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Unheilvoller Klang der Vergangenheit
In einem einsamen Cottage auf den Klippen von Dorset lebt die betagte Dimity Hatcher. Niemand ahnt, mit welcher Tat aus Liebe und Eifersucht sie einst eine ganze Familie zerstörte. Über siebzig Jahre bleibt ihr Geheimnis unentdeckt, bis eines Tages ein junger Mann vor ihrer Tür steht. Zach ist auf der Suche nach seinen Wurzeln, die ihn an die Küste Dorsets führt. Mithilfe der unnahbaren Hannah, Dimitys Nachbarin, kommt er nach und nach der verheerenden Wahrheit auf die Spur …
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Seitenzahl: 832
KATHERINE WEBBIM GESPRÄCH
Das verborgene Lied erzählt eine Geschichte über die tragischen Konsequenzen verschmähter Liebe. Warum ist Dimity, die weibliche Hauptfigur, so fasziniert von dem Maler Charles Aubrey und seiner Familie?
Dimity stammt aus sehr armen Verhältnissen. Sie wächst einsam und vernachlässigt auf, hat ihr Dorf noch nie verlassen. Dann lernt sie Charles Aubrey und seine Familie kennen. Die Aubreys sind Kosmopoliten, sehr aufgeschlossen und gastfreundlich. Dimity erhascht einen Blick auf diesen völlig anderen Lebensstil und diese Mentalität, die eine staunende Faszination bei ihr auslösen.
Zach will die Geheimnisse in seiner Familiengeschichte lüften. Wie beeinflusst die Vergangenheit das Leben Ihrer Charaktere?
Im Grunde hat Zach das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen – sein Leben verläuft nicht so, wie er es geplant hatte, und er glaubt, sowohl beruflich als auch in seiner Ehe versagt zu haben. In solchen Zeiten, wenn wir unseren weiteren Weg nicht sehen können, sind wir oft versucht, stattdessen zurückzublicken. Und genau das tut Zach. Ich zeige in meinen Geschichten gerne auf, wie so vieles, was wir tun, aus vergangenen Ereignissen resultiert – den kleinen wie den großen –, auch, wenn uns das nicht bewusst ist.
Die ausgesprochen stimmungsvolle Kulisse Ihres Romans bildet Dorset. Warum haben Sie sich gerade für diese Landschaft entschieden?
Dorset ist eine der schönsten Gegenden von England und verkörpert für mich alles, was es so herrlich macht, am Meer zu sein. Es hat eine atemberaubende Küstenlinie und diese typisch hügelige Landschaft landeinwärts.Vor allem im Sommer ist die Region ein beliebtes Urlaubsziel. Vor ein paar Jahren habe ich Dorset dann im Winter besucht. Wie düster und schroff mir plötzlich alles erschien, ganz anders als an den heiteren, warmen Sommertagen, die ich zuvor dort erlebt hatte! Auf einmal konnte ich mir gut vorstellen, wie unglaublich hart eine bettelarme Kindheit in den 1930er Jahren dort gewesen sein muss, wie Dimity sie erlebt hat.
KATHERINE WEBB
Das verborgene Lied
Roman
Aus dem Englischen von Katharina Volk
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel A Half Forgotten Song bei Orion Books, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd, London
Deutsche Erstausgabe 11/2013
Copyright © Katherine Webb 2012
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Angelika Lieke
Umschlaggestaltung |© t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv |© Yolande de Kort/Arcangel Images;
Panoramic Images/Getty Images; shutterstock
Satz | Leingärtner, Nabburg
ePDF-ISBN 978-3-641-11293-6
www.diana-verlag.de
Für Pea
1
Der Wind blies so kräftig, dass sie sich wie zwischen zwei Welten hin und her gezogen fühlte, gefangen in einem so lebendigen Wachtraum, dass die Ränder verliefen und sich schließlich völlig auflösten. Der Sturm pfiff um die Ecken des Häuschens, heulte dumpf im Kamin und brauste draußen durch die Bäume. Doch lauter als all das war die See, deren Wellen ans steinige Ufer krachten und am Fuß der Klippe an den Felsen brachen. Das tiefe Dröhnen schien bis in ihre Brust hochzusteigen, wie rhythmische Basstöne, die durch den Boden drangen und ihre Knochen vibrieren ließen.
Sie hatte in ihrem Sessel vor dem herabgebrannten Kaminfeuer gedöst, zu alt und müde, um aufzustehen und sich die Treppe hinauf ins Bett zu schleppen. Doch jetzt hatte der Wind das Küchenfenster aufgestoßen und rüttelte es derart heftig hin und her, dass jeder Schlag der letzte sein könnte. Der Rahmen war morsch, schon seit Jahren hielt nur ein Keil aus gefalteter Pappe das Fenster geschlossen. Der Lärm drang in ihren Traum und weckte sie, und sie zögerte noch an der Schwelle des Schlafes, als die kalte Nachtluft hereinwehte und an ihren Füßen immer höher stieg wie eine eisige Flut. Sie musste aufstehen und das Fenster zuklemmen, ehe die Scheibe zerbrach. Sie öffnete die Augen und konnte die nächtlich grauen Umrisse des Raums recht gut erkennen. Draußen jagte der Mond über den Himmel, überholt von flinkeren Wolken.
Zitternd ging sie zum Küchenfenster. Der Sturm hatte schon eine Salzkruste auf der Scheibe hinterlassen. Die Knochen in ihren Füßen schmerzten, ihre Hüften und ihr Rücken waren vom Schlafen im Sessel steif geworden, und es kostete sie einige Anstrengung, die Gelenke in Bewegung zu bringen. Der hereinwehende Wind spielte mit ihrem Haar und ließ sie frösteln, aber sie schloss trotzdem die Augen, um ihn zu riechen, denn der Geruch der See war ihr so lieb, so vertraut. So roch alles, was sie kannte – ihr Zuhause und ihr Gefängnis und sie selbst. Als sie die Augen wieder öffnete, schnappte sie nach Luft.
Celeste war da. Dort draußen auf den Klippen stand sie, mit dem Rücken zum Haus, dem Meer zugewandt, im silbrigen Mondlicht. Das Wasser des Ärmelkanals tobte in aufgewühlten Wogen, Gischt wurde von weißen Schaumkämmen hochgepeitscht und an die Küste geschleudert. Sie spürte ein paar Tröpfchen davon hart und beißend im Gesicht. Wie kam Celeste dorthin? Nachdem sie vor so vielen, vielen Jahren spurlos verschwunden war? Aber sie war es, ganz sicher. Dieser lange, gerade Rücken, der geschmeidig in ihre üppig gerundeten Hüften überging, die ausgestreckten Arme mit den gespreizten Fingern. Ich spüre gern, wie die Luft sich bewegt. Ihre Worte, gesprochen mit diesem seltsamen, kehligen Akzent, schienen wie ein Flüstern durch das Fenster zu dringen. Ihr dunkles Haar und das lange, unförmige Kleid flatterten hinter ihr im Wind. Der zarte Stoff presste sich gegen ihren Körper und zeichnete seine Konturen nach. Dann tauchte plötzlich ein ganz deutliches Bild auf – von ihm, wie er Celeste skizzierte und immer wieder kurz aufblickte mit dieser beängstigenden Intensität, dieser beharrlichen Konzentration. Sie schloss die Augen wieder und kniff sie fest zu. Die Erinnerung war heiß geliebt und unerträglich zugleich.
Als sie die Augen wieder öffnete, saß sie in ihrem Sessel, und das Fenster schepperte, der Wind wehte noch immer herein. War sie also gar nicht aufgestanden? War sie nicht zum Fenster gegangen und hatte Celeste dort draußen gesehen? Sie wusste nicht mehr, was wirklich gewesen und was nur ein Traum war. Ihr Herz hämmerte bei dem Gedanken, dass Celeste zurückgekommen war – dass sie herausgefunden hatte, was wirklich geschehen war. Im Geiste blitzte der hitzige, zornige Blick der Frau vor ihr auf, der alles sah, der sie einfach so durchschaute. Und plötzlich wusste sie es. Eine Vorahnung, hörte sie die Stimme ihrer Mutter sagen, spürte ihren säuerlichen Atem so deutlich am Ohr, dass sie sich nach Valentina umsah. Schatten lagen in den Ecken des Raumes und starrten sie an. Ihre Mutter hatte manchmal behauptet, diese Gabe zu besitzen, und auch bei ihrer Tochter stets nach Anzeichen dafür gesucht, jeden Hauch von Hellsichtigkeit gefördert. Vielleicht geschah nun endlich das, worauf Valentina gehofft hatte, denn in diesem Augenblick wusste sie, dass Veränderung kam. So sicher, wie die See tief war. Nach all den langen Jahren kam der Wandel. Jemand kam. Die Angst schlang ihre schweren Arme um sie.
