mobilität, das Wachstum der Diaspora, die durchlässigen Grenzen, die begrenzte Macht der meisten Staaten sowie die neue Verteilung der industriellen Macht (vor allem in Asien) haben unsere Auffassung von der Vergangenheit und unsere Ambitionen, was wir über sie erfahren wollen, radikal verändert. Zumindest derzeit erscheint das Schreiben der Geschichte von Nationen und Staaten weit weniger wichtig als das Zurückverfolgen der Ursprünge unserer ständig in Bewegung befindlichen Welt mit ihrem hektischen Austausch von Waren und Ideen, ihren Hybridkulturen und wechselnden Identitäten. Als Reaktion ist eine neue Globalgeschichte entstanden. Ihre Forschungsgegenstände sind Regionen oder Ozeane, Fernhandelsrouten, Händlernetze, die Spuren umherziehender Gelehrter, der Austausch von Bräuchen und Überzeugungen zwischen Kulturen und Kontinenten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint der grundlegende Unterschied zwischen Europa und Asien, die zentrale Prämisse der älteren Weltgeschichte, längst nicht mehr als so gravierend. Vielmehr führte ein Band der »Verknüpftheit«, auf kommerzieller wie auf kultureller Ebene, einen großen Teil des frühneuzeitlichen Eurasiens ausgerechnet zu einer Zeit zusammen, als der Vorsprung Europas gegenüber Asien (nach älteren Darstellungen) angeblich den Ausschlag gab. Vorstellungen von einem universalen Reich, eine neue »Reisekultur« und tausendjährige Gerüchte und Fantastereien kursierten auf der gesamten riesigen Landmasse von Spanien bis zum Golf von Bengalen.11 Ob ein Ort in Asien oder Europa liegt, wird inzwischen als weitaus weniger wichtig für sozialen und kulturellen Wandel angesehen als die Lage entlang der Haupthandelsrouten Eurasiens oder innerhalb jenes trockenen Gürtels, in dem sich die Fernhändler nicht durch Wälder, Dschungel oder Sümpfe quälen mussten.12

Eine ähnliche Verschiebung des Schwerpunkts ist unter Historikern zu beobachten, welche die neue globale Geschichte des materiellen Fortschritts schreiben. |25|Wie van Leur angeregt hatte, wurde die oberflächliche Schlussfolgerung, dass die Europäer mit Vasco da Gamas Ankunft im Jahr 1498 Asien aus einem Dornröschenschlaf geweckt hätten, als Verzerrung der Tatsachen entlarvt. Ein dichtes Handelsnetz verband damals bereits Häfen und Produzenten zwischen der Küste Ostafrikas und dem Südchinesischen Meer. Asiatische Händler waren nicht die passiven Opfer einer europäischen Übernahme. Trotz ihrer Schwächen waren die asiatischen Regierungen mehr als die räuberischen Despoten der europäischen Mythologie, die den Handel und die Landwirtschaft durch Straftribute und willkürliche Beschlagnahmungen ruinierten. In mehreren Teilen Asiens existierten Marktwirtschaften, in denen die Arbeitsteilung, die Spezialisierung des Handels und die städtische Entwicklung (laut Adam Smith die Kennzeichen für Wachstum) sehr stark denen glichen, die in Europa anzutreffen waren. Gerade in China ließen das Ausmaß des kommerziellen Austauschs, das ausgereifte Kreditwesen, der Einsatz von Technologie und der Umfang der Produktion (vor allem in der Textilbranche) auf eine vorindustrielle Volkswirtschaft schließen, die mindestens ebenso dynamisch war wie die zeitgenössischen europäischen. Vor 1800 springt in der Tat keineswegs ein krasser, wirtschaftlicher Kontrast zwischen Europa und Asien ins Auge, sondern es entfaltet sich eine eurasische Welt mit »überraschenden Ähnlichkeiten«, in der eine Reihe von Regionen, europäischer wie asiatischer, zumindest theoretisch fähig waren, den großen Sprung ins industrielle Zeitalter zu schaffen.13

Mittlerweile war die angeblich zentrale Rolle Europas in den Darstellungen der Weltgeschichte auch aus einer völlig anderen Ecke heftig kritisiert worden. Seit Ende der 1970er Jahre prangerte eine Denkschule, die auf den aus Palästina stammenden Amerikaner Edward Said zurückgeht, die klassischen europäischen Schriften zur Geschichte, Ethnographie und Kultur Asiens (und anderer Regionen) als »orientalistische« Fantastereien an. Laut Said litten die europäischen Darstellungen verhängnisvoll unter der primitiven Zuschreibung stereotyper, fast durchweg negativer Eigenschaften und dem hartnäckigen Versuch, asiatische Gesellschaften als die träge, korrupte oder degenerierte Antithese eines tatkräftigen, gebieterischen und fortschrittlichen Europas zu präsentieren.14 Eine gewaltige literarische Industrie entstand, die sorgfältig Sprache und Inhalt der verschiedenen Texte prüfte, die einem europäischen Publikum das Bild der nichtwestlichen Welt vermittelt hatten. Was das bedeutete, lag auf der Hand. Wenn die Berichterstattung der Europäer (sei sie nun fiktiv oder dokumentarisch) den Zweck hatte, dem höheren Ziel einer Ausdehnung der europäischen Hegemonie zu dienen, oder wenn sie es tatsächlich unbewusst tat, dann hatte sie keinerlei historischen Wert – außer als Spiegel der eigenen Ängste und Wahnvorstellungen der Europäer. Die vergleichende Erforschung Europas und der außereuropäischen Welt war hoffnungslos in Verruf geraten. Man könnte sogar argumentieren (was manche auch |26|taten), dass die Geschichtsschreibung selbst ein fremdes Projekt sei, welches das Wissen über die Vergangenheit in Konzepte und Kategorien presste, die in (und für) Europa erfunden worden seien.

