Die Schuld jenes Sommers - Katherine Webb - E-Book
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Die Schuld jenes Sommers E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Bath 1942: Im Chaos eines Bombenangriffs ist der kleine Davy plötzlich unauffindbar. Frances, die auf den Jungen aufpassen sollte, macht sich auf die Suche. Sie ist verzweifelt, denn schon einmal ist ein Kind verschwunden: Vierundzwanzig Jahre zuvor war ihre beste Freundin Wyn nach einem Streit nie wieder aufgetaucht. Ausgerechnet in dieser schicksalhaften Nacht fördert der Einschlag einer Bombe das Skelett eines Kindes zutage. Das tote Mädchen ist Wyn. Frances ist zutiefst erschüttert, und dunkle Erinnerungen aus der Vergangenheit werden lebendig. Was geschah in jenem Sommer vor über zwanzig Jahren? Wo ist Davy? Und hat er überlebt?

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Seitenzahl: 594

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Zum Buch

April, 1942. Im Chaos eines Bombenangriffs auf die englische Stadt Bath verschwindet der kleine Davy. Frances wird von schrecklichen Schuldgefühlen geplagt. Warum nur hat sie Davy allein gelassen? Und lebt er noch?

Am nächsten Morgen wird das Skelett eines kleinen Mädchens gefunden: Die Tote ist Frances Freundin Wyn, die vor über zwanzig Jahren spurlos verschwand. Und so taucht Frances während ihrer unermüdlichen Suche nach Davy ein in die Vergangenheit, deren dunkle Schatten sie bis heute begleiten. Doch sie ist fest entschlossen herauszufinden, was in jenem Sommer vor 20 Jahren geschah …

Zur Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, studierte Geschichte an der Durham University und arbeitete mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Nach ihrem großen internationalen Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten die Romane »Das Haus der vergessenen Träume«, »Das verborgene Lied«, »Das fremde Mädchen« und »Italienische Nächte«, die allesamt SPIEGEL-Bestseller wurden. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt die Autorin heute in der Nähe von Bath, England.

KATHERINE

WEBB

Die Schuld

jenes Sommers

ROMAN

Aus dem Englischen

von Babette Schröder

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Katherine Webb

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

The Disappearance bei Orion Books,

an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Trevillion/Elisabeth Ansley;

GettyImages/De Agostini, G. Wright;

Shutterstock/gyn9037, Mongkol Rujitham, Phillip Kraskoff

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-21565-1V001

www.diana-verlag.de.

1

Samstag

1942 – Erster Tag der Bombardierung

An jenem Samstag, dem fünfundzwanzigsten April, hätte Wyn Geburtstag gehabt. Schon den ganzen Tag war Frances immer wieder von Erinnerungen an sie heimgesucht worden, und als sie nach dem Abendessen mit ihrer Mutter im Wohnzimmer saß, wuchs ihre Unruhe. Davy döste auf ihrem Schoß. Carys, seine Mutter, hätte ihn schon längst abholen müssen, doch wie schon so oft würde sie ihn wohl einfach bei Frances lassen. Für seine sechs Jahre war Davy recht klein, dennoch lastete sein Gewicht schwer auf Frances. Sie begann zu schwitzen und bekam nur schwer Luft. Dazu das Gemurmel aus dem Radio und das Seufzen ihrer Mutter, die sich abmühte, im trüben Licht einer einzigen Lampe ein Hemd zu flicken – so konnte Frances unmöglich einen klaren Gedanken fassen. Obwohl Frances’ Vater alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, weigerte sich ihre Mutter, während der Verdunkelung die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Frances fühlte sich in dem Raum gefangen. Es war zu warm, zu eng, zu voll.

Sie blickte zu Davy hinunter, dessen Glieder im Schlaf langsam erschlafften. Seine Augenlider schimmerten blassviolett und hatten einen wächsernen Glanz, und an Frances zerrte ein bereits vertrautes Gefühl von Betroffenheit: So erschöpft wirkte er ständig.

»Ich muss ein bisschen an die frische Luft«, sagte Frances, veränderte ihre Haltung und versuchte, Schenkel und Rippen ein wenig von Davy zu entlasten. Susan, ihre Mutter, maß sie mit strengem Blick.

»Was, jetzt?«, fragte sie besorgt. »Aber es ist doch bald Schlafenszeit.«

»Ich bin nicht müde.«

»Nun, ich schon. Und du weißt, dass Davy trotz des Medikaments aufwacht, sobald du dich bewegst. Du kannst nicht einfach gehen und ihn bei mir lassen. Und Carys’ Zustand ist um diese Zeit mit Sicherheit auch nicht mehr der beste«, fügte sie hinzu. Frances unterdrückte einen Anflug von Verzweiflung, das dringende Bedürfnis zu entfliehen. Sie kämpfte sich aus dem Stuhl hoch. Davy regte sich und rieb sein Gesicht an ihrer Schulter.

»Alles ist gut, schlaf weiter«, flüsterte sie ihm zu. »Ja, ich denke, mit Carys hast du recht«, sagte sie an ihre Mutter gewandt. »Nach Hause kann er nicht. Ich bringe ihn zu den Landys. Die sind noch lange wach.« Susan sah sie missbilligend an.

»Es ist nicht richtig, ihn ständig von einem zum anderen zu schieben.«

»Ich … ich bekomme einfach keine Luft mehr. Ich muss hier raus.«

Als sie den Hügel zu den Landys erklommen hatte, wand Davy sich in ihren Armen und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Er gähnte, und Frances spürte seine Rippen an ihren, keine von ihnen dicker als ein Bleistift. »Schhh, schhh«, machte sie. »Du bleibst ein bisschen bei Mr. und Mrs. Landy. Ist das nicht schön? Mrs. Landy macht dir ganz bestimmt einen Becher Kakao.« Davy schüttelte den Kopf.

»Bei dir bleiben«, sagte er sehr leise, als Mrs. Landy die Tür öffnete. Sie trug ein Hauskleid und hatte das weiße Haar auf Lockenwickler gedreht, doch beim Anblick der beiden lächelte sie. Sie und ihr Mann hatten keine eigenen Kinder oder Enkelkinder.

»Ist das in Ordnung? Nur für ein paar Stunden?«, fragte Frances.

»Aber natürlich«, antwortete Mrs. Landy. »Komm rein, mein kleines Lämmchen. Wenn es sehr spät wird, können Sie ihn gern bei uns lassen, Frances. Das stört uns nicht.«

»Danke. Er hat schon gegessen und seine Medizin bekommen.«

»Frances«, sagte Davy noch immer verschlafen. Mehr nicht, doch Frances wusste, dass es seine Form des Protests war.

»Sei ein braver Junge«, erwiderte sie schuldbewusst. Kurz bevor die Tür geschlossen wurde, sah sie ein letztes Mal in sein blasses Gesicht, nahm den entgeisterten Ausdruck darin wahr. Unter den Augen, die ihren Blick suchten, lagen dunkle Schatten. Später würde sie dieses letzte Bild quälen. Wie leicht hatte sie die Schuldgefühle beiseitegeschoben und ihn einfach dort zurückgelassen.

Doch es war Wyns Geburtstag, und Frances brauchte Luft. Sie stieg zum Beechen Cliff hinauf, das hoch über Bath lag, und blickte auf die dunkle Stadt hinunter. Inzwischen mochte sie die friedliche Stille und die Einsamkeit während der Verdunkelung. Wenn man wartete, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und keine Fackel bei sich trug, ahnte niemand, dass man überhaupt da war. Man konnte völlig unsichtbar sein. Sie war nicht die Einzige, die sich das zunutze machte – häufig vernahm sie aus dem Park gedämpfte Stimmen, die flüchtigen Bewegungen und das schwere Atmen der Liebespaare. Frances mochte die schemenhaften Umrisse der Dinge, die sich vor dem helleren Himmel abzeichneten. Es gefiel ihr, dass man Geräusche und Gerüche deutlicher wahrnahm. Im Tageslicht bemerkte sie weder den Duft der blühenden Rosskastanien noch die intensive Süße des Flieders. Dann entging ihr auch der feuchte Geruch von Gras und Erde im Park, der so ganz anders war als der von Stein, Ruß und Menschen in den Straßen dort unten. Sie fühlte sich nicht bedroht, empfand nur ein leichtes Schaudern, das auch alle anderen Nacht für Nacht heimsuchte. Die Ahnung einer Gefahr, die weit entfernt schien. Als Frances auf die Stadt hinunterblickte, stellte sie sich vor, wie andere Menschen ihren Samstagabend verbrachten. Wie sie lebten, liebten, stritten. All die endlosen Gespräche. Es war befreiend, sich von ihnen zu entfernen.

Sie dachte an Kinder und daran, dass in Davys Augen manchmal schon der Ausdruck eines sehr alten Mannes lag – eine Erschöpfung, als würde er sich in das Unausweichliche fügen. Es war, als sei er bereits vor seiner Zeit gealtert. Ein bisschen, wie Wyn es gewesen war.