Die frühe Morgensonne schien durch die hohen Schaufenster der Galerie herein und wurde blendend vom Boden zurückgeworfen. Es war bereits Spätsommer, aber diese Sonne versprach einen schönen, warmen Tag. Doch als Zach die Eingangstür öffnete, lag eine steinerne Kühle in der Luft, die noch vor einer Woche nicht zu spüren gewesen war, ein feuchter Geruch, der den Herbst ankündigte. Zach atmete tief ein und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Herbst. Das Ende des Sommers, das Ende der glücklichen Schwebe, die er so genossen hatte, indem er so tat, als würde sich nichts ändern. Heute war der letzte Tag, und Elise würde abreisen.
Er blickte in beide Richtungen die Straße entlang. Es war erst acht Uhr, und auf dieser Straße von Bath war kein einziger Mensch zu sehen. Die Gilchrist Gallery lag in einer schmalen Seitenstraße, nur etwa hundert Meter von der Great Pulteney Street entfernt, einer großen Hauptstraße. Nah genug, um leicht gefunden zu werden, hatte er gedacht. Nah genug, dass die Leute sein Ladenschild entdecken würden, wenn sie dort vorbeigingen und zufällig einen Blick in die Seitenstraße warfen. Und das Schild war auch von der Kreuzung aus gut zu sehen – er hatte sich selbst vergewissert. Nur leider blickten überraschend wenige Leute nach links oder rechts, wenn sie die Great Pulteney Street entlanggingen. Aber es war ohnehin noch zu früh für einen Einkaufsbummel, beruhigte er sich. Die Menschen, die am Ende der Straße in Strömen die Kreuzung überquerten, waren ihrer Kleidung und dem zielstrebig eiligen Gang nach auf dem Weg zur Arbeit. Ihre gedämpften Schritte hallten durch die stille Luft der schmalen Straße zu ihm herauf, durch scharf gezeichnete, tiefschwarze Schatten und gleißende Flecken Sonnenlicht. Das Geräusch schien die Stille vor Zachs Tür traurig hervorzuheben. Eine Galerie sollte sowieso nicht auf Laufkundschaft setzen, sagte er sich. Eine gute Galerie war ein Ort, den die richtigen Leute gezielt aufsuchten. Er seufzte und ging wieder hinein.
Zachs Galerie war ein Juwelierladen gewesen, ehe er die Räume vor vier Jahren angemietet hatte. Beim Umbau waren winzige metallene Kettenglieder und Schließen unter dem Ladentisch und hinter den Sockelleisten zum Vorschein gekommen, kleine Stückchen Gold- und Silberdraht. Eines Tages fand er sogar einen Edelstein, hinter einem Regal in einem schmalen Spalt zwischen dem Holz und der Wand. Er fiel ihm mit einem kleinen, dumpfen Geräusch auf den Fuß, als er das Regal ausbaute – ein kleiner, glitzernder, makellos reiner Stein, vielleicht ein Diamant. Zach behielt ihn und betrachtete ihn als gutes Zeichen. Vielleicht war das ein Irrtum gewesen, und der Stein hatte ihn stattdessen mit einem Fluch belegt, dachte er jetzt. Vielleicht hätte er den ehemaligen Juwelier ausfindig machen und ihm den Edelstein zurückgeben sollen. Die Ausrichtung des Ladens war perfekt, ein wenig erhöht mit den riesigen Fenstern nach Südosten. Sie fingen die volle Morgensonne ein, ließen das Licht aber auf den Boden der Galerie fallen und nicht auf die Wände, an denen die empfindlichen Kunstwerke hingen. Selbst an düsteren Tagen wirkte der Raum hell, und er war gerade groß genug, sodass man ein paar Schritte zurücktreten und die größeren Stücke aus angemessener Entfernung betrachten konnte.
Nicht, dass zurzeit viele große Stücke in der Galerie hingen. Vergangene Woche hatte Zach endlich das Landschaftsgemälde von Waterman verkauft, einem seiner zeitgenössischen ortsansässigen Künstler. Es hatte schon so lange im Fenster gehangen, dass Nick Waterman allmählich fürchtete, die Farben könnten verblassen. Mit diesem Verkauf hatte er den Künstler gerade noch davon abhalten können, sich mit seiner kompletten Sammlung eine andere Galerie zu suchen. Seiner kompletten Sammlung. Zach schnaubte leise. Drei Stadtansichten aus verschiedenen Blickwinkeln auf den Hügeln um Bath und eine beinahe kitschige Strandszene mit einem Mädchen, das mit einem irischen Setter spazieren ging. Nur die Farbe dieses Hundes hatte Zach dazu bewogen, das Bild zu nehmen: ein fabelhaftes Kupferrot, das lebhaft aus der ansonsten flauen Szene hervorloderte. Der Verkauf letzte Woche, von dem Galerie und Künstler jeweils die Hälfte erhielten, hatte Zach genug Geld gebracht, um die überfällige Steuer für sein Auto zu bezahlen, sodass er es wieder fahren konnte. Gerade rechtzeitig, um Elise mehr zeigen zu können, ein paar richtige Tagesausflüge zu unternehmen. Sie waren zu den Höhlen in Cheddar gefahren, zum Safari-Park in Longleat, und hatten ein Picknick im Savernake Forest gemacht. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse und betrachtete den Rest seines Bestandes. Sein Blick glitt über einige kleine, aber schöne Bilder von diversen Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts, ein paar neuere Aquarelle von ansässigen Künstlern und blieb dann am Herzen der Sammlung hängen: drei Zeichnungen von Charles Aubrey.
Er hatte sie sehr sorgfältig zusammen gruppiert, an der Wand mit dem besten Licht, genau in der richtigen Höhe. Das erste Bild war eine grobe Bleistiftskizze mit dem Titel Mitzy beim Sammeln. Das Mädchen hockte wenig elegant mit dem Rücken zum Künstler, den schlichten Rock über die weit gespreizten Knie geknäuelt. Die Bluse war im Rücken aus dem Rockbund gerutscht, sodass ein Stück nackter Haut zu sehen war. Umrisse und hastige Schraffuren prägten das Bild, und doch war dieses kleine Stück ihres Rückens, die angedeutete Vertiefung neben ihrer Wirbelsäule, so wunderbar dargestellt, dass Zach immer wieder am liebsten die Hand ausgestreckt hätte. Er wollte mit dem Daumen diese Vertiefung entlangstreichen, die glatte Haut und die harten Muskeln darunter spüren, den feuchten Schweiß in der warmen Sonne. Die junge Frau sammelte offenbar irgendwelche Pflanzen in einen Weidenkorb, der zwischen ihren Knien auf dem Boden stand. Und als fühlte sie den Blick des Betrachters, als erwarte sie halb seine Berührung im Rücken, hatte sie das Gesicht der einen Schulter zugeneigt, sodass ihr Ohr und die Rundung der Wange zu erkennen waren. Ihr Auge konnte man nicht sehen, nur eine Andeutung von Wimpern über dem geschwungenen Wangenknochen, und dennoch spürte Zach förmlich ihre Aufmerksamkeit, so gewahr schien sie der Person hinter ihr zu sein. Des Betrachters, so viele Jahre später, oder des Künstlers, damals? Die Zeichnung war signiert und auf 1938 datiert.
