Das Urwaldschiff - Richard Arnold Bermann - E-Book

Das Urwaldschiff E-Book

Richard Arnold Bermann

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Beschreibung

In seinem Bestseller-Roman "Das Urwaldschiff" erzählt der österreichische Reiseschriftsteller von einer Reisegruppe, die mit ihrem Dampfer den Amazonas von der Mündung stromaufwärts befahren möchte. Als ihnen aber schon direkt nach Beginn die Weiterfahrt verweigert wird entschliesst sich der pensionierte Lehrer Schwarz seinen Traum von der Dschungelerkundung auf eigene Faust zu verwirklichen ...

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Das Urwaldschiff

Ein Buch vom Amazonenstrom

Richard A. Bermann

Inhalt:

Das Urwaldschiff

Erster Teil - Doktor Schwarz aus Leitmeritz

Zueignung an Curupira

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Zweiter Teil - Orellana

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Das Urwaldschiff, Richard A. Bermann

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849614614

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Frontcover: Quelle: Flickr: Finding Brazil Mission Trip 206, Urheber: Derek Springer, lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 US-amerikanisch (nicht portiert, Details zu entnehmen unter http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de.

Das Urwaldschiff

Erster Teil - Doktor Schwarz aus Leitmeritz

»E quanto a dir qual era, è cosa dura,Questa selva selvaggia ed aspra e forte,Che nel pensier rinnuova la paura.Tanto è amara, che poco è più morte.«

»Wie schwer ist's doch, von diesem Wald zu sagen, Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not; Schon der Gedanke dran erneut mein Zagen, Nur wenig bitterer ist selbst der Tod.«

Dante, Inferno I.

Zueignung an Curupira

Nun, da ich von dem großen Geheimnis des amazonischen Waldes sprechen soll, von dem ungeheuren Reich des grünen Zwielichts, von den dumpfen Schatten und den brennheißen Sonnenpfeilen; von den Rätseln der zahllosen Waldflüsse, der Wirrsal der verwachsenen Pfade, da ich von diesem überquellenden Leben sprechen soll, diesem Rauschen, Huschen, Fliegen, Schwirren unter den dunkelgrünen Zweigen – zu dir, o Curupira, Geist des großen Urwalds, strecke ich meine Hände empor! Verwirre mein Wort nicht, großer Irrgeist der Baumwildnis, lasse mich meinen Pfad sehen zwischen den Stämmen, den Schlingpflanzen, die sie mordend umfangen, nicht auf den verwachsenen Wasserwegen lasse mich den Pfad verlieren, zwischen den ungeheuren Blüten der Viktorialilien! Meinem Irren und Taumeln sei gnädig, da ich von deiner Welt sprechen will, Curupira, Curupira!

Die Götter Griechenlands, schön, klar und lächelnd, sie wären verloren im Urwaldgestrüpp am Amazonas. Er selbst, der Waldläufer der nordischen Insel, der Elfe Puck, er könnte in diesen heißen und wilden Wäldern nicht bestehen. Elfentanz auf nächtlichen Waldwiesen? Der Indianer Amazoniens weiß, daß keine Elfen auf Waldwiesen tanzen können, der Jaguar würde sie fressen und der schwarze Puma, der grausam die Halsader des Opfers sucht – – Die Elfen des Amazonenstromes tanzen mitten im Wasser, auf der großen, runden, schwimmenden Tellerfläche der Victoria Regia, und die Riesenschlange Anakonda windet sich im Kreis darum, den Tanz vor bösen Dämonen zu schützen, vor dem schrecklichen Nachtgespenst Jurupary und vor dem entsetzlichen lahmen Zwerg Maty-Taperé, vor ihm, der im Dunkel wie ein heiserer Vogel schreit – –

Die blonden Elfen des Nordens sind zu zart für diesen großen, großen Wald. Aber er ist doch voll von geheimer Göttlichkeit; die Indios wissen es, die noch frei an den Flüssen wohnen, mit Bogen und Speer; und selbst die in den großen Uferstädten, halbindianische Mamelucos und halb vernegerte Cafuzos, auch sie erzählen ihren gelben und schwärzlichen Kindern am Abend vor der Hütte, daß der Strom der Wassermutter gehorcht und der Wald dem Curupira.

Das Wasser, dieses endlos strömende und stehende Wasser, das durch den amazonischen Urwald sickert, flutet hier breit wie ein Meer und bronzegelb, hier reißend und tief und blauschwarz, hier grün, hier vielfarbig, mit unvermischten Farben; zwischen den Mangrovewurzeln, den Palmgestrüppen, quer durch das Gewirr der Inseln, das Wasser des einen großen Süßwassermeeres und der sechs Rheine und der fünfzig Elben, der hundert Themsen, der fünfhundert Inne, die da durch den dicken schwarzen Wald gelaufen kommen, voll von Fischen, von Kaimanen, Schildkröten, Schlangen – dieses Wasser, das Leben ist und Gefahr, Mutter und Tod, der amazonische Indianer personifiziert es in der Göttergestalt der Mae d'Agua, der großen Wassermutter. Sie ist die Lorelei, die Melusine, die Nixe des Amazonenstroms; in der Nacht dringt ihr zauberischer Gesang aus dem Pflanzendickicht, das die Igarapés umgibt, die schmalen Bootpfade im Waldgestrüpp. Und wer dieses Singen hört, der wird toll vor Sehnsucht und stürzt sich mit einem wilden Lachen in den Fluß – –

Vom Ufer kommt das kichernde Murmeln der Yaras, der Flußsirenen, die der Wassermutter dienen.

Dem Curupira gehört der Wald. Dieser amazonische Rübezahl ist halb ein Indianer, halb ein Baumaffe oder Jaguar, ein kletterndes Gespenst. Wenn er sich in seiner wirklichen Gestalt zeigt, sieht man, daß seine Füße verkehrt an den Beinen sitzen, mit den Zehen nach hinten, oder auch, daß er einen Fuß wie ein Mensch hat und den anderen wie ein riesiger Jaguar. Er hat nur eine Augenbraue in der Mitte der Stirn, seine Zähne sind blau. Aber gewöhnlich erscheint er dem Waldwanderer in verzauberter Gestalt; der Mann glaubt, ein schönes Weib zu sehen, das Weib einen schönen, starken Krieger; Necken und Verwirren ist die höchste Lust des Curupira.

Vielleicht war dieser sonderbare, schweigende, große, bronzebraune Mensch, dem ich im Walde begegnete, damals, Curupira. Ich sprach ihn an, und er lächelte und war gleich wieder weg, und nun geschah jenes peinlich lächerliche Malheur mit den höllisch beißenden Feuerameisen.