Einige kluge Menschen zogen die einzig logische Konsequenz aus diesem postmodernen Extremismus: dass man nichts wissen könne und dass jedes Forschen ein aussichtsloses Unterfangen sei. Die weiterführende These bliebe jedoch bestehen: dass europäische Darstellungen über andere Teile der Welt sehr sorgfältig entschlüsselt werden müssen. Die Kritik Saids war Teil einer großen Zeitenwende, eines bewussten Versuchs, Europa zu »dezentralisieren« oder gar zu »provinzialisieren«. Europäische Darstellungen anderer Kulturen und Völker sollten nicht länger als die »autorisierte Version« angesehen werden, wie vollständig oder überzeugend sie auch waren. Europa sollte nicht länger als der Angelpunkt des Wandels oder als treibende Kraft angesehen werden, die auf die passiven Zivilisationen in der nichtwestlichen Welt einwirkte. Vor allem sollte wohl der europäische Weg in die moderne Welt nicht länger als natürlich oder »normal« gelten, als Standard, an dem der historische Wandel in anderen Teilen der Welt stets gemessen werden musste. Die Europäer hatten ihre eigene Variante der Moderne geprägt, aber es gab auch andere, genaugenommen viele Varianten der Moderne.15

Die Geschichte der europäischen Expansion überdenken

Die »dekolonisierte Geschichtsschreibung« hat Europa wieder auf das Normalmaß zurecht gestutzt. Seither kommt kaum jemand leichtfertig auf die Idee, dass europäische Gesellschaften von Natur aus fortschrittlich seien oder dass sie zwangsläufig effektiver als andere Völker in Eurasien oder auf anderen Kontinenten arbeiteten. Die europäischen Definitionen von »Fortschritt«, ebenso wie die europäischen Anschauungen zum Rest der Welt, haben die einst unumstrittene Autorität verloren. Tatsächlich lehnen manche moderne Autoren jeden Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen ab (weil kein Mensch mit mehr als einer Kultur wirklich vertraut sein kann), in der seltsamen Überzeugung, dass sich eine buntgemischte Welt tatsächlich aus vielen eigenständigen und ursprünglichen Kulturen zusammensetze. Die postkoloniale Geschichtsschreibung blickt generell skeptisch auf den europäischen Einfluss und noch skeptischer auf die »Verbesserungen«, die einst der Kolonialherrschaft zugeschrieben wurden. Sie behandelt die »Kolonialgeschichte« als kurzsichtig und voreingenommen, gar irreführend, und sieht deren Behauptungen als reine Propaganda, welche die öffentliche Meinung im eigenen Land beeinflussen sollte. Tatsächlich hat eine genauere Untersuchung eine ironische Umkehrung der kolonialen Sache nahe gelegt. Statt rückständige |27|Völker zu einer Moderne nach europäischem Vorbild zu führen, setzte die Kolonialherrschaft höchstwahrscheinlich eine Form der »Antimoderne« durch. Das Kastenwesen in Indien stand symbolisch für die indische Rückständigkeit. Doch die britischen Herrscher ließen sich, auf ihren eigenen Vorteil bedacht, auf einen Handel mit den Brahmanen ein, durch den die Zugehörigkeit zu einer Kaste zum Verwaltungssystem verfestigt (und in der Volkszählung formal bestätigt) wurde.16 Im kolonialen Afrika fand ein paralleler Prozess statt, als Clans und ihre Angehörigen als »Stämme« definiert wurden, mit Häuptlingen als ihren traditionellen Führern.17 Hier wurde wie in Indien ein politisches Bauernopfer fein säuberlich als Akt des Respekts vor der einheimischen Tradition verpackt. Gemäß der kolonialen Version der Geschichte wurden Kaste und Stamm als ureigene Kennzeichen der indischen und afrikanischen Vergangenheit festgeschrieben. In der imperialen Propaganda wurden daraus genetische Defekte, die eine Selbstherrschaft für die Inder und Afrikaner ausschlossen. In der »dekolonisierten Geschichtsschreibung« hingegen erscheint die europäische Expansion als eine gigantische Verschwörung, um die nichtwestliche Welt entlang pseudotraditioneller Linien neu zu ordnen, oder besser, um deren Gesellschaften in Schach zu halten und ihre Ressourcen auszubeuten.