Seit zwei Jahren passte Frances auf Davy auf, seit sie wieder bei ihren Eltern wohnte. Als seine Mutter, Carys Noyle, ihn Frances zum ersten Mal in den Arm geschoben hatte, war er sehr schwach und klein gewesen – ein winziger Junge in dreckigen, viel zu weiten Shorts, der an einem entzündeten Flohstich auf seinem Arm herumkratzte und nach altem Schmutz stank. Frances hatte nicht auf ihn aufpassen wollen – sie wollte auf gar kein Kind aufpassen –, doch es war schwer, Carys etwas abzuschlagen. Und für Frances war es noch schwieriger als für jeden anderen. So entwickelte sich aus dem einmaligen Gefallen eine Routine, die drei-, viermal in der Woche in Anspruch genommen wurde, ohne dass Carys jemals vorher Bescheid sagte. Sie ging selbstverständlich davon aus, dass Frances nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wusste.

Es war eine ruhige, klare Nacht, die Luft so mild, dass Frances’ Atem nicht zu sehen war. Heute wäre Wyn zweiunddreißig geworden, genauso alt wie Frances. Jedes Jahr versuchte Frances, sie sich als erwachsene Frau vorzustellen – verheiratet, mit Kindern. Wie sie aussähe, was sie alles täte. Wären sie Freundinnen geblieben? Frances hoffte es, doch sie waren sehr verschieden gewesen, und Freundschaften unter Erwachsenen schienen komplizierter zu sein als unter Kindern. Sie würde es niemals erfahren. Wyn war an einem Augusttag vor vierundzwanzig Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Sie war ein achtjähriges Kind geblieben. An ihrem Geburtstag suchte Wyn Frances Jahr für Jahr gnadenlos heim, bestürmte sie mit halb vergessenen Erinnerungen und ließ sie den Verlust wie einen körperlichen Schmerz spüren.

Ein einsames Flugzeug flog in der Nähe von Sham Castle ostwärts und hinterließ eine leuchtende Spur aus Brandbomben, die beinahe anmutig langsam vom Himmel fielen. Frances wartete, und natürlich begannen unten die Sirenen zu heulen, die vor einem Bombenangriff warnten. Für gewöhnlich trafen die ersten Flugzeuge zwischen elf Uhr und Mitternacht ein. Plötzlich wurde Frances bewusst, dass bereits mehrere Stunden verstrichen sein mussten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie musste dringend nach Hause und mit ihrer Mutter in den Keller gehen, wo ihr der Liegestuhl regelmäßig Rückenschmerzen bereitete und die Luft im Laufe der Stunden immer stickiger wurde. Es war unmöglich, dort unten zu schlafen, und im Dunkeln »Ich sehe was, was du nicht siehst« zu spielen war schon seit Monaten nicht mehr lustig. Die Aussicht auf eine weitere Nacht im Keller war so erfreulich wie ein verregnetes Wochenende. In letzter Zeit hatte Frances sich nicht mehr gerührt, wenn die Sirenen losjaulten, und da war sie nicht die Einzige. Viel zu oft schon waren sie losgegangen, ohne dass Bomben gefallen waren.

Das Mondlicht glitt über den Holloway, die alte Straße am Fuße des Hügels, und fiel auf das Dach der St. Mary Magdalen Chapel. Es schien auch auf das Dach des alten Leprakrankenhauses daneben – ein schmales Häuschen, das völlig dunkel dalag, wie alle anderen Gebäude auch. Während der Verdunkelung wies nichts darauf hin, dass es leer stand. Es hatte ein grobes Dach aus Steinziegeln und kleine gotische Fenster, und an der Seite ragte ein Schornstein auf. Frances musste sich erst wappnen, ehe sie es wagte, genauer hinzuschauen; fast als würde sie sich einer Mutprobe stellen. Aber nachdem sie es einmal getan hatte, war es schwer, den Blick wieder zu lösen. Der Anblick katapultierte sie unerwartet und brutal in ihre Kindheit zurück. Sie starrte den Schornstein an und bemerkte die Geräusche der nach und nach eintreffenden Flugzeuge nicht gleich – sie übertönten kaum das leise Rascheln der Bäume. Irgendwo unten in Lyncombe Hill bellte ein Hund. Als sich das Geräusch verstärkte, hörte Frances das unverkennbare zweistimmige Schmettern deutscher Propeller, das so anders klang als das gleichmäßige Dröhnen der britischen Maschinen. Alle kannten den Unterschied.

Monatelang, Nacht für Nacht, hatten sich die Einwohner von Bath versteckt, wenn die Flugzeuge auf dem Weg nach Bristol über sie hinweggeflogen waren, um die dortigen Hafenanlagen und Lagerhäuser zu bombardieren. Frances hatte vom Beechen Cliff aus beobachtet, wie der Himmel im Westen von Explosionen und Luftabwehrgeschossen erhellt wurde, in denen Menschen in der Nachbarstadt ums Leben kamen. Nervöse Piloten, die nicht genau wussten, wo sie sich befanden, warfen vereinzelt eine Bombe in der Gegend von Bath ab oder ließen auf dem Rückweg zum Kontinent nicht verschossene Ladung einfach fallen. Eine brennende Scheune hier, ein zu begaffender Krater dort. Letztes Jahr am Karfreitag hatte ein Pilot aus reiner Boshaftigkeit wahllos vier Bomben abgeworfen und in Dolemeads elf Menschen getötet. Es war schwer, sich diese jungen deutschen Piloten vorzustellen, die mit kaltem Schweiß auf der Stirn in ihren Cockpits saßen und Tod und Zerstörung brachten. Frances fragte sich manchmal, was wohl ihre Leibgerichte als Kinder gewesen waren oder was sie als Zwölfjährige hatten werden wollen. Ob sie die ersten Küsse genossen oder sie überrascht und angeekelt fortgewischt hatten. Sie sollte sie hassen. Sie nicht zu hassen hieß England zu hassen. Man musste sie einfach hassen genau wie im letzten Krieg. Damals hatte Frances sich vor all dem Hass gefürchtet, jetzt verachtete sie ihn.

Der Lärm verstärkte sich. Er kam aus zwei Richtungen – über den River Avon aus Box, das im Osten lag, und hinter Frances aus südlicher Richtung. Sie zündete sich eine Zigarette an, schirmte die winzige Streichholzflamme mit der Hand ab und versuchte sich zu erinnern, wann sich der Ausdruck eines Greises auf Davys Gesicht geschlichen hatte. Als sie das erste Mal auf ihn aufgepasst hatte, wusste sie nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollte. Sie putzte weiter Karotten in der hinteren Spülküche und dachte gar nicht mehr an ihn, bis sie sich umdrehte und sah, wie er um den Türpfosten linste. Er hatte graue Augen und verfilztes blondes Haar, und seine blasse Haut war mit Dreck beschmiert. Damals wirkte er weder verängstigt noch neugierig – eher beharrlich. Stumm entschlossen, etwas zum Essen aufzutreiben, wie Frances rasch herausfand. Sein Gesicht hatte offensichtlich erst später den Ausdruck von Resignation angenommen. Frances war nicht gut im Umgang mit Kindern, und zuerst hatte sie nicht gewusst, was sie zu ihm sagen sollte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie schließlich und fügte hinzu: »Du kannst im Garten spielen«, und als er nicht antwortete, war sie ein wenig verlegen gewesen und auch ein bisschen verärgert.

Die Flugzeuge flogen tief, tiefer als jemals zuvor. Es schien Frances, als könnte sie die Hand ausstrecken und sie berühren. Ihre schwarzen Umrisse füllten den Himmel – es waren auch mehr als je zuvor. Erschrocken ließ sie die Zigarette fallen, hielt sich die Ohren zu und blickte hinauf. Sie sahen aus wie ein Schwarm riesiger Insekten. Das Geräusch durchdrang ihre Brust und erschütterte ihr Herz. Sie schienen sich so langsam zu bewegen, dass man meinte, sie müssten jeden Moment vom Himmel fallen, und plötzlich begriff Frances. Sie flogen nicht nach Bristol, sie wollten nach Bath. In das unschuldige, schutzlose Bath. Einen Moment saß sie fassungslos da und konnte sich nicht rühren. Die Flugzeuge stürzten nach unten, sie hörte das verräterische Pfeifen der Brandsätze und sah die weißen Blitze, als sie zündeten – die Bomben setzten Häuser in Brand, erleuchteten damit die ganze Stadt und spotteten so der Verdunkelung. Dann folgte die enorme Detonation einer Sprengbombe. Kurz bevor der Lärm alles andere überdeckte, dachte sie noch an den kleinen Davy Noyle, der das blonde Haar seiner Tante Wyn hatte.

Frances kroch von der Bank, kauerte sich ins Gras und schlang schützend die Arme um den Kopf. Sie schien keine Luft zu bekommen. Die Atmosphäre um sie herum kreischte, der Boden bebte, und sie konnte keinen Gedanken mehr fassen. Sie empfand pure Angst, ihre Muskeln zitterten, sie war schwach und unfähig, sich zu rühren. Sie hatte das schon einmal erlebt, doch das war sehr lange her. Damals, als sie zum ersten Mal das Gespenst im alten Leprakrankenhaus sah, hatte sie dieselbe lähmende Angst empfunden – das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden und nur noch wenige Sekunden Lebenszeit zu haben, bevor man auf den Boden aufschlug. Frances schloss fest die Augen und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Währenddessen donnerte ein Flugzeuggeschwader nach dem anderen über sie hinweg, schwebte tief über der Stadt und warf eine Bombe nach der anderen ab. Der Angriff schien ewig zu dauern; das Dröhnen der Motoren, die Erschütterungen und das Krachen der Explosionen. Der frühlingshafte Duft von Gras und Bäumen ging im Brandgestank unter. Rauch erfüllte die Luft, und als Frances sich schließlich zwang aufzublicken, sah sie, dass ganz Bath in Flammen stand. Das Gaswerk war ein einziges loderndes Inferno. Der Holloway brannte. Die Straße, in der sie lebte – in der ihre Eltern lebten.