Und als ich auf dem Baumstamm saß, ganz betäubt von dem Farbenglanz der flatternden Schmetterlinge und der leuchtenden Vögel – jenes tiefe Pochen im Wald, das war kein Specht, das war Curupira, der herumgeht und mit einer ungeheuren Axt aus Schildkrot die alten Bäume beklopft, ob sie dem nächsten Sturm noch widerstehen werden – –

Er ist gut und böse, komisch oder furchtbar, Freund oder Feind, freigebig oder grausam, dankbar und ein großer Rächer, er ist wie dieser Wald selbst, der neckt und verwirrt, Schätze gibt, Nahrung und tausendfach den Tod – –

Vielleicht ist der Curupira einfach, verzeih mir, Curupira, ein großer Affe, einer, den die Naturforscher bisher nicht katalogisiert haben. Was wissen die Naturforscher vom amazonischen Wald! Sie kennen den zehnten Teil nicht. Sie behaupten, daß in diesem ungeheuren Treibhaus das Leben noch nicht bis zu den höchsten Stufen der Entwicklung gediehen ist; dieses überreiche, phantastisch reiche Tierleben des Waldes soll es nur bis zu den kleineren Kletteraffen gebracht haben; die großen Menschenaffen fehlen, und der Mensch selbst scheint hier ein Fremder zu sein, ein Gast aus anderen Erdteilen, aus Polynesien, Ozeanien, bevor er Zuzug aus Europa und Afrika bekam.

Ist nicht vielleicht der Curupira, von dem alle Indianer Brasiliens wissen, der große aufrechte Affe, von dem die Naturforscher nichts wissen, der mögliche Ahn des künftigen, wirklich amerikanischen Menschen?

Die Sage läßt den Curupira neugierig sein wie einen Affen. Der Kautschuksammler, der im Wald den Weg zu verlieren fürchtet, setzt sich rasch nieder und flicht ein sonderbares Geflecht aus den Stengeln bestimmter Pflanzen und läßt es liegen. Der Curupira, zwischen den schlanken Assai-Palmen hervorlugend, sieht das Spiel und wird sogleich das Gewinde aufzuflechten beginnen; während der Neugierige so beschäftigt ist, weicht sein Zauber von dem verfolgten Menschen, sein verwirrter Blick wird wieder klar, er erkennt die Pfade des Waldes – –

Oh, hätte ich die Pflanzen gewußt und das Geflecht gewoben, als mir der Curupira ungnädig war und mein Lebenspfad verwirrt im amazonischen Walde, in den seltsamen Tagen der amazonischen Operettenrevolution!

Curupira, das ist die unsägliche Wirrnis des Dickichts, das böse Peitschen der Zweige, Stechen der Baumwespen und Ameisen, Fallen über Wurzeln, aber auch die sanftere Neckerei der davonflatternden feuerroten und grünen Libelle, jenes in der Sonne durchsichtig und rubinrot gewordenen Blattes, dem ich atemlos durch das Bambusgebüsch zustolperte, weil ich es für irgendeinen Märchenschatz hielt, Karfunkel oder Rubin – Curupira, das ist das Huschen in den Zweigen, das Rauschen hinter der Mauer des Astgewirrs, das Rascheln der großen Eidechsen im Laub, die duftende Hitze in dem unsäglichen, unendlichen amazonischen Urwald, den ich zuviel gesehen habe und nicht genug für meine Glückseligkeit, dieser geheime, zwielichthelle, zwielichtdunkle, schwirrende, raunende, grüne, dunkle, fürchterliche, neckische, herrliche, gespenstische Zauber, Zauber, Zauber – –

Erstes Kapitel

Der Königliche Postdampfer »Hildebrand« der Booth Line, Liverpool, fuhr am Vormittag des 30. Juli 1924 in die Mündung des ungeheuren Stromes ein; an diesem Vormittag spielten selbst die harmlosesten jungen Passagiere keine Partie Deckgolf. Es gab Leute an Bord, die in der letzten Nacht vor freudiger Erwartung nicht hatten schlafen können und die mit dem allerersten Morgengrauen im Schlafanzug auf Deck gekommen waren, um den Piloten der Station Salinas an Bord kommen zu sehen; das fremdartig romantische Segel seines Bootes, tiefrot, dreieckig und an der Hypotenuse halbmondförmig gehöhlt, hatte sie aufgeregt und beglückt.

Ein älterer Deutscher aus der Tschechoslowakei, Dr. Schwarz, war einer von diesen Frühaufstehern oder Nichtschläfern gewesen, dann der englische Arzt Carson, der französische Gymnasiast René und sonderbarerweise auch Lord Athill, der frühere britische Minister; Lord Athill mußte durch die plötzlich verstärkte Hitze oder durch einen Anfall seines Leidens am Schlaf gehindert worden sein, denn niemand mutete seinem matten Wesen jene Kraft der Sehnsucht zu, die die anderen an diesem Morgen der Ankunft und Erfüllung nicht hatte ruhen lassen. Jetzt freilich waren auch die Stumpfen und Blasierten unter den Passagieren auf Deck, mit gewichtigen Feldstechern oder langen Guckrohren bewehrt; es gab viel und Herrliches zu sehen.

Und wenn es nichts gewesen wäre als das Wasser allein: ein Wasser wie aus mattem Gold oder aus einer sehr hellen Messingbronze, aber mit blauen und perlmutterfarbenen Reflexen des lichten Himmels, märchenhaft zart hineingemischt. – Erst war es noch wie ein goldfarbenes Meer, mit einem silbernen Streifen von Ufersand irgendwo am Horizont und mit einer unbestimmten grünschwarzen Linie darüber, bis man sah, daß das Baumwipfel waren, eine Mauerkrone von Baumwipfeln, nichts anderes als der Rand des endlosen amazonischen Urwalds – und nun sah man, daß man auf einem Fluß war, zwischen lauter bewaldeten Inseln, und dann begann diese unglaubliche Invasion, der erste große Ansturm der überquellenden tropischen Natur: auf einmal wurden alle Verdecke des »Hildebrand«, ja auch der Rauchsalon, selbst die Kabinen durchflattert von leuchtenden Schmetterlingen, man konnte toll werden vom Hinschauen; es gab große Schmetterlinge, deren Flügel emaillierten Fächern glichen, und ganz kleine Motten, lebendige Smaragde und Saphire; manche waren grelle einheitliche Farbenflecke, andere wieder vielfarbig und fein gezeichnet; es war ein tolles geflügeltes Kaleidoskop, eine Episode aus einem Traum ohne die Schwere der Wirklichkeit; und so war alles an diesem goldenen Morgen.