Das nächste Bild war eine Kohlezeichnung auf gelblich braunem Papier, ein Porträt von Celeste, Charles Aubreys Geliebter. Von Celeste – honigfarbener Teint unter dickem, üppigem schwarzem Haar – war kein Nachname bekannt, nur, dass sie französisch-marokkanischer Abstammung gewesen war. Das Bild zeigte Kopf und Hals bis zum Schlüsselbein, und in diesem kleinen Ausschnitt hatte die Zeichnung den Zorn der Frau so vollständig und intensiv eingefangen, dass Zach oft beobachtete, wie die Leute leicht zurückwichen, wenn sie sie zum ersten Mal sahen, als erwarteten sie einen Tadel, weil sie das Bild zu betrachten gewagt hatten. Zach fragte sich oft, was die Frau in so aggressive Stimmung versetzt haben mochte. Die Glut in ihren Augen sagte ihm, dass der Künstler sich auf dünnes Eis gewagt hatte, als er sich gerade diesen Augenblick aussuchte, um sie zu zeichnen. Aubreys Frauen waren alle schön gewesen, und selbst bei denjenigen, die nicht als klassische Schönheiten gelten konnten, war es ihm gelungen, auf seinen Porträts das festzuhalten, was ihren besonderen Reiz ausmachte. Celeste jedoch war zweifellos schön mit ihrem ebenmäßigen, ovalen Gesicht, den riesigen mandelförmigen Augen und tiefschwarzen Haaren. Ihr Ausdruck war kühn, furchtlos und absolut hinreißend. Kein Wunder, dass es ihr gelungen war, Charles Aubrey so lange zu fesseln, länger als jede andere seiner zahlreichen Liebschaften.
Der dritte Aubrey war das Bild, das er stets als letztes betrachtete und für das er sich am längsten Zeit nahm. Delphine, 1938. Die Tochter des Künstlers, damals dreizehn Jahre alt. Er hatte sie von den Knien aufwärts gezeichnet, wieder mit Bleistift. Sie hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug eine Bluse mit Matrosenkragen, das lockige Haar war zum Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie stand dem Künstler nicht ganz frontal, sondern leicht schräg gegenüber, und die Haltung ihrer Schultern wirkte steif und unnatürlich, als hätte man sie zuvor aufgefordert, sich gerade zu halten. Das Bild erinnerte an ein Schulfoto in unbehaglicher Pose, doch um den Mund des Mädchens spielte ein nervöses Lächeln, als freute es sich gleichzeitig über die vielleicht ungewohnte Aufmerksamkeit. In ihren Augen und ihrem Haar spielte das Sonnenlicht, und mit ein paar winzigen Akzenten war es Aubrey gelungen, ihre Unsicherheit so deutlich auszudrücken, dass man glauben konnte, sie werde jeden Moment ihre Pose aufgeben, ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand verstecken und schüchtern das Gesicht abwenden. Sie war bescheiden, unsicher, gehorsam, und Zach verehrte sie auf verwirrend innige Art und Weise, die teils väterlich und behütend war und teils mehr als das. Ihr Gesicht war noch das eines Kindes, aber ihre Mimik und ihr Blick zeigten bereits Spuren der Frau, zu der sie heranwachsen würde. Sie war die Verkörperung der Jugend, eines neuen Versprechens, wie der Frühling, der nur darauf wartet zu erblühen. Zach hatte schon viele Stunden mit der Betrachtung dieses Porträts verbracht und wünschte, er hätte sie gekannt.
Die Zeichnung war wertvoll, und wenn er bereit gewesen wäre, sie zu verkaufen, hätte er sich von dem Geld eine ganze Weile über Wasser halten können. Er wusste sogar, wem er sie verkaufen könnte, gleich morgen, falls er sich dazu entschloss: Philip Hart, ebenfalls Aubrey-Liebhaber. Zach hatte ihn vor drei Jahren auf einer Auktion in London bei dieser Zeichnung überboten, und seither war Philip zwei-, dreimal im Jahr vorbeigekommen, um persönlich nachzufragen, ob Zach sich davon trennen würde. Aber dazu war Zach bisher nicht bereit gewesen. Und würde es vielleicht auch nie sein. Hart hatte ihm bei seinem letzten Besuch siebzehntausend Pfund geboten, und zum allerersten Mal war Zach ins Schwanken geraten. So bezaubernd die Zeichnungen von Celeste oder Mitzy auch waren, er hätte sie für die Hälfte dieser Summe verkauft, diese beiden anderen Überbleibsel seines geschrumpften Aubrey-Bestandes. Aber er brachte es nicht fertig, sich von Delphine zu trennen. Auf den wenigen anderen Zeichnungen, die von ihr existierten, war sie ein mageres Kind, eine Gestalt im Hintergrund, in den Schatten gestellt von der Ausstrahlung ihrer jüngeren, vor Leben sprühenden Schwester Élodie oder von der schönen, kühnen Celeste. Doch auf dieser einen Zeichnung war sie ganz sie selbst, lebendig und auf der Schwelle zu allem, was noch kommen mochte. Dies war das letzte noch existierende Bild von ihr vor Aubreys katastrophaler Entscheidung, im Zweiten Weltkrieg für sein Land zu kämpfen.
Zach stand da und starrte sie an, ihre wunderschön gezeichneten Hände mit den kurzen, geraden Fingernägeln, die Fältchen in ihrem Haarband. Er stellte sie sich als kleinen Wildfang vor, sah eine Bürste vor sich, die hastig und schmerzhaft durch dieses störrische Haar gezogen wurde. Sie war am Vormittag über die Klippen gestreift auf der Suche nach Federn und Blumen oder sonst irgendeinem Schatz. Kein jungenhaftes Mädchen, aber auch keines, das viel Wert darauf legte, hübsch zu sein. Der Wind hatte ihr Haar zerzaust, und es würde Stunden dauern, die Knoten wieder zu lösen. Celeste hatte sie getadelt, weil sie ihr Haar nicht mit einem Kopftuch geschützt hatte. Élodie saß auf einem Stuhl hinter ihrem Vater, während er zeichnete, baumelte kräftig mit den Beinen und schmollte in eifersüchtiger Wut. Delphines Herz war so voller Stolz und Liebe zu ihrem Vater, dass es beinahe platzen wollte, und während er sie mit gerunzelter Stirn zeichnete, betete sie im Stillen unablässig darum, dass sie ihn nicht enttäuschen würde. In der hellen Galerie starrte Zachs Spiegelbild ihm von dem Glas im Rahmen entgegen, genauso deutlich sichtbar wie die Bleistiftstriche dahinter. Wenn er sich konzentrierte, konnte er beides zugleich sehen – seine Züge, die ihre überlagerten, ihre Augen, die aus seinem Gesicht schauten. Was er da sah, gefiel ihm nicht – auf einmal ließ sein gedankenverlorener, sehnsüchtiger Gesichtsausdruck ihn älter aussehen als fünfunddreißig, und ebenso plötzlich fühlte er sich auch gealtert. Er hatte sich noch nicht gekämmt, das Haar stand ihm wirr vom Kopf, und er musste sich dringend rasieren. Gegen die Ringe unter seinen Augen konnte er wohl nichts tun. Er schlief seit Wochen schon schlecht, seit er von Elises Abreise wusste.
Schritte waren zu hören, und Elise stampfte die Treppe von der Wohnung über der Galerie herunter. Sie wirbelte am Türknauf um die Tür herum, dass ihr langes braunes Haar hinter ihr her flatterte, und strahlte übers ganze Gesicht.
»He! Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so an der Tür zerren sollst! Du bist inzwischen zu groß dafür, Els. Du reißt sie noch aus den Angeln«, sagte Zach, fing sie auf, hob sie hoch und stellte sie abseits der Tür wieder hin.
»Ja, Dad«, sagte Elise, doch der Anflug von Zerknirschung wurde von einem breiten Grinsen ruiniert, das sich in ihre Worte schlich. »Können wir jetzt frühstücken? Ich hab solchen Hunger.«
»Solchen Hunger? Na, das geht natürlich nicht. Also gut. Einen Moment noch.«
»Aber nur einen!«, rief Elise und trappelte die restlichen Stufen zum Hauptraum der Galerie hinunter, wo man genug Platz zum Herumwirbeln hatte, die Arme weit ausgebreitet und die Füße stets in Gefahr, übereinanderzustolpern. Zach beobachtete sie, und es schnürte ihm die Kehle zu. Sie war jetzt vier Wochen lang bei ihm gewesen, und er wusste nicht, wie er ohne sie zurechtkommen sollte. Elise war sechs Jahre alt, kräftig, gesund, lebhaft. Ihre Augen hatten genau denselben Braunton wie seine, doch ihre waren größer und strahlender, das Weiß weißer, die Form in ständiger Veränderung: weit aufgerissen vor Staunen oder Empörung oder ganz schmal, wenn sie lachte oder müde war. Bei Elise waren diese braunen Augen wunderschön. Sie trug violette Jeans mit zerrissenen Knien und eine offene, leichte grüne Bluse über einem pinkfarbenen T-Shirt, das mit einem Foto von Gemini bedruckt war, ihrem Lieblingspony aus der Reitschule. Elise hatte das Foto selbst geschossen, und es war nicht besonders gut. Gemini hatte die Nase in Richtung Kamera gehoben und die Ohren angelegt, und der Blitz spiegelte sich grell in einem Auge. Auf Zach wirkte er übellaunig, ein wenig missgestaltet und möglicherweise bösartig. Aber Elise liebte dieses T-Shirt genauso wie das Pony. Die Aufmachung wurde von einer Handtasche aus neongelbem Kunststoff vervollständigt. In diesem unharmonischen Mix greller Farben sah Elise köstlich aus, wie ein knallbuntes Bonbon. Ali wäre mit diesem Outfit, das Elise selbst zusammengestellt hatte, nicht einverstanden, aber dies war ihr letzter gemeinsamer Vormittag, und Zach würde den Teufel tun und sich mit ihr streiten oder sie gar zwingen, sich umzuziehen.
