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Oman 1958: Voller Erwartungen bricht die britische Archäologin Joan Seabrook mit ihrem Verlobten Rory in die arabische Welt auf. Endlich wird sie ihr großes Idol, die betagte Entdeckerin Maude Vickery, treffen. Doch die Ankunft ist ernüchternd: Das Land befindet sich im Krieg, Maude reagiert abweisend und auch Rory zieht sich zunehmend von Joan zurück. Erst der britische Kommandant Charles Elliot nimmt sich ihrer an und legt ihr die prächtige Welt des Orients zu Füßen. Bis sie ein folgenschweres Versprechen gibt. Ein Versprechen, das Joan mitten hineinzieht in die gefährlichen Geheimnisse der Wüste …
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Seitenzahl: 767
Zum Buch
»Irgendetwas ist mit mir geschehen«, sagte Maude leise. »Draußen in der Wüste. Ich habe einen Teil von mir verloren. Vielleicht könnte ich ihn wiederfinden, wenn ich noch einmal dorthin ginge. Aber nein, ich kann nicht dorthin zurück, nicht jetzt. Nie wieder … Ob ich Sie vielleicht bitten dürfte, mir einen Gefallen zu tun, Joan? Aber es muss streng geheim bleiben, sie dürfen nicht einmal ihrem Verlobten davon erzählen.«
Das Geheimnis einer großen unerwiderten Liebe, die ein Verrat zerstörte. Mehr als ein halbes Jahrhundert vergeht, bis eine junge Frau das gebrochene Herz rächen soll.
Zur Autorin
Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Nach dem großen internationalen Bestseller Das geheime Vermächtnis folgten zahlreiche Romane, die in England und Italien spielen. Die Autorin wählt für Das Versprechen der Wüste erstmalig einen Schauplatz, der die Leser in den arabischen Oman entführt. Sie lebt in der Nähe von Bath, England.
KATHERINE
WEBB
Das Versprechen
der Wüste
ROMAN
Aus dem Englischen von
Babette Schröder und Katharina Volk
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Copyright © 2016 by Katherine Webb
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The English Girl bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd., London
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotive: © Michel Piccaya/trevillion; Pakhnyushchy; Yongcharoen_kittiyaporn; Philip Lange; Richard Yoshida; Iwanami Photos; MrLis; Peter Turner Photography; Thai Chaba/Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-20031-2 V003
www.diana-verlag.de
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BEDFORD, ENGLAND, OKTOBER 1939
Nach Onkel Godfreys Besuch kam Joans Vater ihr sechs Tage lang wie ein Flickwerk vor. Diese Bezeichnung hatte sich Joan ausgedacht, weil er sie dann immer an ihre Flickenpuppe erinnerte – es fehlte hier und da etwas Füllung, und die Augen waren gestickte Kreuze. Jetzt plapperte Daniel ihr das nach, obwohl er erst fünf war und das alles nicht so richtig verstand. Joan ehrlicherweise auch nicht ganz, und sie war schon sieben. Normalerweise war ihr Dad eine Art verschwommener Fleck: Er war ständig in Bewegung oder machte irgendwo Lärm, sang oder hielt laute Reden, jonglierte mit Äpfeln oder führte auf den gesprungenen braunen Küchenfliesen einen Stepptanz auf. Aber als Flickwerk war er ganz still – beinahe stumm – und bewegte sich, als hätte er vergessen, wohin er wollte. Seine Schultern hingen herab, sein Gesicht erschlaffte, er badete und rasierte sich nicht mehr und trug eine Woche lang denselben Pullover. Das geschah nicht oft, und Joan fand es schrecklich. Es fühlte sich an, als ginge die Welt unter.
Joans Vater David war ein kleiner, schmächtiger Mann. Er hatte ein langes, schmales Gesicht mit hellblauen Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille. Vom vielen Lächeln hatten sich tiefe Falten in seine Wangen gegraben, und er kämmte sich das mausbraune Haar immer mit Pomade zurück. Er roch nach Tabak, Rasierseife und dem Menthol für seine Brust. Godfrey, sein älterer Bruder, war groß und scharfkantig. Er fuhr im größten Wagen vor, den Joan je gesehen hatte, so grau und glänzend glatt wie nasse Pinguine im Zoo. In einem dunklen Anzug kam er herein, nahm den Hut nicht ab, musterte ihren engen Hausflur mit einem kurzen, empörten Blick und lächelte die Kinder auf eine Art an, die sie vor Schüchternheit verstummen ließ.
»Du bist selbst schuld daran, dass sie dich nicht sehen wollen, das weißt du doch«, hörte Joan Onkel Godfrey zu ihrem Vater sagen. Sie wusste, dass sie nicht lauschen durfte, aber in ihrem kleinen Haus mit den dünnen Wänden war das gar nicht so einfach. »Himmel, wenn sie wüssten, dass ich bei dir war … Du bist selbst schuld daran, dass sie nichts von dir wissen wollen, David.«
»Warum kommst du überhaupt, Godfrey?«, fragte David, und seine Stimme klang schon ein bisschen nach einem Flickwerk. Joan hatte einmal gehört, wie ihre Mutter Mrs. Banks von nebenan erzählt hatte, dass Davids Familie reicher sei als Krösus. Sie hatte keine Ahnung, wie reich das sein könnte.
Joans Eltern waren nicht reich – reiche Leute wohnten in Schlössern und besaßen Autos wie das von Onkel Godfrey, statt mit dem Bus zu fahren. Joan war nur ein kleines bisschen neugierig, wie das wohl wäre. Ihr Vater leitete das Kino namens Rex Theatre, mit muffigen Vorhängen und Samtkordeln vor der Leinwand. Oft durften sie und ihr Bruder sich dort Filme ansehen und saßen dabei in dem winzigen Projektionsraum auf seinen Knien. Hinterher erzählte er ihnen fantastische Geschichten über die Orte, die sie im Film gesehen hatten – über die vielen verschiedenen Länder und Städte und Völker der Welt. Joan fand das Rex Theatre viel wichtiger als irgendeinen Wagen oder ein Schloss. Alle ihre Mitschülerinnen beneideten sie darum.
»Du kannst sowieso nicht zum Militär gehen«, sagte Mum nach Godfreys Besuch zu Dad, ohne vom Kartoffelschälen aufzublicken. Die Wörter klangen abgehackt, und es folgte eine spannungsgeladene Pause. »Nicht mit deiner Lunge. Und deinen Augen«, fügte sie hinzu. David saß hinter ihr am Küchentisch, putzte mit dem Taschentuch seine Brille und sagte nichts.
Mums Lösung, wenn Dad zu einem Flickwerk wurde, bestand darin, ihn zu füttern. Ihre Mahlzeiten wurden so reichlich und aufwendig, sie brachte alles auf den Tisch, was sie im Laden bekommen konnte. Zum Tee gab es bunte, merkwürdige Kuchen – wie diesen komisch matschigen, der mit Mandarinenscheibchen aus einer gewaltigen Dose belegt war und aussah wie ein Riesengoldfisch-Filet. Doch das Essen bewirkte nicht viel, außer dass Dad einen dicken Bauch bekam. Als Joan und Daniel ihn am Abend um eine Gutenachtgeschichte baten, lächelte er nur schwach und schüttelte den Kopf.
»Geht und bittet eure Mutter, euch eine vorzulesen, meine Schätzchen. Euer Dad ist heute Abend ein bisschen müde.« Aber seine Geschichten waren meistens viel besser. Er erweckte sie zum Leben – er hatte hundert Stimmen, Gesichter und Gesten. Er konnte ein uraltes Weib sein, ein hinterlistiger Dieb oder eine winzige Fee. Joan fragte sich, ob es diesmal der Krieg war. Kurz vor Godfreys Besuch hatte England Deutschland den Krieg erklärt. Joan wusste, was Krieg war, theoretisch, aber sie hatte keine Ahnung, wie so ein Krieg aussah und was er bedeutete. Ein paar Tage lang machte sie sich große Sorgen, weil ihre Lehrerin Miss Keighley in Tränen ausgebrochen war, während sie die Anwesenheit kontrolliert hatte. Doch bald stellte sich heraus, dass »sich im Krieg befinden« offenbar nicht so viel anders sein würde als sonst.
»Das wird schon gut gehen, Daddy«, sagte sie zu ihm. Sie meinte damit den Krieg, aber sein Lächeln erlosch, und er antwortete nicht. Joan verstand überhaupt nichts mehr.
Am sechsten Tag fiel ihr endlich ein, was sie tun konnte. Tausendundeine Nacht. Das war ihr Glücksbringer, ihre Geheimwaffe, denn es war das Lieblingsbuch ihres Vaters, und ihres auch. Sie ging mit dem Buch zu ihm und bat ihn um eine Geschichte, fest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. Sie kletterte auf seinen Schoß, sodass er nicht über sie hinwegschauen konnte. Als er sie ansah, schien sein Blick von ganz weit weg zu kommen. Sie drückte ihm das Buch in die Hand und spürte die Bedeutung dieses Augenblicks als körperliche Anspannung. Daniel kam ihr nachgetapst, seine Kuscheldecke unter einen Arm geklemmt und den Daumen im Mund.