Nicht wirklicher als die Schmetterlinge erschienen auf dem Wasser die phantastischen Boote, viele, viele. Ihre Segel waren himmelblau oder brennend rot; braune und dunkelhäutige Männer standen in ihnen aufrecht, manche ganz nackt, nur mit riesigen Hüten, und senkten Netze ins Wasser oder stachen mit Speeren hinein; und man sah, wie sie fortwährend, mit den Netzen, mit den Speeren, glitzernde Fische aus dem Wasser holten, ganz kleine oder ungeheuerlich große. Diese buntbeschwingten Boote, den Schmetterlingen gleich, waren überall, weithin; sie kamen aus den kleinen Uferbuchten, an denen man sonderbare Hütten oder Schuppen sah, aus ein paar Palmenstämmen und Palmblattmatten aufgebaut. Oder die Boote schossen mit anmutiger Bewegung aus dem dunklen Schatten eines Kanals zwischen zwei tiefgrünen Inselchen. Es sah aus, als kämen sie geradeswegs aus dem tiefen Wald, denn außer dem sonnenbeglänzten und goldfarbenen Wasser, in dem die blauen Reflexe immer wieder zauberhaft aufschienen, gab es nur Wald, Wald, Wald: er war schwarz, grün und bläulich zugleich, umschwebt von einem undefinierbaren dunkelflaumigen Hauch, der die Farben und Formen magisch ränderte; erst sah man nur die geschlossene Einheit, die bedrohlich dichte Masse der Vegetation, eine Mauer ohne Ende noch Lücke; dann zeigte das Glas die verrückte Vielheit des einzelnen, das Gezacke der Kronen, Gewirr der Stämme; einzelne Baumungeheuer tauchten auf, hier, dort, gigantisch über die Umgebung erhoben; ein großer Baum irgendwo schien eine rosarote Flamme, man sah kein Blatt, nur Blüten; es gab riesige Fächer, Schirme, gespreizte Hände, grüne, zum Himmel emporschießende Raketen, all das aber war nur Umriß, Außenlinie, der Blick drang auf keine Weise ein ins Innere des Waldes. Das winzigste Inselchen schien ganz verschlossen, geheimnisvoll; gleich hinter dieser undurchdringlichen Wand am besonnten Ufer mußte ein schweres Dunkel beginnen, voll von Rätseln, Schrecken, vielleicht Schätzen, sicher Gefahren – dieses ganze Bild war in der unglaublichsten Weise in ein zauberisches Fluidum getaucht, es sah nicht aus wie eine irdische Landschaft – –

Die Passagiere des »Hildebrand«, alle auf Deck, in ganz frischen Tropenanzügen die Männer, die Damen licht und festlich, hatten ihre Bordstühle nahe an die Reling geschoben, um besser zu sehen, oder promenierten auf und ab, lautlos auf den Gummisohlen ihrer niederen Leinenschuhe; es tat nach der langen Überfahrt wohl, kein Schaukeln mehr zu spüren, auf einem Strom zu fahren, der Ufer gewiß. In vielen verstärkte dieses Ankommen, dieses Erlangen die Sehnsucht bis zur zappligen Ungeduld; andere und stumpfere fühlten schon jetzt, bevor sie das verheißene Land noch betreten hatten, die erste Vorahnung der Sättigung: sie äußerte sich in Klagen über die feuchte Hitze, die freilich nicht gering war, obwohl auf dem schattigen Promenadendeck zu ertragen, im Liegestuhl, während die Stewards kleine Portionen von süßem Eis in Papiernäpfchen umhertrugen und im Rauchsalon geeistes Ginger-Ale und Lemon Squash in den Gläsern schienen.

Dennoch gab es schon eine Gruppe von Blasierten, die von der ganzen tropischen Herrlichkeit nur noch die Temperatur bemerkten. Man sah Lord Athill in dem großen, goldgelben und kompliziert geflochtenen Lehnstuhl liegen, den der alte Staatsmann sich auf Madeira gekauft hatte, mit Fußstütze und Armstützen. Er allein von allen Reisenden war auch heute dunkel gekleidet, obwohl sein bequemer Anzug aus dem leichtesten aller schwarzen Lüsterstoffe war. Er lag da, ein müder, alter, weißhaariger Herr, mit einem durch Leiden sehr fein gewordenen Gesicht; den Augen gab die Stahlbrille etwas Scharfes; am besten war die Hand, mit einem großen, feierlichen Wappenring. Neben seinem Stuhl stand ein anderer, ebenso luxuriöser Madeirastuhl, mit Lady Athills Arbeitskorb davor. Der Arbeitskorb war so groß wie ein Papierkorb in einem Bureau und hatte einen Henkel wie ein Eimer. Lady Athill saß nicht in dem Stuhl, sondern ging mit Mrs. Craig spazieren, vierundzwanzigmal um das Promenadendeck herum, das war eine englische Meile und mußte mehrmals am Tag zurückgelegt werden. Edith Lady Athill war sehr groß, sehr gerade und in ihrem kalten Alter noch sehr schön und steif, was sie sehr beglückte; sie trug ein luftdurchlässiges, aber hochgeschlossenes Kleid, hatte als die einzige von den Damen einen Hut auf dem Kopf und einen violetten Schleier vor dem Gesicht, wegen des Teints; sie trug Handschuhe und erschreckend hohe Absätze. Da er sie anderswo wußte, hatte sich Dr. Carson neben den Lord gesetzt, er ertrug die Lady schlecht wegen ihres herzlichen, aber wiehernden Lachens. Dr. Carson las immer Bücher über die sächsische und dänische Urzeit in England; Athill interessierte ihn unter anderem, weil seine uralte Familie wahrscheinlich von Eduard dem Bekenner abstammte. »Aber wenn ich Ihre Ladyship lachen höre,« hatte der Doktor einmal zu dem Weltbummler Hilary gesagt, »dann zweifle ich nicht daran, daß sie direkt von den alten angelsächsischen Häuptlingen Hengist und Horsa abstammt, und von allem, was ein Roß im Wappen führt.« Dr. Carson selbst hätte ganz gut einen alten dänischen Jarl vorstellen können, er hatte nichts Keltisches an sich, nur germanische Geradheit, Langsamkeit, nordisch gekühlt: ein alter Junggeselle, Landarzt irgendwo in Cornwall, jetzt zum erstenmal seit dem Krieg auf einer Urlaubsreise.