»Schicke Klamotten, Els«, rief er zu ihr hinunter.
»Danke!«, antwortete sie atemlos, noch immer kreiselnd.
Zach wurde bewusst, dass er sie anstarrte und versuchte, sich jedes Detail an ihr einzuprägen. Denn bis er sie wiedersah, würden sich zahllose Kleinigkeiten verändern. Vielleicht würde sie sogar aus dem T-Shirt mit dem hässlichen grauen Pony herausgewachsen sein oder das Tier gar nicht mehr mögen, was er allerdings für unwahrscheinlich hielt. Zurzeit schien der bevorstehende Abschied von ihrem Pony sie genauso traurig zu machen wie der von ihren Freundinnen, ihrer Schule. Ihrem Vater. Die Zeit würde es wohl zeigen, dachte er. Bald würde er herausfinden, ob seine Tochter zu den Menschen gehörte, für die aus den Augen aus dem Sinn bedeutete, oder zu jenen, deren Liebe mit der Entfernung noch wuchs. Er hoffte inständig auf Letzteres.
Sie frühstückten an dem schäbigen Kiefernholztisch in der Küche über der Galerie, begleitet von den Klängen einer Miley-Cyrus-CD. Zach seufzte leise, als der zuckersüße Popstar das Lied anstimmte, das Zach am wenigsten leiden konnte, und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er allmählich und gegen seinen Willen den gesamten Text auswendig kannte. Elise zuckte beim Essen rhythmisch mit den Schultern, als tanzte sie im Sitzen, und Zach sang mit hoher Fistelstimme den Refrain mit, sodass sie sich vor Lachen verschluckte und ihr die Milch übers Kinn lief.
»Bist du schon aufgeregt wegen der Reise?«, fragte er vorsichtig, sobald Miley endlich verstummt war. Elise nickte, sagte aber nichts. Stumm fischte sie die letzten Frühstücksflocken aus ihrer Schüssel. »Morgen um diese Zeit sitzt du schon in einem Flugzeug, hoch oben am Himmel. Das wird doch toll, oder?«, drängte er und verabscheute sich dafür, weil er Elise genau ansah, dass sie unsicher war, wie sie antworten sollte. Er wusste, dass sie aufgeregt war, sich fürchtete, freute, und traurig war, weil sie fortging. Sie war zu jung, um mit diesen widerstreitenden Gefühlen fertigzuwerden, geschweige denn, ihnen Ausdruck zu verleihen.
»Ich finde, du solltest mitkommen, Dad«, sagte sie schließlich und schob ihre Schüssel von sich. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ließ verlegen die Beine baumeln.
»Tja, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre. Aber wir sehen uns in den Ferien, und ich komme dich ganz oft besuchen«, versicherte er automatisch und verfluchte sich im selben Moment dafür, weil er dieses Versprechen vielleicht nicht würde halten können. Transatlantikflüge waren nicht gerade billig.
»Ehrlich?« Elise blickte zu ihm auf und sah ihm fest in die Augen, als hätte sie gehört, wie hohl seine Worte klangen. Zach spürte einen Stich in der Magengrube, und er hatte Mühe, seine Stimme aufrichtig klingen zu lassen.
»Ehrlich.«
Sie mussten lange vor dem Ende der Sommerferien abreisen, hatte Ali argumentiert, damit Elise noch zwei Wochen Zeit hatte, sich ein bisschen einzugewöhnen, ehe die Schule anfing. Ihre neue Schule in Hingham bei Boston. Zach war noch nie in Neuengland gewesen, aber er stellte sich Architektur im Kolonialstil vor, weite Strände und Reihen schneeweißer Jachten an ausgebleichten Bootsstegen. Auf diese Strände und Boote freute Elise sich am meisten. Lowell besaß ein Segelboot. Lowell würde Ali und Elise das Segeln beibringen. Sie würden an der Küste entlangsegeln und natürlich Picknicks machen. Wenn er ein einziges Foto zu sehen bekäme, auf dem Elise auch nur in der Nähe eines Bootes keine Schwimmweste trug, dachte Zach, würde er im nächsten Flieger sitzen, um Lowell seinen arroganten Kopf abzuschlagen. Dann seufzte er innerlich über diesen kleinlichen Gedanken. Lowell war ein netter Kerl. Er würde ein Kind niemals ohne Schwimmweste in die Nähe eines Bootes lassen, schon gar nicht, wenn das Kind nicht sein eigenes war. Lowell versuchte nicht, bei Elise den Vater zu spielen – er verstand sehr gut, dass sie schon einen Vater hatte. Lowell war so verdammt freundlich und vernünftig. Dabei wünschte Zach sich so sehr, er könnte den Kerl hassen.
Er packte Elises Sachen in ihren Happy-Feet-Trolley und durchkämmte Wohnung und Galerie nach glitzernden Haarspangen, Ahlberg-Büchern und allerhand Kleinigkeiten, die seine Tochter in ihrem Kielwasser hinterließ, wohin sie auch ging. Als würde sie eine Spur legen für den Fall, dass er sie je verlieren sollte. Er nahm Miley Cyrus aus der Stereoanlage und sammelte Elises andere CDs ein – Märchen, Kinderlieder, noch mehr kitschige Popmusik und eine merkwürdige Sammlung deutscher Sagen, die eine von Alis Tanten ihr geschickt hatte. Als er Elises Lieblings-CD in der Hand hatte – Geschichten von Beatrix Potter –, dachte er kurz daran, sie zu behalten. Sie hatten diese CD während der vergangenen Woche bei all ihren Ausflügen im Auto gehört, und Elise, die jedes Wort mitsprechen konnte, die Stimmen nachzuahmen versuchte und ihm dann den restlichen Tag lang Sätze daraus vorplapperte – das war für ihn der Soundtrack zu diesen letzten Sommertagen geworden. Aber die Vorstellung, wie ein erwachsener Mann sich ganz allein Kindergeschichten anhörte, war allzu erbärmlich. Also packte er die CD zusammen mit den anderen ein.
Um Punkt elf kam Ali und drückte ein paar Sekunden zu lang auf den Knopf, sodass sich das Klingeln ungeduldig und aufdringlich anhörte. Durch die Glastür sah Zach ihren blonden Schopf, inzwischen zu einem kurzen Bob geschnitten, in der Sonne leuchten. Sie verbarg die Augen hinter einer Sonnenbrille und trug einen blau-weiß gestreiften Baumwollpulli, der ihre gertenschlanke Figur betonte. Als er die Tür öffnete, brachte er ein kleines Lächeln zustande, und ihm fiel auf, dass der vertraute Stachel, der ihn bei ihrem Anblick normalerweise durchfuhr, nicht mehr ganz so spitz war wie früher. Was einmal hilflose Liebe, Kummer, Wut und Verzweiflung gewesen war, fühlte sich jetzt eher an wie Nostalgie – ein leichter Schmerz von alter Trauer. Das Gefühl war weicher und ruhiger geworden. Bedeutete das, dass er sie nicht mehr liebte? Wahrscheinlich, nahm er an. Aber wie war das möglich? Wie konnte diese Liebe verschwinden, ohne ein klaffendes Loch in ihm zu hinterlassen wie von einem herausoperierten Tumor? Ali lächelte angespannt, und Zach beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Sie hielt sie ihm bereitwillig hin, erwiderte den Kuss jedoch nicht.
»Zach. Wie geht’s?«, fragte sie, immer noch mit diesem schmallippigen Lächeln. Sie hatte tief eingeatmet, ehe sie ihn angesprochen hatte, und dann die restliche Luft angehalten, mit leicht geschwellter Brust. Sie erwartete einen weiteren Streit, erkannte Zach. Und sie wappnete sich dafür.