Aus diesen und anderen Gründen erscheint Europas Platz in der Weltgeschichte heutzutage deutlich anders als in konventionellen Darstellungen, die vor ein paar Jahrzehnten geschrieben wurden. Allerdings bleiben in Geschichtsdarstellungen, die versuchen, Europa zu »provinzialisieren«, nichtsdestotrotz viele Fragen offen. Die europäischen Staaten waren die treibende Kraft, welche die »globalisierte« Welt des späten 19. Jahrhunderts schuf. Sie waren die Hauptinitiatoren der beiden großen Transformationen, die in der »modernen Welt« der 1870er bis 1940er Jahre miteinander verknüpft waren. Die erste war die Schaffung einer Weltwirtschaft nicht nur des Fernhandels mit Luxusgütern, sondern des globalen Austauschs von Industrieprodukten, Rohstoffen und Lebensmitteln, und zwar in riesigen Mengen und Werten und mit dem zugehörigen Fluss von Menschen und Geld. Das war eine ökonomische Revolution, die in erster Linie (wenn auch nicht immer geschickt) von Europa oder von Europäern geleitet und so gestaltet wurde, dass sie den eigenen Interessen diente. Die zweite Transformation war eng damit verknüpft: nämlich die Ausdehnung der europäischen Herrschaft, offen oder verdeckt, über gigantische Landstriche der nichteuropäischen Welt – ein Vorgang, der schon vor 1800 begonnen hatte, aber sich im Laufe des 19. Jahrhunderts beschleunigte. Er zeigte sich unübersehbar in den kolonialen Aufteilungen Afrikas, Südostasiens, des Südpazifiks und (später) des Nahen und Mittleren Ostens; in den großen Projekten zum Aufbau von Imperien in Nordasien (durch Russland) und Südasien (durch Großbritannien); in der Unterwerfung eines großen Teils der chinesischen Küste unter ausländische Kontrolle; sowie in der europäischen |28|Besetzung (durch einen demographischen Imperialismus) Nord- und Südamerikas, Australasiens und einiger Teile von Süd- und Zentralafrika. In Afrika, im Nahen Osten, in großen Teilen Südostasiens, des Pazifiks, Australasiens und sogar Amerikas entstanden in diesem Prozess die territorialen Einheiten, die das Staatengefüge der heutigen Welt bilden.

Europa vollzog folglich eine doppelte Expansion. Äußeres Anzeichen der ersten war die Ausbreitung der Eisenbahnen und Dampfschiffe, der Bau eines riesigen Verbindungsnetzes, das weit schneller und sicherer war als in früheren Zeiten und zudem imstande, gewaltige Warenströme an einst unzugängliche Orte zu transportieren. Hafenanlagen, Bahnhöfe, Telegrafenleitungen, Lagerhäuser, Banken, Versicherungsgesellschaften, Kaufhäuser, Hotels (wie »Shepheards’« in Kairo oder »Raffles’« in Singapur), Clubs und sogar Kirchen bildeten das globale Netz des europäischen Handelsimperiums, das europäischen Kaufleuten freien Zugang ermöglichte und ihnen neue Märkte mit Massen von Kunden erschloss. Die zweite Form war eine territoriale Expansion. Sie beinhaltete den Bau oder die Eroberung von Forts und Stützpunkten, von denen aus Soldaten und Kriegsschiffe zu Zwangsmaßnahmen oder Eroberungen ausgesandt werden konnten. Sie beinhaltete außerdem die Kontrolle der Schlüsselzonen entlang der Hauptseewege, die zwischen Europa und dem Rest der Welt verliefen: Der klassische Fall war Ägypten, das 1882 von den Briten besetzt wurde. So entstand ein Herrschaftsnetz, mit dessen Hilfe die Produkte und Einnahmen der kolonisierten Regionen nach Belieben abgezogen und für imperialistische Zwecke verwendet werden konnten. Sobald ihr »Raj« eingesetzt war, erhoben die Briten von den Indern Steuern, mit denen sie die Militärmacht – eine Sepoy-Armee – bezahlten, die sie in Asien brauchten. Das europäische Handelsimperium war nicht deckungsgleich mit den territorialen Imperien Europas. Entscheidend an der doppelten Expansion war jedoch die Wechselwirkung zwischen den beiden Bereichen. Der territoriale Imperialismus wirkte wie eine Art Rammbock. Auf diese Weise konnten Märkte geöffnet werden, die sich einem Freihandel widersetzten, oder es konnten wie in Indien einheimische Ressourcen für den von europäischen Händlern geforderten Bau von Eisenbahnen und Straßen herangezogen werden. Die territoriale Herrschaft konnte europäischen Unternehmern Schutz garantieren oder ihnen ermöglichen, wie es in Afrika häufig der Fall war, lokales Land und Arbeitskräfte zu annektieren. Aber sie stützte sich zugleich auf die technologischen, industriellen und finanziellen Vorteile, über die Europa verfügte. Diese konnten in bewaffneten Auseinandersetzungen den Ausschlag geben (Dampfschiffe und überlegene Waffen sicherten den Briten den Sieg im ersten Krieg in China 1839–1842), wenn auch gewiss nicht überall.18 Die wichtigsten Vorteile des industriellen Imperialismus waren dessen Ausdehnung und Geschwindigkeit. Mit Hilfe der industriellen Technik und der nötigen Kapitalausstattung gelang es den Europäern, eine |29|Reihe blitzartiger Eroberungen durchzuführen. Mit geradezu halsbrecherischer Geschwindigkeit konnten sie Schienen verlegen, um ihre militärische Macht Hunderte Kilometer von der Küste entfernt einzusetzen. Sie konnten eine neue Region mit Siedlern überschwemmen und die dortige Demographie beinahe über Nacht auf den Kopf stellen, was unter den einheimischen Völkern zu Konfusion führte und jeden Widerstand zwecklos erscheinen ließ. Es gelang ihnen mit einer erstaunlichen Perfektion, fremde Umgebungen in vertraute Lebensräume nach europäischem Vorbild umzuwandeln: Sie führten wilde Tiere, Vögel, Fische, Bäume und Blumen ein sowie Agrarprodukte und Nutzvieh. Vor allen Dingen konnten sie selbst die abgelegensten Regionen des Globus zu Lieferanten alltäglicher Waren wie Butter, Fleisch oder Käse machen, die einst den Produzenten im eigenen Land vorbehalten gewesen waren. Die tristen Kühlhallen mit ihren düsteren Schornsteinen, die nach 1880 entlang der Küste Neuseelands aus dem Boden schossen, waren das industrielle Gesicht der Kolonialisierung.