Die beiden alten Herren lagen lang ausgestreckt; von ihren Stühlen aus konnten sie das Wasser erblicken und die indianischen Fischerboote und die phantastischen Ufer. Sie rauchten, Carson seine Pfeife, Athill eine von den dünnen, langen, orientalischen Zigaretten, die eigens für ihn angefertigt wurden. Sie sprachen kaum miteinander, wenn aber, dann leise und intensiv. Der Lord war noch matter als sonst, vielleicht, weil ihn der Gedanke an die Landung in Parà erst ein wenig erregt hatte. Der Doktor, ein normaler Urlaubsreisender mit behaglichen Feriengefühlen, genoß mit erheblichem Phlegma eine angenehme Situation. Es war erfreulich, in diesem Stuhl zu liegen und die lateinischen Segel zu sehen.

Es war erfreulich, noch heute an Land zu kommen, ein interessantes, exotisches Land, und morgen die große Rundfahrt Parà zu machen, laut Reiseprogramm, und zwei Tage später wieder weiterzudampfen,»1000 miles up the Amazon River«,wie Dr. Carson immer wieder auf der zweiten Annoncenseite der »Times« gelesen hatte, bis sich ihm die Lockung ins Hirn fraß und er beschloß, in diesem Sommer nicht in Schottland zu fischen, sondern den Amazonenstrom zu befahren, tausend Meilen weit, bis zu der Stadt Manaos, und wieder zurück über Madeira, Lissabon und Leixões nach Liverpool, für hundert Pfund Sterling, alles inbegriffen. – Das erste Drittel seiner hundert Pfund und seiner sechs Wochen Ferien hatte Dr. Carson abgereist, zu seiner Zufriedenheit; der gegenwärtige Augenblick erschien ihmvery comfortable, indeed; und er machte Lord Athill mit einer kleinen, trocken vergnügten Geste auf den ekstatischen Schwärmer aufmerksam, der in ihrer Nähe seinen hageren Leib krampfhaft gegen die Messingstangen des Geländers drückte, mit überhängenden Armen, die förmlich nach dem endlich erreichten Land einer großen Sehnsucht langten, Schwarz, Bernhard Schwarz, Dr. Schwarz aus Leitmeritz in Böhmen, emeritierter Realschullehrer – der einzige männliche Deutsche auf dem Schiff, obwohl Hilary, der Weltbummler, in dem vagen Verdacht stand, dieser noch einigermaßen verfemten Nation anzugehören. Übrigens sprachen beide ein reineres Englisch als viele der mitreisenden Engländer, Hilary selbstverständlich, es gehörte zu ihm, niemand zweifelte, daß er nötigenfalls ein reines Polynesisch produzieren würde; das Englisch des Dr. Schwarz war ein wenig langsam und gehemmt, an Schulen erlernt und nachher an Schulen gelehrt, jedermann an Bord wußte, daß dies die erste größere Reise des alternden Mannes war; er redete von nichts als von dieser ihn aufregenden Tatsache: andere mochten auf diesem Dampfer ihre Ferien verbringen oder sich erholen oder sich nach Brasilien begeben, Bernhard Schwarz lebte hier sein Leben, endlich, das eigentliche; mit achtundfünfzig Jahren endlich.

Da war er, lang, knochig, hart am Ergrauen und Altwerden, aber noch nicht grau und noch nicht endgültig alt, gleichsam in der Schwebe; solange er die große Sache nicht vollendet hatte, konnte er ja doch nichts Definitives unternehmen; die große Sache aber war eben dies, diese unglaubliche, traumhafte Reise auf dem Amazonenstrom – einst in der frühen Jugend geplant, nach der Lektüre eines Buches von Jules Verne; ein Wunsch der Jugend, später zum Wachtraum geworden, zur überwertigen Vorstellung, zum Lebensinhalt. Alles Frühere, fünfunddreißig Dienstjahre, das war die Vorbereitung auf diese Reise gewesen, die Zwischenzeit, die verstreichen mußte – –

Jetzt stand dieser Mensch da, lang, knochig, ungeschickt. Er trug einen Tropenanzug, aber nicht, wie die Deckgolf spielenden englischen Jünglinge an Bord, irgendein gutgeschnittenes und gutgebügeltes Stück Rohseide oder Leinen – nichts dergleichen, sondern ein romantisches Khakikostüm für den dichtesten Urwald, Ledergamaschen gegen Schlangen, Taschen für Kompasse, Taschen für Revolver, den einzigen Tropenhelm, der an Bord war – Es war lächerlich, wenn man das Programm der Vergnügungsfahrt des »Hildebrand« kannte: Gefrorenes im Café des Grande Hotel in Parà, Fruchtsäfte mit Soda im Café zu Flores bei Manaos und eine Fahrt in einem Flußboot zur Besichtigung der Victoria-Regia-Wasserlilien . . . Dieser Dr. Schwarz, wie er dastand, den khakibraunen Tropenhelm schief auf dem gerade noch schwarzen Haar und den vorspringenden Schläfenknochen, sah grotesk-komisch aus, wenn man die Augen nicht bemerkte, die Augen waren zu ernsthaft. – Diese Augen, die von ihrem Traum Besitz ergriffen, heißhungrig und gefräßig, glücklich und voll von jener großen Angst der Glücklichen, die um ihr Glück bangen; diese Augen, und diese langen, gelben Hände, die über die Reling griffen, gleichsam um zuzupacken, festzuhalten, waren rührend und pathetisch; der Rest tragikomisch: ein alter Schulmeister von der dürren Sorte als Urwaldforscher verkleidet. –

Wer weiß, ob Dr. Carson, der in diesem Augenblick den alten Lord Athill auf den Mann aufmerksam machte, den tragischen Zug der Erscheinung bemerkte oder nur die komische Geste haltlosen Verzücktseins, den gekrümmten Rücken, den unmäßig breiten Riemen des Feldstecherfutterals, der über diesen Rücken lief wie ein romantischer Schwertgurt, und den großen, blauschillernden Schmetterling, der sich neckisch auf die etwas schiefe Schulter gesetzt hatte. Aber Lord Athill, mit feineren Nerven als der Arzt und mit der instinktiven Menschenkenntnis eines großen Politikers, schien zu verstehen. Er lächelte nur ein wenig und sagte mit seiner sanften, müden Stimme: »Er freut sich so. Ich bin froh, daß er sich freut. Gestern abend hat er mir so nett gesagt, was das für ihn bedeutet – –«

Er seufzte unhörbar. Es gab nichts auf der Welt, was für Lord Athill sehr viel bedeutete. Er machte diese Reise, weil ihm der Arzt Seeluft empfohlen hatte, Ruhe und Wärme.