Die Panik katapultierte sie auf die Füße. Sie fühlte sich aufs Schrecklichste ausgeliefert und stürzte mit einem Schrei zur Jakobsleiter – steile Stufen, die am unteren Ende der Alexandra Road in das Beechen Cliff geschlagen waren. Dort wohnte ihre Tante Pam. Es war der nächste Ort, an dem sie sich in Sicherheit bringen konnte. Sie hörte das Rattern der Maschinengewehre – obwohl sie das Geräusch noch nie zuvor gehört hatte, erkannte sie es sofort –, hastete die Stufen hinunter, klammerte sich an das Geländer und suchte verzweifelt Schutz in Lorbeerbäumen und Unterholz. Währenddessen jagte das Feuer über das Land. Frances rannte blindlings weiter. Auf halber Höhe verfehlte sie eine Stufe, stolperte und prallte mit voller Wucht gegen das Geländer. Ihr Fuß knickte um, und sie stieß sich derart heftig den Kopf, dass weiße Blitze vor ihren Augen tanzten. Ganz in der Nähe fiel eine weitere Bombe. Ihr Abwurf war von einem Pfeifen begleitet, das zu einem schrecklichen Heulen anschwoll, dann schlug sie mit überwältigendem Lärm ein und übertönte einen Moment lang jedes andere Geräusch. Frances blieb, wo sie war, klammerte sich an das Geländer wie an einen rettenden Anker und hatte das Gefühl, ihr Kopf werde zerquetscht. Sie dachte an ihre Mutter unten im Keller, die große Angst haben musste. Und an ihren Vater draußen irgendwo in einem öffentlichen Schutzraum. Sie dachte an Geister. Dann dachte sie eine Weile gar nichts mehr, denn sie konnte nichts weiter tun, als einfach nur zu leben.

Sonntag

Zweiter Tag der Bombardierung

Die Sonne schien blass durch den noch immer in der Luft hängenden Rauch. Frances blinzelte zum Himmel hinauf. Ihr Kopf pochte, und sie fühlte sich ein bisschen betrunken. Ihre Gedanken bewegten sich auf eine seltsame Art, beinahe bedächtig, wie hohe Wolken an einem heißen Tag. Bei ihrem Sturz hatte sie sich einen Schnitt auf der Stirn zugezogen, ihr Gesicht war voller Blut, doch sie hatte noch nichts unternommen, um die Wunde zu versorgen, und sich nur gekratzt, als sie anfing zu jucken. Es beschlich sie das beunruhigende Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Sosehr sie sich auch bemühte, die Ereignisse des letzten Abends in ihrem Kopf zu ordnen, der Ablauf ergab einfach keinen Sinn. Aus mitgehörten Gesprächen wusste sie, dass auf den ersten Angriff eine mehrstündige Ruhepause gefolgt war, bis zu einem weiteren Angriff in den frühen Morgenstunden. Auf Frances hatte es gewirkt, als wären sie unablässig bombardiert worden, unerbittlich, eine halbe Ewigkeit lang. Als die Sonne aufging, war sie auf den Stufen aufgewacht, auf denen sie gestürzt war, und langsam nach Hause gegangen.

Jetzt half sie einem Trupp der Luftabwehr, das Haus von Trümmern zu befreien, das am Ende der Magdalen Cottages lag. Die Häuserreihe, in der sie mit ihren Eltern lebte, war von einer Brandbombe getroffen worden, und das Haus hatte wie Zunder gebrannt. Das Dach, der Schornstein und das obere Stockwerk waren durch das Erdgeschoss in den Keller gekracht. Das Gebäude war nur noch ein verkohlter Haufen, der leise vor sich hin zischte und qualmte.

»Frances! Steh nicht so dumm in der Gegend rum, Liebes«, rief Frances’ Vater Derek, und sie war so erleichtert, seine Stimme zu hören, dass sie ihm den Rüffel nicht übel nahm. Die Hinckleys, ein älteres Ehepaar, das dort bereits gelebt hatte, als Frances noch gar nicht auf der Welt war, befanden sich noch irgendwo da drinnen. Sie besaßen zwar einen Morrison-Schutztisch in der Küche, doch Frances wusste auch, dass die beiden schon ein wenig tatterig waren und bei Bombenalarm nicht mehr aus dem Bett stiegen. Paradise Row auf der anderen Seite der Straße war verschwunden – ein vierstöckiges georgianisches Wohnhaus, dem Erdboden gleichgemacht. Immer wieder wurde Frances’ Blick von dem schrecklichen und zugleich faszinierenden Anblick angezogen. Durch die entstandene Lücke konnte sie ganz Bath erkennen – den Fluss am Fuß des Hügels, das Kloster und die vornehmen Reihenhäuser im Norden. Überall stieg Rauch auf.

Frances riss sich zusammen, nahm ihrem Vater ein Stück der zerstörten Tür ab und reichte es dem Jungen hinter ihr. Gemeinsam versuchten sie, den oberen Teil der Kellertreppe freizuräumen. Nur wenige Frauen halfen, die Trümmer zu beseitigen. Die meisten brachten Tee oder besorgten Wasser aus dem Tank neben der Magdalen Chapel, wischten ihren Kindern die Gesichter sauber oder standen verunsichert in Grüppchen beisammen. Doch Frances war groß, sie trug Hosen, ihr Haar war kurz geschnitten, und manchmal vergaßen die Leute, dass sie eine Frau war.

»Die Mistkerle haben die Feuerwehrmänner bei der Arbeit bombardiert«, fluchte Derek. »Das passt zu den dreckigen Boches, oder?«

»Sie haben das Büro vom zivilen Luftschutz getroffen«, bemerkte der junge Mann hinter Frances. »Das totale Chaos.«

»Der Friedhof neben dem Oldfield Park ist bombardiert worden«, berichtete eine Passantin und schob eilig ihren Kinderwagen den Holloway hinunter. »Überall liegen Tote! Tote, die schon lange unter der Erde waren – ich habe es selbst gesehen!«, rief sie aufgeregt. »All die Knochen, und ich musste …« Sie schüttelte den Kopf und hastete weiter, ohne den Satz zu Ende zu führen.

»Na, bei denen können wir ja nicht mehr viel ausrichten«, rief einer der Männer ihr bissig hinterher.

»Schhh!«, sagte der Helfer in der ersten Reihe, der bis zu den Knien in den Trümmern des Hauses stand. Er ging in die Hocke und hob eine Hand, um die anderen zum Schweigen zu bringen. »Ich könnte schwören, dass ich gerade etwas gehört habe. Da hat jemand geklopft! Los, Leute, legt euch ins Zeug.«

Doch als sie die Hinckleys eine Stunde später ausgruben, waren beide tot. Mrs. Hinckleys Gesicht war weiß vom Putz, das ihres Mannes schwarz vom Feuer. Frances starrte sie aus der Ferne an. Ihre Ohren klingelten, und sie bildete sich ein, immer noch Bomben fallen zu hören. Sie fühlte sich plötzlich merkwürdig benommen, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden.

»Frances!«, hörte sie ihre Mutter rufen. »Oh, Frances! Geh da weg, Liebes.«

»Wem melden wir das jetzt?«, fragte einer der Männer. »Die Toten, meine ich. Wem sollen wir die melden? Der Polizei?« Derek sah ihn mit leerem Blick an, dann schüttelte er verwirrt den Kopf.

Frances blinzelte und stellte fest, dass sie zu Hause auf einem Küchenstuhl saß. Ihre Mutter tauchte ein Tuch in eine Schüssel mit Wasser und reinigte den Schnitt auf ihrer Stirn.

»Frances war die ganze Nacht draußen, kannst du dir das vorstellen?«, sagte Susan. Wind wehte durch die scheibenlosen Fenster herein, auch die Haustür fehlte. Ein Riss lief von der Ecke des Türrahmens bis zur Decke. Der Linoleumboden war gefegt worden, doch der Staub setzte sich bereits wieder darauf ab. Die Veränderungen waren nur geringfügig, aber dennoch störend, wie in einem Traum, in dem alles ein klein wenig verrückt war.

»Ein Logenplatz, nicht wahr, Frances?«, bemerkte ihre Tante Pam.

»Pam? Geht es dir gut?«, fragte Frances. Ihre Tante sah sie befremdet an, und Frances durchlief ein Freudenschauer, weil Pam in Sicherheit war.

»Ob es mir gut geht? Natürlich. Um mich zu erledigen, braucht es mehr als ein bisschen Feuerwerk.« Pam hatte das dichte graue Haar mit einem gelben Tuch zurückgebunden, ihre Jacke war voller Ruß. Frances blickte auf den Boden, wo Hund stand, Pams drahtiger kleiner Terrier, und ziemlich ruhig wirkte. »Ihm auch. Obwohl, du hättest ihn heulen hören sollen, als die Bomben fielen!« Auf Pams Gesicht erschien ein flüchtiges Lächeln.