Es wäre falsch anzunehmen, dass die Europäer keine Verbündeten und Helfershelfer gehabt hätten, aber die Europäer hatten eindeutig das Sagen bei der Umgestaltung der Welt. Wie lässt sich jedoch die außergewöhnliche Verlagerung, die im Jahr 1914 so gut wie abgeschlossen schien, von einer Welt der eurasischen »Verknüpftheit« zu einer global-imperialen Welt erklären? Ungeachtet der Fülle der Literatur, die sich mit diesem Thema befasst, ist vieles immer noch nicht geklärt. Die magischen Jahreszahlen 1492 (als Kolumbus den Atlantik überquerte) und 1498 (als Vasco da Gama Indien erreichte) mögen den Beginn der neuen Ära Europas eingeläutet haben. Doch der Vormarsch kam bestenfalls in krampfartigen Zuckungen voran. Drei Jahrhunderte nach der Landung von Kolumbus war der größte Teil des nordamerikanischen Festlands immer noch unbesetzt und von den Europäern so gut wie unerforscht. Es dauerte fast 300 Jahre, bis die Gegend Indiens, in der Vasco da Gama gelandet war, unter europäische Herrschaft geriet (Kalikut wurde 1792 von den Briten annektiert). Der Wettlauf setzte erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Nicht allein der Zeitpunkt, sondern auch die Form und Richtung der Expansion Europas müssen näher untersucht werden. Warum bewahrten das Osmanische Reich und der Iran ihre Autonomie viel länger als Indien, das doch viel weiter von Europa entfernt war? Weshalb wurde Indien von einer Kolonialmacht unterworfen, während es China gelang, seinen souveränen Status zu behalten, auch wenn er erheblich eingeschränkt war, und warum war Japan im Jahr 1914 bereits selbst zu einer Kolonialmacht geworden? Wenn industrieller Kapitalismus der Schlüssel zur Ausdehnung des europäischen Einflusses war, wieso dauerte es dann so lange, bis seine Wirkung in so großen Teilen der Welt zu spüren war, noch dazu mit so verschiedenartigen Konsequenzen? Weshalb hatten die innereuropäischen Spaltungen, die in regelmäßigen Abständen mit so tödlicher Wirkung ausbrachen, keine zerstörerischen Folgen |30|für die imperialen Ambitionen? Und was gehörte eigentlich zu »Europa«? Wieso gelang es manchen Teilen »Nichteuropas« weit effektiver als anderen, Europa in Schach zu halten oder das Joch rascher abzuschütteln? Und wie viel blieb von der »Welt, die Europa geschaffen hatte«, übrig, sobald die Imperien Europas zusammenbrachen?