»Bitte lies uns eine Geschichte vor. Bitte?« Sie starrte in das Gesicht ihres Dads, auf seine stoppeligen Wangen und die dunklen Ringe um seine Augen. »Bitte?«, wiederholte sie. Ihr Vater holte tief Luft, beugte sich dann vor und hob Daniel hoch auf sein anderes Knie.
»Na gut, ihr Rangen«, sagte er leise. Joan wurde ein bisschen schwindelig vor Erleichterung.
Daniel rollte sich unter Dads Arm zusammen. Seine Augen waren schon glasig vor Müdigkeit, und er lauschte eher der Stimme seines Vaters, als der Geschichte zu folgen. Joan jedoch hing an seinen Lippen. Es war nicht so wichtig, welche Geschichte er aussuchte, aber er nahm Ali Baba, und während er las, fragte Joan immer wieder nach den Orten, und wie es dort war, obwohl sie die Antworten schon kannte. Doch mit jeder Beschreibung wurde ihr Vater noch ein bisschen besser.
»Ach, weißt du das etwa nicht, Joanie? Arabien fließt nur so über vor Zauberei! Wie sonst könnte jemand in solch einer Wüste überleben? Arabien ist ein Meer aus Sand, das größte auf der ganzen Welt. Die Wüste erstreckt sich Hunderte von Meilen in alle Richtungen, kannst du dir das vorstellen? Hügel und Täler aus knochentrockenem, goldenem Sand.«
»Und da gibt es gar nichts außer Sand?«, fragte sie.
»Na, was meinst du, warum die Menschen, die dort leben, sie ›das Leere Viertel‹ nennen?«
»Aber wie leben die Menschen dort? Was essen sie?«
»Zauberei! Das habe ich dir doch gesagt. Dort leben auch Dschinns, und die helfen den Menschen. Dschinns können Sand in Gold verwandeln oder in Wasser oder Essen, oder was immer du willst. Es ist also sehr wichtig, einen von ihnen auf deiner Seite zu haben. Aber du musst aufpassen, sie sind listig und versuchen stets, einen guten Handel herauszuschlagen.«
»Was für einen Handel, Dad?«
»Nun, als ich dort war, habe ich einen Dschinn namens Derwisch kennengelernt, und der …«
Je mehr ihr Dad vorlas und je mehr Fragen Joan ihm stellte, desto weniger war er ein Flickwerk. Glück rieselte durch ihren ganzen Körper. Morgen früh würde er nicht mehr nach ungewaschenem Pullover und schal gewordenem Tee riechen, das wusste sie, sondern nach Rasierseife und Menthol. Er würde wieder er selbst sein, ein verschwommener Fleck, der sich schnell bewegte – nicht so still und verloren. Joan war vollkommen überzeugt davon, dass ihr Dad ein Zauberer war, Tausendundeine Nacht ein magisches Buch und Arabien ein verzaubertes Land. Und sie wusste, dass ihr Dad sie eines Tages mit dorthin nehmen würde.
MASKAT, NOVEMBER 1958
Bereit?« Rory hob die Hand und rückte Joans Hut zurecht, was gar nicht nötig gewesen wäre. »Du siehst sehr hübsch aus. Sehr adrett«, sagte er. Joan war so mit dem Bevorstehenden beschäftigt, dass sie vergaß, sich zu bedanken. Sie holte nur tief Luft und nickte. Die Luft war heiß und trocken, und der salzige Hauch des nahen Meeres, den sie darin schmeckte, erschien ihr widersprüchlich. Er war auch kein bisschen erfrischend. Die langen Ärmel ihrer Bluse und die lange Hose, die sie unter ihrem Rock tragen musste, waren unbequem bei der Hitze, und sie bemühte sich, nicht ständig an sich herumzuzupfen.
»So bereit, wie ich je sein werde, denke ich. Bitte geh jetzt – sie wollte, dass ich allein komme. Sie soll nicht sehen, dass du mich hierher begleitet hast.«
»Aber ich musste dich begleiten – wir sind hier nicht in Bedford. Das habe ich übrigens gern getan.«
»Entschuldige, Rory. Danke dir. Ich bin nur …« Die Hand, die sie auf seinen Arm legte, zitterte leicht. Joan zuckte mit einer Schulter.
»Ich weiß. Ich weiß, wie viel dir das hier bedeutet. Ich hoffe nur, du … Ach, schon gut. Ich hoffe, es entspricht deinen Erwartungen. Sie entspricht deinen Erwartungen.« Sie unterhielten sich leise, denn abgesehen von ihnen war die schmale Straße leer, und die Schatten zwischen den Gebäuden wirkten wie gestrenge Bibliothekarinnen.
Die Sonne fiel von hinten auf Rory, sodass er eher als Silhouette vor ihr stand, eine dunkle, undeutliche Version seiner selbst. Er hatte ein rundes Gesicht – ein Teddybärengesicht, hatte Joan stets bei sich gedacht – mit weichen Wangen, braunen Augen, einem leichten Schmollmund und dunklen Locken, die ihren eigenen ganz ähnlich waren. Doch von der Hitze und mehreren schlaflosen Nächten hatte er Tränensäcke unter den Augen und einen wächsernen Teint. Er sah kaum mehr aus wie er selbst. Nervös blickte Joan mit zusammengekniffenen Augen zu einem uralten Wachturm auf, der sich auf den Felsen über ihnen schroff vom blendend blauen Himmel abhob. Sie standen vor einem bescheidenen Lehmziegelhaus in Harat al-Henna, einem Viertel außerhalb der Mauern von Maskat in der Nähe des Haupttors. Bei Sonnenuntergang wurde in einer der alten Festungen am Hafen eine antike Kanone abgefeuert, worauf man die Stadttore schloss und dieses Viertel für die Nacht aussperrte. Danach wurde man nur noch mit einer offiziellen Genehmigung in die Stadt gelassen.
»Natürlich wird sie meinen Erwartungen entsprechen«, entgegnete Joan lächelnd.
»Ja, aber unseren Helden leibhaftig zu begegnen kann manchmal … enttäuschend sein. Wenn man feststellt, dass sie eben doch nur Menschen sind, meine ich.«
»Unsinn – nicht eine so bemerkenswerte Person. Außerdem habe ich alles gelesen, was sie je geschrieben hat. Ich habe das Gefühl, sie schon gut zu kennen.«
»Na dann. Hast du Streichhölzer für deine Lampe, für den Rückweg?«
»Ich habe wirklich alles, was ich brauche, Rory.« Auf einmal konnte sie es kaum erwarten, dass er endlich ging. Sie wollte diesen Augenblick ganz für sich haben und brauchte Zeit und Ruhe, um ihn auf sich wirken zu lassen. Außerdem war er so Zeuge ihrer Nervosität, und das konnte sie nicht gebrauchen – davon wurde sie nur noch nervöser.
»Also gut. Viel Glück. Lass dich nicht aussperren, hörst du?« Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, doch Joan wich zurück.
»Nicht doch, Rory – nicht vor den Arabern, denk daran«, sagte sie.
Joan wartete, bis seine Schritte vollständig verklungen waren. Dann holte sie tief Luft und wandte sich der bescheidenen Tür zu. Sie bestand aus uraltem Akazienholz, von der Sonne Arabiens ausgedörrt und wie zu Stein gehärtet, wie alle Haustüren hier. Die Lehmziegelwände waren einmal weiß getüncht gewesen. Jetzt trugen sie ein Muster aus vielen kleinen Rissen, wie die Adern eines Blattes, durch die der bröselnde Putz zu sehen war. Das Haus war nur zwei Stockwerke hoch und hatte ein Flachdach. Die Fensterläden gen Osten waren geschlossen. Es schmiegte sich mit der Rückseite an den Fuß des Berges – eine Hintertür konnte es gar nicht haben. Die rostbraunen Felsen ragten ringsum auf wie grobe Hände, die Maskat vorsichtig zu halten schienen. Wo sie auch hinsah, nichts als Stein, Fels und harte Sonne, harte Schatten – nirgends etwas Weiches. Eine ganze Minute verging, und Joan schalt sich einen Feigling, weil sie hier herumstand, die Umgebung betrachtete und den Moment vor sich herschob, auf den sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie schließlich anklopfte.
Beinahe sofort wurde die Tür von einem großen schwarzen Mann geöffnet. Er trug eine Dischdascha – das lange weite Gewand der Omaner – mit dem traditionellen Dolch, dem Khanjar, im Gürtel. Er hatte eingesunkene Wangen und schwarze Augen, sogar das Weiß um die Iris war braun verfärbt, wie Milchkaffee. Sein Bart war weiß, ebenso die wenigen Haarbüschel, die unter seinem gewickelten und geknoteten Turban hervorlugten. Sein Alter konnte Joan nicht einmal erraten – sein Gesicht wirkte uralt, doch er hielt sich aufrecht und gerade. So still und ernst wie ein Golem blickte er auf sie herab, dass es ihr die Sprache verschlug. Die Hände des Mannes hingen locker herab, und Joan fiel auf, wie riesig sie waren, mit langen Fingern wie Spinnenbeine. Schließlich ergriff er das Wort.
»Sie sind Joan Seabrook.« Seine Stimme klang überraschend grell.