»Ich wollte zu dir«, sagte Frances und runzelte die Stirn, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Jedenfalls glaube ich das. Ich habe die Jakobsleiter genommen und bin gestürzt.«

»Was um alles in der Welt hast du um diese Uhrzeit noch oben auf dem Beechen Cliff getrieben? Das möchte ich wirklich gern wissen«, bemerkte Susan. »Verstehst du das etwa unter ›ein bisschen an die frische Luft gehen‹, wie du es genannt hast?« Pam blickte müde zu Susan.

»Ich habe nur dort gesessen und nachgedacht. Die Stille genossen«, antwortete Frances. Sie wagte nicht, ihre Mutter an Wyns Geburtstag zu erinnern, nicht wenn sie ohnehin schon derart angespannt war. Ihre Mutter gab einen missbilligenden Laut von sich.

»Nun, frische Luft schnappen kann man gut dort oben auf dem Cliff«, sagte Pam.

»Bitte ermuntere sie doch nicht noch, Pam.« Susan klang verärgert. »Sie hat sich in schreckliche Gefahr gebracht.«

»Sie ermuntern? Frances ist eine erwachsene Frau, Sue. Und außerdem: Waren die Leute unter all den Steinen und dem Stahl etwa sicherer? Der öffentliche Schutzraum gegenüber vom Scala auf der Shaftesbury Road ist direkt von einer Bombe getroffen worden, wie ich hörte. Alle sind tot. Siebzehn Menschen.«

»Pam!«, rief Susan entsetzt. Sie war blass und sah kränklich aus. Frances wünschte, sie könnte endlich klar denken. Sie war sich sicher, dass sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatte.

Eine Weile schwiegen die drei Frauen, lauschten auf das Tropfen des Wassers, auf die Rufe von draußen und auf das Getöse eines Stromaggregats. Über allem schien der Geruch von Rauch und nasser Asche zu hängen. Hund knurrte leise, dann ließ er sich seufzend auf Pams Füßen nieder. Sein Fell war schwarz-weiß gefleckt, die Beine wirkten zu kurz im Verhältnis zum Körper, und er hatte den leicht gebogenen Schwanz eines Collies – das Ergebnis einer ungeplanten Paarung oben auf der Topcombe Farm. Frances hatte ihn Pam geschenkt, als deren alter Foxterrier gestorben war, und zuerst weigerte sich Pam, ihn gernzuhaben oder ihm auch nur einen Namen zu geben. »Dieser Hund«, sagte sie, und dabei war es geblieben. Damals war Frances eine verheiratete Frau gewesen, die Frau eines Farmers und nicht … was auch immer sie jetzt war. Ein übergroßer Kuckuck, der ins Nest der Eltern zurückgekehrt war.

Sie blickte sich in der vertrauten Küche mit den klapprigen Schränken, dem Tisch mit der Zinnplatte und dem alten Ofen um. Der Strom war ausgefallen, ebenso Gas und Wasser. Auf dem Ofen stand eine verlassene Bratpfanne mit drei traurigen Brotscheiben darin. Die Küchenuhr war von der Wand gefallen und lag in Einzelteilen auf dem Tisch. Ohne die Zeiger wirkte das Zifferblatt irgendwie erschrocken und nackt.

»Die Leute sagen, die kommen wieder«, sagte Susan angespannt. Aus ihrer Stimme sprach tiefe Angst, und ihr Gesicht wirkte verhärmt. Durch das Säubern hatte sich die Wunde auf Frances’ Stirn wieder geöffnet und brannte. Das Wasser in der Schüssel hatte sich rosa gefärbt. Frances schloss die Augen und versuchte erneut, sich ins Bewusstsein zu rufen, was sie vergessen hatte. Es war zum Verrücktwerden. »Sie kommen heute Nacht wieder«, fuhr Susan fort. »Sie werden uns noch einmal angreifen. Wir müssen die Stadt verlassen – die Auffanglager werden schon evakuiert, man schafft die Leute in Bussen fort. Wir machen uns auf den Weg, sobald Derek mit seinem Dienst fertig ist. Man bringt die Leute hoch in die Withyditch Baptist Church, sagt Marjorie. Wir bleiben nicht hier und stehen das noch einmal durch. Keiner von uns.«

»Ich gehe nirgendwohin«, erklärte Pam schulterzuckend. »Wenn ich mich von einer Horde Jungs ohne ein einziges Brusthaar aus meinem eigenen Haus vertreiben lasse, bin ich erledigt.« Susan starrte sie ungläubig an.

»Hast du dir etwa auch den Kopf angeschlagen? Das ist kein Spiel, Pam – die wollen uns alle umbringen! Es ist total verrückt hierzubleiben. Und du spazierst nicht mehr mitten in der Nacht allein durch die Gegend, Frances … Die Leute reden schon. Der ist alles Mögliche zuzutrauen, heißt es über dich.« Frances holte Luft, um zu kontern, doch dann bemerkte sie die zitternden Hände ihrer Mutter.

»Schon gut, Mum«, sagte sie sanft. »Hör nicht auf die Leute.«

»Das ist einfach nicht in Ordnung! Wenn ich dich verloren hätte …« Susan schüttelte den Kopf und strich ihrer Tochter seufzend eine aschblonde Haarsträhne hinters Ohr. »Frances. Wenn ich dich verloren hätte …« Sie ließ den Lappen in die Schüssel fallen und stellte sie auf dem Tisch ab.

Frances musste unbedingt nachdenken, doch der Schmerz in ihrem Kopf machte es ihr unmöglich. Ihr Blick verschwamm, und sie sah wieder den vom Feuer orange leuchtenden Nachthimmel vor sich, an dem es von riesigen schwarzen Fliegen wimmelte. Die Bomben kreischten wie verwundete Tiere. Hände griffen nach ihr, und sie fuhr ruckartig hoch. Ihr Vater, der mit vor Müdigkeit schwerem Schritt in die Küche taumelte, weckte sie auf.

»Derek! Du schleppst ja die ganze Straße mit herein!«, schimpfte Susan, als er dreckige Stiefelabdrücke hinterließ und Putz und Asche von seiner Lufthelferuniform herabfielen. Erschöpft sah Derek seine Frau an.

»Susan, Liebes, wenn ich nicht in zwei Minuten einen Kaffee bekomme, wirst du zur Witwe«, sagte er. Frances stand auf und drehte den Wasserhahn auf, um den Kessel zu füllen. Sie hatte vergessen, dass das Wasser abgestellt und der Ofen tot war.

»Im Eimer ist Wasser«, erklärte Susan. »Wir müssen es wohl vorerst aus dem Tank oben an der Straße holen.«

»Na, wenigstens ist das nicht so weit«, bemerkte Frances abwesend und tastete nach ihren Streichhölzern, um das Feuer zu entzünden, konnte sie jedoch nicht finden. Zweifellos lagen sie irgendwo auf der Jakobsleiter. Doch da war noch etwas anderes – sie vermisste noch etwas.

»Hast du denn jetzt Dienstschluss? Können wir los?«, fragte Susan. Es war noch nicht einmal Mittag, aber sie schien damit zu rechnen, dass die Flugzeuge jeden Moment zurückkehrten. Derek schüttelte den Kopf.

»Dienstschluss? Nein, Liebes, noch lange nicht. Dafür hat man uns schließlich ausgebildet. Ihr Mädchen packt zusammen, was ihr gut tragen könnt, und geht schon mal vor. Ich sichere das Haus ab, dann muss ich hoch nach Bear Flat und Wache halten, damit man die Bank nicht plündert. Dort klafft ein Loch, das groß genug für Ali Baba und seine vierzig Räuber ist und …«

»Bear Flat? Aber … für wie lange?«

»Das weiß ich noch nicht, Liebes.«

»Setz dich, bevor du umfällst, Derek«, sagte Pam und drückte den Arm ihres Bruders. Er nickte müde.

»Aber die kommen zurück! Die kommen zurück!«, rief Susan aufgeregt.

»Bis dahin werdet ihr drei weit weg sein«, erwiderte Derek.

»Nun, ich nicht«, erklärte Pam.

»Und was ist mit dir, Dad?«, fragte Frances.

»Ich gehe in einen Luftschutzraum, keine Sorge, aber ich kann doch jetzt, wo ich wirklich gebraucht werde, nicht einfach meinen Posten verlassen, oder? Wie geht es überhaupt deinem Kopf?«

»Der ist wieder in Ordnung, glaube ich«, antwortete Frances.

»Wir haben alle Glück gehabt. Die armen Hinckleys, und die Leute oben auf dem Hügel in Springfield …« Derek schüttelte den Kopf.

Frances wurde kalt. Sie versuchte zu sprechen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie hustete und versuchte es erneut. Plötzlich waren ihre Gedanken grausam klar, und sie wusste genau, was sie vergessen hatte. »Davy …«

»Was? Oh! O nein«, flüsterte Susan.

»Ich … ich habe ihn hoch zu den Landys gebracht!«, rief Frances. Ohne auf die Rufe der anderen zu hören, rannte sie aus dem türlosen Haus. Bei der abrupten Bewegung schoss ihr ein heftiger Schmerz in den Kopf, und ihr wurde übel. Sie war entsetzt, dass sie vergessen haben könnte, nach ihm zu sehen, hinzugehen und ihn abzuholen. Der traumähnliche Schleier, der über dem Tag und der Welt gelegen hatte, löste sich auf, und zum ersten Mal sah sie die schreckliche Realität. Menschen waren getötet worden. Häuser waren zerstört. Und es würde weitergehen. Frances rannte und rang nach Atem, als der Holloway anstieg, in Richtung Süden abbog und weiter oben auf dem Hügel Springfield Place erschien. Oder das, was von Springfield Place noch übrig war. Von schrecklicher Angst erfüllt, verlangsamte sie ihre Schritte.