Für die Beantwortung dieser Fragen scheint es ratsam, einen anderen Ansatz als die bisherigen Historiker zu wählen. Vier Grundprämissen haben die in diesem Buch aufgestellten Thesen geprägt. Die erste lautet, dass wir die Vorstellung verwerfen müssen, es habe im Lauf der Weltgeschichte einen linearen Wandel gegeben, durch den Europa stetig zur Vorherrschaft aufstieg, dann abstürzte und sich als Teil des »Westens« von neuem aufschwang. Es ist ergiebiger, im Sinne von »Zusammentreffen« zu denken, Phasen, in denen bestimmte allgemeine Bedingungen in verschiedenen Teilen der Welt zusammenfielen, so dass die Ausweitung des Handels, die Ausdehnung von Reichen, der Austausch von Ideen oder die Bewegung von Völkern gefördert (oder behindert) wurden. Die Art und Weise, wie sich dies abspielte, konnte die Waagschale zugunsten verschiedener Teile der Welt neigen, zumindest vorübergehend. In den seltensten Fällen gab eine einzige Bedingung den Ausschlag. Produzenten und Verbraucher mochten den Wunsch haben, Geschäfte zu machen. Aber Regierungen und Herrscher mussten ebenfalls einwilligen, einen möglichst freien Handel zu erlauben – oder überhaupt Handel. Politik und Geopolitik waren wesentliche Bestandteile der Gleichung. Der Ausbruch von Kriegen und ihr unvorhersagbarer Verlauf konnten ein Gleichgewicht ins Wanken bringen und ein neues herbeiführen. So geriet die große Expansion des Handels gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und mit ihr die Formen der Globalisierung, die dadurch gefördert wurden, mit dem Ersten Weltkrieg ins Stocken. Nach 1929 setzte eine »Entglobalisierung« mit katastrophalen Folgen ein. Der ursprüngliche Durchbruch Europas zu einer Vormachtstellung in den globalen Beziehungen sollte vielmehr als das unerwartete Resultat einer Revolution in Eurasien gesehen werden, und nicht als ein stetiger Vormarsch auf Kolumbus’ Spuren. Angemessene Metaphern sind weniger Flüsse oder Gezeiten als vielmehr Erdbeben und Überflutungen.

Die zweite Prämisse lautet, dass wir Europas Zeitalter der Expansion fest in den eurasischen Kontext einbinden müssen. Das heißt, wir müssen die zentrale Bedeutung der Verbindungen Europas zu anderen Zivilisationen und Staaten der Alten Welt in Asien, Nordafrika und dem Mittleren Osten anerkennen. Natürlich waren das gewaltsame Eindringen Europas in die »äußere Welt« und die »Neo-Europas«, die in Nord- und Südamerika, Australasien und Südafrika entstanden, ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte. Ohne die Ausbeutung der amerikanischen Ressourcen und die Integration Nordostamerikas und Nordwesteuropas in eine »atlantische« Wirtschaft wäre es womöglich gar nicht zur Schaffung einer |31|globalen Wirtschaft am Ende des 19. Jahrhunderts gekommen. Doch wir sollten uns von dem erstaunlichen Reichtum Amerikas – mehr als ein Jahrhundert lang das Weltwunder schlechthin – nicht ablenken lassen. Das Gravitationszentrum der modernen Weltgeschichte liegt in Eurasien: in den unruhigen, konfliktbeladenen, eng geknüpften Beziehungen seiner großen Kulturen und Staaten, die sich vom europäischen »Fernen Westen« bis zum asiatischen »Fernen Osten« erstrecken.

Erstaunlicherweise wurde diese »eurasische« Sichtweise überaus energisch schon vor über einem Jahrhundert von dem britischen Geographen und Imperialisten Halford Mackinder vertreten.19 Mackinder ermahnte seine Zuhörer, dass die »kolumbische Epoche«, als die europäische Seemacht scheinbar die Welt beherrschte, nur ein Zwischenspiel gewesen sei. Der Vorteil des Seeweges gegenüber dem Landweg als Fortbewegungsweise sei nur vorübergehend, nicht von Dauer: Dafür habe die Einführung der Eisenbahn gesorgt. Binnen kurzer Zeit werde der dominierende Einfluss auf die Weltpolitik wiederum der Macht (bzw. den Mächten) gehören, die Eurasien (in Mackinders Terminologie die »Welteninsel«) beherrschen, indem sie sein »Kernland« kontrollieren. Von dieser zentralen Stellung aus, unterstützt von einem Schienennetz, mit dem gigantische Ressourcen mobilisiert werden könnten, vermöge ein eurasisches Imperium jeden Rivalen an den Rand der Weltmeere zu drängen – die »äußere Welt« beider Amerikas, Schwarzafrikas, der Inselwelt Südostasiens und Ozeaniens – und selbst dort noch herauszufordern. Wir brauchen Mackinders geopolitische Vision nicht bis zu seiner logischen Konsequenz zu verfolgen (im Grunde ging es ihm seinerzeit darum, die Selbstzufriedenheit des Establishments unter König Edward zu stören), obwohl das Albtraumszenario eines Superimperiums im »Kernland« im Zeitalter des nationalsozialistischen und sowjetischen Imperialismus längst nicht mehr so abwegig wirkte. Heute können wir daraus, womöglich noch klarer als Mackinder, ersehen, dass die wechselnde Balance von Wohlstand und Macht zwischen den Hauptelementen Eurasiens und die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen diese Elemente in die globale Wirtschaft und das moderne »Weltsystem« eintraten, Hammer und Amboss der modernen Weltgeschichte sind.