»Ja«, antwortete sie und errötete verlegen. »Ich bin Joan Seabrook«, wiederholte sie überflüssigerweise. »Bin ich hier richtig bei Maude Vickery? Sie erwartet mich.«
»Sie erwartet Sie, sonst hätte ich Ihnen die Tür nicht aufgemacht«, entgegnete der alte Mann und verzog die faltigen Lippen zu einem schwachen Lächeln. Sein Englisch war beinahe akzentfrei, und er sprach jedes einzelne Wort sehr sorgfältig aus, so perfekt wie geschliffener und polierter Stein. »Gehen Sie bitte hinauf. Madam wartet schon auf Sie.« Er trat zurück, um sie einzulassen, und Joan ging an ihm vorbei.
Im Haus stank es wie in einem Stall. Ehe sie sich beherrschen konnte, hatte sich Joan eine Hand vor Mund und Nase geschlagen. Der Gestank war zum Ersticken – nicht schlimmer als die Ställe zu Hause, aber so unerwartet. Die Tür schloss sich hinter ihr, und in der plötzlichen Dunkelheit konnte sie kaum mehr etwas sehen. Hinter sich glaubte sie ein trockenes, japsendes Kichern von dem alten Mann zu hören. Sie blickte sich nach ihm um, doch sein Gesicht war in Dunkelheit gehüllt. Er bewegte sich nicht und sagte auch nichts, und sie konnte nur den Schimmer seiner wachsamen Augen erkennen. Verwirrt und ungeschickt ging Joan über den Hausflur zum Fuß einer steinernen Treppe und stieg hinauf.
Auf halbem Weg nach oben wechselte die Treppe die Richtung. Nun fiel durch ein offenes Fenster Licht herein und enthüllte eine Kruste Dung auf dem Boden, kleine Köttel wie von einem Schaf oder einer Ziege, und ein wenig Heu. Joan runzelte verwundert die Stirn. Oben angekommen, blieb sie auf dem kleinen Flur stehen, von dem nur zwei Zimmer abgingen. Gleich darauf rief eine Stimme aus dem Raum rechts von ihr:
»Drücken Sie sich nicht da herum, wer immer Sie auch sind. Ich bin hier drin. Sie müssen mir nachsehen, dass ich Ihnen nicht entgegenkomme – das kann ich nun mal nicht.« In der harten Stimme lag ein scharfer, nörgelnder Tonfall. Der Akzent war der ihrer eigenen Grafschaft in Reinform, und Joans Herz schlug wieder schneller. Sie musste lächeln und hätte sogar beinahe laut aufgelacht. Sie folgte der Stimme in einen quadratischen Raum mit weißen Wänden und tief hinabgezogenen Bogenfenstern, die nach vorn hinausgingen und mit hölzernen Läden verschlossen waren. Nur ein Fenster, durch das man auf die steilen Felsen im Süden schaute, war offen und ließ sanftes Licht herein. Am Fußende eines schmalen Bettes lehnte ein antikes schwarzes Fahrrad. Das Bett war sehr ordentlich gemacht, die verblassten Laken fest unter die Matratze geschlagen. Zu beiden Seiten des Bettes ragten große Palmen in Kübeln auf, und auf dem Boden stand eine kunstvoll aus Metall gearbeitete Laterne. Joan sah einen aufgeräumten Schreibtisch und ein langes Bücherregal, dessen oberste Fächer leer waren. Sämtliche Bücher waren bis zu einer Höhe von gut einem Meter eingeräumt, und weitere stapelten sich auf dem Boden. Auf einem fadenscheinigen Teppich mitten im Raum standen zwei Holzstühle einem Chesterfield-Sofa gegenüber, neben dem ein hoher Stapel arabischer und englischer Zeitungen und Zeitschriften abgerutscht war und sich über den Boden verteilt hatte.
Zwei sandfarbene Salukis schliefen in einem Nest aus Decken an der gegenüberliegenden Wand. Die Persischen Windhunde waren so eng aneinandergekuschelt, dass Beine, Ohren und Ruten keinem von beiden zuzuordnen waren. Einer öffnete ein bernsteinfarbenes Auge und beobachtete Joan, und einen Moment lang war das sanfte Schnarchen des anderen Hundes das einzige Geräusch im Raum. Der leichte Geruch nach Hund ging im allgemeinen Gestank unter. Eine mit Intarsien versehene Truhe diente als Couchtisch, und im Rollstuhl daneben – einem altmodischen Rattanmodell – saß Maude Villette Vickery. Joan bemühte sich, sie nicht anzustarren. Sie hatte sich diese Person so oft vorgestellt, dass es ihr beinahe unwahrscheinlich vorkam, diesem Menschen nun nicht in ihrer Fantasie, sondern in Wirklichkeit zu begegnen – das war ein beunruhigendes, surreales Gefühl.
Das Erste, was Joan auffiel, war Maudes winzige Gestalt. Sie wirkte fast wie ein Kind. Dünne Knie und Ellbogen zeichneten sich spitz unter einem altmodischen Rock mit hoher Taille und einer Bluse mit Biesen und Stehkragen ab. Ihre Knöchel und Füße, die auf der Fußstütze des Rollstuhls standen, waren zart wie die einer Puppe. Trotz der Hitze trug sie dicke Strümpfe. Ihr glattes, stahlgraues Haar war zu einem strengen Knoten frisiert, und ihr Gesicht war zwar eingefallen und faltig, aber geprägt von kräftigen Wangenknochen. Ein paar Sekunden lang verschwammen ihre Züge zu dem Gesicht, das Joan von Fotos dieser Person als junge Frau kannte – klare, blaugraue Augen mit durchdringendem Blick, hervorstechende Adlernase. Joan hielt Abstand, um nicht auf ihre Gastgeberin herabschauen zu müssen. »Kommen Sie näher, ich beiße nicht«, sagte Maude. Gehorsam trat Joan vor. Ihre Füße wirbelten kleine Staubwolken vom Teppich auf. Maude blickte streng zu ihr auf. »Du meine Güte, sind Sie aber groß! Oder vielleicht auch nicht. Mir kommt jeder groß vor. Abdullah!«, rief sie unvermittelt, sodass Joan zusammenzuckte. Maude beugte sich in Richtung der offenen Tür vor. »Tee, Abdullah!«, fügte sie hinzu, obwohl keine Antwort zu hören gewesen war.
Mit einem vagen Schulterzucken wandte sie sich wieder Joan zu. »Ich weiß, dass er mich hören kann. Hat Ohren wie eine Fledermaus, dieser alte Mann«, sagte sie. Eine Pause entstand.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Vickery«, sagte Joan. »Das ist ja so aufregend. Ich habe alles von Ihnen gelesen, schon seit …« Sie verstummte, als eine Gazelle vom Flur hereingetrippelt kam. Joan starrte sie an. Das Tier hielt inne und betrachtete sie mit großen, feuchten Augen, umringt von kräftigen schwarzen und weißen Streifen wie übertriebenes Make-up. Dann schnaubte es leise, trippelte weiter zu Maude und schnupperte an ihren Fingern. Maude lächelte.
»Du gefräßiges Vieh. Du bekommst deine Datteln, wenn wir unsere essen – wenn Abdullah sie bringt, vorher gibt es nichts«, sagte sie.
»Sie haben eine Gazelle«, bemerkte Joan.
»Ja, allerdings. Ich habe sie im Suk gefunden – sie sollte geschlachtet werden. Abdullah wollte sie braten, aber sehen Sie sich dieses göttliche Gesicht an. Wer könnte da widerstehen? Und diese lächerlich großen Ohren. Sie war so ein jämmerliches Ding, dass ich es nicht über mich gebracht hätte, sie zu essen.« Sie blickte ein wenig kläglich zu Joan auf. »Schwach, ich weiß.«
»Ich dachte, Frauen dürften den Suk nicht betreten?«, fragte Joan, die nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
»Dürfen sie auch nicht«, stimmte Maude zu und rieb den Haarwirbel zwischen den Augen der Gazelle, ohne nähere Erklärung. Das goldbraune Fell des Tiers sah seidig weich aus.
»Nun, das erklärt zumindest die …« Joan unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Maude blickte rasch zu ihr auf.
»Den Dreck? Ja. Und es stinkt hier, nicht wahr? Ich muss mich entschuldigen. Ich bin so daran gewöhnt, dass ich es nicht einmal mehr wahrnehme. In diesem Zimmer herrsche noch immer ich, aber über den Rest des Hauses habe ich so gut wie keine Kontrolle. Ich werde mit Abdullah sprechen.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Vickery, ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte Joan. Maude winkte mit ihrer winzigen Hand ab.
»Sie und ich, wir werden uns viel besser verstehen, wenn Sie sagen, was Sie denken. Ich habe das immer getan. Es spart ungemein viel Zeit.«
»Jagen die Hunde sie denn nicht?« Mit einem Nicken wies Joan auf die schlafenden Salukis.