Jetzt kehrte der Realschullehrer in Khaki, Bernhard Schwarz, sich hastig um, verlegen und ein wenig ärgerlich; eine junge Dame war auf ihn zugetreten und hatte ihn angesprochen, auf deutsch: Fräulein Pedersen aus Lübeck. Sie war blond und wässerig; sie sprach das hanseatische Deutsch, sehr s–pitz. Sie gehörte nicht zu der Gruppe der Rundreisenden, der »Cruisers«, wie man sie im Bordjargon nannte, die zu ihrem Vergnügen die Kreuzfahrt mitmachen wollten, den Amazonas hinauf und wieder herunter,1000 miles up the Amazon, sechs Wochen für 100 Pfund. Oh, nicht zu ihrem Vergnügen. Ernste Angelegenheit. Wahre Liebe und so. Sie fuhr nach San Cristobal in Bolivien, einen deutschen Kaufmann heiraten, der dort auf sie wartete. Das heißt, wenn sie lebend hinkam. Es war durchaus unwahrscheinlich. Wenn sie mit dem »Hildebrand« die sechzehnhundert Kilometer bis Manaos zurückgelegt haben würde, fing die Reise für sie eigentlich erst an. Es kam dann, auf einem vagen und unheimlichen südamerikanischen Flußdampfer, erst noch eine lange, lange Fahrt durch den dicksten Urwald, den ganzen Rio Madeira hinauf; dann würde sie plötzlich an einer Eisenbahn sein, die unerklärlicherweise mitten im Wald begann und mitten im Wald aufhörte, am Ufer des Rio Mamoré, dann mußte sie noch einen Dampfer besteigen und wochenlang weiterfahren, wer weiß durch welche Schrecknisse – –

Ihr war schon der brave »Hildebrand« mit seinen elektrischen Ventilatoren und englischen Beefsteaks unerhört romantisch vorgekommen und ein wenig verdächtig; verdächtig war alles, was nicht so war wie in Lübeck. Die Gute sprach keinen Ton einer anderen Sprache als ihr s–pitzes Hanseatisch, sie weinte stundenlang vor Heimweh, wahrscheinlich nachts in ihrer Kabine und sicherlich tagsüber, wenn teilnehmende Leute in der Nähe waren: Mrs. Barnes, die ein wenig Deutsch verstand, die Schwedin Frau Berglund, die mit ihrem kleinen Mädchen in Dalarne gewesen war und jetzt zu ihrem Mann nach Parà zurückfuhr, und besonders Dr. Schwarz.

Dr. Schwarz hatte, auf englisch, dem halben Schiff seinen Abscheu vor diesem weinerlichen Geschöpf anvertraut; was half es ihm? Sie hatte den Landsmann zu ihrem väterlichen Freund ernannt und schüttete ihm ihr Herz aus, stundenlang. Sie konnte das nicht verstehen, wie Leute freiwillig in ein so scheußliches Land fahren konnten, »so heiß, nich?, und die farbigen Dienstboten gewiß nich ordentlich, und überhaupt Zus–tände!«

Der arme Realschullehrer, der sein ganzes Leben dazu verwendet hatte, sich nach eben diesem Land zu sehnen, mußte das geduldig anhören, stundenlang, mit der verlegenen und steifen Galanterie eines alten Herrn, der gegen eine vertrauensvolle junge Dame einfach wehrlos war. Daß sie ihn auch jetzt nicht in Ruhe ließ, in diesem höchsten ersten Augenblick des Ankommens und der Erfüllung, das war eigentlich zu arg. –

Er brachte tatsächlich den Mut auf, sich nach einigen Minuten von ihrem Gejammer loszumachen (jetzt fing diese schreckliche Hitze an, nich, und ob in Parà eine Depesche von ihrem Bräutigam dasein würde?); er murmelte rasch etwas von dem Schiffsarzt, den er fragen müsse, ob – und stelzte mit großen Schritten zu dem offenen Verandacafé am Heck des Dampfers, wo dieser Schiffsarzt saß, ein dickes und rosiges Riesenbaby in einer weißen Tropenuniform mit goldenen Knöpfen, und mit vier Goldborten auf den Achselklappen, und einer weißen Marinemütze; er saß da und tötete in einer großen Giftflasche die Schmetterlinge, die ihm die ältere Miß Macpherson eifrig brachte; die ältere Miß Macpherson, ein empfindsames und neckisches Wesen, rannte schon seit dem frühen Morgen mit einem violetten Schmetterlingsnetz herum und fing Schmetterlinge, meistens solche, die sich auf die Kleider männlicher Mitpassagiere gesetzt hatten: »Oh,please, halten Sie nur einen Augenblick still – ich hasse es, dem lieben armen Ding weh zu tun, aber ich muß es haben, es ist so eine Schönheit – da, geben Sie es in Ihre gräßliche Flasche, wie können Sie nur so grausam sein!«

In den Zwischenpausen, während die ältere Miß Macpherson auf der Jagd war, erklärte der dicke Schiffsdoktor einem ganzen Kranz von Passagieren den Amazonenstrom – er war die höchste Autorität für den Amazonenstrom, dies war seine dreiundzwanzigste Reise, immer bis Manaos hinauf, vor dem Krieg bis Iquitos; er kannte jede Sandbank und jeden Alligator persönlich und sprach die portugiesischen Namen der Uferorte noch immer falsch aus.

Als der Mann mit der großen Sehnsucht nach dem Amazonenstrom, Bernhard Schwarz, an den Tisch herantrat, blickte der Schiffsdoktor mit seinen etwas vorstehenden Augen durch das Glas der Flasche, in der ein kleiner, perlmutterfarbener Schmetterling seine letzten Zuckungen ausführte, und sagte: »Am zweiten Tag unseres Aufenthalts in Manaos besteigen die Teilnehmer an der Rundfahrt einen eigens gecharterten flachen Flußdampfer; ein kalter Lunch wird mitgenommen – man fährt ein paar Meilen den Rio Negro hinauf, dann einen kleinen Nebenfluß, bis der Dampfer zwischen den Urwaldbäumen nicht mehr weiter kann. Man steigt in Boote – nein, es ist nicht gefährlich, Mrs. Barnes, und dann kommt die Fahrt, die Sie auf Seite 24 des illustrierten Prospekts angekündigt gesehen haben, durch den überschwemmten Dschungel, mitten durch den großen Zwielichtwald. An einer Stelle steigt man aus, indianische Führer stehen bereit, unter zuverlässiger europäischer Oberleitung, natürlich. Dann kommt das eigentliche, das wirkliche Ding, wissen Sie. – Sie werden mitten in den dichtesten Urwald eindringen, oh, bequem, eine halbe Stunde oder so. Durch die wundervolle Wildnis kommen wir endlich zu dem brausenden Taruma-Fall – –«