»Alles bestens, danke. Wie geht es dir? Schon alles gepackt? Komm rein.« Er trat zurück und hielt ihr die Tür auf. Ali nahm die Sonnenbrille ab und ließ den Blick über die beinahe leeren Wände der Galerie schweifen. Ihre Augen waren ein wenig gerötet, ein Anzeichen von Erschöpfung. Sie wandte sich Zach zu und musterte ihn rasch mit einem Ausdruck von Mitleid und Gereiztheit. Doch was immer sie offenbar hatte sagen wollen, sie schluckte es herunter.
»Du siehst gut aus«, bemerkte sie. Sie wollte höflich sein, begriff Zach. Früher hatten sie einander alles sagen können, und nun waren sie zu bloßer Höflichkeit herabgesunken. Eine kurze Pause entstand, die etwas unbehaglich wurde, während sich dieses letzte Stadium ihrer Beziehung etablierte. Sechs Jahre Ehe, zwei Jahre Scheidung, nun wieder Fremde. »Du hast Delphine immer noch, wie ich sehe«, sagte Ali.
»Du weißt doch, dass ich dieses Bild nie verkaufen würde.«
»Aber ist das nicht Sinn und Zweck einer Galerie? Kaufen und Verkaufen …«
»Und Ausstellen. Sie ist meine Dauerausstellung.« Zach lächelte schwach.
»Sie könnte dir eine Menge Flüge zu Elise finanzieren.«
»Das sollte sie nicht müssen«, fauchte Zach mit harter Stimme. Ali wandte den Blick ab und verschränkte die Arme.
»Zach, nicht …«, sagte sie.
»Nein, schon gut. Du hast es dir also nicht doch noch anders überlegt?«
»Wo ist Elise?«, entgegnete Ali und überging seine Frage.
»Oben. Sie schaut sich irgendetwas Lautes und Albernes im Fernsehen an«, erklärte er. Ali warf ihm einen gereizten Blick zu.
»Tja, ich hoffe doch, dass du in den letzten Wochen ein bisschen mehr mit ihr unternommen hast, als sie einfach vor der Glotze …«
»Oh, bitte, Ali. In Sachen Erziehung brauche ich wirklich keine Nachhilfe von dir.« Das sagte er ganz ruhig, ein wenig belustigt. Ali holte wieder tief Luft und hielt den Atem an. »Elise wird dir sicher erzählen, was wir so getrieben haben.« Er streckte den Kopf durch den Türspalt ins Treppenhaus und rief zu ihr hinauf: »Els! Deine Mummy ist da!« Wochenlang schon graute ihm vor dem Moment ihrer Abreise. Seit Ali ihm von dem Umzug erzählt hatte und all das Streiten und Diskutieren und wieder Streiten rein gar nichts an ihrem Entschluss geändert hatte. Jetzt war der Schmerz fast unerträglich, und nun, da es so weit war, wollte er es nur noch hinter sich bringen. Wenn es schnell ging, tat es vielleicht weniger weh.
Ali legte ihm die Hand auf den Arm.
»Moment, ruf sie noch nicht herunter. Wollen wir nicht erst darüber reden, wie …« Sie verstummte, zuckte mit den Schultern und suchte mit erhobenen Händen nach Worten.
»Genau«, sagte Zach. »Wir haben geredet und geredet, du hast mir gesagt, was du willst, und ich habe dir gesagt, was ich will. Und das Ergebnis ist, dass du tun wirst, was du willst, und zum Teufel mit mir. Also tu es einfach, Ali«, sagte er. Auf einmal war er zutiefst erschöpft. Seine Augen brannten, und er rieb sie mit Daumen und Zeigefinger.
»Das ist eine Chance für Elise und mich, noch einmal ganz neu anzufangen. Ein neues Leben … Wir werden glücklicher sein. Und sie kann alles vergessen …«
»Mich vergessen?«
»Den … Aufruhr. Den Stress, die Scheidung.«
»Ich werde es nie für eine gute Idee halten, dass du sie mir wegnimmst, also spar dir den Versuch, mich zu überzeugen. Ich werde das immer als sehr ungerecht empfinden. Ich habe dir nie das Sorgerecht streitig gemacht, weil – weil ich es nicht noch schlimmer machen wollte. Noch schwerer für sie – und für uns. Und das ist nun dein Dank. Du bringst sie fünftausend Kilometer weit weg und machst mich zu dem Typen, den sie zwei-, dreimal im Jahr sieht und der ihr Geschenke schickt, die ihr nicht gefallen, weil er gar nicht mehr mitbekommt, was sie gerade mag …«
»Darum geht es nicht. Es geht nicht um dich …« Alis Augen blitzten zornig, und Zach entdeckte auch die Schuldgefühle darin. Er sah ihr an, dass sie mit dieser Entscheidung gerungen hatte. Seltsamerweise fühlte er sich deshalb kein bisschen besser.
»Wie würdest du dich denn fühlen, Ali? Wie würde es dir an meiner Stelle gehen?«, fragte er eindringlich. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, er werde in Tränen ausbrechen. Doch das tat er nicht. Er hielt Alis Blick gefangen und zwang sie hinzuschauen. Und irgendein Gefühl trieb ihr die Hitze in die Wangen und einen feuchten Schimmer in die verzweifelt aufgerissenen Augen. Was für ein Gefühl das war, konnte Zach nicht mehr daran ablesen, denn im selben Moment kam Elise die Treppe heruntergestürmt und warf sich ihrer Mutter in die Arme.
Als der Abschied kam, drückte Zach Elise fest an sich und bemühte sich tapfer, zu lächeln und ihr zu vermitteln, dass sie sich nicht schuldig fühlen durfte, weil sie fortging. Aber als Elise zu weinen anfing, konnte er die Fassade nicht mehr aufrechterhalten – sein Lächeln wurde zu einer Grimasse, und Tränen verschleierten seinen letzten Blick auf sie. Also hörte er schließlich auf, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Elise schluckte und schluchzte und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen, und Zach hielt sie auf Armeslänge von sich weg und wischte ihr die Tränen vom Gesicht.
»Ich habe dich sehr lieb, Els. Und wir sehen uns bald wieder«, sagte er mit fester Stimme, die diesmal keinen Hauch von Zweifel an seinen Worten ließ. Elise nickte und stieß einen lauten Schluchzer aus. »Na, komm. Ein letztes Lächeln für deinen Dad, ehe du wegfährst.« Sie gab sich alle Mühe. Ihr kleiner, runder Mund bog sich an den Mundwinkeln nach oben, obwohl ihre Brust noch vom Weinen bebte. Zach küsste sie auf die Wange und richtete sich auf.
»Na los«, sagte er barsch zu Ali. »Geht schon, geht.« Ali griff nach Elises Hand und zog sie den Bürgersteig entlang zu ihrem Auto. Elise stieg ein, drehte sich noch einmal um und winkte ihm vom Rücksitz aus zu. Sie winkte, bis der Wagen den Hügel hinab und um die Kurve verschwand. Und als er nicht mehr zu sehen war, spürte Zach, wie sich in seinem Inneren etwas abschaltete. Er hätte nicht sagen können, was genau das war, aber ganz sicher etwas Lebensnotwendiges. Wie betäubt sank er auf die Stufe vor der Tür der Galerie und blieb lange dort sitzen.
Während der nächsten Tage folgte Zach mechanisch der Routine seines Lebens, öffnete die Galerie, versuchte die Zeit mit allen möglichen Kleinigkeiten auszufüllen, las Auktionskataloge und schloss die Galerie wieder. Dabei verfolgte dieselbe dumpfe Betäubung ihn auf Schritt und Tritt. Alles, was er tat, war irgendwie leer. Ohne Elise, die ihn aufweckte, Frühstück verlangte, unterhalten und beeindruckt und gescholten werden musste, erschien ihm alles andere, was er tat, ziemlich sinnlos. Er war lange der Ansicht gewesen, Ali zu verlieren sei das Schlimmste, das ihm je hätte widerfahren können. Jetzt wusste er, dass es viel, viel schlimmer war, Elise zu verlieren.
»Du hast sie doch nicht verloren. Du wirst immer ihr Vater sein«, sagte sein Freund Ian in der Woche danach über einem Curry beim Inder.