»Ach, Unsinn. Sehen Sie sich die beiden doch an! Die haben seit Jahren nichts mehr gejagt. Hatten ihre besten Zeiten schon hinter sich, als ich sie von bin Himyar geschenkt bekommen habe, diesem schlauen alten Mann. Dem Herrn vom Grünen Berg. Wenn das nicht mal ein zweifelhaftes Kompliment ist! Früher hatte ich auch eine Oryxantilope, wissen Sie. Ein persönliches Geschenk von Sultan Taimur bin Faisal, nachdem ich bedauernd angemerkt hatte, dass es mir auf meinen Reisen nie gelungen war, eine Oryx zu erlegen. Ich glaube, er hat sie mir geschenkt, damit ich sie erschieße, doch es erschien mir reichlich unsportlich, ein Tier zu erschießen, das an einem Pflock angebunden ist. Die war ein ziemlich wildes Ding und musste wirklich draußen bleiben. Diese Hörner! Können tödlich sein. Nun ja, sie ist recht bald entwischt, meine Oryxantilope. Ließ sich nicht wiederfinden, und ich musste dem Sultan vorlügen, ich hätte sie geschossen und gegessen, und sie sei köstlich gewesen. Ich habe mir sogar die da besorgt, um meine Geschichte zu belegen.« Sie zeigte auf zwei dunkle, gerippte Oryxhörner, die als Trophäe an der Wand hingen. »Reine Zeitverschwendung. Wahrscheinlich wusste der Mann nicht einmal mehr, dass er mir das Vieh geschenkt hatte.«
»Ich habe gelesen, dass Sie ein sehr gutes Verhältnis zu Sultan Taimur haben, wie sonst keine Europäerin.«
»Zu seinem Vater auch. Nun ja, wissen Sie«, schwächte Maude ab, »früher vielleicht. Damals war ich ein Novum, verstehen Sie? Und wie alle Männer liebte er neue Spielsachen.«
Schweigend brachte der große, alte Diener ein Tablett mit einer Teekanne aus Zinn, kleinen Gläsern, Zucker und einer Schale Datteln herein. Er beugte sich langsam vor, stellte das Tablett ohne das leiseste Klappern auf der Truhe ab und schenkte unaufgefordert den Tee ein.
»Erinnerst du dich an diese Oryxantilope, die Sultan Taimur mir geschenkt hat, Abdullah?«, fragte Maude.
»Ja, Madam. Ich erinnere mich.«
»Wie habe ich sie genannt? Weißt du das noch?«
»Sie haben sie Snowy genannt, Madam.« Abdullah stellte ein Glas Tee vor sie hin.
»Snowy! Richtig. Wie originell von mir.« Maude seufzte. »Sie hatte das reinste weiße Fell, das man je gesehen hat. Zu Datteln sollte es eigentlich Kaffee geben, ich weiß, aber ich fürchte, ich vertrage das Zeug nicht mehr. Wie war Ihr Name gleich wieder, junge Frau?«
»Ich bin … Joan Seabrook, Miss Vickery.«
»Ach ja, richtig. Sie haben mir all diese Briefe geschrieben. Eine ganze Lawine von Briefen. Danke, Abdullah. Was wohl aus Snowy geworden sein mag? Vielleicht hat er es zurück in die Wüste geschafft, aber das bezweifle ich. Jedenfalls hätte er sich das sicher gewünscht, so wie ich. Wir beide wären in der Wüste besser dran gewesen. Aber was wollen Sie eigentlich, Miss Seabrook?« Auf einmal wirkte Maude erregt, beinahe ärgerlich. Sie strich ihren Rock glatt und faltete dann die Hände. »Ich komme einfach nicht dahinter, trotz all Ihrer Briefe.« Als Abdullah den Raum verließ, spürte Joan kurz seinen Blick. Sie konnte nicht anders, als sich umzudrehen und ihm nachzuschauen. Er bewegte sich mit einer unglaublichen Anmut.
»Na ja, ich …«, sagte sie geistesabwesend.
»Fesselnder Anblick, nicht?«, warf Maude ein und fixierte Joan mit einem durchdringenden Blick.
»Ihr Diener ist in der Tat ein … markant aussehender Mann.«
»Oh, er ist nicht mein Diener, Miss Seabrook. Er ist mein Sklave. Er gehört mir. Ich habe ihn auf einer Auktion ersteigert, in einer Höhle in den Bergen bei Nizwa. Nun, was sagen Sie dazu?«
»Ich hatte gehört, dass es so etwas hier noch gibt«, antwortete Joan vorsichtig. Diese alte, gebrechliche Version ihres Idols, deren Laune und Temperament sie schwer einschätzen konnte, verwirrte sie. Maude lehnte sich mit enttäuschter Miene zurück.
»Nun ja. Wie ich sehe, werde ich mir ein wenig mehr Mühe geben müssen, um Sie zu schockieren, Miss Seabrook.«
»Wenn ich erst Gelegenheit hatte, all das in Ruhe zu reflektieren, werde ich gewiss sehr schockiert sein, Miss Vickery. Jetzt allerdings bin ich noch so schockiert von der Gazelle, dass meine Kapazitäten erschöpft sind.« Eine Pause entstand. Maude musterte sie mit halb zusammengekniffenen Augen und lächelte dann spitzbübisch.
»Ha!«, sagte sie anstelle eines Lachens. »Gutes Mädchen. Sie sind nicht übertrieben höflich, das gefällt mir.«
Joan ließ sich auf dem roten Sofa nieder, an dem Ende, das dem Schreibtisch am nächsten war. Sie tranken ihren Tee mit reichlich Zucker und bitterer Minze und aßen die Datteln. Draußen waren das Klappern von Eselshufen zu hören und das Klatschen nackter Fußsohlen in Ledersandalen. Das Licht wurde milder, und eine Handvoll Fliegen kreiselte summend unter der Decke. Seit Maudes Frage, was Joan eigentlich wollte, war schon zu viel Zeit vergangen, um jetzt noch zu antworten. Joan ließ den Blick durch den Raum schweifen, während sie darauf wartete, dass Maude die Frage wiederholte. Sie kaute langsam eine Dattel. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, doch sie wirkte wieder ruhig, beinahe kühl. Joan betrachtete eine Stiftablage aus Rosenholz auf dem Schreibtisch. Sie war leer bis auf einen Ring – klein, aber massiv gearbeitet, aus gedrehtem Zinn mit einem ungeschliffenen, klumpenförmigen hellblauen Stein.
»Das ist ja ein interessanter Ring«, sagte Joan und beugte sich vor. »Was für ein Stein …«
»Nicht anfassen!«, fauchte Maude laut.
»Nein, nein, ich …« Joan schüttelte den Kopf. Sie hätte nicht danach gegriffen.
»Rühren Sie dieses Ding ja nicht an«, wiederholte die alte Frau. Ihr wütend funkelnder Blick war jedoch nicht auf Joan gerichtet, sondern auf den Ring.
Joan verschränkte die Hände im Schoß und suchte nach einer Möglichkeit, elegant das Thema zu wechseln. Sie wagte es nicht, sich näher nach dem Ring zu erkundigen.
»War dieses Haus auch ein Geschenk von Sultan Taimur, Miss Vickery? Da er Ihnen schon eine Oryx geschenkt hatte?«, fragte sie schließlich. Maude blinzelte mehrmals und antwortete dann, als sei nichts geschehen.
»Natürlich nicht. Ich habe es gekauft – teuer erkauft. Taimurs Vater Faisal hat mir erlaubt, den Rest meines Lebens in Oman zu verbringen, und das war schon sehr großzügig von ihm – ich glaube, ich bin die Einzige. Die einzige Europäerin, die hier lebt, einfach weil es mir gefällt, und nicht aus irgendeinem offiziellen oder unternehmerischen Grund. Der regierende Sultan Said ist Faisals Enkelsohn – jedes Mal, wenn einer von ihnen stirbt, frage ich mich, ob mich sein Nachfolger hinauswerfen wird, aber bisher ist es immer gut gegangen. Dieser Said ist ausgesprochen konservativ, aber er hat auch seine Marotten – etwa diese amerikanischen Missionare. Es ist mir schleierhaft, weshalb er ihnen erlaubt hierzubleiben. Liebe Menschen, aber dumm wie eine Schar Gänse. Die glauben offenbar tatsächlich, sie könnten die Araber zum Christentum bekehren. Aber ihr Krankenhaus ist das einzige im ganzen Land.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Joan. »Bekommen Sie ja keinen Typhus, solange Sie hier draußen sind, Miss Seabrook – oder Tuberkulose. Die Milch steckt voller Tuberkulose-Erreger. Vergewissern Sie sich, dass sie gekocht wurde, ehe Sie etwas davon in Ihren Kaffee geben. Als ich erst die Erlaubnis hatte, in Maskat zu bleiben, war dieses alte Haus alles, was ich kaufen konnte. Die besseren Häuser wurden mir verweigert. Ich glaube, der Gouverneur von Maskat wollte dafür sorgen, dass ich auf diese Weise in die Schranken verwiesen werde, verstehen Sie? Haben Sie ihn schon kennengelernt? Sayid Schahab? Furchterregender Bursche, praktisch autonom, seit Sultan Said in Salalah weilt. Er hat dafür gesorgt, dass die Ehre, die der Sultan mir erwiesen hatte, nicht allzu groß wird.« Sie lächelte leicht.