Man könnte sogar argumentieren, dass die Annektierung der Äußeren Welt durch Europa lediglich ein Teil dieser eurasischen Geschichte und stark von eurasischen Entwicklungen abhängig sei. In Schwarzafrika und in Südostasien fanden sich die Europäer im Wettstreit mit anderen Imperien der Alten Welt und ihren Vasallenstaaten wieder. Nach 1870 löste die Angst vor einer »friedlichen Invasion« durch chinesische und japanische Siedler rings um den »weißen« Pazifik, also in Australien, Neuseeland und an der Pazifikküste Nordamerikas, eine Rassenparanoia aus. Aber es trifft gewiss zu, dass die europäischen Bemühungen, lebensfähige Kolonien in Regionen der Äußeren Welt zu schaffen, ohne die Heranziehung |32|bzw. zwangsweise Aneignung der Ressourcen des nichteuropäischen Eurasiens undenkbar gewesen wären. Indiens Steuern, Soldaten, Händler und Arbeitskräfte (häufig in Form einer Vertragsknechtschaft) trugen dazu bei, dem europäischen (in diesem Fall britischen) Unternehmertum Ostafrika, Teile des südostasiatischen Festlands und die Pazifikinseln bis zu den Fidschi-Inseln zu öffnen. Chinesische Händler, Bergleute und Handwerker waren genauso wichtig für die Regionen, aus denen das britische Malaya und Niederländisch-Indien (das heutige Indonesien) entstanden. Entscheidend dabei war, dass Chinesen und Inder nicht als die treibenden Kräfte einer chinesischen oder indischen, sondern als Helfershelfer und Komplizen einer von Europa aus gelenkten Expansion kamen.

Die dritte Prämisse lautet, dass wir uns sehr sorgfältig überlegen müssen, was denn eigentlich mit »Europa« gemeint ist. Es spricht ganz offensichtlich manches dagegen, Europa als Einheit zu behandeln, weil es doch allenfalls ein loses und zerstrittenes »Gemeinwesen« war. Wenn wir also von der »europäischen Vorherrschaft« sprechen, so meinen wir eigentlich die kollektive Vorherrschaft der europäischen Staaten, insbesondere jener, die sich am eifrigsten dem Überseehandel und dem Aufbau von Imperien widmeten. Die Schwierigkeit besteht nicht zuletzt darin, dass der Begriff »Europa« mindestens drei verschiedene Bedeutungen hat: Er bezeichnet einen geographischen Raum, eine soziopolitische Gemeinschaft und ein kulturelles Programm.20 Wenn man über die globale Expansion Europas schrieb, konnte man es sich einfach machen und den Nordwestzipfel des Kontinents als dessen Machtzentrum behandeln. Großbritannien, die Niederlande, Nordfrankreich und Westdeutschland wurden zur »Quintessenz« Europas und legten den »europäischen« Standard der wirtschaftlichen und kulturellen Moderne fest. Die Erklärung der europäischen Erfolge ist dann eine klare Angelegenheit. Man braucht nur auf die Stärke und Effizienz der repräsentativen »Kernstaaten« zu verweisen.

Bei jeder langfristigen Betrachtung des Platzes, den Europa innerhalb Eurasiens oder in der Weltgeschichte einnimmt, führt dieser reduzierende Ansatz jedoch in die Irre, und zwar aus drei Gründen. Erstens waren die Staaten im Nordwesten keine freien Akteure, welche die Ereignisse auf dem Rest des Kontinents völlig außer Acht lassen konnten – selbst nachdem sie die reichste Region Europas geworden waren. Reichtum und Sicherheit hingen stets von der allgemeinen Stabilität des europäischen »Staatensystems« ab. Unruhen in Mittel- oder Osteuropa oder eine größere Störung des gesamten Kräftegleichgewichts konnten ihre Souveränität gefährden oder umgekehrt Zufallsgewinne bescheren, in Europa und darüber hinaus. In der Tat erreichte in dem Zeitraum, den dieses Buch behandelt, kein Teil Europas eine dauerhafte Vormachtstellung über alle anderen. Der Wohlstand der nordwestlichen Staaten wurde durch das militärische und demographische Gewicht der weiter im Osten gelegenen Imperien wettgemacht. Das Europa der |33|Nationen (im Westen) mochte auf das Europa der Imperien (im Osten) herabblicken, aber es musste mit ihnen leben. Die Koexistenz war häufig von starken Spannungen geprägt. Die Streitigkeiten und Konflikte der europäischen Staaten, die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, waren ein ständiger hemmender Faktor für ihre kollektive Fähigkeit, die Dominanz Europas über den Rest der Welt durchzusetzen.

