Die Morde von Salisbury - Katherine Webb - E-Book

Die Morde von Salisbury E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Ein nie aufgeklärter Mord rührt an alte Wunden

Es ist ein unerträglich heißer Sommer in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands. In einem ausgetrockneten Flussbett wird die Leiche des vor Jahren verschwundenen Lee Geary gefunden. Sein Schicksal war 2011 eng mit dem Fall der zwanzigjährigen Holly Gilbert verflochten, die damals von einer Brücke stürzte. Ihr Tod war ein Medienmagnet, die Leute wollten Gerechtigkeit für Holly, sie wollten einen Schuldigen. Rasch wurden drei Verdächtige festgenommen, und Geary war einer davon. Alle drei starben damals innerhalb weniger Monate nach Holly. In der sengenden Hitze versuchen Inspector Matthew Lockyer und Constable Gemma Broad einen kühlen Kopf zu bewahren und die Fäden der Cold Cases zu entwirren. Dabei graben sie alte Geheimnisse aus, die viele lieber unentdeckt gelassen hätten.

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Seitenzahl: 621

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Das Buch

Inspector Matthew Lockyer geht sein letzter Fall immer noch nach. Persönlich ist es geworden, was er als professioneller Ermittler eigentlich stets um jeden Preis vermeiden muss. Doch Zeit zum Grübeln bleibt ihm nicht, als ein mysteriöser Cold Case seine Aufmerksamkeit verlangt: In einem ausgedörrten Flussbett in Salisbury wird das Skelett von Lee Geary gefunden. Dem stadtbekannten Taugenichts weinte 2011 kaum jemand eine Träne nach, denn er und zwei weitere lokale Kleinkriminelle galten damals als hochverdächtig im Todesfall von Holly Gilbert. Die Zwanzigjährige stürzte aus ungeklärten Gründen von einer Brücke. Innerhalb weniger Monate nach Hollys Tod starben auch die drei Verdächtigen – scheinbar durch Unfälle. Hollys Sturz wurde schließlich als Suizid eingestuft, was Medien und Öffentlichkeit unbefriedigt zurückließ. Als Lockyer nun gemeinsam mit Constable Gemma Broad versucht, die Puzzleteile von damals zusammenzusetzen, führen alle Spuren zu einer Aussteigerkommune auf der Old Hat Farm. Hier ist die Polizei gar nicht gern gesehen, die Bewohnenden hüllen sich in Schweigen. Doch Stück für Stück bröckelt die alternative Fassade der Farmgemeinschaft, und ein Netz aus jahrzehntealten Lügen und Intrigen kommt zum Vorschein.

Die Autorin

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt sie heute in der Nähe von Bath, England. Mit ihrem großen Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« gelang ihr der Durchbruch als Schriftstellerin, es folgten weitere SPIEGEL-Bestseller. »Die Morde von Salisbury« ist ihr zweiter Kriminalroman.

KATHERINE WEBB

Die Morde von Salisbury

LOCKYER & BROAD ERMITTELN

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe LAYINGOUTTHEBONES erschien erstmals 2023 bei Quercus, London, unter dem Namen Kate Webb.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2024

Copyright © 2024 by Katherine Webb

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Arcangel (Joana Kruse, Iwan Williams), Shutterstock.com (Alexey Repka, Quality Stock Arts, Creative Travel Projects)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31750-8V001

www.heyne.de

1

TAG EINS, MONTAG

Das Hemd von Detective Inspector Matt Lockyer war am Rücken völlig durchgeschwitzt. Neben ihm stand DC Gemma Broad und fächerte sich mit einer Akte Luft zu. Es war halb zehn morgens und wurde von Minute zu Minute wärmer, nachdem sie zu dem abgelegenen Fundort auf der Salisbury Plain hinaufgestiegen waren.

Sie waren auf drei Seiten von steilen Böschungen umgeben, die ein kleines Tal bildeten. Im Februar – einem der feuchtesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – war das Tal überschwemmt worden. Die Wassermassen der sintflutartigen Regenfälle, die von den durchtränkten Hügeln herabgeströmt waren, hatten an einigen Stellen das Erdreich fortgespült. Dabei waren große Brocken Feuerstein, Trümmer von Kriegsgerät und die skelettierte Leiche eines Mannes freigelegt worden.

Hier draußen, kilometerweit entfernt von irgendeinem anderen Menschen, hatten Lockyer und Broad ihre Gesichtsmasken abgenommen, die sie eigentlich die ganze Zeit tragen mussten.

»Ungefähr hier?«, fragte Broad.

Sie stand neben einem knorrigen Weißdornbusch, um den herum das Erdreich weggeschwemmt worden war. Auf den regenreichen Februar war der sonnenreichste Mai seit Beginn der Aufzeichnungen gefolgt, und jetzt, im Juli, befand sich ganz England fest im Griff einer Hitzewelle. Die Sonne hatte Broads blondes Haar ausgebleicht – die feinen Löckchen an ihren Schläfen waren jetzt fast weiß. Ihre Nase zierten unzählige Sommersprossen, und ihre Wangen waren gerötet.

Lockyer nickte. »An seiner Kleidung befanden sich Blätter und Beeren von einem Weißdornbusch. Offenbar stammen sie von diesem hier und sind zusammen mit ihm in der Erde gelandet.«

»Er kann nicht besonders tief vergraben gewesen sein.«

Direkt unter der dünnen Oberfläche verlief eine Kalksteinschicht, in die man nur mit einer Hacke und großem Kraftaufwand ein Loch graben konnte, aber nicht mit einem Spaten – schon gar nicht, wenn man in Eile war. Und überall auf der Salisbury Plain war der Boden ähnlich beschaffen.

Lockyer blätterte die Tatortfotos durch, bis er die Aufnahme vom Kopf der Leiche gefunden hatte. Sie zeigte den Schädel eines Mannes mit leeren Augenhöhlen und einem makabren Grinsen aus schiefen, bräunlich verfärbten Zähnen.

Vielleicht das Grinsen eines Mörders.

»Kalk ist sehr alkalisch«, sagte er. »In alkalischer Erde verwest eine Leiche bis zu dreimal langsamer als in saurem Boden. Laut Schätzung der Gerichtsmedizinerin lag der Mann hier seit mindestens fünf Jahren und höchstens, seit wann immer er zuletzt gesehen wurde.«

Am Kopf des Toten klebten ein paar Haarsträhnen und die ledrigen Überreste einer Nase sowie Kleider- und Hautfetzen. Sein Unterkiefer war nur noch durch einige Knorpelreste mit dem Schädel verbunden.

»Und zuletzt gesehen wurde er …« Broad blätterte mehrere Seiten des gehefteten Berichts um. »Am achtzehnten November 2011. Das heißt, er ist frühestens 2011 und spätestens vor fünf Jahren gestorben. Also 2015. Das ist ein Zeitraum von vier Jahren. Ich denke, das sollten wir berücksichtigen, statt einfach davon auszugehen, dass es 2011 passiert ist.«

Broad war präzise und konzentriert. Das war der große Fall, auf den sie gehofft hatte, ein Fall, dem ihre Kollegen von der Polizei in Wiltshire Beachtung schenken würden. Das MCIT – das Team für Kapitalverbrechen – hatte im März die Ermittlung aufgenommen, als ein Mountainbiker die Leiche gefunden hatte. Obwohl die verschiedenen Teams infolge der Pandemie räumlich voneinander getrennt arbeiteten, war Lockyer nicht verborgen geblieben, dass die Identifizierung der Leiche unter den Kollegen für große Aufregung gesorgt hatte. Und auch nicht, welche Bedeutung der Tatsache beigemessen wurde, dass man ausgerechnet diesen Mann, Lee Geary, an diesem Ort gefunden hatte.

Lockyer konnte sich an den Fall noch genau erinnern. Er hatte umgehend Detective Superintendent Considine aufgesucht und erklärt, dass man den Leichenfund als neuen Beweis in dem ungelösten Fall aus dem Jahr 2011 betrachten müsse, und darum gebeten, ihm und Broad die Wiederaufnahme der Ermittlungen zu übertragen. Es gab in der Führungsetage zwar einige Diskussionen, aber da das MCIT mit den aktuellen Fällen ohnehin schon überlastet war, kam Considine – wenn auch unter Vorbehalt – seiner Bitte schließlich nach.

Lockyer ging jetzt in die Hocke und ließ seine Finger über das aufgeworfene Erdreich neben dem Weißdornbusch gleiten. Es war knochentrocken und bestand aus harten Klumpen. Er nahm einen davon in die Hand und zerbröselte ihn, aber es gab nicht den leisesten Windhauch, der den Staub fortgeweht hätte. Nicht in dieser geschützten Senke. Sie war äußerst abgelegen, und es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Wunder, dass die Leiche hier jahrelang unentdeckt geblieben war.

Als Lockyer sich wieder aufrichtete, fiel ihm etwas ins Auge. An einem der Äste des Weißdornbusches war ein Stück gelbes Klebeband befestigt. Er griff danach. Nein, das war kein Klebeband, es war weicher. Aus Stoff, vielleicht sogar aus Seide.

Broad, deren Haaransatz von kleinen Schweißperlen gesäumt wurde, betrachtete mit zusammengekniffenen Augen eine Großaufnahme von Lees Schädel.

»Man kann die Kopfverletzung hier drauf nicht besonders gut erkennen«, sagte sie, während das glänzende Papier das Sonnenlicht reflektierte.

»Nein«, sagte Lockyer. »Wir müssen ihn uns selbst ansehen.«

»Wirklich?« Sie klang überrascht.