»Das Land wird offenbar mit sehr strenger Hand regiert.«
»Allerdings. Was mich zu der Frage bringt, wie um alles in der Welt es Ihnen gelungen ist, eine Einreiseerlaubnis zu bekommen, Miss Seabrook? In Oman hält man nicht viel von ausländischen Besuchern oder untätiger Neugier. Das war schon immer so.« Maude verfütterte eine Dattel an die Gazelle, die sie vorsichtig aus ihren Fingerspitzen nahm.
»Nein«, gab Joan unbehaglich zu. »Mein Vater war ein Schulfreund des derzeitigen Wesirs – des Außenministers. Das hat es mir erleichtert. Wir wohnen auch in seiner Residenz, mein Verlobter Rory und ich.«
»Bezeichnet man den Posten immer noch so? Wesir? Wie drollig. Aber Oman ist letztlich immer noch britisches Protektorat, nicht wahr? Auch wenn man es heute nicht mehr so bezeichnet – wo jeder doch peinlich bemüht ist, nicht mehr als Kolonialmacht zu erscheinen.«
»Außerdem ist mein Bruder Daniel seit sechs Monaten hier. Er ist Soldat und zu den Streitkräften des Sultans abgestellt, wissen Sie? Ich habe die Erlaubnis erhalten, ihn zu besuchen.«
»Aber das ist nicht der wahre Grund für Ihre Reise.«
»Nein. Na ja, teilweise schon … Ich …« Joan verstummte, und einen Moment lang stieg so etwas wie Verzweiflung in ihr auf. Sie hatte das Gefühl, nach etwas zu greifen, das fest entschlossen war, sich ihr zu entziehen.
In Wirklichkeit wusste sie einfach nicht recht, wie sie das Bedürfnis danach, Arabien zu sehen, in Worte fassen sollte. Es war schon so lange tief in ihr verwurzelt, dass sie es nicht mehr hinterfragte. Als Daniel dann nach Oman abgestellt und Robert Gibson zum Wesir ernannt worden war und Joan ein wenig Geld von ihrem Vater geerbt hatte, schien sich alles so zu fügen, dass das Schicksal sie endlich hierherführen würde. Nach Oman – eine kleine, abgelegene Ecke von Arabien, aber dennoch Arabien. Und seit dem Tod ihres Vaters hatte sie irgendwie auch das Gefühl, als könnte sie hier etwas von ihm finden. Nach seinem Tod hatte es beinahe ein Jahr gedauert, bis der lähmende Schock nachließ und diese Idee Gestalt annahm, doch als sie erst einmal da war, wusste Joan, dass nichts sie wieder davon abbringen würde.
Ihrer Mutter Olive zu erklären, wofür sie ihre kleine Erbschaft auszugeben beabsichtigte, war schwierig gewesen. Joan hatte einen Moment abgepasst, als Olive gerade kochte – dann war sie stets am glücklichsten.
»Ist es denn nicht schon schlimm genug, dass eines meiner Kinder in dieser gottverlassenen Wüste haust?«, hatte Olive gesagt. Speckwürfel klebten an ihrem großen Messer, das plötzlich in der Luft erstarrte, und dieses Zittern in ihrer Stimme wurde allmählich zur Regel. »Du bist der Reise nicht gewachsen, Joanie. Und du kannst mich doch nicht ganz allein hierlassen?« Sie holte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte sich die Augen. Joan spürte, wie die erstickenden Schuldgefühle, die ihr nur allzu vertraut waren, in ihr aufstiegen und sie prompt ihre Entscheidung infrage stellte. Olive sah erbärmlich aus, schutzlos, so leicht zu verletzen. »Dein Vater war überhaupt nie dort – das weißt du doch.« Joan wusste es. Als sie alt genug gewesen war, um es zu verstehen, hatte sie kaum glauben können, dass ihr Vater nie weiter gereist war als nach Frankreich. Trotz all seiner Geschichten, Träume, seiner Begeisterung und seiner großen Pläne. Aber er hatte sich gewünscht, dass Joan reisen würde, das wusste sie. Er hatte sich gewünscht, dass sie ein paar ihrer Träume würde verwirklichen können. Und Joan hatte schon immer von Arabien geträumt. Sie hörte die Stimme ihres Vaters in ihren Gedanken, stellte sich seine übertrieben weit aufgerissenen Augen dazu vor. Das Reich von Sindbad, dem Seefahrer, der Königin von Saba, das Land des Weihrauchs, der Dschinns und Wünsche! Immer übertrieben – absichtlich dramatisch, stets bereit, Joans Welt mit Magie und Staunen zu bereichern.
Joan versuchte, das scheußliche Gefühl herunterzuschlucken, doch ihre Audienz bei Maude Vickery verlief ganz und gar nicht so, wie sie es sich erhofft oder ausgemalt hatte. »Sie sind meine Heldin, schon seit ich ein kleines Mädchen war, Miss Vickery. Ich will die Wüste bereisen, genau wie Sie. Ich will in die Rub al-Chali – das Leere Viertel. Die größte Sandwüste der Welt … Ich weiß, inzwischen haben eine Menge Leute sie durchquert, aber große Teile davon sind immer noch unberührt. Ich will zum Palast von Dschabrin und dort das Gelände begehen, vielleicht ein paar Aufrisse zeichnen. Ich bin Archäologin – vielleicht erinnern Sie sich, dass ich Ihnen das geschrieben habe? Nun ja … beinahe. Ich habe noch keine archäologische Grabung durchgeführt, aber ich habe mein Studium abgeschlossen. Vor meiner Abreise habe ich mich um eine Stelle in einem kleinen Museum beworben – natürlich nur eine Assistentenstelle. Ich fange im neuen Jahr dort an, das heißt, falls ich die Stelle bekomme, und das müsste ich, wenn ich ihnen ein paar Studien vorlegen könnte, die ich hier draußen gemacht habe. Und ich würde so gern …« Sie holte Luft und bemerkte, wie unfreundlich Maude sie ansah, also verstummte sie.
»Eine hübsch lange Liste großer Wünsche, Miss Seabrook.« Maude zeigte vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger auf Joan. Der Fingernagel war schartig und verfärbt. »Und darf ich darauf hinweisen, dass Sie noch ein junges Mädchen sind?«
»Ich bin fast so alt, wie Sie damals waren, als Sie die Wüste durchquerten. Sechsundzwanzig.«
Maude brummte widerwillig.
»Sie wirken jünger. Wie dem auch sei, ich fürchte, Sie jagen einem Traum hinterher. Sie wollen in meine Fußstapfen treten, aber was würde Ihnen das nützen? Das ist keine Erkundung. Es ist kein Abenteuer. Und Abenteuer sind doch das, was Sie wollen, nehme ich an? Sie müssen Ihren eigenen Weg finden – Sie müssen ihn sich selbst schaffen. Sultan Said persönlich hat das Leere Viertel vor ein paar Jahren durchquert – mit einem Automobil. Da gibt es nichts Geheimnisvolles mehr.« Sie klang verbittert. Langsam und eindringlich beugte sie sich vor, obwohl sie dabei vor Anstrengung zitterte. »Sie müssen die Erste sein. Sonst zählt es nicht.«
»Aber das stimmt doch nicht! Sie waren auch nicht die Erste, die das Leere Viertel bereist hat – jedenfalls nicht die Allererste, und trotzdem zählt es. Die Wüste ist riesig … und den Palast von Dschabrin hat noch kein Europäer je erkundet, geschweige denn ein Archäologe. Man kann auf den Karten nicht einmal genau erkennen, wo er liegt. Aber Sie waren dort, nicht wahr? Sie haben ihn gesehen.«
»Eine Ruine, in der es von Schlangen nur so wimmelt.« Maude winkte ab. Dann strich sie über ihre Kleidung, als suchte sie etwas. Mit finsterer Miene, sichtlich erregt. »Der Palast ist noch nicht einmal besonders alt, nur ein paar Jahrhunderte. Und seine Lage ist auch kein Geheimnis. Gehen Sie nach Bahla und biegen Sie links ab.«
»Aber er soll kostbare Schätze bergen …«
»Seien Sie doch nicht albern. Kein Araber hat je einen herrenlosen Schatz einfach liegen gelassen. Sie sind ja so schlimm wie die Beduinen – die sind von vergrabenen Schätzen geradezu besessen, wissen Sie? Ständig liest man diesen Unsinn, dass Wüstenvölker nur Wasser hohen Wert beimessen, nicht Gold. Sie schätzen Wasser, Gastfreundschaft, gute Weiden, Waffen und Gold, so sieht es in Wirklichkeit aus.« Sie zählte all das an den Fingern ab, während sie sprach. »Es gibt keine vergrabenen Schätze, Miss Seabrook.«
»Aber … der Palast selbst ist ein Schatz, verstehen Sie das denn nicht?«
»Wie wollen Sie denn überhaupt dorthin kommen? Ausländer dürfen sich in Maskat nicht östlich der Residenz aufhalten oder westlich des Armeestützpunktes in Matrah. Sie dürfen die Stadtgrenzen nicht verlassen, nicht einmal zu den Bergen hin, geschweige denn in die Wüste … So war es schon immer. Sultan Said schätzt seine Privatsphäre sehr, und er dehnt sie auf sein ganzes Land aus. Außerdem – bitte korrigieren Sie mich, falls ich mich irren sollte, aber … befinden wir uns derzeit nicht in einem kleinen Krieg?« Maude hatte die Stimme erhoben und schrie nun beinahe, obwohl Joan nicht nachvollziehen konnte, was sie so geärgert hatte.