Hier gab es keinen Rauch, keine verkohlten Balken oder geschwärzten Steine. Das vordere Ende der Reihe, wo die Landys wohnten, schien einfach wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen zu sein. Wie gebrochene Knochen ragten hier und dort Dachsparren hervor. Gegen Ende der Reihe waren die Schäden nicht ganz so groß, doch das interessierte Frances nicht. Sie blieb vor der Nummer eins stehen, und ein Schaudern überlief ihren Rücken. Der Ort, an dem sie Davy zurückgelassen hatte, existierte nicht mehr. Fassungslos starrte sie auf die Stelle, bis ein Luftschutzhelfer, in dessen Gesichtsfalten sich schwarzer Ruß abgesetzt hatte, bei ihr stehen blieb.

»Haben Sie sie gekannt, Schätzchen?«, fragte er.

»Wo sind sie jetzt?«, fragte Frances benommen. Der Mann zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung, Schätzchen, tut mir leid. Ich habe gehört, dass die Krypta in der Kirche als Leichenhalle genutzt wird, aber ich weiß es nicht. Sie waren unten im Keller – Mr. und Mrs. Landy, nicht? Sie haben den Angriff gut überstanden, sie haben sogar noch eine Weile mit den Rettern gesprochen. Doch die Wasserleitung war geplatzt und hat alles überschwemmt … Sie konnten nicht rechtzeitig herausgeholt werden und sind ertrunken. Also, wenn das keine grausame Wende des Schicksals ist, dann weiß ich auch nicht. Üble Sache«, sagte er und bot ihr eine Zigarette an. Frances nahm sie, konnte sie aber nicht ruhig halten, als er ihr Feuer gab. Sie schloss die Augen und wappnete sich. War es wichtig, alle Einzelheiten zu kennen? Oder war es vielleicht viel besser, kein allzu klares Bild vor Augen zu haben? Sie entschied, dass es besser war, es genau zu wissen, konnte sich jedoch kaum überwinden zu fragen. Eine Eiseskälte breitete sich in ihrem Körper aus, und ihre Beine fühlten sich schwach an. Sie hätte auf Davy aufpassen müssen. Sie hätte dafür sorgen müssen, dass er in Sicherheit war. Stattdessen hatte sie ihn zurückgelassen, um allein zum Beechen Cliff hinaufzugehen und im Dunkeln ihren Gedanken nachzuhängen. Davy wollte bei ihr bleiben.

»Und der kleine Junge?«, flüsterte sie.

»Wer?«

»Der kleine Junge … War er bei Mr. und Mrs. Landy im Keller? Ist er auch … ertrunken?«

»Man hat zwei Tote geborgen. Das ist alles, was ich weiß«, antwortete der Luftschutzhelfer. »Sie meinen, es gibt noch einen dritten?«

Mit pochendem Herzen sah Frances ihn an und fasste seinen Ärmel. »Da war noch ein Junge – David Noyle. Hat man ihn gefunden? Lebt er? Er ist noch klein – erst sechs.«

»Immer mit der Ruhe …« Der Mann rieb sich das Kinn. »Moment. Ich glaube, der Rettungstrupp ist weiter nach Hayesfield Park gezogen. Kommen Sie mit, wir fragen sie.«

Als der Rettungstrupp aufgab, ging im Westen bereits die Sonne unter. Frances’ Rücken schmerzte, ihre Hände waren zerschunden und zerkratzt. Sie hatten so viele Trümmer wie möglich aus dem überfluteten Keller der Landys geschafft und die Decke mit Holzbalken abgestützt. Über dem schwarzen Zaun hing Mrs. Landys rosa Daunendecke, von einer Schmutzschicht überzogen. Frances hatte geholfen, wo sie nur konnte, doch meistens schickten die Männer sie fort. Die Steinwände des Hauses waren bei der Explosion eingestürzt. Alles und jeder war von weißem Staub überzogen. Hin und wieder meinte Frances in der fremden weißen Umgebung vertraute Umrisse zu erkennen: einen Arm oder eine Hand. Einen Haarschopf. Einen kleinen Schuh. Jedes Mal sank ihr der Magen in die Kniekehlen, doch es war nie Davy. Es gab keinerlei Spuren von ihm, und obwohl ihr Kopf noch immer schmerzhaft pochte und sie kaum klar denken konnte, fasste Frances Hoffnung.

Die Retter zogen mit ihrem Werkzeug weiter, aber einer von ihnen blieb kurz stehen, um Frances auf die Schulter zu klopfen.

»Wenn er direkt unter der Bombe war, kann es auch sein, dass wir einfach nichts mehr von ihm finden«, sagte er so einfühlsam wie möglich.

»Aber … die Landys haben doch noch gelebt, nachdem die Bombe eingeschlagen war«, entgegnete Frances. »Und sie sind in den Keller gegangen – wenn Davy bei ihnen war, hätten sie ihn doch mitgenommen. Wir sollten weitersuchen – vielleicht ist er noch da unten … vielleicht lebt er noch!«

»Nein, Schätzchen«, widersprach der Mann. »Da ist niemand mehr.«

»Dann hat er … dann hat er es vielleicht geschafft und ist entkommen. Ist das nicht möglich? Nach dem Einschlag der Bombe? Oder sogar noch davor. Er könnte davongelaufen sein. Er muss schreckliche Angst gehabt haben, als es losging.« Bei diesem Gedanken unterdrückte sie ein Schluchzen, das aus ihrem Hals aufstieg.

»Ich habe gehört, dass unten bei Stotherts ein Kind aus dem Schutzraum geschleudert wurde«, berichtete eine Frau. Frances hatte bislang gar nicht bemerkt, dass sie neben ihr stand. Ihr Haar war voller Staub, und sie zitterte unkontrolliert. »Es hat überlebt. Alle, die im Schutzraum geblieben sind, sind tot.«

»Er hat manchmal Anfälle … dann weiß er nicht mehr, wo er ist und was er tut«, erklärte Frances, starrte auf die Trümmer und versuchte, irgendwo dort einen kleinen Jungen zu erkennen. »Wenn er Angst hatte, hat er vielleicht versucht, nach Hause zu kommen … oder mich zu finden. Verstehen Sie nicht? Er könnte ganz woanders sein!«

»Das stimmt, das wäre möglich«, bestätigte der Helfer in einem beschwichtigenden Tonfall, der ihr nicht gefiel.

»Also, was soll ich tun? Soll ich ihn als vermisst melden?«

»Wir vermerken es in unserem Bericht«, sagte der Mann. »Davy Noyle, sagten Sie?«

»David, ja.«

»Richtig. An Ihrer Stelle würde ich es zunächst bei ihm zu Hause versuchen. Dann in den Krankenhäusern und, sobald wieder Ruhe eingekehrt ist, vielleicht in den Auffanglagern. Wenn er hinausgeschleudert wurde, hat ihn vielleicht jemand aufgelesen und mit zu sich genommen. Am besten verlassen Sie jetzt die Stadt. Ich glaube nicht, dass wir eine ruhige Nacht haben werden.«

»Ich kann jetzt nicht gehen.« Frances erinnerte sich an das kreischende Geräusch der fallenden Bomben, das Flackern und Tosen des Feuers, das die Nacht vertrieben hatte, und die Angst drehte ihr den Magen um. Sie versuchte, es zu ignorieren.

»Wie Sie meinen.« Der Helfer verlor die Geduld.

Frances blieb noch eine Weile. Der Gedanke, dass sie Davy verloren haben könnte, dass sie an seinem Tod schuld war, lähmte sie. Die grausame, unerträgliche Unwiderruflichkeit.

Nachdem Frances das erste Mal auf Davy aufgepasst hatte, hatte es nicht lange gedauert, bis er von allein bei ihr auftauchte – er erschien leise an der Hintertür oder wartete auf der Treppe, wenn sie von der Arbeit heimkam. Jedes Mal gab sie ihm ein Glas Milch oder einen Keks, und wie eine streunende Katze kehrte er immer wieder zurück. Sie gewöhnte sich an seine stille Gegenwart, wenn sie die Wäsche wusch, Kartoffeln schälte oder einfach nur am Ende des Tages draußen eine Zigarette rauchte. Es überraschte sie, wie schnell sie nach ihm Ausschau zu halten begann. Dass es ihr nichts mehr ausmachte, dass sie ihn häufig schon roch, bevor sie ihn sah. Ihre Mutter sagte, sie sollten Geld von Carys verlangen.

»Wenn Carys Geld hätte, bräuchte sie mich nicht, damit ich auf ihn aufpasse oder ihm zu essen gebe«, entgegnete Frances.