»Momentan ist er unser einziger Zeuge.«

»Ich dachte, die MCIT-Akte enthält den Autopsiebericht …«

»Es lohnt sich immer, persönlich mit den Gerichtsmedizinern zu reden, Gem. Häufig sind sie im Gespräch eher als in ihren Berichten bereit, ein paar Vermutungen anzustellen.«

»Okay. Gut.«

»Haben Sie die Steine bemerkt?«, fragte er.

An einigen Stellen der Senke hatte der Boden große Brocken Kalk- und Feuerstein freigegeben. Einige hatten spitze Ecken und gezackte Kanten, andere waren von Natur aus rund und bauchig. Einer davon lag direkt neben dem Stamm des Weißdornbusches.

»Sie glauben doch nicht, dass das die Mordwaffe ist?«, fragte Broad.

»Vielleicht hat er sich auch nur den Kopf daran angeschlagen, als er den Hang hinuntergestürzt ist«, sagte Lockyer. »Es ist durchaus möglich, dass er nicht ermordet wurde – solange wir den Fall unvoreingenommen betrachten.«

»Der Hang ist zwar steil genug, wenn man darauf ins Straucheln gerät. Aber … ernsthaft? Wenn man bedenkt, was mit den anderen passiert ist? Und falls er nur gestürzt ist, wer hat ihn dann begraben?«

Sie hatten beide den Autopsiebericht gelesen und auf dem Revier das Gerede über ein besonders grausames Detail gehört: Man hatte in den Atemwegen der sterblichen Überreste Gesteinspartikel gefunden. Das legte den schrecklichen Verdacht nahe, dass das Opfer lebendig begraben worden war.

»Lassen Sie uns gehen«, sagte Lockyer. »Hier unten ist es einfach zu heiß.«

Die beiden kletterten die steilen Terrassen, die wie die versteinerten Wellen eines urzeitlichen grünen Meers aussahen, zur Hochebene empor. Dort erstreckte sich der Blick kilometerweit in sämtliche Richtungen, bis hin zum verschwommenen Horizont.

Das Blöken der Schafe in der Ferne erinnerte Lockyer an zu Hause. Er musste direkt nach der Arbeit zur Westdene Farm, zum Hof seiner Familie, fahren. Um zu hören, was verdammt noch mal los war. Ob das Krankenhaus inzwischen angerufen hatte und ob sein Vater einigermaßen zurechtkam.

Er konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Broad drehte sich einmal im Kreis, während sie mit beiden Händen ihre Augen abschirmte. Sie konnte ein paar vereinzelte Bauernhöfe sehen und im Norden die wenigen Häuser des Dorfes Everleigh.

»Er lag ziemlich abseits des Wegs«, sagte sie. »War er vielleicht wandern? Zusammen mit einem Freund? Und dann ist er gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen, oder es gab einen Streit … Der Freund geriet darauf in Panik und ließ die Leiche verschwinden.«

»Warum sollte er in Panik geraten, wenn sein Freund nur gestürzt ist?«, fragte Lockyer. »Warum hat er nicht einen Krankenwagen gerufen? Außerdem gibt es hier genug Warnschilder mit der Aufforderung, auf dem Weg zu bleiben und nicht zu graben.«

Die beiden standen auf einem Truppenübungsplatz, wo nach einem Manöver jeder herumliegende Gegenstand ein Blindgänger sein konnte, der einem vielleicht das Bein abriss. Oder noch schlimmer.

»Allerdings hätte man eine Schaufel gebraucht, selbst um nur ein flaches Loch auszuheben«, fügte Lockyer hinzu.

»Und was ist mit Sondengängern?«, fragte Broad. »Die sind überall unterwegs und haben immer einen Spaten dabei.«

»Ist eine Überlegung wert.«

»Oder es hat etwas mit irgendeinem Ritual zu tun«, gab sie zu bedenken. »Ist der Weißdorn nicht eine heilige Pflanze? Für, na ja … Druiden?«

»Ich glaube, das sind Misteln.«

Lockyer hielt diese Möglichkeit zwar eher für unwahrscheinlich, aber die grasbedeckte Senke mit einem einzelnen, knorrigen Weißdornbusch in der Mitte verbreitete tatsächlich eine eigentümliche Atmosphäre. Warum standen dort keine Schlehdorn- und Brombeersträucher, wie sonst an solchen Orten? Es schien fast, als hätte man diesen Bereich gerodet und den Weißdorn extra stehen lassen, als wäre er aus irgendeinem Grund ausgewählt oder absichtlich dort gepflanzt worden.

Hoch über ihnen flatterten mehrere Feldlerchen umher und sangen so inbrünstig, als machte ihnen die Hitze ebenfalls zu schaffen. Lockyer warf erneut einen Blick auf die Tatortfotos. Der Schädel war sehr groß, hatte vorstehende Überaugenwülste und einen kantigen Kiefer. Der Mann war riesig gewesen. Im Autopsiebericht und in der ursprünglichen Vermisstenanzeige war seine Größe mit 2,06 Meter angegeben. Seine Oberschenkel- und Armknochen hatten gewaltige Ausmaße. Er wäre bestimmt nicht leicht zu töten gewesen. Man hätte dazu fest entschlossen sein müssen und keine Sekunde zögern dürfen.

»Aber … glauben wir wirklich, dass es ein Unfall war?«, sagte Broad. »Es muss doch eine Verbindung zu Holly Gilbert geben, oder?«

»Tja, es ist unsere Aufgabe, das zu beweisen, Gem«, sagte Lockyer. »Gehen wir.«

Er drosselte sein Tempo, damit Broad nicht rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Er hatte sehr viel längere Beine als sie.

Die Klimaanlage in seinem alten Volvo war schon seit Jahren defekt, und nachdem der Wagen eine Stunde in der Sonne gestanden hatte, war es im Innern heiß wie im Backofen. Die Ledersitze glühten. Broad wischte sich mit einem Papiertaschentuch über die schweißbedeckte Stirn, und Lockyer fuhr bereits los, noch ehe er den Gurt angelegt hatte, damit durch die Fenster etwas Luft hereinwehte. Allerdings konnte man sich bei dem Verkehrslärm kaum unterhalten.

»Ich nehme an, Sie erinnern sich nicht an den Vorfall«, brüllte Lockyer. »Die Sache mit Holly Gilbert, meine ich. Damals waren Sie … wie alt? Dreizehn?«

»Fünfzehn, Chef«, sagte Broad. »Und … ich war sogar auf der Mahnwache.«

»Ach ja? Warum das denn?«

Lockyer hatte damals die Berichte darüber in den Lokalnachrichten gesehen. Überall Kerzen in Marmeladengläsern und eine Atmosphäre kollektiver Empörung, die etwas beinahe Gieriges hatte. Und Hollys hübsches Gesicht, verwandelt in einen Talisman.

»Meine Mutter dachte wohl, das würde irgendwie helfen. Wir standen an dem Morgen in dem Stau, wissen Sie? Mehrere Stunden lang. Schließlich wurde hinter uns die Straße gesperrt, und wir mussten alle wenden, um die Fahrbahn freizumachen. Ich sollte eigentlich zum Abschluss des Schuljahrs einen Ausflug nach Alton Towers machen und in Tidworth in aller Herrgottsfrühe einen Minibus besteigen. Als ich später erfuhr, was der Grund für den Stau war …« Broad schüttelte den Kopf. »Mir ging die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte Albträume davon. Während ich gejammert hatte, dass ich den Bus verpassen würde, hatte Holly nur ein paar Hundert Meter entfernt dort gelegen. Und war gestorben.«

Lockyer blickte zu ihr hinüber.

»Und hat sie was gebracht, die Mahnwache?«

»Nein. Da waren unglaublich viele Menschen. Sie trugen alle T-Shirts mit Hollys Gesicht drauf und haben diese Papierlaternen aufsteigen lassen, an denen die Tiere im Wald manchmal verenden. Überall liefen Journalisten herum und fragten irgendwelche Leute, die Holly überhaupt nicht gekannt hatten, was sie ihnen bedeute … Jemand von einer Bürgerinitiative forderte in einer Rede dazu auf, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu beenden. Aber eigentlich hatte ich das Gefühl, ich hätte kein Recht, dort zu sein. So wie eigentlich keiner von uns.«

Lockyer fuhr schweigend weiter. Er erinnerte sich an die Berichterstattung in den Lokalzeitungen. An die Hysterie, als es mehrere Verhaftungen gab, die Vorverurteilung der Verdächtigen und die Enttäuschung, als man sie wieder laufen lassen musste. Daran, wie das Interesse an der Geschichte allmählich nachließ, wie jedes Mal, sobald es keine Neuigkeiten mehr gab. Und nach ein, zwei Jahren war die Sache mehr oder weniger vergessen. Außer von jenen, die das Opfer geliebt hatten.

Am Nachmittag waren sie mit Lee Gearys Schwester verabredet, aber ihnen blieb noch etwas Zeit, ins kühle Revier zurückzukehren, um erneut die Vermisstenanzeige in der MCIT-Akte durchzulesen. Lockyer und Broad, die bei der Polizei von Wiltshire für die ungeklärten Fälle zuständig waren, hatten ihr Büro im Polizeipräsidium des Bezirks, einem weitläufigen Backsteinbau aus den 1960er-Jahren am Rand des Städtchens Devizes. Als sie dort eintrafen, hing die Polizeifahne schlaff von ihrem Mast, und die Hitze flimmerte über dem Asphalt.

»Ein bisschen wie in Miami Vice, was?«, bemerkte Broad trocken und steckte ihre zusammengeklappte Sonnenbrille in die Brusttasche, während ein korpulenter Beamter in Uniform das Gebäude verließ und den Gürtel unter seinem Bierbauch zurechtzurrte; sein Hemd war unter den Achseln schweißnass.