Nervös nippte sie an ihrem Tee. »Der Krieg ist nichts weiter …«, erwiderte sie. »Nicht im Vergleich zum richtigen Krieg, dem Weltkrieg. Mr. Gibson bezeichnet ihn als ›Aufstand‹. Und der findet nur in den Bergen statt, nicht wahr?« Maude funkelte sie finster an und beugte sich dann wieder vor, die verkrümmten Finger lose im Schoß.
»Sie, Miss Seabrook, sind eine Touristin. Weiter nichts.«
Sie saßen noch eine Weile in unbehaglichem Schweigen herum, bis Maude das Kinn auf die Brust sank. Sie verstummte, und Joan war steif vor Verlegenheit. Als Abdullah hereinkam, um den Tee abzuräumen, nickte er Joan zu.
»Kommen Sie«, sagte er leise und wandte sich wieder der Treppe zu. »Madam ist keinen Besuch gewöhnt. Sie muss sich jetzt ausruhen.« Dankbar folgte ihm Joan hinaus. Abdullah brachte sie wortlos zur Tür, doch seine Wachsamkeit war schwer zu ignorieren. Irgendwie fühlte sich Joan beurteilt – und für nicht gut genug befunden. Die Sonne stand schon beinahe am Horizont, doch der Himmel war hell und die Kanone – deren Schuss den Beginn der nächtlichen Ausgangssperre verkündete – noch nicht abgefeuert worden.
Joan setzte ihren Hut auf und ging das kurze Stück bis zum Haupttor. Schüchtern lächelte sie den Wachen zu, die den Kopf neigten und ein paar Brocken gebrochenes Englisch an ihr ausprobierten.
Nach wenigen Schritten in die Stadt hinein blieb sie stehen. Sie war nicht zu einem weiteren Besuch bei Maude Vickery eingeladen worden. Die Enttäuschung, vor der Rory sie gewarnt hatte, durchflutete sie, doch sie war eher von sich selbst enttäuscht als von Maude. Die alte Entdeckerin war als schwierig bekannt. Schon in ihrer Jugend hatte man ihr vorgeworfen, sie sei stur, taktlos und manchmal ungeheuerlich unhöflich – all das war in ihren Schriften, ihren Biografien und gesammelten Briefen zu lesen. Joan hatte sich also darauf gefasst gemacht und war dennoch sicher gewesen, Maude für sich einnehmen zu können. Sie war sich sicher gewesen, dass Maude eine verwandte Seele erkennen würde. Doch Joan hatte nicht die richtigen Dinge gesagt. Sie hatte Maude keinen Eindruck davon vermittelt, wie ernst es ihr war – ja, sie hatte Maude überhaupt nicht beeindruckt. Die Verachtung, mit der Maude sie als Touristin abgestempelt hatte, schmerzte umso mehr, weil sie der Wahrheit zu nahe kam. Traurig und aufgewühlt setzte sich Joan in der Dämmerung auf eine Stufe und beobachtete die Passanten, die vorübereilten, um zum Tor hinaus- oder hereinzugelangen, ehe es geschlossen wurde. Omanerinnen in ihren schwarzen Gewändern und Schleiern, belutschische Frauen aus dem Territorium des Sultans in Nordpakistan, die unverschleiert waren und so bunt gekleidet wie Blumen. Inder und Perser und die schwarzen Gesichter von Sklaven wie Abdullah. Man könnte meinen, dass es in Maskat mehr Ausländer gab als Omaner.
In Oman wurde es früh Abend, schon kurz vor sechs. Selbst so spät im Jahr hatte die Sonne große Kraft, und die Temperatur von meist über fünfunddreißig Grad fühlte sich nach den vergangenen kühlen, nassen Monaten in England besonders sengend an. Vor allem Rory litt darunter. Seine Wangen waren stets gerötet, und er gähnte viel. Der Winter bekam ihm viel besser – ein frischer, stürmischer britischer Winter, der seine roten Wangen gesund statt fiebrig wirken ließ. Sie waren erst vor drei Tagen in Maskat eingetroffen, nachdem sie mit der British Overseas Airways Corporation nach Kairo geflogen waren – der erste Flug in Joans Leben –, mit einem kleinen Flugzeug weiter nach Salalah, und dann waren sie langsam per Schiff die Küste entlanggetuckert bis hierher nach Maskat. Trotz allen Spotts über die BOAC (»You’d be Better On A Camel«, wie Rory gern anmerkte) war der Flug nach Kairo für Joan geradezu magisch gewesen. Beim Landeanflug hatte sie durch das winzige Fenster die Pyramiden gesehen und vor Aufregung geschaudert.
Bisher hatten sie Joans Bruder Daniel auf dem Stützpunkt Bait al-Faladsch in Matrah noch nicht besuchen können. Der Stützpunkt lag auf der anderen Seite der Landzunge, nicht weit von Maskat – man konnte mit dem Boot hinfahren oder über eine unbefestigte Straße, die sich die felsige Hügelflanke emporwand. Aber Daniel war nicht da, also mussten sie warten. Sein vorgesetzter Offizier hatte sie informiert, dass er ins Landesinnere geschickt worden war und dort einen Aufklärungsspähtrupp in den Bergen anführte. Daniel hatte Joan von dem Aufstand dort berichtet, nachdem sie ihm geschrieben hatte, dass sie nach Maskat kommen wolle. Das war eines der Argumente gewesen – aber nicht das einzige –, mit dem er sie von ihrem Besuch hatte abhalten wollen.
Großbritannien erkennt den Sultan schon lange als Herrscher von Maskat und Oman an, aber traditionell regierte der Sultan Maskat und die Küste und überließ dem Imam das restliche »Oman«, das Landesinnere – die Wüste und die Gebirge. Das ging Generationen lang gut, hatte Daniel geschrieben, doch dann hieß es, in der Wüste könnte es Öl geben, also begann Sultan Said, seine Hoheitsgewalt auch dort stärker durchzusetzen. Es gab ernste Konflikte, aber mit unserer Hilfe wurde Imam Ghalib 1955 zum Abdanken gezwungen. Allerdings kam er bald zurück, aufgestachelt von seinem Bruder Talib. Sie haben sich mit all ihren Männern in die Berge zurückgezogen, und der Sultan wird keine Ruhe geben, ehe wir nicht den letzten Aufständischen aus seinem Schlupfloch gezerrt haben. Die Lage ist also recht empfindlich, Joanie – kein guter Zeitpunkt, um hier Urlaub zu machen. Womöglich könnten wir uns gar nicht treffen, es kann gut sein, dass ich eine Weile nicht auf dem Stützpunkt sein werde. Möchtest du nicht lieber anderswo Urlaub machen? Wenn es denn unbedingt sein muss, komm lieber nächstes Jahr, wenn das alles vorbei ist.
Der Gedanke an einen Bürgerkrieg ängstigte Joan. Daniels Brief hätte sie beinahe dazu gebracht, ihren Plan aufzugeben. Krieg weckte die Gefühle aus ihrer Kindheit – Todesangst und ständiges Grauen, ein schreckliches Zittern in ihrem Inneren, das sie nicht abstellen konnte. Doch dann hatte sie an Robert Gibson geschrieben, einen alten Freund ihres Vaters, und er hatte ihr versichert, dass die Situation den Begriff Krieg kaum mehr rechtfertigte und dass in Maskat selbst keinerlei Gefahr drohte. Außerdem würde Daniel gewiss auf einen anderen Posten weitergeschickt werden, wenn die Kampfhandlungen vorüber waren. Und schließlich der entscheidende Punkt: Joan wollte nirgendwo anders hin. Rory hatte ebenso viel an dieser Reise gelegen, und als die offizielle Einreiseerlaubnis endlich gekommen war, hatte sie keinen Tag länger warten wollen. Das Leben zu Hause war seit dem Tod ihres Vaters in einen deprimierenden Trott verfallen. Der Schmerz über seinen Verlust hatte sich zu einer hartnäckigen Lustlosigkeit abgeschwächt, einer Traurigkeit, die alles so mühsam machte. Sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, ihre Lebensgeister wiederzuerwecken, als diese Reise, und sie wollte unbedingt ihren Bruder wiedersehen.
In diesem Moment grollten Trommeln, und dann krachte der Kanonenschlag, ein plötzlicher, dröhnender Knall, der von den Felsen widerhallte und dessen Echo wie Donner grummelte. Joan hob ihre Petroleumlampe an – das Gesetz verlangte, dass jeder, der sich nach dem Kanonenschlag noch draußen aufhielt, eine Laterne bei sich tragen musste. Sie öffnete die Klappe und kramte in ihrer Schultertasche nach einem Streichholz. Sie sollte sich beeilen – es war nicht gut, als Frau allein im Dunkeln auf der Straße zu sein, Lampe hin oder her. Dennoch ließ sie sich noch einen Moment Zeit, sich bewusst zu machen, wo sie war, und das Staunen darüber zu genießen. Die Flamme ihrer Lampe zischelte leise in der abendlichen Stille, und neben ihr ragte das Stadttor von Maskat auf. Es war unglaublich, dass sie so weit fort von zu Hause war, an einem so fremden Ort – unglaublich, dass sie jetzt schon weiter gereist war als ihre Eltern je in ihrem Leben. Dies war ein Ziel ihrer Träume, und Joan würde das Beste daraus machen, auch wenn sie dazu ihre Erwartungen ein wenig herunterschrauben musste. Ihr Vater hatte sie oft davor gewarnt, sich allzu feste Vorstellungen von Menschen und Orten zu machen. Warte ab und sieh hin, was du vorfindest. Geh nicht mit einem Maßstab los, den du dann an Dinge anlegst. Sie stand auf, sog die warme Luft ein und schaute zwei leuchtend weißen Möwen nach, die lautlos über sie hinwegsegelten, ehe sie sich auf den Weg durch die Stadt machte.