»Wenn sie nicht saufen würde wie ein Loch, hätte sie auch Geld. Und ich verstehe nicht, warum wir ein zusätzliches Maul stopfen müssen«, erklärte Susan, allerdings lag überhaupt keine Verbitterung in ihrer Stimme. »Außerdem hat sie es schließlich auch geschafft, sich um alle anderen Kinder zu kümmern, oder etwa nicht? Es liegt nur daran, dass er gestört und sie stinkfaul ist. Das ist alles.«

»Sie hat es nicht bei allen anderen geschafft – vergiss nicht, dass die kleine Denise immer noch bei Owen und Maggie wohnt. Und Davy ist überhaupt nicht gestört«, widersprach Frances, woraufhin ihre Mutter mit der Zunge schnalzte. Susan mochte sich beschweren, aber sie würde Davy dennoch immer ein Brot machen.

In Wahrheit war Frances sich nicht sicher, ob Davy gestört war oder einfach nur anders. Er war viel zu klein und zu mager für sein Alter. Die Ohren waren viel zu groß für seinen Kopf und standen ab wie die Henkel eines Pokals. Er sprach nicht viel, und seine Aufmerksamkeit sprang auch nicht unablässig von einer Sache zur nächsten, wie bei den meisten Kindern. Stattdessen schien er sich für nichts richtig zu interessieren und dennoch glücklich damit zu sein. Seit man ihm Phenobarbital verschrieb, litt er seltener unter Krampfanfällen. Da Davys Vater dem Arzt das Geld für das Medikament immer für ein Quartal im Voraus bezahlte, gab es auch keine Gelegenheit, es für etwas anderes auszugeben. Die Anfälle variierten – manchmal verlor der Junge für einige Minuten die Orientierung, konnte jedoch noch laufen. Anschließend war er verwirrt und verängstigt. Manchmal brach er aber auch komplett zusammen, krampfte und verlor das Bewusstsein. Frances war zu Tode erschrocken, als sie das zum ersten Mal erlebte, doch diese heftigen Anfälle schienen nicht mehr aufzutreten, seit er das Medikament nahm. Allerdings wurde Davy davon sehr müde. Die größte Dosis erhielt er deshalb zur Schlafenszeit.

An einem sonnigen Tag hatte Frances einmal frühmorgens in dem großen Kupferkessel Wasser erwärmt, die Blechwanne in den Garten gestellt, eine Handbreit Wasser und Seifenlauge hineingefüllt und Davy herangelockt. Inzwischen vertraute er ihr; sie durfte ihm die dreckigen Kleider ausziehen und ihn in die Wanne setzen. Er hielt es für ein Spiel. Frances nutzte die Gelegenheit, ihn von Kopf bis Fuß abzuschrubben, doch er lachte und spritzte um sich, bis sie vollkommen durchnässt war. Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihn lachen hörte. Frances wusch auch seine Kleider, und während sie auf den warmen Schindeln des Aborts zum Trocknen lagen, wanderte Davy nackt durch den Garten und spielte mit Zweigen und Kieseln irgendein Spiel, das Frances nicht verstand. Er war nur Haut und Knochen, Arme und Beine dünn wie Stöcke, ein bisschen wie Wyn damals. Die Standpauke, die Carys ihr hielt, als sie den Jungen so vergnügt sah, nahm sie dafür gerne in Kauf – Carys ertrug den stillen Vorwurf nicht, der darin lag, dass Frances ihr Kind badete.

Als sie jetzt daran dachte, fühlte Frances sich innerlich schrecklich leer. Langsam ging sie zum Beechen Cliff Place, trat vor Carys Noyles Haus mit der Nummer dreiunddreißig und sammelte allen Mut, um zur Tür zu gehen. Solange sie draußen blieb, bestand die Möglichkeit, dass Davy nach der Explosion nach Hause gelaufen war. So lange durfte sie hoffen, seiner Mutter nicht erklären zu müssen, dass das Kind tot war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Beechen Cliff Place war eine schmale Straße mit Reihenhäusern, die vom Holloway abbog, ein Teil des Labyrinths aus Häusern am Fuße des Hügels. Die Mauern waren rußgeschwärzt, und es tropfte von Dachrinnen und Fenstersimsen. Die Fensterrahmen waren verrottet, die Schornsteine rissig, und auf den Dächern wucherte Unkraut. In den Vorgärten standen Mülleimer, und überall lagen irgendwelche kaputten Sachen herum. Hinten befand sich ein Gemeinschaftsgarten mit drei Aborten und einem Waschhaus, durch den kreuz und quer Wäscheleinen gespannt waren. Alles war ständig feucht – an unzähligen Stellen sprudelte Wasser aus dem Beechen Cliff und sickerte auf allen nur erdenklichen Wegen hinunter zum Fluss. Sogar die Ratten, die um die Mülleimer huschten, waren feucht, das Fell dunkel und struppig von der Nässe.

Frances riss sich zusammen und klopfte, ihr Mund war trocken. Fred Noyle, einer von Davys älteren Brüdern, trug eine Gasmaske, als er ihr die Tür öffnete. Fred war zwölf, ein magerer Junge mit kantigen, ungelenken Bewegungen. Er hatte den dunklen Teint seiner Mutter geerbt, und durch die Sichtscheiben der Gasmaske sah Frances eine merkwürdige Gier in seinen Augen aufblitzen – die Freude der Jugend an Veränderung und Zerstörung.

»Mum ist hinten im Garten«, sagte er gedämpft durch die Maske. »Ich sehe mich mal ein bisschen draußen um.« Er drängte an Frances vorbei auf die Treppe und zog sich die Mütze in die Stirn.

»Warte, Fred – ist dein kleiner Bruder da?«, fragte Frances.

»Davy?« Fred schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ist er nicht bei dir?«

»Nein«, sagte Frances bedrückt zu seinem sich entfernenden Rücken.

Langsam ging sie in den Garten. Carys nahm gerade Unterhemden und Socken von der Wäscheleine und schleuderte sie als Bündel auf den Boden. Als Frances erschien, blickte sie auf.

»Das kann ich jetzt alles noch mal waschen«, sagte sie ohne Begrüßung. »Alles staubig. Als hätte ich nicht schon genug zu tun.« Sie strich sich eine angegraute Haarsträhne aus der Stirn. Als Frances sie kennengelernt hatte, war sie noch Carys Hughes gewesen: Wyns große Schwester. Damals war ihr Haar glänzend braun wie dunkler Sirup, die Haut weich und rosig. Mit sechs Jahren fand Frances sie schön wie Schneewittchen. Jetzt waren durch das Trinken kleine Äderchen auf ihren Wangen und ihrer Nase geplatzt, und zwischen ihren Augenbrauen und um den Mund herum hatten sich tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben, was ihr einen mürrisches Ausdruck verlieh. Carys war erst zweiundvierzig, wirkte jedoch zwanzig Jahre älter. »Hier. Halt das mal.« Sie gab Frances den Sack mit den Wäscheklammern. »Ich dachte, du bist gekommen, um Davy abzuliefern. Weil du zu viel zu tun hast und nicht mehr auf ihn aufpassen kannst wegen diesem verdammten …« Sie deutete auf die rauchende Stadt und auf die Lücken in den anliegenden Straßen. »Diesem verdammten Unsinn.« Sie starrte Frances wütend an.

»Carys, ich …« Frances zögerte und schluckte schwer.

Es gab keine gute Art zu sagen, was sie sagen musste. Keine Möglichkeit, dem zu entkommen oder es besser klingen zu lassen, als es war. Einen Moment lang wusste Frances nicht, wie sie die Worte jemals herausbringen sollte. Fast wünschte sie sich, angeschrien zu werden. Sie war so wütend auf sich, dass sie überhaupt die Verantwortung für Davy übernommen und dann derart versagt hatte. Genau deshalb hatte sie keine Kinder haben wollen – aus Angst davor, zu versagen und sich unerträglich schuldig zu fühlen. Sie fürchtete die Verletzlichkeit der Kinder. Ihre Weigerung hatte zum Scheitern ihrer Ehe geführt, und dann war sie irgendwie – eher zufällig als durch eine bewusste Entscheidung – doch noch zu einem Kind gekommen, um das sie sich kümmerte, das sie liebte. Das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte nichts von alldem gewollt. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich. »Carys, es tut mir so leid. Ich habe ihn gestern Abend zu Mr. und Mrs. Landy gebracht. Ich musste weg, darum habe ich ihn oben am Springfield Place gelassen.« Etwas in ihrer Stimme ließ Carys innehalten. Sie wandte sich zu Frances um, die Knöchel der Hand, mit der sie ein schmuddeliges Hemd hielt, traten weiß hervor, so fest umklammerte sie es. Frances holte tief Luft. »Sie … sie sind tot. Die Landys. Ihr Haus ist völlig zerstört, und ich … Es gibt nirgends eine Spur von Davy. Ich habe die Helfer das ganze Fundament durchsuchen lassen …«

Frances schwieg, und Carys sagte nichts. Sie kam näher, bis sie so dicht vor Frances stand, dass diese den Gin roch. Er war nicht so sehr in ihrem Atem, sondern strömte vielmehr aus jeder ihrer Poren. Eine unnatürliche Hitze, wie ein Fieber, stieg von ihrer Haut auf. Frances war einen ganzen Kopf größer als Carys, dennoch kam sie sich neben ihr plötzlich klein vor.

»Nun, wo ist er dann?«, fragte Carys schließlich, ein ängstliches Flackern in der Stimme.

»Ich weiß es nicht.«

»Du hast auf ihn aufgepasst. Wo ist er?«, fragte Carys durch zusammengebissene Zähne.