Das ganze Revier war klimatisiert, außer das winzige Büro im dritten Stock, das Lockyer und Broad sich teilten. Egal wie oft sie die Schlitze der Klimaanlage auch anstarrten oder auf die Knöpfe drückten und hämmerten, es kam nichts als warme Luft heraus. Lockyer hatte einen Antrag auf Reparatur gestellt, weil Broad die Temperaturen sichtlich zu schaffen machten, aber eigentlich hasste er Klimaanlagen. Denn der Strom, den man benutzte, um die Luft zu kühlen, trug nur zur Erderwärmung bei.

Er wählte die Nummer seiner Mutter im Salisbury District Hospital und hielt das Telefon fest umklammert, in der Hoffnung, Trudy würde dann eher abheben. Er ließ es zwanzig Mal oder noch öfter klingeln, während seine Besorgnis immer größer wurde. Aber er sagte sich, dass sie wahrscheinlich nur schlief oder die Schwestern das Telefon an seinem Teleskoparm außer Reichweite geschwenkt hatten. Dass der unbeantwortete Anruf nicht bedeutete, dass sich ihr Zustand weiter verschlechtert hatte.

Obwohl man die Lockdown-Maßnahmen inzwischen gelockert hatte, galten im Krankenhaus für Besucher nach wie vor strenge Regeln. Pro Patient nur ein Besucher am Tag, für höchstens eine Stunde, und nur mit Termin. Die Ironie dabei war, dass Trudy sich im Krankenhaus überhaupt erst mit Covid 19 infiziert hatte. Mehrere Wochen lang hatte man sie überhaupt nicht besuchen dürfen.

Als Nächstes versuchte Lockyer seinen Vater zu erreichen. Zum ersten Mal in seinem Leben war John allein zu Haus, und der Gedanke, dass er ganz auf sich gestellt war, während seine Frau im Krankenhaus lag, beunruhigte Lockyer zutiefst. Es war, als müsste er dabei zusehen, wie ein Glas vom Tisch zu fallen drohte, ohne die geringste Chance, es aufzufangen. John hatte Lockyer zwar versprochen, sein Handy stets bei sich zu tragen, aber er ging ebenfalls nicht dran. Frustriert gab er es schließlich auf und schlug die Akte des Mannes auf, dessen provisorisches Grab sie eben besichtigt hatten.

Lee Geary war siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, als er vor neun Jahren, 2011, verschwunden war. Er war am Morgen des achtzehnten November zuletzt von seiner Schwester Karen in ihrer Wohnung in Salisbury gesehen worden. Auf dem Polizeifoto schaute unter Lees finsteren Neandertaler-Brauen ein Paar blauer Augen mit dunklen Ringen hervor. Sein Blick war glasig und keineswegs zornig oder aggressiv. Vielleicht war er bekifft gewesen. Er hatte blasse, unreine Haut, mehrere eingewachsene Bartstoppeln und kurz geschorenes rotblondes Haar. Seine gesamte rechte Gesichtshälfte zierte die Tätowierung eines Spinnennetzes mit einem grinsenden Totenschädel in der Mitte. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, fand Lockyer.

Lee Geary sah also aus wie ein Gangster. Wie ein Mann, dem man lieber nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollte – oder an einem abgelegenen Ort auf der Salisbury Plain. Und wenn man die Absicht hatte, ihm einen Schlag auf den Kopf zu verpassen, sollte man verdammt sicher sein, dass man nur einmal zuschlagen musste. Am besten bevor er mitbekam, was man vorhatte.

Der Tote trug keinerlei Ausweispapiere bei sich. Falls er also am Tag seines Todes eine Brieftasche oder sonst irgendwas dabeigehabt hatte, war sie nicht mehr da. Karen hatte der Polizei nach Lees Verschwinden seine Zahnbürste und seinen Rasierapparat übergeben, damit man ihn anhand der DNA identifizieren konnte, falls er bis zur Unkenntlichkeit entstellt wieder auftauchen sollte. Aber diese Mühe hätte sie sich sparen können. Seit frühestem Teenageralter war Lee immer wieder verhaftet worden, noch ehe er Holly Gilbert überhaupt kennengelernt hatte oder mit ihrem schrecklichen Tod in Verbindung gebracht wurde. Seine DNA war also bereits in der Datenbank.

Außerdem hatte Karen der Polizei von Salisbury eine Liste mit seinen Freunden und Treffpunkten gegeben, die allesamt im Stadtgebiet von Salisbury lagen. Zu Lees Hobbys zählten weder Wandern noch Archäologie, noch die Suche nach vergrabenen Gegenständen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er Nike-Turnschuhe ohne Socken getragen, eine Jogginghose aus Kunstfasern sowie ein graues Kapuzenshirt und im linken Ohr einen goldenen Ohrring. Er war ein Stadtmensch. Warum auch immer er auf der Ebene gewesen war, Lockyer bezweifelte, dass er dort einen Spaziergang gemacht hatte. Vielleicht war er also gar nicht selbst dort hingefahren, sondern von irgendjemandem hingebracht worden. Die Senke mit dem Weißdorn war ein ruhiger, abgeschiedener Ort, ideal für illegale Aktivitäten. Oder eine Hinrichtung.

Lockyer legte die zwei Fotos – von Lees Gesicht, als er noch lebte, und von dem Schädel – nebeneinander. Die Zähne, die früher von seinen aufgesprungenen Lippen bedeckt wurden, waren jetzt deutlich zu sehen. Die Spinnennetz-Tätowierung war vollkommen verwest. Neun lange Jahre hatte es gedauert, seine Leiche zu finden. Neun lange Jahre war er dort verrottet, was niemand verdiente, egal was er zu Lebzeiten angestellt hatte. Neun lange Jahre hatte sein Mörder geglaubt, dass er ungestraft davongekommen sei. Und falls man Lee Geary tatsächlich lebendig begraben hatte, deutete das darauf hin, dass der Täter extrem wütend gewesen war, ihm vorsätzlich Schmerz und Leid zufügen wollte. Getrieben von dem Verlangen, auf grausame Weise Rache zu üben.

2

Karen Wilkins, geborene Geary, wohnte in einem kastenförmigen Backsteinbau aus den 1990ern in Bulford. Das ehemalige Bauerndorf lag eingepfercht zwischen zwei Militärstützpunkten und der viel befahrenen A303, die ein paar Hundert Meter weiter südlich verlief. Als Lockyer und Broad aus dem Wagen stiegen, war im Hintergrund unablässiger Verkehrslärm zu hören.

Karens Vorgarten war völlig vertrocknet und fast kahl. Auf dem Boden lag ein rosafarbenes Kinderfahrrad, und im Topf einer verdorrten Petunie steckten mehrere Plastikwindräder. Broad drückte auf die Klingel und verzog gequält das Gesicht, als zur Antwort ein schriller Ruf ertönte. Sobald sich jedoch die Tür öffnete, hatte sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle.

»Sind Sie die Polizisten? Kommen Sie rein«, sagte Karen, ohne eine Antwort abzuwarten oder die Ausweise zu verlangen. Sie hatte einen drahtigen Körper und war kaum geschminkt. Ein Kleinkind saß auf ihrer Hüfte, und sie wirkte gestresst – was kaum verwunderlich war für eine Mutter, die ihre beiden Kinder monatelang zu Hause betreut hatte, weil selbst die Kindergärten geschlossen waren. Das Kind musterte die beiden Beamten misstrauisch: noch mehr fremde Leute mit Masken.

Karen führte Lockyer und Broad nach hinten in die Wohnküche, die auf einen kleinen Garten hinausging. Durch die weit geöffneten Falttüren drang die Hitze ins Innere, und ein etwa fünfjähriges Mädchen, das in einem knalligen UV-Schwimmanzug steckte, hockte missmutig in seinem Planschbecken. Der Küchenboden war mit Spielzeug übersät, und neben der Spüle stapelten sich Plastikgeschirr und gepunktete Emma-Bridgewater-Becher.

»Tee? Oder Kaffee?«, fragte Karen, während Lockyer und Broad ihre Dienstausweise zeigten.

»Danke, lieber nicht«, sagte Broad.

»Ach ja, stimmt. Corona.«

Sie führte die beiden zu einem schmuddeligen roten Sofa, setzte das Kind auf dem Boden ab und ließ sich auf einem Hocker an der Frühstückstheke nieder.

»Sie haben also Ermittlungen aufgenommen? Wegen Lee?«

»Das ist richtig«, sagte Lockyer. »Wir sind von der Major Crime Review.«

»Sie rollen ungeklärte Fälle noch mal auf? Heißt das, dass das andere Team die Untersuchungen wieder eingestellt hat?«

Sie klang weder besonders wütend noch überrascht, sondern eher sachlich.

»Nicht direkt«, sagte Lockyer. »Wir müssen noch herausfinden, wie Ihr Bruder ums Leben gekommen ist. Ob eine andere Person beteiligt war oder ob es eine Verbindung zu anderen Fällen gibt. DC Broad und ich haben den Fall übernommen, um die Ermittlungen voranzubringen.«

»Wie er ums Leben gekommen ist?«, wiederholte Karen. »Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen, hat man mir gesagt.«

»Nun, das war offenbar die Todesursache. Aber er könnte auch nur gestürzt sein.«

»Am Arsch der Welt? Warum sollte er überhaupt dort gewesen sein?«

»Wir hoffen, dass Sie uns in diesem Punkt weiterhelfen können«, sagte Broad. »Würden Sie uns ein paar Fragen zu Lee beantworten?«

»Natürlich. Ich habe schließlich neun verdammte Jahre gewartet, dass sich endlich jemand für den Fall interessiert und vorbeikommt, um Fragen zu Lee zu stellen – Poppy, es reicht, ich hab es dir schon zweimal gesagt!«, brüllte sie das Mädchen im Planschbecken plötzlich an, das gerade eine Handvoll Erde ins Wasser werfen wollte.