Der Schiffsdoktor machte eine eindrucksvolle Pause, endlich: »Der Taruma-Fall ist auf keiner Landkarte verzeichnet!« Er sagte es leise, andächtig. Bernhard Schwarz blickte sich rasch um, ob Fräulein Pedersen ihn beobachtete; da sie es nicht tat, blieb er bei dem Schiffsdoktor nicht stehen, dessen gesprochener Ausflugsprospekt ihm entsetzlich war, sondern ging weiter, die Schmalseite des Schiffes entlang. Einen Augenblick blieb er stehen, sah hinunter auf das tieferliegende Zwischendeck. Man sah nicht viel davon, weil große Sonnensegel es überdachten, aber man konnte durch die Ritzen bemerken, daß das bunte Volk der portugiesischen Auswanderer sich zum Landen rüstete, große Bündel packte und Käfige mit Kanarienvögeln bereitstellte. Schwarz sah den gebräunten Menschen ein wenig zu, dann setzte er seinen Rundgang fort, auf die Steuerbordseite des Promenadendecks. Sie war sonniger als die andere Seite und deswegen verhältnismäßig menschenleer; nur die brasilianischen Familien, die sich gern von den übrigen Reisenden zurückzogen und die ein wenig Hitze nicht scheuten, hatten sich hier angesiedelt: schöne lässige Frauen, in Kleidern, die sie aus Paris brachten, mit pariserisch frisierten Bubiköpfen, die Wangen mit Pariser Rouge bemalt, darunter aber die goldene Haut ihrer gemischten Rasse, das durch keine Schminke entstellbare bunte Blut; sie waren sehr reizvoll, sehr träge und ein wenig dumm; sie hockten beisammen wie Papageien auf einer Stange; viele gutgekleidete und gesunde Kinder spielten in ihrer Nähe, halbwilde Mädchen mit den scheuen Bewegungen kleiner Indianerinnen; zwei schwarze Bonnen gaben auf sie acht. Die Männer dieser Gruppe waren übertrieben elegant. Sie fanden die weißen Leinenanzüge der mitreisenden Gringos offenbar unziemlich und waren, Hitze her, Hitze hin, eher dunkel gekleidet, mit steifer Wäsche und spitzen Lackschuhen. Sie trugen zuviel goldenen Schmuck. Eine Anzahl dieser Cabalheros stand auf einem Haufen um den Dr. Chéron herum, der ihnen etwas offenbar Interessantes aus einem Zeitungsblatt vorgelesen hatte.

Ein einziger Nicht-Brasilianer stand bei ihnen, aber der gehörte zu jeder Nation und zu keiner: Herr Hilary, der Mann, den jedermann an Bord den Weltbummler nannte. Ein Mann über vierzig, groß, vierschrötig, mit einer Neigung zu karierten Stoffen; sogar der seidene Tropenanzug, den er jetzt trug, war ganz diskret kariert. Kein Mensch auf dem Schiffe wußte, wer oder was dieser Hilary eigentlich war; man nahm der Bequemlichkeit wegen an: ein reisender Schriftsteller, aber die Hypothese war durch nichts bewiesen. Er war, dies stand fest, der Weltbummler. Diese Reise zum Amazonenstrom, für Dr. Schwarz das große Ereignis eines langen Lebens, und noch für die jüngere Miß Macpherson, die Rekord-Shimmy-Tänzerin, immerhin etwas Romantisches zum Renommieren, für den Weltbummler war sie gar nichts: wieder einmal in dieser Gegend nachsehen, in Manaos alte Bekannte besuchen und in dem bewußten indianischen Café einen Guaranà mit Soda trinken! Kein Mensch wußte, wozu er wirklich reiste; er sagte es auch nicht, sprach zwar viel von seinen vielen Fahrten. aber immer nur beiläufig und um Entschuldigung bittend. Es war nicht zu vermeiden, daß ihm beim Anzünden einer Pfeife Siam einfiel, oder Abessinien, wenn er Bridge spielte; er erwähnte diese Länder wie ein anderer seinen Schnupfen, es war vielleicht nicht sehr geschmackvoll, davon zu sprechen – Er ärgerte die Mitpassagiere ein wenig, man konnte sich in seiner Gegenwart schwer romantisch vorkommen; selbst der Schiffsdoktor hatte eine Scheu, vor ihm vom Amazonenstrom zu reden. Jetzt stand er da, fest und völlig unblasiert, aber völlig selbstverständlich, einer, der fortwährend in die Mündungen tropischer Riesenströme einfährt, und der weiß, daß in Brasilien saphirblaue Schmetterlinge herumfliegen; man konnte diesem höflichen und verschlossenen Menschen nicht ansehen, ob ihm die Schmetterlinge im Grunde egal waren, oder ob er nur ihretwegen hergekommen war, die Tatsache bestand, daß er sich mitten in dem beweglichen Haufen der Brasilianer aufhielt, mit ihnen und in ihrem speziellen Portugiesisch ein Zeitungsblatt kommentierend, das –

Dr. Bernhard Schwarz, der an der Gruppe vorbeilief, ruhelos, von dem Drang getrieben, auf beiden Seiten des Decks zugleich zu sein und beide Ufer des Stroms zugleich zu sehen, Bernhard Schwarz hätte einen großen, ihm drohenden Schlag wohl leichter ertragen, wäre ihm jetzt rechtzeitig der Gedanke gekommen, daß dieses Zeitungsblatt nicht die alte Zeitung war, die sich seit Madeira im Rauchsalon herumtrieb und in den Händen der portugiesisch sprechenden Reisegefährten, sondern eine Zeitung von heute, »O Estado de Parà«, die der Pilot an Bord gebracht hatte. – Hätte er nur gefragt, in seinem aus Büchern erlernten halben Portugiesisch, was es denn Neues gebe in Parà –! Er fragte nicht und ging an der Gruppe vorbei und fühlte nicht einmal den intensiven Blick auf seinem Rücken brennen, den der Weltbummler ihm aus einem ernsten Gesicht nachsandte, einen Blick, der sagen mochte, auf deutsch: »Richtig, dieser arme Kerl –«.