Zweitens ignoriert eine allzu enge Definition des Begriffes Europa den Problemfall Russland. Eine lange liberale Tradition führte zu Skepsis gegenüber den europäischen Referenzen Russlands. Man betrachtete das zaristische Russland als »asiatischen Despotismus«, zu primitiv und zu arm, um dazuzugehören. Einige russische Denker gaben das Kompliment zurück, indem sie hartnäckig die These vertraten, dass Russland eine separate und überlegene Zivilisation sei, unbefleckt von dem unmoralischen Industrialismus Europas. Eine realistische Betrachtungsweise würde Russland, wie Spanien oder das Habsburger Reich, zu den Pionierstaaten zählen, die bei der Expansion Europas eine Vorreiterrolle spielten.21 Die spätere Vorherrschaft der westeuropäischen Staaten in großen Teilen Südasiens nach 1815 wurde in Wirklichkeit durch eine mürrische, unfreiwillige Partnerschaft mit Russland erreicht. Russlands riesiges Binnenreich, mit dem Angelpunkt um Zentralasien, verleibte sich nach und nach einen großen Teil der nordasiatischen Landmasse ein. Die Osmanen, Iraner, Chinesen und Japaner standen den Briten und Franzosen gegenüber, während die Russen in ihrem Rücken immer näher rückten. Die riesige, aber unvollständige Einkreisung Asiens durch Europa war die große geopolitische Tatsache der Welt des 19. Jahrhunderts. Aber bei aller Spitzfindigkeit der Liberalen und Slawophilen: Die »treibende Kraft« hinter Russlands Expansion war in Wirklichkeit seine europäische Identität – die Druckmittel, die dem Zarenreich die Mitgliedschaft im europäischen Staatensystem verschafften; die wirtschaftliche Energie, die von der Integration Russlands in die europäische Ökonomie ausging; sowie der intellektuelle Zugang zum allgemeinen Reservoir europäischer Gedanken und Kultur, den die Russen seit dem 16. Jahrhundert hatten. Die Russen erklärten ihre Eroberungen wie alle Europäer zu einer »zivilisierenden Mission«.

Drittens spricht vieles dafür, unsere Vorstellung von »Europa« nach Westen ebenso wie nach Osten auszuweiten. Auf die Bedeutung der atlantischen Wirtschaft wurde bereits hingewiesen. Ein gewaltiger Wirtschaftsraum, dem die westafrikanische Küste, die karibischen Inseln, die nordamerikanische Küste, Mexiko, Peru und Brasiliens Küste angehörten, wurde nach 1500 durch Handelsbeziehungen an Europa angeschlossen. Der exakte Beitrag dieser Sklavenarbeiterzone zur späteren Industrialisierung Europas ist noch heute umstritten und vielleicht vernachlässigbar.22 Das Entscheidende ist jedoch, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts, und womöglich schon früher, ein erheblicher Teil dieser atlantischen Welt |34|nicht länger als eine von Europa abhängige Randzone angesehen werden kann. Der »Old Northeast« der Vereinigten Staaten, also im Grunde Neuengland, mit seiner Metropole New York war funktional ein Teil der führenden kommerziellen Region Europas. Er war ein aktiver – und wurde ein dominanter – Partner bei der Erschließung von Ackerland im amerikanischen Süden und Mittleren Westen, dem eigenen Binnenreich. Bereits in den 1870er Jahren standen die einstigen Kolonien den reichsten Ländern Europas finanziell und industriell in nichts nach. Auch wenn die separate Identität Amerikas von seinen Politikern und Schriftstellern lautstark hervorgehoben wurde und Angst vor der Verwicklung in europäische Streitigkeiten deren Diplomatie leitete, wurden die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Europa keineswegs kalt oder distanziert. Zwischen dem Nordosten und Nordwesteuropa herrschte ein überaus reger Austausch von Waren, Technologie, Ideen und Menschen. Auf kultureller und technischer Ebene war das ein Zweiwegeverkehr mit einer starken gegenseitigen Beeinflussung. Durch Anpassungen und Neuanfänge, unter Rückschritten und Vorstößen, wurden das Alte und das Neue Europa zu einem größeren Gebilde zusammengefasst: dem »Westen«. Es war ein wechselhafter Prozess, auf den die besondere Erfolgsstory des amerikanischen Kapitalismus – mit seinen riesigen Unternehmen und einem aggressiven Protektionismus – enormen Einfluss hatte. Aber er zählte zu den Schlüsseln für Europas Platz in Eurasien, wie auch für die Bewahrung und den Wandel der führenden Position Europas in der Welt.