»Entschuldigung«, sagte Karen zu den beiden. »Wir sind von der Hitze schon ganz blöd im Kopf.«

»Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen«, murmelte Broad.

»Können Sie uns etwas über Ihren Bruder erzählen? Was war er für ein Mensch?«, fragte Lockyer.

Karen dachte einen Moment nach, dann warf sie ihm ein spöttisches Lächeln zu.

»Ich nehme an, Sie haben sein Vorstrafenregister gesehen. Das Foto von ihm mit der Glatze und diesem grauenhaften Tattoo. Es war in allen Zeitungen abgedruckt. Nun, in Wirklichkeit war er völlig anders.«

»Ach ja?«

»Wissen Sie, Lee war …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich sage es freiheraus, okay? Er war zwar dumm wie Brot, aber er war ein lieber Kerl. Dieser ganze Mist – die Tattoos, die Drogen … Er war leicht zu beeinflussen. Wir sind in einer beschissenen Gegend aufgewachsen, da ist er schnell an die falschen Leute geraten. Sie wollten Lee immer dabeihaben, wenn irgendwelcher Ärger drohte – er musste dann nichts weiter tun, als einfach nur dazustehen.«

Lockyer und Broad wechselten Blicke, was Karen augenblicklich in Rage versetzte.

»Sie glauben mir nicht? Sie haben doch bestimmt Zugang zu seinen Schulunterlagen? Man hat damals ein Gutachten erstellt. Er litt unter einer nicht-syndromalen Intelligenzminderung – er war geistig behindert. Na ja, mehr oder weniger. Er hatte einen IQ von vierundsiebzig, und der Grenzwert liegt bei siebzig, trotzdem. Aber er war ein Schatz. Ein sanfter Riese.«

»Andere Leute haben ihn also … in Schwierigkeiten gebracht?«

»Genau.« Karens Augen funkelten. »Wir haben vom Staat fast null Unterstützung bekommen, weil es für das, was Lee hatte, keinen richtigen Namen gab. Er wurde zwar von einer Sonderpädagogin betreut, die sich wirklich größte Mühe gegeben hat, aber er ist ohne irgendeinen Abschluss von der Schule abgegangen. Wir haben dann versucht, einen Job für ihn zu finden, den er dauerhaft ausüben konnte – er hat eine Weile in dem großen Waitrose-Supermarkt gearbeitet und dort die Einkaufswagen zusammengeschoben … Aber er hat keinen Job lange durchgehalten. Seine angeblichen Freunde haben ihn während der Arbeitszeit ständig irgendwohin mitgenommen, und schließlich wurde er gefeuert. Es wäre alles bestens gewesen, wenn sie ihn einfach in Ruhe gelassen hätten!«

»Und die Vergehen, wegen denen man ihn angeklagt hat …« Lockyer warf einen Blick in seine Notizen. »Unerlaubter Drogenbesitz, Störung der öffentlichen Ordnung, Vandalismus. Die Verurteilung wegen Einbruchdiebstahls?«

»Na ja. Das hat er wohl getan.« Die Müdigkeit hatte von Karen wieder Besitz ergriffen. »Aber das war doch Kinderkram. Wenn wir wohlhabend gewesen wären, in einer guten Gegend gewohnt hätten und er nicht wie ein Oger ausgesehen hätte, dann wäre er einer einfachen Arbeit nachgegangen, hätte irgendwo eine kleine Wohnung gehabt, zu jeder Mahlzeit Käsetoast gefuttert, ferngesehen und wäre glücklich gewesen. Aber unsere Lebensumstände ließen das nicht zu. Wir wohnten in einer üblen Gegend, und er hat die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich gezogen.« Sie erinnerte sich an damals. »Das Tattoo ist nicht mal seine Idee gewesen.«

»Nein?«

»Nein. Einer seiner Kumpel, Badger – Nigel Badgely – hat ihn abgefüllt und dazu gebracht, es sich stechen zu lassen. Wahrscheinlich fand er das witzig. Dieses Arschloch. Aber Lee konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Niemals. Das ist die Wahrheit – er sah zwar aus wie ein Schläger, aber das war er nicht. Nichts regte ihn mehr auf als Gewalt, oder wenn auch nur jemand brüllte. Jede Form von Auseinandersetzung.«

»Tut mir leid zu hören, dass er es so schwer hatte«, sagte Lockyer, der Mühe hatte, das schlichte Gemüt, das Karen beschrieb, mit der äußeren Erscheinung des Mannes auf dem Foto in Einklang zu bringen. Allerdings war ihm, trotz Lees Gesicht, der sanfte Ausdruck in seinen Augen sofort aufgefallen. Er hatte das allerdings auf Lees Drogenkonsum zurückgeführt und ihn trotzdem für einen Schläger gehalten. Wie offenbar alle anderen auch.

Auf Karens Wangen breiteten sich rote Flecken aus, als könnte sie auch nur den leisesten Anflug von Mitleid nicht ertragen. »Er kam irgendwie zurecht. Er verstand, wie Geld funktionierte, und …« Sie wedelte mit der Hand. »… die alltäglichen Dinge des Lebens. Aber er war sehr naiv, er glaubte alles, was man ihm sagte. Und er traf keine eigenen Entscheidungen. Er erwartete immer, dass andere ihm sagten, was er tun sollte.«

Sie erhob sich, riss eine Schublade auf und durchwühlte sie, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

»Hier.«

Sie reichte Lockyer ein Foto von sich und Lee, auf dem sie, offensichtlich in einem Burger King, an einem Plastiktisch saßen. Karen hatte ihre Arme um seine breiten Schultern gelegt – allerdings reichten sie nicht ganz herum. Lees Haare waren struppig und nicht ganz so kurz. Er wirkte jünger als auf dem Polizeifoto und lachte. Zwischen seinen fleischigen Fingern hielt er eine einzelne Pommes wie eine Zigarette.

»Das war mein großer Bruder«, sagte Karen mit stockender Stimme. »Lee wollte nichts weiter vom Leben als einen großen Teller voller Essen und dass alle glücklich waren.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es fotografiere?«, fragte Lockyer.

Karen schüttelte den Kopf, und er machte mit seinem Handy ein Foto davon.

»Deshalb weiß ich, dass er mit dem Tod dieses Mädchens nichts zu tun hatte. Er hätte ihr niemals wehtun können – oder sonst irgendjemandem.«

»Auch nicht, wenn man ihn dazu aufgefordert hätte?«

»Nein. Auch dann nicht.« Sie war felsenfest davon überzeugt. »Und er wurde ohne Anklage wieder auf freien Fuß gelassen. So wie die beiden anderen.«

»Hat er je mit Ihnen über Holly Gilbert gesprochen? Oder darüber, was in dieser Nacht passiert ist?«

»Kaum. Ich habe ihn natürlich danach gefragt. Er meinte, dass er nichts darüber wisse, und ich habe ihm geglaubt. Er war ein lausiger Lügner – dafür fehlte ihm einfach die Fantasie.«

»Sie lebten damals beide in Salisbury, etwa dreißig Kilometer von der Stelle entfernt, wo Lee gefunden wurde. Hatte er einen Führerschein?«

»Nein, er wollte nie einen machen. Das war wahrscheinlich auch besser so.«

»Wie hat er sich dann fortbewegt?«, fragte Lockyer.

»Er wurde gefahren. Allerdings hasste er es, in einem Auto zu sitzen, er nahm lieber den Bus – da war mehr Platz, verstehen Sie? Oder er ging zu Fuß. Er überlegte nicht lange und marschierte einfach los.«

»Aber doch keine dreißig Kilometer? Nach Everleigh?«

»Nein«, sagte Karen.

»Kannte er da jemanden? Hatte er dort Freunde?«

Lockyer ging äußerst behutsam vor, denn er hatte keine Ahnung, wie viel Karen wusste, und wollte ihr nichts in den Mund legen. Karen runzelte die Stirn.

»Nicht dass ich wüsste, aber … er stand nicht unter meiner Fuchtel, wissen Sie? Ich habe zwar versucht, ihn im Auge zu behalten, aber ich hatte auch noch mein eigenes Leben.«

»Wie kam es, dass Lee obdachlos wurde?«, fragte Broad.

»Er war nicht obdachlos – jedenfalls nicht so, wie sich das anhört.«

Das Mädchen auf dem Teppich fing plötzlich heftig an zu schreien. Karen bückte sich, nahm es hoch und küsste es auf die klebrige Stirn, bis es sich wieder beruhigt hatte.

»Unsere Mutter ist in dem Winter gestorben – sie hatte einen Herzinfarkt. Lee war untröstlich. Er ist nur schwer damit klargekommen. Das Sozialamt hatte ihm gerade erst eine eigene Einzimmerwohnung bewilligt, nachdem er anderthalb Jahre darauf gewartet hatte, aber nach dem Tod unserer Mutter wurde er wegen Störung der öffentlichen Ordnung verurteilt, und man hat ihn wieder rausgeworfen. Ich habe Einspruch dagegen eingelegt, doch er ist nicht zur Anhörung erschienen.« Sie wirkte jetzt wütend. »Ich vermute, dass einer seiner Kumpels dabei seine Hände im Spiel hatte. Sie wollten nicht, dass er selbstständig ist, sie wollten ihn wie einen Hund an der kurzen Leine halten. Diese Mistkerle.«

»Miskele«, murmelte das Kind.