Der Realschullehrer mit der Sehnsucht lief wie auf glühenden Sohlen um das Schiff herum, hastig an Lady Athill vorbei, die ihm mit der dicken Mrs. Craig am Bug begegnete, groß, schlank, sieghaft steif, durch einen violetten Schleier hindurch huldvoll und auf ihre hygienischen Runden bedacht, vierundzwanzigmal herum eine englische Meile – lief an dem Kapitän vorbei, der etwas mürrisch von seiner Brücke kam (so eine verdammte Hitze!), kreuzte wieder hinüber zur Schattenseite des Schiffs, immer längs der gedeckten Promenade, an den Fenstern des Damensalons vorbei, in dem jetzt die Zehn-Uhr-Musik spielte, weiter, zu der dichten Gruppe der Liegestühle, Lord Athill, Dr. Carson, die Leute mit den Feldstechern – er selbst blieb gar nicht mehr stehen und sah sich diesen Amazonenstrom an, den er nun hatte; er empfand, daß ja doch etwas Wunderbares sich ereignen würde, etwas ganz anderes; er weigerte sich, an dem Schiffsdoktor vorbeischießend (der jetzt mit einem meterlangen Fernrohr dastand, etwa in der Pose Nelsons bei Trafalgar), sich von ihm die Insel Mosqueiro zeigen zu lassen (mit dem Seebad Chapeu Virado, das wir besuchen werden, meine Herrschaften!), er entwischte dem Fräulein Pedersen, das ihm tränenfeucht entgegenlehnte, mit knapper Not, indem er sich hastig durch die Tür des Rauchsalons stürzte – im Rauchsalon gingen alle Ventilatoren, und es war kühler als im Freien; aber es war niemand im Rauchsalon als der alte Mister Smith, der Achtzigjährige, der so unglaublich jugendfrisch war, daß er noch in jedem Sommer eine große Seereise machte, teils zu seinem Vergnügen und teils, um in genau berechneten Abständen eine Flasche Bier zu trinken, seine zärtlich geliebte »Bottle of Baß« – es war zehn Uhr, folglich saß Smith an dem Ecktisch und trank seine Bottle, und sie schmeckte ihm, Gott sei Dank, Amazonenstrom oder nicht!

Dr. Schwarz setzte sich nicht zu ihm; er bestellte bei dem Steward eine Limonade – sie geben viel Eis in den Lemon Squash, und man kann dann nachher noch Wasser zugießen, aus der Flasche – und blieb dann etwas atemlos vor dem Radiobrett stehen; aber es hingen noch die Funktelegramme von gestern daran; seitdem das Schiff in den brasilianischen Gewässern war, durfte es nach irgendeinem Reglement keine Nachrichten mehr auffangen; die von gestern hatte der Realschullehrer schon zehnmal gelesen: drei Bogen Bericht über ein maßlos uninteressantes Baseballmatch irgendwo in Virginien und die letzte Nachricht von der Revolution im Staate São Paolo: die loyalen Truppen entscheidend siegreich (so wie gestern, vorgestern und die ganze Woche); die Rebellen haben fürchterliche Verluste erlitten; der Dreadnought »Minas Geraes« – –

Bernhard Schwarz schickte, schon gewohnheitsmäßig, einen raschen Blick zu der großen Landkarte, die über dem Radiobrett hing, versicherte sich zum tausendstenmal der tröstlichen Tatsache, daß São Paolo ungeheuer weit vom Amazonenstrom war, gleichsam in einem anderen Weltteil, Brasilien ist so groß! – und blieb dann, ganz verzückt, vor der Karte stehen, den roten Strich bewundernd, der den Kurs des »Hildebrand« anzeigte. Von Parà an der Rieseninsel Marajò vorbei in die berühmte Flußenge; durch das phantastische Gewirr der tausend bewaldeten Inselchen weiter bis zum Scheitelpunkt des großen Flußdeltas, dann immer westwärts, westwärts, so ziemlich den Äquator entlang, weiter, weiter, immer durch den dichtesten Urwald, herrlicher, großer Strom, liebes, schönes Urwaldschiff!

Mit Ehrfurcht las er die Namen der Siedelungen am Ufer: Gurupà, Oteiras, Prainha, Santarem, Obidos, Parintins, Itacoatiara; dann ging sein Blick von der Flußlinie fort, nach Südosten und Nordwesten, wo auf der Karte das ganz große, köstliche Wunder war, je ein weißer Fleck mit der Legende:»UNEXPLORED!«Diese unerforschten weißen Stellen auf der Landkarte machten ihn glücklich, von ihnen ging so ein Schimmer auf sein ganzes verflossenes Leben aus; sein Blick trennte sich ungern von den weißen Flecken und den herrlichen Buchstaben,U, N, E, X– aber dann nahm er, es mußte sein, die reguläre Flußreise wieder auf, von Itacoatiara noch 120 Meilen bis Manaos, genau in der Mitte des ungeheuren südamerikanischen Kontinents. Bis dorthin, es war unwahrscheinlich und wahr, würde der Dampfer »Hildebrand« ihn bringen, unglaubliche, traumhafte tausend Meilen durch den brasilianischen Urwald, auf diesem goldgelben Strom, den er auch grün sehen würde, und schwarzblau, und voll von dunklen Inseln, und dann wieder zurück, den ganzen herrlichen Weg zurück – –

Hier verlor sich der Blick des Dr. Schwarz aus Leitmeritz in vage Träume, denn dieses Zurück klar zu erfassen, verbot ihm ein herrisches Widerstreben in seiner unterbewußten Seele; bis dahin mußte sich wohl etwas ereignet haben, das Unvermeidliche, Wunderbare – dieser kindliche alte Träumer blickte wieder zu dem weißen Fleck auf der Landkarte: Unerforscht! Er empfand, daß der Weg dorthin führte, nicht nach Leitmeritz. Er war vollkommen außerstande, sich so zu sehen, wie er dastand: ein nicht allzu gesunder, älterer Herr in einem schlotternden Wildwestkostüm, Don Quichotte aus Leitmeritz, in dem Rauchsalon eines ganz gewöhnlichen, mittelgroßen Dampfers, der viermal jährlich von Liverpool nach Parà und Manaos fuhr, um Kautschuk zu befördern, und der nebenbei auch Salonpassagiere mitnahm, zu einer ermäßigten Rundfahrt,»1000 miles up the Amazon«, in sechs Wochen hastig hin und zurück, für nur hundert Pfund – – Er sah sich nicht auf dem braven, komfortablen Dampfer der Booth Line, Liverpool, sondern jung und keck auf der romantischen Jangada des Jules Verne, mit Joam Dacosta, Yaquita und der Mulattin Lina – welche Erlebnisse seiner Kindheit mochten dieses Buch für ihn so wichtig gemacht haben, so zentral, schicksalgebend? Das Floß auf dem Amazonenstrom, die Jangada seiner Träume sah vielleicht anders aus, er gestand es sich nicht, als der Dampfer »Hildebrand« der Booth Line, Liverpool, und vielleicht sah der Strom anders aus, den die Jangada befuhr, aber so weit war Bernhard Schwarz noch nicht, daß er das bemerkt hätte, er war noch in dem ersten glückseligen Taumel des Erlangens und Ankommens.