Die vierte Prämisse schließlich betrifft unsere Auffassung davon, was ein Imperium ist. Der Aufbau von Imperien wird häufig als die Erbsünde der europäischen Völker angesehen, die eine unschuldige Welt korrumpiert haben sollen. Dabei ist der eigentliche Ursprung imperialer Bestrebungen natürlich viel älter. Ihm liegt ein Prozess zugrunde, der geradezu universell in menschlichen Gesellschaften zu beobachten ist. Es sei ein Grundbedürfnis des Menschen, so bemerkte Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen (Original 1776), zu »schachern, handeln und tauschen«.23 Smith dachte an materielle Güter: Eben die Gewohnheit des Austausches ermöglichte wiederum die Aufteilung der Arbeit, die eigentliche Grundlage des Wirtschaftslebens. Smith hätte seine philosophische Erkenntnis aber ohne weiteres auch auf die Parallelwelt der Informationen und Ideen ausweiten können. Der Austausch von Informationen, Wissen, Überzeugungen und Ideen – gelegentlich über gewaltige Entfernungen hinweg – ist ebenso charakteristisch für menschliche Gesellschaften wie das Bestreben, nützliche, prestigeträchtige oder exotische Waren durch Kauf oder Tauschhandel zu erwerben. Beide Formen des Austauschs haben Konsequenzen. Die Lieferung billiger Feuerwaffen (um ein nahe liegendes Beispiel zu wählen) konnte mit verblüffender Geschwindigkeit das Kräftegleichgewicht in einer Gesellschaft verschieben, in der Feuerwaffen selten oder unbekannt waren. Zudem konnten die Waffen |35|verheerende Orgien der Gewalt gegen Menschen oder die Natur zur Folge haben. Die Ausbreitung des Christentums und des Islam veränderte die Auffassung der Konvertiten von ihrem Platz in der Welt und zugleich ihre Vorstellungen von Loyalität gegenüber Nachbarn und Herrschern. Somit hat der Austausch von Waren und Ideen zu allen Zeiten den Zusammenhalt von Gesellschaften mehr oder weniger untergraben und sie anfälliger für Auflösungserscheinungen im Inneren und Übernahmen durch Außenstehende gemacht. Die Akkumulation von Macht im großen Stil war also eine zweite Tendenz in menschlichen Gesellschaften: das Streben nach dem Aufbau von Imperien. In der Tat erwies es sich als überaus schwierig, autonome Staaten auf einer rein ethnischen Basis zu gründen (ohne den Verlockungen kultureller oder ökonomischer Anreize oder den Optionen militärischer Überlegenheit zu erliegen), so dass Reiche, in denen verschiedene Ethnien Untertanen eines gemeinsamen Herrschers waren, in der Geschichte ein Grundmodell politischer Organisation waren. Imperiale Macht war im Grunde der Normalfall.

Doch wenn die Errichtung von Reichen »normal« ist, weshalb hat diese Leistung der Europäer dann eine so glühende Feindschaft hervorgebracht, wie sie sich noch heute in den meisten Schriften zu diesem Thema findet? Ansatzweise kann diese Frage damit beantwortet werden, dass viele postkoloniale Staaten sich politisch dadurch legitimierten, dass sie jegliche Form von Reichsbildung als fremde, böse und repressive Kräfte ablehnten. Gut 40 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit ist diese Tradition in postkolonialen Staaten stärker als jemals zuvor. Das kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass erheblich mehr Völker dereinst von europäischen Reichen unterworfen waren als etwa von mongolischen, osmanisch-türkischen oder chinesischen in Innerasien. Die Zahl der Geknechteten ist folglich viel größer. Die Intensität des Hasses wird auch durch die (in vielen historischen Werken geäußerte) Überzeugung deutlich, dass sich die von Europäern aufgebauten Imperien qualitativ von anderen unterschieden hätten. Im Gegensatz zu den traditionell agrarischen Imperien, die lediglich Land und Leute akkumulierten, war das Hauptmerkmal des europäischen Imperialismus die Enteignung. Land wurde enteignet, um den Interessen der Betreiber von Plantagen und Bergwerken zu dienen, die am Fernhandel teilnahmen. Zum selben Zweck wurden Sklaven gekauft und über Tausende von Meilen transportiert. Einheimische Völker wurden vertrieben und ihre Besitzrechte mit der Begründung annulliert, sie wären unfähig, ihr Land »richtig« zu nutzen. Sowohl die indigenen Völker als auch die Sklaven verloren durch Vertreibung oder Verschleppung de facto ihre Kulturen und Identitäten: Sie wurden gleichsam zu Krüppeln gemacht, ohne Hoffnung, jemals in ihre verlorenen Welten zurückzukehren. Aus ihnen wurden Völker ohne eigene Geschichte. Wenn sich Enteignung durch Unterwerfung als unzureichend erwies, griffen europäische Kolonisten zu den letzten |36|Mitteln: Ausgrenzung, Vertreibung oder Vernichtung. »Wenn man von dem, was sich derzeit in der Welt abspielt, ausgeht«, schrieb der französische Denker Charles Alexis de Tocqueville im Jahr 1835, »könnte man beinahe sagen, dass der Europäer für die anderen Rassen der Menschheit das ist, was der Mensch selbst für die niederen Tiere ist: Er macht sie seinem Nutzen dienstbar, und wenn er sie nicht unterwerfen kann, dann vernichtet er sie.«24