»Pssst, sag dieses Wort nicht«, wies Karen sie zurecht. »Vor allem nicht vor Daddy«, fügte sie mit einem Blick Richtung Lockyer und Broad hinzu.

»Lee hat also bei Ihnen gewohnt?«

»Ja. Immer mal wieder. Oder er hat bei verschiedenen Leuten auf dem Sofa gepennt – nicht dass er auf ein Sofa gepasst hätte.«

Das konnte Lockyer gut nachempfinden. Auch er schlief auf einem Sofa nie besonders gut, dabei war er nur ein paar Zentimeter über eins achtzig und eher schlank.

»Ich hatte damals meinen Mann noch nicht kennengelernt«, fuhr Karen fort. »Ich lebte mit meinem Freund zusammen, und wir hatten nur ein Schlafzimmer. Aber ich konnte ja wohl kaum meinen eigenen Bruder vor die Tür setzen, oder? Ich habe wirklich mein Bestes gegeben.«

Sie suchte die Arbeitsfläche ab, bis sie eine halbe Banane fand, und gab sie dem Kind.

»Ich habe versucht, ihm zu helfen, aber … vielleicht ist mir das nicht besonders gut gelungen.«

»Lee war siebenundzwanzig, Mrs. Wilkins«, sagte Lockyer. »Er war erwachsen.«

»Ja, aber er war so schutzlos«, sagte sie knapp, und Lockyer verwarf den Gedanken, sie zu trösten.

Mit Selbstvorwürfen kannte er sich aus. Mit der dunklen Verlockung der Selbstbezichtigung. Wenn man in Gedanken immer wieder ein Ereignis durchspielte und sich wünschte, anders gehandelt zu haben. Er hätte in der Nacht, als sein Bruder Christopher getötet wurde, bei ihm sein können. Stattdessen hatte er sich entschlossen, woanders zu sein. Und obwohl er wusste, dass er es nicht ändern konnte, hielt ihn das nicht davon ab, immer wieder über diese Entscheidung nachzudenken.

»Und nachdem Sie Lee am Morgen des achtzehnten November gesehen hatten, haben Sie nichts mehr von ihm gehört?«, fragte er. »Es gab keine Anrufe, keine SMS, nichts in der Art?«

»Nein.«

»Aber er hatte ein Handy?«

»Ja. Ein ganz einfaches Modell – wie es alte Leute benutzen.«

»Okay.« Lockyer notierte es sich. »Nach so langer Zeit ist es möglicherweise schwer, den genauen Todeszeitpunkt Ihres Bruders festzustellen, aber –«

»Er ist an diesem Tag gestorben«, unterbrach Karen ihn.

»Warum sind Sie da so sicher?«

»Er ist an dem Morgen aufgebrochen und nicht wieder zurückgekehrt. Er hat weder eine SMS geschickt noch angerufen, und er ist auch nicht ans Telefon gegangen, als ich versucht habe, ihn zu erreichen.«

»Und das war ungewöhnlich?«

»Das war vorher noch nie passiert. Er schrieb mir immer irgendwelche Nachrichten, um mir mitzuteilen, dass er im Bus war, sein Mittagessen aß, was auch immer er gerade tat. Ständig. Jeden Tag.«

»Vielleicht hat er sein Telefon verloren, oder es wurde gestohlen.«

»Er hätte eine Möglichkeit gefunden, mich anzurufen. Er wäre nach Hause gekommen, wenn er gekonnt hätte.«

»Und Sie glauben nicht, dass er einfach nur einen Spaziergang gemacht hat, draußen in der Natur?«

»Ganz allein? Ausgeschlossen.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig. In Salisbury kannte er sich aus – da fühlte er sich wohl. Fremde Orte machten ihm Angst, erst recht große Flächen ohne Läden und Straßenschilder, ohne vertraute Orientierungspunkte. Nein, wenn er diesen Ort aufgesucht hat, dann weil er dazu aufgefordert oder dort hingebracht wurde.«

Sie küsste ihre Tochter erneut auf die Stirn.

»Er … er war in diesem letzten Jahr mehr unterwegs als früher«, sagte sie. »Auch noch spätabends. Seine neuen Freunde … Ridgeway und die anderen. Sie haben ihn auf Partys mitgenommen, manchmal die ganze Nacht, solche Sachen eben.«

»Hat er so auch Holly kennengelernt?«

»Ich nehm’s an.« Karen biss sich auf die Lippe. »Ich habe ihn jedes Mal gefragt, wo er hingeht, was er vorhat. Leider hatte er inzwischen gemerkt, dass ich von seinen Freunden nicht viel hielt. Ich glaube, dass er mir deswegen kaum noch was erzählte … Er hasste es, wenn ich mich über ihn ärgerte.«

»Können Sie sich noch an weitere Namen aus seinem Freundeskreis erinnern? Außer Ridgeway und Holly Gilbert?«

»Nein. Ich hab’s versucht, doch ich bin mir nicht mal sicher, ob Lee mir gegenüber sonst noch jemanden erwähnt hat. Es gab da dieses Mädchen, das ebenfalls verhaftet wurde, aber ich nehme an, Sie wissen von ihr. Und irgendwann ist ein Typ in der Wohnung aufgekreuzt und hat nach ihm gefragt. Er schien in Ordnung zu sein. Sehr höflich. Aber er hat mir nicht seinen Namen gesagt.«

»Und was für einen Eindruck machte Lee auf Sie, bevor er am Achtzehnten aufgebrochen ist?«

»Er wirkte aufgewühlt.«

»War er wütend?«, fragte Broad. »Oder –«

»Nervös trifft es eher. Er war gereizt. Schon eine ganze Weile.«

»Und Sie wissen nicht, warum? Er hat nicht gesagt, wo er hinwollte?«

»Nein.« Karens Augen begannen erneut zu funkeln. »Ich war in Eile. Ich musste zur Arbeit. Ich wünschte, ich hätte ihn dazu gebracht, es mir zu sagen! Aber er murmelte nur, ›Ich muss es ihnen erzählen‹, oder so was in der Art.«

»›Ich muss es ihnen erzählen‹? Sind Sie sicher?«, fragte Lockyer.

»So was in der Richtung. Ich habe ihm nicht richtig zugehört. Während ich versucht habe, mir das Haar zu föhnen, tigerte er auf und ab und murmelte vor sich hin – haben Sie eine Ahnung, wie es ist, wenn ein Kerl von seiner Größe durch eine winzige Wohnung stapft? Also habe ich … ich habe ihn angeschnauzt. Er solle sich beruhigen, damit ich nicht zu spät zur Arbeit komme. Aber er sagte so was wie ›Ich muss etwas sagen‹ oder ›Ich werde es ihnen erzählen.‹« Ihr Blick war jetzt in die Vergangenheit gerichtet. »Ich wollte ihn loswerden, also sagte ich: ›Gute Idee, schieb ab.‹«

»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Broad.

»Ich weiß«, blaffte Karen. »Ich wünschte nur, ich hätte ihm besser zugehört. Ihn gefragt, wo er hinwollte, und mit wem. Andererseits …« Sie stieß einen lauten Seufzer aus. »Es hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht. Außer dass Sie ihn früher gefunden hätten. Seine … Leiche.«

Es entstand eine Pause, und das kleine Mädchen starrte Lockyer ernst an. Er stand auf und gab Karen seine Visitenkarte.

»Sie waren uns eine große Hilfe, Mrs. Wilkins. Danke. Falls Ihnen noch etwas einfällt – vor allem irgendwelche Namen –, rufen Sie uns bitte an.«

Sie nahm die Karte. »Ich werde wahrscheinlich nie die Wahrheit erfahren, oder?«

»Wir geben unser –«

»Bestes. Sicher. Aber das müssen Sie wohl sagen, oder?«

»Wir meinen es auch so«, sagte Broad.

»Er war eben nur ein weiterer toter süchtiger Störenfried, nicht wahr? Das haben die Leute gedacht, als er verschwand. Ich konnte es an ihren Gesichtern ablesen. In den Fernsehnachrichten wurden die Zuschauer nicht mal aufgefordert, sich zu melden, falls sie Informationen zu ihm hätten. Nach dem, was mit diesem Mädchen passiert war, dachten alle, dass er es verdient hatte. Aber Lee war nur ein sanfter Riese. Er hat es nicht verdient, dass man ihm wehtut. Ich hoffe nur …«

Sie verstummte, und ihr Gesicht war plötzlich von Kummer erfüllt.

»Ich hoffe, die haben ihm keine Angst eingejagt«, flüsterte sie.

Lockyer musste an die Gesteinspartikel denken, die die Gerichtsmedizinerin in Lees Atemwegen gefunden hatte. Daran, dass er möglicherweise lebendig begraben worden war. Falls das tatsächlich zutraf, hoffte er, dass Karen nie davon erfahren würde.

»Was denken Sie?«, fragte Lockyer, während er mit Broad auf einer von Weizen- und Gerstenfeldern gesäumten Straße Richtung Norden nach Devizes zurückfuhr. In der Ferne zog ein Mähdrescher, eingehüllt in eine Staubwolke, langsam sein Bahnen. Mehrere Krähen hockten trübselig auf den Telegrafenleitungen und schmorten in der Sonne.

»Nun, ich fand den Lockdown nur mit Pete allein schon schlimm genug«, sagte Broad. »Aber eingesperrt mit zwei kleinen Kindern wäre ich völlig durchgedreht.«

»Sie mögen Kinder wohl nicht besonders?«, fragte Lockyer.