Die ganze bisherige Reise war ihm nichts gewesen, ein unvermeidlicher Zeitverlust, eine Wochen verschlingende Belästigung – trotzdem er den Douro bei Porto gesehen hatte, und Lissabon, und die Gärten von Cintra, und Madeira, weinrot und palmengrün im schimmernden Blau – und die fliegenden Fische, und den einen Sonnenuntergang, phantastisch, voll von goldenen Inseln – nichts, nichts, das war alles nichts, ein lästiger Kuchenberg, durch den man sich durchfressen muß: Kuchen, ja, aber er verstellt einem den Weg ins Schlaraffenland. –

Der alte Mister Smith, von der Bottle of Baß aufblickend, sah den deutschen Reisegefährten vor der Karte stehen und schmunzelte in einen etwas grünlichen weißen Bart hinein; Mister Smith war ganz klein, stämmig, sah aus wie eine englische Version des Kasperl Larifari: vergnügt, weise, alkoholisch. Achtzig schon, und doch nach je zwei Stunden eine Bottle of Baß! Auf dem Amazonenstrom! Im glücklichen Gefühl eines restlos erreichten Lebenszieles war Mister Smith geeignet, mit dem Mann vor der Landkarte zu sympathisieren; so rief er ihm plötzlich von hinten zu: »Was wollen Sie haben, Mister Swart?« Es war die sakrale Formel, bedeutete, äußerlich: Soll ich für Sie eine Bottle of Baß bestellen? Oder nein, eine Bottle of Lager, da Sie doch einmal ein German sind? – Es bedeutete innerlich: Kamerad, setz' dich her, sei mit mir stumpfsinnig, ich mag dich leiden!

Es war, als hätte Mister Smith dem Mister Swart auf seinen hageren, leicht gekrümmten Rücken geklopft. Der fuhr auch herum, wie von einem Schlag aufgeschreckt; es dauerte ein wenig, ehe er die Tatsache Mister Smith begriffen und in seine Träume eingeordnet hatte; dann sagte er freudig ja zu der Bottle of Lager und setzte sich zu dem alten Kumpan. Von allen hundert Kajütenpassagieren des »Hildebrand« waren in diesem Augenblick nur diese beiden in dem Rauchsalon, von dem aus man die Gegend nicht sah: Mister Smith, den der Amazonenstrom überhaupt nicht interessierte, und sein Freund Mister Swart, durch dessen Leben er so übermächtig floß. Mister Smith trank seine Bottle of Baß, das hieß für ihn: Ich bin über achtzig, he, und noch ein fröhlicher alter Brite, wie? Das starke Ale der Firma Guinnes vertrage ich noch alleweil, ja. Amazonenstrom? Ich bin schon über achtzig, aber auch auf dem Amazonenstrom schmeckt mir noch eine Bottle of Baß! – Er war sehr glücklich. Unter der straffgespannten goldenen Uhrkette saß ihm die Seele, aber es war eine vergnügte und schlichte Seele. Mister Swart wieder, vor der deutschen Bottle of Lager, konnte darauf verzichten, draußen auf dem Promenadendeck zu sein und den Amazonenstrom anzusehen, weil der eigentliche Amazonenstrom mit ihm in dem Rauchsalon war, er floß durch die Karte, zwischen den beiden herrlichen weißen Fleckenunexplored.

Mister Swart hatte sich schon wohlweislich so gesetzt, daß er die Karte im Auge behielt; so sah er, statt draußen an der Reling die Insel Mosqueiro zu sehen, den ganzen Strom, das ganze ungeheure und geheimnisvolle Urwaldland. Die Insel Mosqueiro war zuwenig! Eine zu geringe Angelegenheit! Nur eine Insel im goldgelben Strom, von einem Streifen silberweißen Sandes umgeben. Die Leute draußen auf dem Promenadendeck, denen in diesem Augenblick der Schiffsdoktor die Insel Mosqueiro erklärte (unvorgreiflich der dahin zu unternehmenden Badeexkursion), was sahen sie denn? Eine große grüne Wand und einen leuchtend gelben Fleck darin; die grüne Wand bestand aus Bäumen, und der gelbe Fleck war auch ein Baum, der blühte ganz gelb. Man sah eine lange Landungsbrücke und zwei halbnackte Jungen darauf, die hatten eben einen Fisch gefangen, eine Art Wels, er war länger als der kleinere von den Jungen; sie hielten ihn zwischen sich aufrecht und zeigten ihn stolz den Leuten auf dem großen Dampfer. Auch sah man die kleinen Landhäuser und Badehütten der wohlhabenden Bourgeoisie von Parà. Es ist wahr, daß außerdem über den Wipfeln der hohen Mangobäume ein ganz wunderbares Zittern der belichteten heißen Luft spielte; daß neben der Landungsbrücke auf dem Sand ein Schwarm großer, schwarzer Vögel sich niedergelassen hatte, und daß das Treiben der Libellen, der Schmetterlinge über dem Wasserspiegel phantastisch schön war; dennoch war diese schöne Insel Mosqueiro, die Bernhard Schwarz jetzt hätte sehen können und nicht sah, kaum zu vergleichen mit den tausend anderen Urwaldinseln, die er jetzt nicht sehen konnte und doch sah, auf der großen Landkarte im Rauchsalon.

Irgend etwas hielt ihn hier fest – vielleicht eine Art Furcht vor der Wirklichkeit, vor der endlichen Erfüllung seines lebenslangen Traumes. Er war, trotz seiner großen Fähigkeit zum Träumen, schließlich doch ein alter Schulmeister, und die bedruckte Karte war ihm sehr heilig: während schon sein Schiff auf dem Amazonenstrom schwamm, über Delphine hinweg, oder Manati-Seekühe, oder Piranha-Teufelsfische; während er vom Promenadendeck aus leicht eine riesige Schildkröte hätte erblicken können, die eben zum Strand der Insel Mosqueiro paddelte – währenddessen faszinierte ihn dieser gedruckte Amazonenstrom auf der Landkarte in der seltsamsten Weise, in seiner Seele klang ein Päan, und er konnte nicht umhin, ihn dem alten Mister Smith vorzutragen, nicht sehr dithyrambisch, ein wenig verlegen eher und stockend, mit Lagerbier-Schluckpausen.