»Ein abwesender Vater. Nicht die Art Vater, der ich sein wollte«, entgegnete Zach trübsinnig. Ian schwieg einen Moment lang. Offensichtlich fiel es ihm schwer, tröstliche Worte zu finden, und er fand Zachs Gesellschaft anstrengend. Das tat Zach leid, aber er konnte nichts daran ändern. Er hatte keine Kraft mehr, den Tapferen zu spielen. Als Ian vorsichtig andeutete, der Umzug nach Amerika könnte sich auch für Zach als Befreiung herausstellen, auch ihm einen Neuanfang ermöglichen, blickte Zach nur düster zu ihm auf, und sein Freund verfiel in unbehagliches Schweigen. »Tut mir leid, Ian. Ich bin keine angenehme Gesellschaft, was?«, entschuldigte er sich schließlich.
»Grauenhaft«, stimmte Ian zu. »Gott sei Dank machen die hier so ein gutes Karahi, sonst wäre ich schon nach zehn Minuten wieder gegangen.«
»Entschuldige. Ich bin nur … Sie fehlt mir jetzt schon.«
»Ich weiß. Wie läuft das Geschäft?«
»Geht den Bach runter.«
»Doch nicht im Ernst?«
»Ich fürchte schon.« Zach musste lächeln, als er Ians entsetzte Miene sah. Ians eigene Firma – er organisierte einmalige Abenteuer, »die Traumreise Ihres Lebens« – wuchs und wuchs.
»Das darfst du nicht zulassen, Mann. Du musst doch irgendetwas dagegen unternehmen können?«
»Was denn? Ich kann die Leute nicht zwingen, Kunst zu kaufen. Entweder wollen sie Bilder kaufen oder eben nicht.« In Wahrheit sollte er schon eine Menge mehr tun. Er sollte sich auf kleinere Werke konzentrieren, die die Leute sich eher leisten konnten, und auf diese Weise seinen Bestand erhöhen. Er sollte öfter nach London fahren und sich bei anderen Kunsthändlern und Kunden in Erinnerung bringen. Einen Stand auf der Londoner Kunstmesse buchen. Alles tun, was der Galerie ein paar Kunden verschaffen könnte. So hatte er es im Jahr vor der offiziellen Eröffnung gemacht und auch im Jahr danach. Jetzt fand er allein den Gedanken daran ermüdend. So etwas erforderte mehr Energie, als ihm geblieben war.
»Was ist mit diesen Bildern von Charles Aubrey? Die musst du doch verkaufen können? Und dann was Neues kaufen, wieder Bewegung reinbringen …«, schlug Ian vor.
»Stimmt, ich könnte zwei von ihnen zur Versteigerung bringen«, gab Zach zu. Aber nicht Delphine, dachte er. »Aber wenn die erst weg sind, dann war’s das. Sie sind das Herzstück der Galerie. Wer weiß, wann – oder ob überhaupt – ich mir wieder Werke von ihm werde leisten können? Eigentlich sollte Aubrey mein Spezialgebiet sein. Ich bin Aubrey-Experte, schon vergessen?«
»Ja, aber was sein muss, muss sein, Zach. So läuft das Geschäft. Häng da nicht so viel Persönliches dran.«
Ian hatte recht, aber für Zach war es persönlich – wahrscheinlich viel zu persönlich. Er wusste schon sehr lange von Charles Aubrey, war als kleiner Junge mit ihm in Berührung gekommen. Bei jedem angespannten, allzu stillen Besuch bei seinen Großeltern verbrachte er einige Zeit damit, neben seiner Großmutter in deren Ankleidezimmer zu stehen und das Bild anzustarren, das dort hing. Eigentlich, so erzählte sie ihm, sollte es den Ehrenplatz im Wohnzimmer haben, aber sein Großvater sei damit nicht einverstanden. Wenn Zach nach dem Grund dafür fragte, hörte er jedes Mal Ich war eine von Aubreys Frauen. Die alte Frau hatte bei diesen Worten stets ein Funkeln in den Augen, und ein Lächeln umspielte ihre faltigen Lippen. Einmal hörte Zachs Vater, wie sie das sagte, er spähte durch den Türspalt herein und starrte sie finster an. Setz dem Jungen nicht solchen Unsinn in den Kopf, brummte er. Als Zach und seine Großmutter wieder nach unten kamen, starrte Zachs Vater den Großvater an, doch der alte Mann schien dem Blick seines Sohnes auszuweichen. Das war wieder einer dieser Augenblicke, in denen eine seltsame Spannung in der Luft hing, die Zach damals nicht verstanden hatte. Wegen dieser Momente graute ihm allmählich fast davor, seine Großeltern zu besuchen, und ihm graute vor der furchtbar schlechten Laune, die sein Vater tagelang danach haben würde.
Der Aubrey-Druck im Ankleidezimmer seiner Großmutter war eine Landschaft aus felsigen Klippen und silbrig schäumendem Meer. Lange Gräser, die der Wind niederdrückte, krönten die Klippen mit Leben. Eine Frau spazierte den Pfad dort oben entlang. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut fest, der andere Arm war leicht abgespreizt, als wollte sie dadurch das Gleichgewicht halten. Das Bild war impressionistisch angehaucht, die impulsiv hingeworfenen Pinselstriche machten die Szene so lebendig. Wenn Zach das Bild betrachtete, rechnete er jeden Moment damit, Möwen kreischen zu hören und salzige Gischt auf dem Gesicht zu spüren. Man konnte die nassen Felsen riechen, und der Wind brauste einem in den Ohren. Das bin ich, erklärte seine Großmutter ihm stolz, mehr als einmal. Wenn sie das Bild betrachtete, erkannte Zach ganz deutlich, dass sie in die Vergangenheit schaute. Ihr Blick verschwamm und richtete sich auf ferne Orte, längst vergangene Zeiten. Und dennoch hatte dieses Bild für Zach auch schon immer irgendetwas Ungutes, ein wenig Unheimliches gehabt. Die Gestalt sah so verletzlich aus, wie sie da ganz allein über die Klippen lief, eine Hand ausgestreckt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als wehte der Wind gar nicht vom Meer, sondern vom Land her, sodass er sie von den Felsen in das aufgewühlte Wasser darunter zu stürzen drohte. Wenn er lange genug hinsah, bekam Zach manchmal dieses wackelige Gefühl in den Knien, wie wenn er ganz oben auf einer Leiter stand.
Sie hatte sich tatsächlich ein wenig schwindelig gefühlt an jenem Morgen, ihrer Füße nicht ganz sicher. Die Macht der neuen Gefühle, die sie gepackt hatten, ließ alles andere fadenscheinig und falsch erscheinen. Der Weg über die Klippen zu Aubreys Haus war gut anderthalb Kilometer weit, und mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller, lauter. Sie sah ihn nicht ein Stück weiter vorne stehen und mit Ölkreiden zeichnen. Am Ende der langen Steigung blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Der Wind schien geradewegs in ihre Lunge zu wehen und ihr Auftrieb zu verleihen, als könnte er sie davontragen wie einen losgerissenen Drachen. Der Gedanke, dass sie ihm immer näher kam, die Freude darauf, ihn bald zu sehen … Er zeigte ihr später das Bild, und ihre Haut kribbelte bei der Vorstellung, dass er sie ohne ihr Wissen beobachtet hatte. Ihren eigenen Körper von seiner Hand in Farbe festgehalten zu sehen, tat ihr auf seltsame Weise weh, schmerzte sie tief im Innern.
Nach dem Tod seines Großvaters stimmte seine Großmutter, gebrechlich und verängstigt, bald zu, in eine Seniorenwohnanlage zu ziehen. Da war der Druck bereits so verblasst, dass er mit vielen anderen ihrer Sachen, die zu alt und abgenutzt waren, als dass sie noch jemand brauchen könnte, im Container landete. Das Ding ist sowieso zu groß für deine neue Wohnung, hatte Zachs Vater barsch gesagt. Seine Großmutter hatte am Wohnzimmerfenster gestanden und auf den Container vor dem Haus gestarrt, bis sie mit ihr losfuhren. Das Originalgemälde hing in der Tate Gallery, und Zach besuchte es, wann immer er nach London kam. Wenn er es betrachtete, wurde er jedes Mal nostalgisch. Es versetzte ihn in seine Kindheit zurück, genau wie die Gerüche von verbranntem Toast, Pfefferminzbonbons und Zigarillorauch. Zugleich konnte er es jetzt mit den Augen eines Erwachsenen sehen, eines Künstlers. Aber vielleicht wurde es Zeit, dass er aufhörte, sich als Künstler zu betrachten. Das letzte Bild hatte er vor Jahren fertiggestellt und noch länger nichts mehr hervorgebracht, das er irgendwem hätte zeigen mögen. Er wünschte sich sehr, dass die Gestalt auf diesem Aubrey-Gemälde tatsächlich seine Großmutter war, und er suchte sie oft nach vertrauten Zügen ab. Schmale Schultern, relativ große Brüste. Eine winzige, zierliche Gestalt mit einem Klecks hellbrauner Haare. Sie hätte es sein können. Das Bild war mit 1939 datiert. In jenem Jahr, hatte seine Großmutter ihm zugeflüstert, wenn sie zusammen vor dem Druck standen, hatten sie und ihr Großvater Urlaub in Dorset gemacht, nicht weit von Aubreys Sommerhaus entfernt, und sie waren dem Künstler bei einem Spaziergang begegnet.