»Ich musste weg!«, wiederholte Frances. »Er … er war bei den Landys gut aufgehoben. Von dem Bombenangriff konnte ich nichts ahnen. Es tut mir so leid, Carys … Es tut mir so schrecklich leid. Ich finde ihn. Ich höre nicht auf, ihn zu suchen, bis ich ihn habe. Versprochen. Und …«

»Du solltest auf ihn aufpassen!«, schrie Carys und versetzte Frances einen heftigen Stoß, sodass sie nach hinten taumelte. »Ist er tot? Willst du mir das sagen?«

»Nein! Das heißt, ich … ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht … Sie haben alles durchsucht und kein Zeichen von ihm gefunden – gar nichts. Ich glaube, er ist entkommen und hat sich irgendwo verlaufen. Das sähe ihm doch ähnlich, oder?«

»Das glaubst du? Du weißt es also nicht?« Carys schüttelte den Kopf, als hätte sie Schwierigkeiten, das zu begreifen. Es folgte eine Pause. »Dabei bist du doch immer so verdammt perfekt«, stieß Carys dann heftig atmend hervor. »Erzählst mir, dass ich nicht auf meine verdammten Kinder aufpassen kann. Und jetzt hast du tatsächlich eins verloren! Weil du ›weg musstest‹! Was war denn so wichtig? Hast wohl einen neuen Freund.«

»Nein! Ich …« Frances holte tief Luft. »Du weißt doch, welcher Tag gestern war. Das Datum, meine ich. Ich wollte nur ein bisschen allein sein. Ich brauchte einfach …«

»Welcher Tag? Wovon redest du?«

»Gestern war Wyns Geburtstag. Das weißt du doch.«

Wyns Verschwinden war der Wendepunkt in Frances’ Leben, der Moment, ab dem sich alles in ein Davor und ein Danach teilte. Manchmal vergaß sie, dass diese Empfindung nicht unbedingt von jedem geteilt wurde, der Wyn gekannt hatte. Doch sie war davon ausgegangen, dass Carys sich an den Geburtstag ihrer Schwester erinnerte. Als ein höhnisches Grinsen Carys’ Gesichtszüge verzerrte, merkte Frances jedoch, dass sie keinen Moment an den Geburtstag gedacht hatte. Carys’ Miene wurde noch wütender, ihr Teint noch eine Nuance dunkler.

»Das ist deine Ausrede? Dass du immer noch Trübsal bläst wegen etwas, das schon Ewigkeiten her ist?«

»Nein, das ist keine Ausrede. Ich wollte nur …« Frances wusste nicht, was sie sagen sollte. Carys starrte wütend zu ihr hoch, ihr Mund formte Worte, die sie vor lauter Zorn nicht hervorbrachte. »Du weißt doch, wie Davy ist«, sagte Frances kläglich. »Er verirrt sich so schnell, weiß dann nicht mehr, wo er ist. Und es sieht jetzt alles so anders aus … Ich glaube, er ist einfach irgendwohin spaziert. Das ist alles.« In Carys’ Augen flackerte ein Gefühl auf, doch Frances wusste nicht, ob es Hoffnung, Schmerz, Schuld oder etwas anderes war. Es dauerte nicht lange – dann flammte ihre Wut erneut auf und machte jede andere Regung zunichte.

»Das kannst du nur hoffen«, sagte sie. »Und besser, du hast ihn das nächste Mal bei dir, wenn du mir unter die Augen trittst, oder ich …« Carys schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. »Besser du hast ihn bei dir«, murmelte sie und schwankte leicht. Dann verbarg sie das Gesicht in den Händen und schluchzte. Frances beobachtete sie hilflos und überrascht.

»Es tut mir so leid, Carys«, sagte sie wieder. Sie trat einen Schritt vor und streckte eine Hand aus, doch plötzlich hob Carys den Kopf und warf ihr einen drohenden Blick zu.

»Geh mir aus den Augen! Hau ab und such ihn«, zischte sie, und Frances floh.

Als Frances wieder nach vorne kam, trat Nora Hughes, Carys’ und Wyns Mutter, aus dem Haus mit der Nummer vierunddreißig und schaukelte mit ihren arthritischen Hüften den Weg herunter.

»Alles in Ordnung, Frances?« Sie lächelte auf ihre unsichere Art. »Ist einiges zu tun, nicht? Ein paar Häuser in Dolemeads sind zerbombt worden, aber Owens steht zum Glück noch«, berichtete sie. Frances nickte und spürte, wie sie leicht zusammenzuckte, wie immer, wenn sie Owens Namen hörte. Sie zögerte, ertrug es jedoch nicht, auch noch mit Davys Großmutter zu sprechen, und ging weiter. »Alles in Ordnung? Und deine Familie?«, rief Nora.

»Ja. Danke. Ich glaube, Carys braucht Sie«, sagte Frances und hasste sich für ihre Feigheit. Mrs. Hughes’ Miene wurde ernst. Hinter ihr trat Mr. Hughes in den Türrahmen, so unergründlich und bedrohlich wie eh und je. Frances sah ihm nicht in die Augen. Die Schande war unerträglich. Ihr Fehler war so unfassbar, so schrecklich, dass er ihr niemals vergeben würde. Sie taumelte. Verwirrt merkte sie, dass sie genau dieses Gefühl gut kannte. Dass sie es schon einmal erlebt hatte. Der Boden verschwamm vor ihren Augen, und anstelle von grauen Platten und Kieseln sah sie ein Paar kleiner Füße in staubigen Schuhen vor sich. Ein schmaler Rücken, der sich entfernte. Ein langes Fähnchen aus blondem Haar, auf das die Sonne schien. »Wyn«, sagte Frances, doch als sie blinzelte, war das triste Pflaster wieder da, und Wyns Mutter beobachtete sie immer noch mit ängstlicher Miene. Nora Hughes bestand darauf, dass ihre Tochter noch am Leben war, doch damit war sie allein. Frances wusste es besser. Obwohl niemals eine Leiche gefunden worden war und es kein Geständnis gab, wusste es die ganze Welt besser. Ein Mann war festgenommen und wegen Mordes gehängt worden.

Frances eilte davon, wieder zurück zum Springfield Place, falls Davy dort auftauchen sollte. Sie wusste nicht, wohin sie sonst gehen, was sie sonst tun sollte. In der Stadt herrschte Chaos, in ihrem Inneren herrschte Chaos. Ihre Füße fühlten sich bleiern an. Auf der Mitte des Holloway schien sich der Boden zu neigen, und sie schwankte und suchte Halt.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte eine Stimme, und eine Hand ergriff ihren Arm. »Sie haben bestimmt den ganzen Tag noch nichts gegessen? Ich glaube, dieser Schnitt sollte genäht werden. Wo wohnen Sie? Kommen Sie. Setzen Sie sich hierher.« Frances ließ sich von ihm führen. Plötzlich schien alles Geschehen ganz weit von ihr abzurücken. Als sie die Augen schloss, drehte sich die Welt, und Davys blasses Gesicht erschien, genauso wie sie es zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hörte sein Murmeln: »Bei dir bleiben.« Sie hätte ihn bei sich behalten sollen, doch sie hatte ihn verlassen, und jetzt konnte sie nur hoffen, dass er sich tatsächlich verlaufen hatte. Dass er bei irgendwelchen Fremden untergekommen war oder allein umherlief. Im letzten Jahr hatte sie ihm seine erste Geburtstagsfeier ausgerichtet, mit einem Victoria-Biskuitkuchen mit Marmelade in der Mitte, dazu Limonade und ein Jo-Jo als Geschenk. Er war überrascht gewesen, erfreut, auch wenn sie ihm nicht ganz verständlich machen konnte, wofür das alles war. In ungefähr sechs Wochen wäre er sieben geworden, und sie hatte ihm eine Steinschleuder schenken wollen, damit er sich gegen die Schikane seiner Klassenkameraden zur Wehr setzen konnte. Der Gedanke, dass er womöglich nur einen einzigen Geburtstag in seinem Leben gefeiert hatte, verursachte ihr unerwartet körperliche Schmerzen.

Susan Elliot schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, der daraufhin auf den wackeligen Beinen erbebte. Eine Teetasse klirrte. Frances blickte unglücklich zu ihr hoch.

»Haben wir Aspirin?«, fragte sie. »Mir platzt der Schädel.«

»Was soll das heißen, du kommst nicht mit? Natürlich kommst du mit. Es wird bald dunkel, und sie kommen zurück! Du gehst jetzt auf der Stelle nach oben und packst ein paar Sachen zusammen. Dann machen wir uns auf den Weg.« Susan atmete hörbar durch die Nase ein und beobachtete die Reaktion ihrer Tochter. Frances seufzte und stand auf. Sie war größer und kräftiger als ihre Mutter. Sie sahen sich kein bisschen ähnlich. Susans Haare und Nägel waren stets gepflegt, niemals verließ sie das Haus ohne Lippenstift. »Jetzt mach schon, Frances«, drängte sie.