Broad schüttelte sich. »Das ganze Chaos. Und dieses ständige Bedürfnis nach Aufmerksamkeit …«

»Ach, ich weiß nicht. Das Kind im Planschbecken wirkte doch ziemlich entspannt.«

»Wahrscheinlich hatte es einen Sonnenstich«, sagte sie, und Lockyer lachte. »Ich schätze, es ist was anderes, wenn es die eigenen sind. Meine Cousine hat Kinder immer gehasst. Sie fand es schrecklich, Leute mit einem Baby zu besuchen, weil die so langweilig geworden waren, und weil dort alles so klebrig war. Sie meinte, das sei entweder Spucke oder Kotze, wenn nicht gar Kacke. Dann bekam sie selbst Kinder, und jetzt …«

»Jetzt ist ihr ganzes Haus klebrig?«

Broad grinste. »Spucke, Kotze, Kacke.«

Sie wurde wieder ernst und dachte nach. »Peter möchte lieber heute als morgen Kinder haben. Aber momentan bekomme ich allein bei der Vorstellung … keine Ahnung. Beklemmungen? Jedes Mal, wenn das Thema zur Sprache kommt.«

Lockyer verzog das Gesicht. »Sie sind – wie alt? Dreiundzwanzig?«

»Vierundzwanzig.«

»Na also. Dann müssen Sie doch jetzt noch keinen Gedanken daran verschwenden, geschweige denn Kinder kriegen. Lassen Sie sich das von jemandem gesagt sein, der alt genug ist, um Ihr Vater zu sein.«

»Dafür sind Sie nicht alt genug.«

»Genau genommen, schon.«

»Nun. Das ist nicht meine Vorstellung von Ihnen.«

Es entstand eine Pause, und Broad spitzte die Lippen und wandte den Blick von ihm ab.

»Wollten Sie keine Kinder haben, Chef?«, fragte sie schließlich.

Lockyer antwortete nicht sofort. Ihr Tonfall suggerierte, dass es dafür jetzt zu spät war. Dabei war er erst zweiundvierzig. Beklemmungen. Aber das war eigentlich nicht der Grund. Die Vorstellung, Vater zu sein, war ihm einfach … fremd. Kinder zu bekommen, schien etwas zu sein, was nur andere Leute taten. All die Verantwortung. Broad war nie in seiner Wohnung gewesen, sonst hätte sie womöglich bemerkt, dass er keine einzige Topfpflanze besaß. Allerdings hatte er einen jüngeren Bruder gehabt. Einen Bruder, der ihn an dem Abend, als er ermordet wurde, bedrängt hatte, mit ihm auszugehen. Stattdessen hatte Lockyer es vorgezogen, allein zu sein.

Inzwischen herrschte im Wagen angespannte Stille.

»Bisher hat sich nicht die Gelegenheit ergeben«, sagte Lockyer schließlich.

Broad erwiderte nichts. Abgesehen von seiner Mutter war sie die Einzige, die von seinen Gefühlen für Hedy Lambert wusste. Hedy, die erst sein Herz erobert hatte und dann im Frühjahr verschwunden war, ohne zu sagen, wohin oder für wie lange. Und die sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte.

»Wie dem auch sei«, sagte er. »Ich meinte eben, was denken Sie über das, was Karen über ihren Bruder gesagt hat?«

»Ach so«, sagte Broad. »Nun, sie betrachtet ihn zwangsläufig durch die rosarote Brille. Offenbar hat sie ihn über alles geliebt. Aber behaupten die Angehörigen nicht immer, dass der Täter von seinen Freunden angestiftet wurde?«

»Manchmal schon. Aber sein niedriger IQ lässt sich nicht bestreiten.«

»Das heißt aber noch lange nicht, dass er nie gewalttätig war«, sagte Broad. »Vielleicht hatte er es manchmal einfach satt, herumgeschubst zu werden.«

»Und ist durchgedreht?«

»Genau. Das Foto allerdings, das sie uns gegeben hat – Lee war riesig. Verdammt riesig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihn jemand zur Senke hochgetragen hat, wenn er bewusstlos war. Oder tot.«

»Nein, Sie haben recht. Und selbst für einen Geländewagen ist es dort zu steil.«

»Entweder waren es mehrere Leute, und jeder hat einen Arm und ein Bein genommen, oder er ist da hochgelaufen«, sagte Broad. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er gelaufen ist. Wenn er dort keinen Spaziergang gemacht hat, ist er vielleicht vor jemandem weggerannt. Die Senke wäre ein gutes Versteck gewesen. Dann ist er gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen, und sein Verfolger hat ihn dort vergraben.«

Lockyer nickte. »Wir wissen vielleicht mehr, wenn wir mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen haben.«

»Karen meinte, dass Lee aufgewühlt gewesen sei, dass er irgendjemandem was erzählen wollte«, sagte Broad. »Vielleicht hat dieser Person nicht gefallen, was Lee zu sagen hatte.«

»Sie glaubt, dass er sich dort mit jemandem getroffen hat«, sagte Lockyer. »Und ich denke, sie hat recht.«

»Aber sie hat den Fundort nicht mit Holly Gilbert in Verbindung gebracht.«

»Nein, und belassen wir’s fürs Erste dabei.«

Lockyer musste an Karens Bemerkung denken, als sie sich verabschiedet hatte: Ich hoffe, die haben ihm keine Angst eingejagt. Er fragte sich, ob sie wusste, wer die waren – falls Lee seinen Mörder gekannt hatte. Denn nach Holly Gilberts Tod hatte man drei Personen verhaftet, und mit der Entdeckung von Lees sterblichen Überresten stand jetzt fest, dass alle drei innerhalb weniger Monate nach Holly gestorben waren. Das konnte kein Zufall sein. Die Polizei von Salisbury, die ursprünglich Hollys Tod untersucht hatte, war diesem Ansatz nachgegangen, hatte jedoch keine stichhaltigen Beweise gefunden. Und irgendwann wurden die Ermittlungen dann eingestellt.

Am Abend fuhr Lockyer direkt zur Westdene Farm. Die Schafe und die wenigen Rinder waren draußen auf der Weide, sodass der Hof verlassen war. Aus den Rissen im Asphalt sprossen Brennnesseln und Ampfer hervor, über den schwarzen Blechdächern der Scheunen flimmerte die Hitze, und in den staubigen Fenstern des Wohnhauses spiegelte sich golden das Sonnenlicht.

Lockyer traf seinen Vater vor dem Fernseher an, vor sich einen Teller mit einem Spiegeleitoast. Die beiden gefleckten Collies lagen flach auf den Tonfliesen, weil es zu heiß war, um aufzustehen. Lockyer machte sich einen Tee, da im Kühlschrank kein Bier war – allerdings gab es frische Milch, was ihn verwunderte. Durch die Abwesenheit seiner Mutter war das beunruhigende Gefühl der Entfremdung, das er in seinem Elternhaus empfand, schlimmer als je zuvor. Schon vor langer Zeit, seit dem Tod seines Bruders, hatte der Hof – und die Familie – begonnen auseinanderzubrechen. Aber jetzt kam es Lockyer so vor, als hätte er im Fundament mehrere breite Risse entdeckt.

Er konnte den Gedanken kaum ertragen, dass Trudy möglicherweise dauerhaft fortblieb, und hatte keine Ahnung, wie er oder sein Vater ohne sie klarkommen sollten. Aber er rief sich immer wieder in Erinnerung, dass sich ihr Zustand verbessert hatte, dass sie wieder zu Kräften kam.

»Wie ging es Mum heute?«, fragte er, als John seinen Teller abgestellt hatte und der Wetterbericht zu Ende war. Noch mehr Sonne und kein Regen in Aussicht.

»Ich hab’s nicht geschafft, sie heute zu besuchen«, sagte John und strich ein paar Krümel von seinem Hemd auf den Boden. »Der Wagen ist nicht angesprungen.«

»Dad – warum hast du nicht Bescheid gesagt? Ich hätte sie besuchen oder dich hinbringen können.«

»Du hast gearbeitet. Als ich es schließlich aufgegeben habe, war der Besuchstermin vorbei. Die Batterieklemmen waren verrostet, aber mit etwas Vaseline habe ich das Problem wieder behoben. Ich werde sie morgen besuchen.«

»Ich wollte sie eigentlich morgen besuchen. Ich habe um fünf einen Termin.« Dafür musste er zwar früher Feierabend machen, aber er arbeitete an den meisten Tagen sowieso länger. »Ich kann aber auch am Mittwoch hinfahren, wenn du sie morgen sehen willst.«

»Nein, nein. Geh nur.«

»Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas anderes gegessen als Eier auf Toast?«

»An Eiern auf Toast ist nichts auszusetzen.«

Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden.

»Wie kommst du zurecht?«, fragte Lockyer.

Sein Vater sah ihn an, als hätte er die Frage nicht ganz verstanden.

»Die Schafe brauchen immer noch ihr Fußbad«, sagte er schließlich. »Und die Lämmer brauchen ihre Entwurmungspille, bevor sie nach Long Ground rauf dürfen. Sieht so aus, als würde die Trockenperiode weiter anhalten. Also kann ich genauso gut auch jetzt schon anfangen, das Heu zu mähen. Allerdings muss ich vorher noch die Ballenpresse reparieren.«

Auch dagegen konnte Lockyer nichts einwenden. Es gab Arbeit, die sich nicht aufschieben ließ. John konnte für seine Frau nichts weiter tun, als zu warten, dass sie wieder nach Hause kam. Falls er sie vermisste oder sich Sorgen machte, ließ er sich das nicht anmerken. Das galt für alles andere auch. Zum gefühlt millionsten Mal wünschte Lockyer, sein Bruder wäre noch da. Chris mit seinem Optimismus, seiner guten Laune und dem Talent, sie alle aufzumuntern.