Erst viel später im Leben dämmerte Zach die Tragweite all dessen. Er wagte nie, seine Großmutter direkt nach diesem Sommer zu fragen, aber er würde darauf wetten, dass sie mit einem ausweichenden Schulterzucken reagieren würde. Dann würde sie mit diesem Funkeln in den Augen den Blick abwenden, während ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. Ihr Gesichtsausdruck, wenn sie das Bild betrachtete, erkannte Zach im Nachhinein, war der einer vernarrten jungen Frau, der diese Jugendliebe mehr als siebzig Jahre später noch immer in den Knochen steckte. Das gab ihm zu denken, aber ärgerlicherweise sah Zachs Vater weder Charles Aubrey noch dem Großvater irgendwie ähnlich. Und niemand in Zachs Familie hatte je einen Pinsel oder ein Skizzenbuch in die Hand genommen, bis Zach damit anfing. Keiner seiner offiziellen Vorfahren hatte die geringste künstlerische Neigung. Als er zehn war, zeigte er seinem Großvater stolz die allerbeste Zeichnung von seinem BMX-Rad, die ihm je gelungen war. Sie war wirklich gut, das wusste er. Er glaubte, sein Großvater würde sich freuen, beeindruckt sein, doch der alte Mann hatte das Bild stirnrunzelnd angestarrt, anstatt zu lächeln, und es Zach mit einem beinahe abschätzigen Nicht übel, mein Junge zurückgegeben.
Ein weiterer Tag in der Galerie verging fast ohne Kundschaft. Eine ältere Dame drehte zwanzig Minuten lang das Gestell mit den Postkarten um und um, bis sie sich schließlich entschied, doch keine zu kaufen. Wie er diesen drehbaren Ständer hasste. Kunstpostkarten – letzte Verzweiflungsmaßnahme für jede Galerie mit ernsthaftem Anspruch, und nicht einmal die konnte er verkaufen, dachte Zach. Ihm fiel auf, dass Staub auf den weißen Drahtrahmen lag. Eine dünne Schicht auf jeder einzelnen Waagrechten. Er wischte ein paar davon mit dem Ärmel ab, gab jedoch bald auf und dachte stattdessen über Ians letzte Frage bei ihrem gemeinsamen Essen nach: Also, was wirst du tun?
Ein Gefühl von Panik ergriff ihn und versetzte ihm einen hässlichen Stich in die Magengrube, denn er hatte absolut keine Ahnung. Die Zukunft breitete sich konturlos vor ihm aus, und er konnte darin nichts, aber auch gar nichts finden, das er sich zum Ziel setzen könnte. Nichts, das offensichtlich eine gute Idee wäre oder was er gern tun würde und sich leisten konnte. Und der Blick zurück half ihm auch nicht. Sein einziges Meisterwerk, seine größte Leistung, war jetzt Tausende von Kilometern weit weg in Massachusetts, gewöhnte sich vermutlich schon einen amerikanischen Akzent an und war dabei, ihn zu vergessen. Und wenn er so hinter sich blickte, stellte sich alles, was er aufzubauen geglaubt hatte, als vergänglich heraus und war hinter seinem Rücken zu Nichts zerfallen. Seine Karriere als Künstler, seine Ehe, seine Galerie. Er konnte sich wirklich nicht erklären, wie das passiert war – ob er irgendwelche Anzeichen übersehen hatte oder das Leben grundsätzlich falsch anging. Er dachte, er hätte alles richtig gemacht. Er fand, dass er hart gearbeitet hatte. Aber jetzt war er geschieden, genau wie seine Eltern, und auch seine Großeltern hatten sich nach einer Trennung gesehnt, doch die Konventionen ihrer Generation hatten sie aneinandergefesselt. Die Scheidung seiner Eltern hatte er als blutiges Schlachtfeld erlebt, und danach hatte Zach sich geschworen, dass ihm das nie passieren würde. Vor seiner Hochzeit war er ganz sicher gewesen, dass er alles richtig machen würde, was sie falsch gemacht hatten. Während er nun dastand und ins Leere starrte, verfolgte er den Faden seines Lebens immer weiter zurück und suchte nach all den Situationen, in denen er falschgelegen hatte.
Draußen versank die Sonne hinter den Dächern, und Schatten streckten sich tief und lang auf dem Boden der Galerie aus. Jeden Tag kamen sie früher, diese Schatten, und sammelten sich in den schmalen Straßen, die von den blassen Steinfassaden Baths gesäumt wurden wie von den Wänden einer Schlucht. In der sommerlichen Hitze boten sie eine angenehme Zuflucht vor der gleißenden Sonne, der Hitze und der schwülen Enge zu dicht gedrängter Menschenleiber. Jetzt jedoch wirkten sie bedrückend, Unheil verkündend. Zach kehrte an seinen Schreibtisch zurück und sank auf den Stuhl. Auf einmal war ihm kalt, und er war müde. Er hätte alles, was er besaß, mit Freuden dem erstbesten Menschen überlassen, der ihm klar und deutlich sagen konnte, was er als Nächstes tun sollte. Er glaubte, nicht einen weiteren solchen Tag ertragen zu können, gefangen in der Stille dieser Galerie, die von einer fernen Tochter sprach, einer Frau, die ihn schon lange nicht mehr liebte, und fehlenden Kunden, mangelnden Künstlern. Er hatte gerade beschlossen, sich sinnlos zu betrinken, als binnen fünf Minuten zwei Dinge geschahen: Zuerst fand er eine neue Zeichnung von Charles Aubrey im Auktionskatalog von Christie’s, und dann kam der Anruf.
Er starrte gerade auf die Beschreibung der angebotenen Zeichnung und griff gedankenverloren nach dem Telefon. Es interessierte ihn kaum, wer da anrief.
»Gilchrist Gallery«, sagte er.
»Zach? Hier ist David.« Knappe Worte einer glatten, unergründlichen Stimme.
»Oh, hallo, David«, entgegnete Zach, riss sich von dem Katalog los und versuchte, den Namen und die Stimme zuzuordnen. Er hatte das vage Gefühl, dass er dem Anrufer lieber Aufmerksamkeit zollen sollte. Der gab einen verblüfften Grunzlaut von sich.
»David Fellows, Haverley Verlag.«
»Ja, natürlich. Wie geht’s, David?«, sagte Zach zu hastig. Vor Scham kribbelten seine Fingerspitzen wie früher in der Schule, wenn er nach seiner fehlenden Hausaufgabe gefragt wurde.