Die britische Residenz befand sich in einem der größten Gebäude von Maskat, direkt am Meer in der östlichen Ecke der Stadt, ganz in der Nähe des Zollamts und des leer stehenden Sultanspalastes. Sultan Said hielt sich lieber in Salalah auf, Hunderte Meilen weit weg im Südwesten. Maskat hatte er seit Jahren nicht mehr besucht. Die Residenz war ein riesiges, helles, rechteckiges Gebäude, zwei Stockwerke hoch. Das Dach war mit Zinnen versehen, und überdachte Balkone zogen sich um das ganze Haus. Von den Gästezimmern, die man Joan und Rory zugewiesen hatte, schaute man auf den hufeisenförmigen Hafen hinaus. Auf dem glitzernden grünen Wasser schaukelten dicht gedrängte Boote, und an die steilen Felswände, die den Hafen begrenzten, hatten Seeleute über Jahrhunderte hinweg die Namen ihrer Boote geschrieben, die hier vor Anker gegangen waren. Der Sultan nannte das sein »Gästebuch«.
Zwei Festungen aus dem siebzehnten Jahrhundert, die die Portugiesen errichtet hatten, bewachten die Einfahrt zum Hafen. Merani war das Fort, in dem allabendlich die Kanone abgefeuert wurde, und Al-Dschalali gegenüber diente als Gefängnis. Die Festung Al-Dschalali wirkte riesig und unbezwinglich – wie eine gewaltige Seepocke klammerte sie sich an ihren Felsvorsprung und schien drohend über der Residenz aufzuragen. In den Fels gehauene Stufen stellten den einzigen Zugang dar. An ihrem ersten Abend in Maskat hatte Joan am Fenster ihres Zimmers gestanden und in der Festung ein paar Lampen brennen gesehen, die alles um sie herum umso pechfinsterer erscheinen ließen. Sie hatte geglaubt, den Gestank menschlichen Leids in der Brise zu riechen. Einer der Diener hatte ihr erzählt, dass man manchmal hören konnte, wie die Gefangenen mit ihren Ketten rasselten.
Der Union Jack hing schlaff von der Spitze des hohen Fahnenmastes vor der Residenz. Als Joan näher kam, fuhr der Seewind in die Flaggen, die wie Flammen flackerten. Joan ging zum Haupteingang, und ein Diener ließ sie mit einer beiläufigen Verneigung ein. Sie löschte ihre Laterne und reichte sie dem Mann, ehe sie den Hut absetzte und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. Der junge Diener starrte sie an, und Joan lächelte steif. Sie war nicht an Dienstboten gewöhnt und nicht sicher, wie sie mit ihnen sprechen sollte.
»Guten Abend, Amid«, sagte sie – sie hatte sich seinen Namen eingeprägt. »Könnten Sie mir bitte etwas Limonade nach oben bringen lassen?«
»Limonade, Sahib«, echote er – das wichtigste Wort hatte er verstanden. Joan ging durch das Foyer und schleppte sich die Treppe hinauf. Hier drin war es dunkel, und Echos hallten. Die Beamten und Sekretärinnen, die tagsüber in den Büros saßen, tippten und Unterlagen sichteten, hatten Feierabend und waren nach Hause gegangen. Nur die wenigen, die in der Residenz wohnten, waren noch da. Joan wünschte, es wäre nicht ganz so still hier. Es erinnerte sie an ihr Zuhause nach dem Tod ihres Vaters – still auf eine Art, die irgendwie erdrückend wirkte.
Rorys Gästezimmer lag ganz oben – auf einem anderen Stockwerk als Joans. Sie war direkt neben ihren Gastgebern untergebracht, sodass keine Chance auf heimliche nächtliche Besuche bestand. Rory war nicht in seinem Zimmer, also ging sie den Flur entlang zu dem kleinen Bad am Ende, vergewisserte sich, dass niemand sie sehen konnte, und klopfte an.
»Joan?«, antwortete Rory, also öffnete sie die Tür. Er lag mit geschlossenen Augen in der Badewanne. Die nassen, dunklen Locken klebten an seinem Kopf, und eine Zigarette war zwischen zwei Fingern der linken Hand fast ausgebrannt. Das Wasser war kühl, das wusste Joan, ein wenig unter Körpertemperatur – so versuchte Rory, sich abzukühlen. Wenn sie ein Bad nehmen wollte, hätte sie die Tür abgeschlossen. Rory hatte sie noch nie unbekleidet gesehen, aber irgendwie schien es weniger unanständig, wenn sie ihn nackt sah. Vielleicht lag es daran, dass sie ihm schon ein Bad eingelassen hatte, als er mit elf Jahren zum ersten Mal zu Besuch gewesen war. Aber es war ihm auch kein bisschen unangenehm, nackt gesehen zu werden, obwohl sie erst miteinander schlafen würden, wenn sie verheiratet waren. Rory fühlte sich nackt einfach wohl. Das gab ihnen häufig Anlass zu Scherzen, weil er ansonsten eher schüchtern und zurückhaltend war. Joan wünschte, sie könnte ebenso unbefangen mit seiner Nacktheit umgehen wie er.
Sie ging zu Rory hinüber, nahm die Zigarette aus seinen Fingern, schnippte Asche aus dem Fenster und nahm einen Zug. Durch den Rauch vor den Augen sah sie ihren Verlobten nur noch verschwommen und grau. Ihre Mutter hasste es, wenn sie rauchte, und sie tat es auch nur selten – meistens dann, wenn sie das Gefühl brauchte, stärker und fähiger zu sein, als sie sich vorkam.
»Sei so gut, nicht einzuschlafen und zu ertrinken, Liebling, ja? Oder das Haus in Brand zu stecken«, sagte sie lächelnd, als Rory ein Auge öffnete.
»Ich habe nicht geschlafen, nur meinen Augen eine Pause gegönnt und es genossen, mir einen Moment lang nicht vorzukommen wie auf dem Grillrost. Und wie war es?« Er wandte ihr den Kopf zu und nahm die Zigarette, die sie ihm zurückgab. Sie küsste ihn auf die feuchte Stirn. Er schmeckte nach Seife und dem harten Quellwasser von Maskat. Sie wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, statt sich die Lippen zu lecken – sie achteten darauf, nur abgekochtes Wasser zu trinken, aber es fühlte sich an, als wischte sie den Kuss ab.
»Es war … schwierig.« Sie ging zum Fenster und lehnte sich an die Fensterbank vor dem dunkelblauen Himmel und dem Meer, das die letzten Lichtstrahlen hütete.
»Schwierig? Oje – nicht das, was du dir erhofft hattest?«
»Nein, nicht ganz.« Joan seufzte und empfand ihre Enttäuschung, ihr Versagen umso stärker. Touristin. Sie brachte es nicht über sich, Rory von Maudes vernichtendem Urteil zu erzählen. »Irgendwie wirkte sie älter, als sie ist. Ich hatte den Eindruck, dass sie zwischendrin … verwirrt war. Und dann ist sie eingeschlafen.«
»Wie alt ist sie denn?«
»Sechsundsiebzig.« Das wusste Joan genau. Sie kannte Maude Vickerys Geburtstag, den 25. Mai 1882. Sie wusste, wer ihre Eltern gewesen waren, wo sie zur Schule gegangen war, dass sie in Oxford studiert hatte. Sie kannte Maudes sämtliche Schriften und Reisen, die Eckpunkte ihres Lebens. Sie wusste nur nicht, wie sie mit ihr reden sollte, dachte Joan unglücklich. Diese weiche, subtile Traurigkeit war wieder da. Joan knabberte an der Haut neben ihrem Daumennagel, eine schlechte Angewohnheit aus ihrer Kindheit, und suchte in sich nach einem Funken. »Du müsstest sie mal sprechen hören … so beredt. So gewählt. Mum wäre höchst beeindruckt.«
»Komm her.« Rory stand auf, und Wasser strömte an ihm herab. Er ließ die Zigarette in die Wanne fallen, stieg heraus und wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte. »Komm und nimm mich in den Arm. Du bist ja ganz geknickt deswegen, mein Liebling.« Joan nickte, und er schlang die Arme um sie, drückte ihre Wange an seine feuchte Brust und hüllte sie in seinen wunderbaren, frisch gewaschenen Duft. Diese körperliche Intimität war noch neu und halb verboten – eine fesselnde Mischung aus tröstlich und gefährlich.
»Ich komme schon darüber weg«, murmelte sie gedämpft.