»Du brauchst Hilfe«, murmelte er, ebenfalls nicht zum ersten Mal. Lockyer lag seinem Vater ständig damit in den Ohren, seit ein übermütiges Kalb Trudy Anfang Juni über den Haufen gerannt hatte. Dabei war sie auf die Ecke eines Trogs gestürzt und hatte zwei Rippenbrüche und eine Prellung im Bauchraum erlitten. Man hatte sie im Krankenhaus zur Beobachtung dabehalten, eigentlich nur für ein, zwei Nächte. Aber dann wurde jemand auf ihrer Station positiv auf Covid getestet, und alle Patienten wurden unter Quarantäne gestellt. Trudy infizierte sich ebenfalls. Aus zwei Nächten wurden sieben Wochen, und ein Ende war nicht abzusehen. Drei Wochen davon hatte sie auf der Intensivstation gelegen, und sie wäre beinahe gestorben.

Spiegeleier und Toast waren das Einzige, wofür Johns Kochkünste reichten. Davon abgesehen und von den Fertiggerichten, die Lockyer vorbeibrachte, ernährte er sich offenbar nur von Tee und Keksen. Alle anderen Lebensmittel im Kühlschrank vergammelten und wurden nicht ersetzt. Außerdem hatte sich in kürzester Zeit ein Berg Schmutzwäsche angehäuft. Aber erst als sein Vater angefangen hatte zu stinken, war Lockyer klar geworden, wie hilflos er ohne Trudy war. Lockyer hatte dann ein ganzes Wochenende damit verbracht, seine Wäsche zu waschen.

Um den Hof zu bewirtschaften, benötigte man mindestens zwei Personen, selbst im Hochsommer, wenn es in einem Viehbetrieb relativ wenig zu tun gab. Im Idealfall würden sich vier Personen darum kümmern. Doch John schien zu glauben, dass Trudy jeden Moment zurückkehrte. Schon seit dem Tag, als man sie fortgebracht hatte. Den Vorschlag, sich vorübergehend Hilfe zu holen, hatte er rundweg abgelehnt.

»Ich hätte mir mehr freinehmen sollen«, sagte Lockyer. »Ich werde sehen, ob das geht. Und wenn auch nur für ein paar Tage. Um die Ballenpresse zu reparieren.«

Aber noch während er das aussprach, verspürte er einen verräterischen Widerwillen. Er musste sich morgen mit Broad im Leichenschauhaus Lee Gearys sterbliche Überreste ansehen und mit der Gerichtsmedizinerin sprechen.

»Du hast dich um deinen eigenen Job zu kümmern«, sagte John. »Außerdem meinte Jody, dass sie ein, zwei Ideen hat, was man ausprobieren könnte.«

»Womit?«

»Mit der Ballenpresse.«

Wie alles andere auf dem Hof wurde sie von orangem Bindfaden und Routine zusammengehalten.

»Moment mal«, sagte Lockyer. »Wer zum Teufel ist Jody?«

John warf ihm erneut diesen leicht verwunderten Blick zu. »Jody. Ich habe dir doch von ihr erzählt.«

»Ganz sicher nicht.«

»Na ja.« Er machte eine Handbewegung. »Du und deine Mutter, ihr habt mir doch ständig damit in den Ohren gelegen, dass ich mir Hilfe holen soll.«

Lockyer war überrascht. »Ich hätte nie gedacht, dass du tatsächlich auf uns hörst.«

»Tja, das beweist, dass dein alter Herr doch nicht ganz nutzlos ist, was?« Er runzelte müde die Stirn. »Andererseits … vielleicht doch.«

»Das stimmt nicht. Ich dachte nur … Wer ist sie? Wo hast du sie gefunden?«

»Oh, sie ist hier einfach aufgekreuzt. Weil sie gehört hat, dass ich ganz allein bin. Sie hat Malcom letztes Jahr beim Scheren geholfen. Sie kann gut anpacken. Hat zwar ein loses Mundwerk, aber sie kennt sich mit Schafen aus.«

»Sie ist hier einfach so aufgekreuzt?« Lockyer fand, das hörte sich nicht gut an. »Und sie wird dir auch im Haushalt helfen?«

John schien skeptisch. »Das glaub ich kaum. Sie ist mehr ein Naturmensch.«

»Dad …«

»Wir haben Glück gehabt, so kurzfristig überhaupt jemanden zu finden, Matt. Und sie hat als Teil der Bezahlung Chris’ altes Zimmer genommen, sie kostet also nicht viel.«

»Sie wohnt dort?« Lockyer verspürte ein Kribbeln des Unbehagens. »Das heißt … sie ist bereits eingezogen? Sie ist jetzt hier?«

Er schaute sich im Zimmer nach Anzeichen für eine fremde Person um, und dann fiel ihm die frische Milch im Kühlschrank ein.

»Aber du hast sie doch überprüft, oder? Ihre Referenzen?«

»Wie gesagt, sie hat letztes Jahr für Malcom gearbeitet. Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte John mit Nachdruck. »Die Hunde mögen sie«, fügte er hinzu, als sollte das als Empfehlung reichen.

Lockyer ließ es dabei bewenden. Allerdings verspürte er immer noch dieses seltsame Unbehagen darüber, dass er nicht, wie angenommen, allein mit seinem Vater im Haus war.

»Und … wo ist sie gerade?«, fragte er.

»Irgendwo auf dem Hof«, sagte John.

Lockyer machte sich auf die Suche nach ihr und fand sie schließlich im Maschinenschuppen aus Ziegel- und Feuerstein. Sie steckte mit dem Oberkörper tief in der Massey-Ferguson-Presse, die noch aus der Zeit vor seiner Geburt stammte. Lockyer sah lediglich ein Paar kräftiger, sonnengebräunter Beine in kurzen Jeans und abgewetzten Arbeitsstiefeln.

»Hallo«, sagte er.

Es ertönte ein dumpfer Schlag von Knochen auf Metall, gefolgt von einem gemurmelten »Scheiße«, während sie sich aus der Maschine herauswand.

Sie war groß und sportlich und hatte Tätowierungen auf Armen und Schultern. Sie trug ein kakifarbenes Trägerhemd, sah gesund aus, und ihre Haut hatte die tiefe Bräune eines Menschen, der viel Zeit im Freien verbrachte. Abgesehen von einem himmelblau gefärbten Pony waren ihre Haare kurz geschoren und schwarz. Lockyer schätzte sie auf etwa dreißig. Sie trug einen dünnen Silberring in der Nase, hatte einen markanten Kiefer und intelligente braune Augen, mit denen sie ihn jetzt prüfend musterte.

»Sie haben mir einen verdammten Schreck eingejagt«, sagte sie, während sie ihre Hände an einem Lappen abwischte. »Sie müssen Matt ein. Der Bulle. Richtig?«

»Und Sie müssen Jody sein.«

»Die bin ich.«

»Und, äh … Sie … arbeiten also für meinen Vater?«

»Richtig.«

»Und wohnen hier.«

»Auch richtig.«

»Gut«, sagte Lockyer. »Haben Sie … Sind Sie …«

»Darf ich Sie unterbrechen?«, sagte Jody. »Wir sparen uns etwas Zeit, wenn ich Ihnen kurz was zu meiner Person erzähle. Ich habe keinen festen Wohnsitz, und wenn es mal nichts zu arbeiten gibt, komme ich bei meiner Großmutter in Erlestoke unter. Sonst wohne ich dort, wo ich arbeite. Ich habe keine Freunde, und das gefällt mir so. Ich habe bei der Prüfung zur Mittleren Reife lediglich im Fach Mathe meinen Abschluss gemacht, und ich arbeite, seit ich erwachsen bin, nur auf Bauernhöfen. Ich bin eine Einzelgängerin, liebe meine Arbeit und mache keinen Ärger. Was wollen Sie sonst noch wissen?«

»Ich … äh …« Lockyer war völlig perplex. »Können Sie kochen?«

Jody lachte. »Etwas besser als Ihr Vater schon. Ich habe ihm angeboten, meine Spezialität – Rinder-Rendang – zu kochen, aber er wollte nicht.«

Lockyer gab ein Knurren von sich. »Er mag die meisten ausländischen Gerichte nicht.«

»Ich werde schon dafür sorgen, dass er keinen Skorbut bekommt, keine Angst.«

»Woher kommen Sie?«

»Von überall und nirgends.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber meine Großmutter hat immer in Erlestoke gelebt. Das ist für mich also eine Art Zuhause.«

»Ah ja.« Lockyer war ein wenig verwirrt.

Jody mustere ihn eine Weile ungeniert.

»Ich nehme an, Sie sind hier rausgekommen, um sich zu vergewissern, dass ich keine bösen Absichten hege«, sagte sie. »Dass ich nicht vorhabe, Ihren alten Herrn auszurauben und zu ermorden.«

»So was in der Richtung.«

»Nun, Sie können beruhigt sein. Eigentlich haben Sie Glück, dass ich gerade verfügbar bin. Ursprünglich sollte ich die ganze Woche auf dem Soul Tree Festival unten in Dorset arbeiten. Bis es wegen dieses beschissenen Virus abgesagt wurde.«

»Darf ich Sie nach Ihrem vollständigen Namen fragen?«

»Damit Sie ihn durch Ihren Computer jagen können?« Sie grinste. »Upton. Jody Ellen Upton. Sie werden in grauer Vorzeit ein paar Sachen finden, aber nichts Gravierendes.«

»Trotzdem. Nur um sicherzugehen«, sagte er mit einem Lächeln. Es war schwer, sie nicht zu mögen.