»Sehr gut, danke. Also, ich habe eine ganze Weile nichts mehr von Ihnen gehört. Seit über anderthalb Jahren, um genau zu sein. Ich weiß, dass Sie mehr Zeit haben wollten, um das Manuskript fertigzustellen, und wir haben uns damit einverstanden erklärt. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man sich als Lektor fragt, ob ein Buch überhaupt irgendwann erscheinen wird …«
»Ja, ach, bitte entschuldigen Sie die Verzögerung … Ich war … Also …«
»Zach, Sie sind Wissenschaftler. Bücher brauchen nun einmal ihre Zeit, das ist mir sehr wohl bewusst. Ich melde mich nur, um Sie wissen zu lassen, dass jemand anders mit dem Entwurf eines Buches über Charles Aubrey an uns herangetreten ist …«
»Wer?«
»Das darf ich Ihnen aus Gründen der Diskretion nicht sagen. Aber der Entwurf ist sehr gut, der Autor hat uns bereits die Hälfte des Manuskripts vorgelegt und will es in vier bis fünf Monaten fertiggestellt haben. Das würde sehr schön mit der Aubrey-Ausstellung nächstes Jahr in der National Portrait Gallery zusammenfallen … Jedenfalls hat die Verlagsleitung mich angewiesen, Ihnen Dampf zu machen, um es geradeheraus zu sagen. Wir wollen einen guten neuen Titel über den Künstler im Programm haben, und wir wollen ihn nächsten Sommer veröffentlichen. Das bedeutet, dass wir Ihr Manuskript bis Januar bräuchten, spätestens Februar. Was sagen Sie dazu?«
Den Hörer fest ans Ohr gepresst, starrte Zach auf die Aubrey-Zeichnung in dem Katalog. Sie zeigte einen jungen Mann mit verträumtem Gesichtsausdruck. Er hatte glattes, helles Haar, das ihm in die Augen fiel, feine Gesichtszüge, eine gerade Nase und ein spitzes Kinn. Gesund sah er aus, ein wenig verwegen. Ein Gesicht, das Zach mit Kricketspielen am Jungeninternat assoziierte, mit stibitzten Sandwiches und mitternächtlichem Unfug im Schlafsaal. Dennis lautete der Titel, das Datum 1937. Es war die dritte Aubrey-Zeichnung dieses jungen Mannes, die Zach zu sehen bekam, und bei dieser hatte er noch deutlicher als bei den anderen das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hörte er eine gesprungene Glocke schlagen. Irgendetwas klang schräg, misstönend.
»Was ich dazu sage?«, echote Zach und räusperte sich. Unmöglich. Völlig undenkbar. Er hatte sein unstrukturiertes Manuskript, seine Berge von Notizen seit über einem halben Jahr nicht einmal mehr angeschaut.
»Ja, wie hört sich das an? Ist alles in Ordnung, Zach?«
»Bestens, ja … Ich …« Er verstummte. Er hatte das Buch aufgegeben – ein weiteres Projekt, das im Sande verlaufen war –, weil es sich zu einem Buch wie jedes andere entwickelte, das er je über Aubrey gelesen hatte. Er hatte etwas Neues über den Mann und sein Werk schreiben wollen, das einmalige Einblicke zeigte, vielleicht die Art Einblicke, die nur ein Verwandter, etwa ein heimlicher Enkel, zu bieten hätte. Mittendrin war ihm jedoch klar geworden, dass er keine solchen Erkenntnisse hatte. Der Text war vorhersehbar und folgte ausgetretenen Pfaden. Dass er den Künstler und sein Werk liebte, ging nur allzu deutlich daraus hervor, aber das reichte nicht. Er hatte all das gesammelte Wissen, die vielen Notizen, seine Leidenschaft für das Thema. Aber er hatte keine besondere Perspektive, keinen speziellen Blickwinkel. Das sollte er David Fellows einfach sagen, und Ende. Sollte dieser andere Aubrey-Mensch doch sein Buch veröffentlichen. Schmerzlich wurde Zach bewusst, dass er wahrscheinlich den Vorschuss würde zurückzahlen müssen, so bescheiden der auch gewesen war. Er fragte sich, woher um alles in der Welt er dieses Geld nehmen sollte, und hätte beinahe laut gelacht.
Doch das Bild auf der Katalogseite vor ihm fesselte erneut seine Aufmerksamkeit. Dennis. Was war das für ein Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes? Er war sehr schwer zu bestimmen. Auf den ersten Blick wirkte er wehmütig, im nächsten Moment schelmisch, und dann traurig, voller Reue. Er veränderte sich wie das Licht an einem stürmischen Tag, als hätte der Künstler ihn nicht recht einfangen, die Stimmung nicht auf Papier bannen können. Und genau das war Charles Aubreys wahre Kunst, darin lag sein Genie. Wie niemand sonst konnte er eine Emotion festhalten, eine ganze Persönlichkeit einfangen und so klar und kunstfertig porträtieren, dass seine Modelle auf dem Papier lebendig wurden. Und wenn dessen Ausdruck mehrdeutig oder zwiespältig wirkte, dann deshalb, weil die Stimmung des Modells genau so gewesen war. All die Widersprüchlichkeit war etwas, das er hatte zeichnen können. Aber das hier war anders. Ganz anders. Das hier sah aus, als hätte der Künstler die Stimmung des Modells nicht entziffern, nicht wiedergeben können. Zach erschien es schlicht unmöglich, dass Charles Aubrey ein so unvollkommenes Bild hatte schaffen können, und doch waren die Bleistiftstriche und die Schattierung selbst so gut wie eine Signatur. Aber da war zudem die Frage des Datums. Die Datierung konnte nicht stimmen.
»Ich mache es«, sagte er zu seiner eigenen Verwunderung. Vor Anspannung war seine Stimme plötzlich barsch.
»Wirklich?« David Fellows klang überrascht und nicht ganz überzeugt.
»Ja. Sie haben das Manuskript Anfang nächsten Jahres. So bald wie möglich.«
»Aha … Wunderbar. Freut mich sehr, das zu hören, Zach. Ich muss gestehen, dass ich dachte, Sie kämen damit irgendwie nicht weiter. Damals hat es sich so angehört, als seien Sie sicher, dass Sie etwas wirklich Neues zu dem Thema hätten, aber dann ist immer mehr Zeit verstrichen …«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Aber ich schreibe es fertig.«
»Also schön. Wunderbar. Dann werde ich der Verlagsleitung sagen, dass mein Vertrauen in Sie absolut gerechtfertigt war«, erklärte David, und Zach hörte die leisen Bedenken, die milde Warnung sehr wohl heraus.
»Ja. War es«, sagte Zach. Seine Gedanken überschlugen sich.
»Nun, dann wende ich mich besser wieder der Arbeit zu. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, sollten Sie das auch tun.«
In der Stille nach dem Gespräch räusperte sich Zach, weil seine Kehle plötzlich trocken war. Er lauschte seinen rasenden Gedanken und hätte wieder beinahe laut gelacht. Wo um alles in der Welt sollte er anfangen? Es gab eine einleuchtende Antwort, nur eine einzige. Er senkte den Blick wieder auf den Katalog und suchte ganz unten auf der Seite nach der Herkunft dieser Zeichnung von Dennis. Aus einer Privatsammlung in Dorset. Wieder dieser Verkäufer ohne Namen, genau wie bei den beiden anderen. Aus dieser mysteriösen Sammlung waren nun schon drei Bilder von Dennis aufgetaucht und zwei von Mitzy. Alle in den vergangenen sechs Jahren, alle offenbar Studien für Gemälde, die niemand je vollendet gesehen hatte. Und Zach kannte nur einen Ort in Dorset, wo er mit der Suche nach der Quelle dieser Bilder anfangen konnte. Er stand auf und ging nach oben, um zu packen.
2
In dem Bett, das früher das ihrer Mutter gewesen war und immer noch dort durchhing, wo Valentina einst gelegen hatte, wurde sie heimgesucht. Seit der Nacht, in der sie Celeste gesehen hatte, waren ihre Träume reich bevölkert, es drängten sich darin die lang Verschollenen und längst Verstorbenen. Sie warteten darauf, dass sie die Augen schloss, und dann rückten sie näher mit lautlosen Schritten, huschten aus fernen Verstecken herbei und kündigten sich nur durch den Hauch eines Dufts, ein gemurmeltes Wort oder Züge an, die typisch für sie waren. Celestes wilde Augen, Charles’ Hände voller Farbflecken, Delphines fragend hochgezogene Augenbrauen, Élodies aufstampfender Fuß. Ihre eigene Mutter mit ihrem feurigen Atem. Und mit ihnen kamen die Gefühle. Jedes einzelne brauste wie eine Woge über sie hinweg, sodass sie kaum noch Luft bekam. Sie rissen sie immer weiter fort vom Strand, und sie hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, konnte sich nicht ausruhen oder gar in Sicherheit bringen. Nur darum kämpfen, nicht zu ertrinken. Ein Meer erinnerter Gesichter und Stimmen wirbelte und wogte so stürmisch um sie her, dass sie mit einem Gefühl von Übelkeit aufwachte. Ihr Kopf war so voll, dass sie sich in Zeit und Raum nicht mehr zurechtfand. Sie hatten Fragen an sie, jeder einzelne ihrer Besucher. Fragen, die nur sie beantworten konnte. Sie wollten die Wahrheit erfahren, all ihre Gründe, und sie wollten Vergeltung.
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