»Aber natürlich.« Er hob ihr Kinn an und küsste sie zart, ein keuscher, aber liebevoller Kuss mit geschlossenen Lippen. »Schaffst du immer.«
»Du solltest dir etwas anziehen, ehe wir zur Cocktailstunde gehen, Rory.« Joan wandte sich ab, während er sich abtrocknete, und spielte mit ihrem Verlobungsring am Finger. Er hatte Rorys Großmutter gehört und trug Spuren des Gebrauchs – ein goldenes Band mit einem rechteckigen Topas und zwei winzigen Diamanten. Er passte Joan so perfekt, als wäre er für sie angefertigt worden.
Der Posten des Außenministers wurde schon seit Generationen mit einem Briten besetzt, wie es die ersten Vereinbarungen zwischen Großbritannien und dem Sultan zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vorgesehen hatten. Er wurde als Wesir bezeichnet und hatte die Aufgabe, den Sultan in allen Angelegenheiten der auswärtigen Beziehungen und des Handels zu beraten – Empfehlungen zu geben, keine Befehle. Und natürlich die britische Regierung darüber auf dem Laufenden zu halten. In der Residenz wurde das Abendessen um Punkt acht Uhr serviert, doch man versammelte sich bereits um Viertel nach sieben auf der überdachten Terrasse im ersten Stock, wo der amtierende Wesir, Robert Gibson, großzügige Gin Tonics einschenkte. Die Terrasse war riesig. An den zwei Meter hohen Oleanderbäumen in schweren Töpfen prangten üppige rosarote Blüten, und die Zweige einer purpurroten Bougainvillea hingen vom Dach herab. Die Terrasse bot einen Blick auf ein verbotenes Land, das keiner von ihnen ohne ausdrückliche Erlaubnis des Sultans betreten durfte: nach Osten, jenseits der Landzunge Ras al-Hadd, wo die Küstenlinie in südlicher Richtung verlief, Hunderte Meilen weit bis nach Aden und zum Roten Meer. Berge und Wüste, staubtrocken, eine salzige Küstenebene, wo alljährlich nach einem kurzen Monsun Blumen erblühten und Gras spross – ein Land mit einem so uralten und fremdartigen Herzen, dass Joan von der Terrasse aus geradezu hungrig hinüberstarrte. Sie gierte danach, es kennenzulernen, und gestand sich nur ungern ein, dass das recht unwahrscheinlich war.
Sie warf Rory, der sich gerade mit ihren Gastgebern unterhielt, einen Blick zu und lächelte. Er trug seinen Sommeranzug, das zurückgekämmte Haar war noch feucht. Dass er so bereitwillig zugestimmt hatte, mit ihr nach Arabien zu reisen, hatte sie überrascht. Arabien? Klingt großartig. Er wusste, wie lange sie schon von dieser Reise geträumt hatte und wie unerreichbar dieser Traum bis zu jenem Moment erschienen war. Sie hatten gescherzt, dass die Flitterwochen zwar üblicherweise nach der Hochzeit kamen, sie es aber eben anders machen würden. Rory arbeitete für seinen Vater in dem bescheidenen Auktionshaus, das seine Familie seit Generationen führte – sie verkauften altmodische Möbel und unschönen Zierrat, die Leute aus den Wohnzimmern verstorbener Verwandter zu ihnen brachten. So war es kein Problem, um einen längeren Urlaub zu bitten. Joan hatte ihre Stelle als Sekretärin bei einer Druckerei einen Monat zuvor verloren, weil man sie mehrmals dabei ertappt hatte, wie sie in den Büchern las, statt Rechnungen zu tippen. Seither lebten sie und ihre Mutter von Olives Witwenrente, und dass Joan ihre Erbschaft für eine Auslandsreise ausgeben wollte, hielt Olive für unsinnige Verschwendung. Das sind Essen und Kohle für uns beide für ein halbes Jahr, für eine Torheit hinausgeworfen! Joan hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie an das ängstliche Gesicht dachte, mit dem ihre Mutter jede eintreffende Rechnung hin und her drehte, ehe sie den Umschlag öffnete, der oft genug einen Unheil verkündenden roten Dringlichkeitsstempel trug. Ihr Vater hatte sich stets um die Finanzen der Familie gekümmert. Nun saß Olive mit dem Stift in der Hand vor den Büchern und studierte die Zahlen, als hätte sie Angst, bei einer Prüfung durchzufallen. Doch so unklug diese Reise auch erscheinen mochte, Joan war ganz gewiss, dass sie sein musste.
Rory hatte sie einmal gefragt, warum ausgerechnet Arabien. Warum wollte sie von allen Ländern der Welt, die sie noch nicht besucht hatte, am liebsten dorthin? Das war vor sechs Jahren gewesen, ehe sie ein Paar geworden waren. Rory hatte in ihrem beengten Wohnzimmer gesessen, und Joan hatte ihm Gesellschaft geleistet, solange Daniel sich noch ausgehfertig machte. Sie hatte Freya Starks Die Südtore Arabiens gelesen, während der englische Regen in boshaften Böen gegen das Fenster prasselte und der Geruch von Essig und Senfkörnern in der Luft hing. In der Küche, wo ihre Mutter gerade das Chutney abfüllte, das sie und Joan den halben Tag lang gekocht hatten, bekam man kaum mehr Luft. Wenn Joan nicht in der Reitschule aushalf in der Hoffnung auf eine kostenlose Reitstunde, las sie Bücher über Arabien. In ihrem Schlafzimmer hatte sie ein Porträt von T. E. Lawrence und Bilder von Scheichs aus der Wüste aufgehängt, die sie in alten Büchern gefunden hatte, statt wie andere Mädchen Fotos von Johnnie Ray aus Zeitschriften auszuschneiden. Doch als Rory sie fragte, warum Arabien, musste sie eine Weile überlegen, ehe sie ihm antworten konnte.
Ihr Vater hatte natürlich damit angefangen, indem er ihr aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen hatte. Doch an jenem verregneten Nachmittag fiel es ihr leichter, Rory von Aladin zu erzählen. Aladin war ein Pferd, wie Joan noch keines je gesehen hatte. Gemeinsam mit den anderen matschbespritzten Mädchen vom Stall hatte sie mit offenem Mund dagestanden und gestaunt, als Aladin aus dem Pferdehänger auf den Hof getrappelt war, bebend vor Anspannung, um sich mit hocherhobenem Schweif und gerecktem Hals umzublicken. Seine zierlichen Hufe schienen auf dem Beton zu tanzen. Seine Besitzerin, ein adrettes, hochmütiges Mädchen namens Annabelle, hatte unmissverständlich klargemacht, dass Broadbrook Stables nur eine Notlösung war, bis sie eine angemessenere Umgebung für ihr Pferd fand – mit weniger Stacheldraht und Ballenschnur, weniger Pfützen und zwickenden Ponys.
Aladins Fell war hellrot wie Feuer. Er hatte eine lange Mähne, eine lange weiße Blesse, ein fein gemeißeltes Gesicht und halbmondförmige Ohren, die sich oben beinahe berührten, wenn er sie spitzte. Er war mit Abstand das schönste Geschöpf, das Joan je gesehen hatte. Und als sie von Annabelle erfuhr, dass Aladin ein reinrassiger Araber war, war sie endgültig überzeugt, dass Arabien so wunderschön sein musste, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Ein Land, wo man auf einen flirrenden Horizont zu galoppierte, statt auf einer matschigen Wiese immer im Kreis herumzutraben und auf den zottigen Hintern des vorauslaufenden Ponys zu blicken. Ein Land, wo man Seide auf der Haut trug und keinen feuchten, kratzigen Pullover; wo es keinen Matsch, keinen Regen, keinen tief hängenden grauen Himmel und keine verschlafenen Vorstadtstraßen gab. Sauber, warm, schön – vollkommen anders als das Leben, das sie kannte. Und Joan wurde damals eben erst klar, wie sehr sie sich ein solches anderes Leben wünschte.
Ein lautes Lachen von Robert Gibson holte sie aus der Vergangenheit zurück. Auf seine Bitte hin hatte Joan auf ihre bequeme Hose verzichtet und ein Kleid angezogen – ein schlichtes Leinenkleid mit einem grünen Kunstledergürtel. Ihre Ledersandalen mit dem breiten Riemen und der klobigen Schnalle erinnerten sie an die Schulzeit. Sie waren alles andere als elegant, aber ihre Mutter hatte sie ihr zum Abschied geschenkt, und sie hatte es nicht über sich gebracht, sie abzulehnen. Hier in Oman wirkten sie auch irgendwie passender und etwas weniger plump. Außerdem kam sie sich in Gegenwart des Mannes, den sie Onkel Bobby nannte, ohnehin immer ein bisschen wie ein Schulmädchen vor. Robert Gibson war ein Hüne von einem Mann, stets makellos gekleidet. Mit leuchtend grünen Augen und einem üppigen blonden Schnurrbart hatte er etwas Löwenhaftes. Sein schütteres Haar wurde allmählich weiß, und er kämmte es streng zurück. Er war nur deshalb nicht ihr Patenonkel, weil David Seabrook als strenger Atheist seine Kinder nicht hatte taufen lassen.