»Schon in Ordnung.«

»Haben Sie herausgefunden, was mit der Ballenpresse los ist?«

»Nein. Die Pickup verklemmt sich immer wieder, aber ich habe noch nicht herausgefunden, woran es liegt. Dafür ist es heute wahrscheinlich auch schon zu spät. Aber ich liebe diese alten Quaderballenpressen.« Sie schlug mit der Faust zärtlich auf das verblasste rote Metall. »Die sind für die Ewigkeit gebaut. Wenn ich das Rattern dieser alten Pressen höre, geht mir das Herz auf.«

»Lassen Sie meinen Vater bloß nicht hören, dass sie alt ist.«

»Toll, dass es einen Hof gibt, der noch nicht die großen Pressen einsetzt.«

»Oh, Sie werden feststellen, dass mangelnder Fortschritt hier so was wie ein roter Faden ist.«

»Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Bleiben Sie noch? Ich kann das Rendang machen, falls Sie so was mögen.«

»Ich bin Vegetarier.«

Sie lachte erneut, aber nur ganz kurz. »Mein Gott – ist das Ihr Ernst? Und Sie sind der Sohn eines Landwirts?«

»Aber ich sollte jetzt sowieso nach Hause fahren.«

Er konnte es kaum abwarten zu duschen. Außerdem passte Jody viel besser hierher als er, mit den Maschinenölflecken auf ihrer braunen Haut und den beginnenden Augenfältchen. Er kam sich hier seltsam unzulänglich vor.

»Übrigens, das mit Ihrer Mutter tut mir leid«, sagte Jody. »Die Ärmste. Das Krankenhaus ist genauso schlimm wie der Knast.«

»Danke.«

Es klang, als spräche sie aus Erfahrung. Doch Lockyer beschloss, nicht danach zu fragen.

»Also, falls es irgendwelche Probleme gibt, oder falls Sie Fragen haben …«

Er machte eine Pause, aber Jody erwiderte nichts.

»Ich schätze, man sieht sich.«

»Ja. Bis dann.«

Nachdem Lockyer kalt geduscht und etwas gegessen hatte, machte er es sich mit einem Bier bequem und betrachtete erneut Hedys Postkarte. Sie war am Samstag angekommen und enthielt jetzt auch nicht mehr Informationen als die ersten zwanzig Mal, die er sie gelesen hatte. Er las sie trotzdem noch mal. Wahre Freiheit kann nicht geschenkt werden, sie muss errungen werden. Ein Zitat von Franklin D. Roosevelt – er hatte es nachschlagen müssen. Es war mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben, unterzeichnet mit H und einem Lippenstiftabdruck.

Sie war zwar nur einmal in seiner Wohnung gewesen, aber nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis hatte sie eine Woche bei seinen Eltern verbracht, und während dieser Zeit waren sie das einzige Mal miteinander ausgegangen. Damals hatten sie sich auch zum ersten Mal geküsst und waren dann zu seiner Wohnung zurückgefahren, um miteinander zu schlafen. Der einzelne Buchstabe H rief ihm lebhaft eine Reihe von Sinneseindrücken in Erinnerung. Ihre Haare, die ihr auf Schlüsselbeine und Brüste fielen, der Geschmack ihrer Haut, ihre langen Beine, die seine Hüften umschlangen. Und dann war sie plötzlich fort gewesen.

Der Poststempel und die Briefmarke stammten aus Frankreich, und die Vorderseite zeigte ein nichtssagendes Foto von Sonnenblumen. Offenbar hatte sie kurz vor dem Lockdown das Land verlassen und sich während der Pandemie auf dem Kontinent aufgehalten. Sie hatte von Professor Roland Harris, ihrem früheren Arbeitgeber, in La Rochelle ein Haus geerbt, und vielleicht war sie jetzt dort.

Mit einem magnetischen Flaschenöffner in Form eines Sombreros, den sein Freund Kevin ihm aus einem Spanienurlaub mitgebracht hatte, befestigte Lockyer die Karte am Kühlschrank.

Freiheit kann nicht geschenkt werden. Genau das hatte Lockyer getan – zumindest glaubte er das –, indem er den wahren Mörder von Micky Brown überführt hatte. Er hatte Hedy ihre Freiheit geschenkt. Wollte sie also sagen, dass sie Zeit brauchte, um diese Freiheit zu akzeptieren, nachdem sie vierzehn Jahre lang im Gefängnis gesessen hatte? Oder dass sie eine grundlegendere Form von Freiheit finden musste, bevor sie an irgendetwas anderes denken konnte? Eine Freiheit, die nichts mit verschlossenen Türen oder vergitterten Fenstern zu tun hatte. Freiheit von Wut, Verbitterung, Angst und Reue.

Wie dem auch sei, er hatte ihre Botschaft verstanden. Die Karte war ein Bekenntnis zu ihm und der fragilen Bindung, die sie trotz aller Umstände eingegangen waren. Und vielleicht auch das Eingeständnis, dass sie ziemlich überstürzt abgereist war. Die Karte sagte ihm, dass sie in Sicherheit war und es ihr gut ging. Aber sie war eindeutig keine Aufforderung, zu ihr zu kommen.

3

TAG ZWEI, DIENSTAG

Eine so stark verweste Leiche wie die von Lee verströmte lediglich den schwachen Geruch von Erde, den man durch die Schutzkleidung, die sie trugen, kaum wahrnahm. Was ein Segen war.

Lockyer hatte in seinem Job genug Leichen gesehen, um zu wissen, dass normalerweise nur der Gerichtsmediziner die genaue Todesursache bestimmen konnte, außer es gab eine Schusswunde oder Stichverletzung. Da Lees Schädel weder mit Haaren noch mit geronnenem Blut bedeckt war, konnte man deutlich erkennen, dass er einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen hatte. Der Schlag hatte eine tiefe Delle hinterlassen, von der aus mehrere Risse nach außen verliefen. Lockyer musste erneut an die Tätowierung denken, an den Totenschädel in der Mitte eines Spinnennetzes. Inzwischen hatte man die schmutzigen Reste von Lees Kleidung entfernt und irgendwo anders verwahrt.

»Irgendeine Theorie zur Tatwaffe?«, fragte Lockyer.

Die Gerichtsmedizinerin Dr. Middleton neigte den Kopf zur Seite. »Der Größe der Verletzung nach zu schließen, muss es ein großer, runder Gegenstand gewesen sein. Nichts mit einer scharfen Kante.«

»Ein Baseballschläger?«

»Größer.«

Lockyer fielen die runden Feuersteine ein, die überall auf der Ebene lagen.

»War er sofort tot?«

»Schon möglich. Aber das lässt sich schwer sagen. Allerdings muss er ziemlich schnell das Bewusstsein verloren haben und innerhalb von höchstens ein oder zwei Stunden tot gewesen sein. Die Verletzung hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein subdurales Hämatom verursacht und Druck auf das Gehirn ausgeübt. Ohne ärztliche Behandlung hatte er keine Chance.«

»Aber er hätte vielleicht überlebt, wenn man ihn ins Krankenhaus gebracht hätte?«, fragte Broad.

»Durchaus möglich.«

»Und könnte es sein … dass man ihn lebendig begraben hat?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Auch das ist durchaus möglich. Aber wenn, dann hat man es vielleicht nicht absichtlich getan«, sagte Middleton. »Wer auch immer ihn vergraben hat, war in Eile und hat vielleicht nicht gemerkt, dass er noch nicht tot war.«

Broad beugte sich dichter zu Lees Gesicht hinunter. Es war das erste Mal, dass Lockyer erlebte, wie sie eine Leiche begutachtete. Im grellen Licht des Obduktionssaals sahen sie zwar alle ziemlich fahl aus, aber hinter ihrer Maske und dem Gesichtsschutz wirkte Broad keineswegs übermäßig blass. Der Raum war auf eine angemessene Weise nichtssagend. An einer Wand befanden sich in einer Reihe die Türen der Kühlfächer, und ringsum standen acht Tische aus rostfreiem Stahl, jeder mit einem Waschbecken und Ausguss am Ende. Die Fenster waren aus Milchglas, und die Klimaanlage funktionierte einwandfrei. Der Raum war angenehm kühl.

»In Ihrem Bericht steht, dass Sie in seinen Taschen nichts gefunden haben«, sagte Lockyer.

»Rein gar nichts«, sagte Middleton. »Bei einer frischeren Leiche wäre das möglicherweise von Bedeutung, aber in diesem Zustand … Seine persönlichen Gegenstände wurden vielleicht zersetzt oder fortgespült, als die Leiche bei der Überschwemmung bewegt wurde.«

»Wir kennen den Ort, von dem aus er an dem Tag, als er zuletzt gesehen wurde, aufgebrochen ist, und wir glauben zu wissen, wo er wahrscheinlich hinwollte, aber wir haben keine Ahnung, wie er auf der Ebene gelandet ist«, sagte Lockyer. »Können Sie etwas Licht in die Sache bringen?«

»Nein. Aber weitere Untersuchungen möglicherweise. Bei einer vollständigen Analyse finden wir vielleicht Pollen oder andere Palynomorphe. Fasern, mineralische Partikel und dergleichen. Sie könnten Aufschluss darüber geben, wo er sich in den Stunden vor seinem Tod aufgehalten hat. Außerdem können Sie versuchen, eine Probe von seinen Nasenmuscheln zu bekommen.«

»Entschuldigung, seinen was?«, fragte Broad.

»Nasenmuscheln – winzige Knochenlamellen in den Nasengängen. Eine Art Filter, der dafür sorgt, dass keine Schmutzpartikel in Lungen und Luftröhre gelangen. Manchmal kann man diese Partikel auch noch nach dem Tod entnehmen, selbst bei einem skelettierten Schädel. Das ist etwas kompliziert, aber möglich.«

»Sehr gut.«

Broad warf Lockyer einen erwartungsvollen Blick zu, worauf er den Kopf schüttelte.