»Ich kann doch nicht einfach abhauen, solange Davy ganz allein irgendwo da draußen herumirrt.«

»Du weißt doch überhaupt nicht, ob er irgendwo dort draußen herumläuft. Er ist … wahrscheinlich ist er tot, Frances. So ist es nun einmal. So viele Menschen sind gestorben!«

»Aber er ist nicht tot! Ich meine … die Chancen stehen gut, dass er noch lebt. Und wahrscheinlich hat er sich irgendwo verlaufen. Er wird versuchen, nach Hause zu kommen, und mich suchen.«

»Ich weiß, dass du dir das wünschst, Frances, aber er ist weg. Und er ist auch nicht dein Kind! Dies ist nicht sein Zuhause.«

»Was spielt das denn für eine Rolle, Mum? Ich sollte auf ihn aufpassen! Und wenn ich das getan hätte, wäre er jetzt auch nicht weg. Ich habe Carys versprochen, dass ich ihn finde.«

»Nun, vielleicht hättest du das nicht tun sollen. Und um ihn mache ich mir keine Sorgen, Frances, aber um dich. Du warst kaum ansprechbar, als diese netten Leute dich gerade zurückgebracht haben! Jetzt geh nach oben und hol deine Sachen. Ich habe die Briefe von deinem Bruder und die anderen Papiere eingepackt. Du brauchst nur Kleidung, deine Haarbürste und so etwas. Und bestimmt willst du ein Buch mitnehmen.« Susan stand auf, schob die Stühle dicht an den Tisch heran und vermied es, ihrer Tochter in die Augen zu sehen.

»Mum, bitte. Ich kann nicht gehen.«

Frances dachte an die Bomben und den Irrsinn der letzten Nacht, an das Feuer und den ohrenbetäubenden Lärm. Der Gedanke, dass all das wiederkehren sollte, war beängstigend. Die bevorstehende Nacht rückte wie in einem bösen Kindertraum bedrohlich näher, und sie verspürte den starken Drang, sich in Sicherheit zu bringen. Aber sie wusste genau, dass sie sich dann nicht mehr im Spiegel ansehen könnte. Sie stand auf und trat an den Fuß der Treppe, wo Teile der Treppenhausdecke lagen – Putz, Staub und gesplitterte Holzlatten. »Ich packe meine Sachen und bleibe heute Nacht bei Pam«, erklärte sie. »Dann kann ich weiter an den Plätzen nachsehen, an denen Davy sein könnte. Sobald ich ihn gefunden habe, komme ich nach South Stoke.« Aus der Küche schlug ihr laut das Schweigen ihrer Mutter entgegen.

Als Frances später das Haus verließ, blieb sie einen Moment auf dem oberen Absatz der Vordertreppe stehen. Ein Menschenstrom lief schweigend den Holloway hinauf. Sie trugen ihre Kinder auf den Hüften und schleppten Koffer, Kleiderbündel und Decken mit sich. Einige kämpften sich mit vollgepackten Kinderwagen und Handkarren den Hügel hinauf. Alt und Jung, Männer und Frauen mit traurigen Gesichtern und ungekämmtem Haar. Eine seltsam stille Prozession der Ängstlichen und Vertriebenen marschierte aus der Stadt hinaus. Es war ein gruseliger Anblick, und als Frances den Holloway hinunterlief, war sie die Einzige, die sich gegen den Strom bewegte. Auf der Calton Road kam sie an einem riesigen Bombenkrater vorbei, in dem eine Gruppe Menschen einen behelfsmäßigen Sonntagsbraten zubereitete. Ihre ausgelassene Fröhlichkeit kam Frances irgendwie absurd vor. Zwei Frauen schnitten Kartoffeln in eine Pfanne über einer Feuerschale, eine alte Frau drehte ein verkohltes Kaninchen auf einem improvisierten Spieß, während die Kinder die Trümmer untersuchten. Ein Wagen der Heilsarmee verteilte Becher mit heißem Tee, und alle standen zaghaft lächelnd zwischen den kniehohen Trümmern ihrer Häuser.

»Die Deutschen kriegen uns nicht klein«, erklärte ein Mann einem Reporter. »Hitler muss lernen, dass wir hier in Bath aus härterem Holz geschnitzt sind.« In seinen Mundwinkeln hing eine Kruste aus getrocknetem Speichel und Asche, und sein Blick irrte nervös umher. Frances fragte sich, was wohl passierte, wenn all die Angst und das seltsame Hochgefühl vergingen, wenn auf die Menschen, die all ihren Besitz verloren hatten, nur ein weiterer anstrengender Tag wartete. Wie sollte jemals wieder Normalität einkehren?

Pam wohnte in einem Haus namens Woodlands, das oberhalb der Alexandra Road in den Fels des Beechen Cliffs geschlagen war. Es führte keine Straße dorthin, nur eine steile von Moos und Glockenblumen überwucherte Steintreppe. Im Norden blickte man auf das qualmende Bath. Die geschwärzten Mauern der St. Andrew’s Church, die über eine Meile entfernt in der Julian Road lag, waren deutlich zu erkennen. Woodlands war ein allein stehendes Haus und geräumiger als die meisten anderen Häuser. Es hatte einen steilen, terrassenförmig angelegten Vorgarten mit hoch aufragenden Sonnenblumen, in dem Pam Gemüse zog. Seit ihre Freundin Cecily 1930 am Neujahrstag gestorben war, lebte Pam allein dort. Cecily war an jenem Morgen einfach nicht mehr aufgewacht, lag kalt und friedlich auf ihrem Kissen, daneben die von Kummer überwältigte Pam. Woodlands hatte Cecily gehört, und jetzt gehörte es Pam. Bislang war ihr niemand begegnet, mit dem sie es noch einmal hätte teilen wollen. Mit dem wenigen Geld, das Cecily ihr hinterlassen hatte, und dem, was sie mit ihren vier Wochenschichten bei Woolworth’s verdiente, kam sie über die Runden. Dort verkaufte sie Goldfische, Bonbons und Haarnadeln an die Schulmädchen von Bath.

Im Woodlands-Haus standen auf allen Fensterbänken Pflanzen – Usambaraveilchen, wächserne Begonien und fröhliche Geranien. Zwischen den Töpfen lagen vereinzelt tote Fliegen. Die Holztäfelung war in Grün- und Grautönen gestrichen. Frances folgte Hunds klackenden Krallen über das Wohnzimmerparkett in die Küche. Diesen Raum mit den Steinfliesen hatte sie immer geliebt: das tiefe Spülbecken mit dem tropfenden Messingwasserhahn, den Kohleherd und die Wandlampen mit den Schirmen aus gewelltem Glas. Im Laufe der Jahre hatte Frances schon bei unzähligen Tassen Tee an dem zerschrammten Holztisch gesessen und sich mit Pams Selbstgebackenem den Bauch vollgeschlagen. Rosinenbrötchen, Kokosmakronen oder Käse-Scones, immer mit richtiger Butter anstelle von Margarine gebacken – nur jetzt im Krieg natürlich nicht mehr. Oft hatte Wyn sie begleitet und war jedes Mal von ehrfürchtiger Freude ergriffen. Wyn war immer hungrig gewesen. An einem Sommertag hatte sie sich dort buchstäblich überfressen – der Rhabarber stand hoch, und im Schmetterlingsbaum wimmelte es von roten Admiralen, während Wyn sich im Abort übergab.

Pam war draußen in dem kleinen Garten und kämpfte mit einem der hohen Pfähle, zwischen denen ihre Radioantenne befestigt war. Er war zur Seite gesackt, und Frances ließ ihre Tasche an der Tür fallen, um ihr zu helfen.

»Ich bekomme dieses Mistding nicht tief genug in die Erde«, murmelte Pam.

»Lass mich mal versuchen.« Frances nahm den Pfahl, stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf und merkte, wie er einsank.

»So geht’s, gut gemacht.«

»Ich möchte bei dir bleiben, Pam. Geht das?«

»Natürlich. Hat deine Mum sich immer noch nicht beruhigt?«, erkundigte sich Pam. Frances schüttelte den Kopf und klopfte sich die Hände ab. »Na ja, es ist schwer für sie, aber ich nehme es dir nicht übel, dass du bleiben willst. Komm, stellen wir den Kessel auf. Ich hatte schon länger keinen Gast mehr, aber ich weiß noch, dass man seinem Besuch als Erstes einen Tee serviert.«

Als sie sich mit dem Tee auf die vordere Terrasse setzten, ging allmählich die Sonne unter und schien golden durch den langsam abziehenden Rauch. Hoch über ihnen leuchtete der grünblaue Himmel. Frances starrte auf die verwinkelten Straßen hinunter. Es war unmöglich, eine bestimmte Straße im Auge zu behalten, es waren einfach zu viele. Zu viele Gebäude auf zu vielen verschiedenen Ebenen. Wie sollte sie dort drin jemals einen kleinen Jungen finden? Wo sollte sie überhaupt anfangen? In nur wenigen Stunden brauchte er sein Phenobarbital, und sie hatte keine Ahnung, wie schnell die Wirkung nachließ, wenn er es einmal nicht nahm. Sie war unruhig und wollte unbedingt etwas unternehmen. Carys hatte sie fortgeschickt, bevor sie über eine organisierte Suche sprechen konnten, doch vermutlich suchten auch sie nach ihm. Carys, Mrs. Hughes und der junge Fred. Sicher waren sie genauso verzweifelt wie sie.

»Meinst du, die kommen wieder? Die Bomber, meine ich«, fragte Frances. Achselzuckend wandte Pam ihr Gesicht gen Himmel, und das Abendlicht ließ ihre Züge weicher wirken.