Der Tote von Wiltshire  - Lockyer & Broad ermitteln - Katherine Webb - E-Book
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Der Tote von Wiltshire - Lockyer & Broad ermitteln E-Book

Katherine Webb

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Beschreibung

Vierzehn Jahre ist es her, dass auf dem Anwesen von Professor Ferris ein Mann heimtückisch im Schlaf erstochen wurde – eine grauenvolle Bluttat, die in der pittoresken Grafschaft Wiltshire einiges Aufsehen erweckte. Zwar sorgte Inspector Matthew Lockyer damals für die Verurteilung der Haushälterin Hedy Lambert, doch diese beteuerte stets ihre Unschuld. Als Hedy nun eindringlich um seinen Besuch im Gefängnis bittet, wird Lockyer gemeinsam mit seiner Kollegin Constable Gemma Broad in den Fall zurückkatapultiert. Lockyer und Broad rollen das Verbrechen erneut auf. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens und Zeugen, die alles dafür tun, hinter einer vornehmen Fassade wohlgehütete Geheimnisse zu wahren.

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ZUMROMAN

Longacres, ein herrschaftliches Anwesen im pittoresken Wiltshire. Mit blutverschmierten Händen steht Hedy Lambert neben der Leiche. Die Tatwaffe, ein langes Küchenmesser, trägt ihre Fingerabdrücke. Eindeutiger könnte dieser Fall nicht sein, und die Verurteilung der Haushälterin ist reine Formsache. Doch diese beteuert ihre Unschuld.

Vierzehn Jahre später klingelt das Telefon in Inspector Lockyers Büro. Unerwartet wird er in den Fall zurückkatapultiert. Ein verschollener Zeuge ist aufgetaucht, und sofort regen sich alte Zweifel. Hat Lockyer sich mitschuldig gemacht an einem Justizirrtum? Ist der wahre Mörder noch auf freiem Fuß? Lockyer und seine energische Kollegin Constable Gemma Broad rollen das Verbrechen neu auf. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens und Zeugen, die alles dafür tun, hinter einer vornehmen Fassade wohlgehütete Geheimnisse zu wahren.

ZURAUTORIN

Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Auf ihr großes internationales Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten weitere historische Romane, die SPIEGEL-Bestseller-Erfolge wurden. »Der Tote von Wiltshire« ist ihr erster Kriminalroman. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt die Autorin heute in der Nähe von Bath, England.

KATHERINE

WEBB

Der Tote

von Wiltshire

LOCKYER & BROAD ERMITTELN

Kriminalroman

Aus dem Englischen

von Babette Schröder

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 12/2022

Copyright © 2022 by Katherine Webb

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die englische Ausgabe erschien 2022

unter dem Namen und Titel Kate Webb,

Stay Buried bei Quercus, London.

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Shutterstock.com (Naffarts;

Quality Stock Arts; Pavlo Baliukh)

Autorenfoto: © NellMalliaPhotography

Redaktion: Angelika Lieke

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-29721-3V002

www.diana-verlag.de

Für James

1

TAG EINS, FREITAG

»DI Lockyer?«

Eine Frauenstimme, dumpf, seltsam vertraut. Eine Sekunde lang glaubte Lockyer, sie zu kennen. Dann Stille am anderen Ende der Leitung, nur ein kaum hörbares Einatmen.

Lockyers Nacken kribbelte. Aus der Fensterscheibe sah ihm sein verschwommenes Spiegelbild entgegen – eine große schlaksige Gestalt mit dunklem Haar, das geschnitten werden musste, einer schiefen Nase und dunklen Ringen unter den Augen. Er musste dringend mal wieder ausschlafen.

»Ja. Mit wem spreche ich?«

»Ich heiße Hedy. Hedy Lambert.«

Lockyer schwieg so lange, dass Constable Broad von ihrem Computer aufsah. Instinktiv wandte er sich von ihrem neugierigen Blick ab.

»H… Miss Lambert.« Er räusperte sich. »Ich … Es ist eine Weile her. Ich habe nicht damit gerechnet, noch einmal von Ihnen zu hören.« Auf seinem Schreibtisch standen drei leere Becher. Er begann, sie zusammenzustellen, indem er die Henkel so drehte, dass er alle gleichzeitig mit einer Hand greifen konnte. Wie ein unruhiges Kind spielte er damit herum. Er musste sich zur Ruhe zwingen.

»Nein.« Hedy holte tief Luft. »Wie geht es Ihnen?«

»Warum rufen Sie an, Miss Lambert?« Sofort bedauerte er, dass er so kurz angebunden war. Erneut Schweigen.

»Was denn, keine Zeit, ein bisschen zu plaudern?«, gab Hedy trocken zurück, aber es lag ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Lockyer wartete. Vielleicht hätte er mehr gesagt, wenn Broad nicht dort gesessen und sich sehr bemüht hätte, so zu tun, als würde sie nicht zuhören. »Sie müssen mich besuchen, Inspector Lockyer.«

»Wozu?«

»Es ist wichtig. Es … es könnte dringend sein. Vielleicht. Es geht um damals. Um Harry Ferris.«

»Haben Sie neue Informationen zu dem Fall?«

»Ja. Aber bevor Sie weiter fragen, ich werde Ihnen das nicht am Telefon sagen. Sie müssen herkommen. Bitte.« Das Bitte klang fast wie ein Flehen, aber nur fast. Lockyer versuchte, neutral zu klingen.

»Ich kann nichts versprechen …« Er suchte zwischen den Papieren und dem Müll auf seinem Schreibtisch nach einem Stift. »Wie lautet Ihre Adresse?«

»Meine Adresse?« Wieder dieser trockene, amüsierte Ton, in dem etwas Dunkles anklang. »Eastwood Park.«

Lockyer biss die Zähne zusammen, DC Broad warf ihm einen Stift zu. HMP – Her Majesty’s Prison – das Gefängnis Ihrer Majestät in Eastwood Park. Vierzehn Jahre waren vergangen – vierzehn Jahre, seit er dafür gesorgt hatte, dass Hedy Lambert eingesperrt worden war. Und sie war immer noch da. Überflüssigerweise schrieb er HMP E Park auf einen Zettel. Irgendwie hatte er gedacht, dass sie inzwischen auf Bewährung entlassen worden sei, aber das war sie natürlich nicht – sie hatte eine Mindeststrafe von zwanzig Jahren erhalten. So viel bekam man für einen kaltblütigen, vorsätzlichen Mord.

»Alles in Ordnung, Chef?«, fragte Broad, nachdem er aufgelegt hatte, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, um ihre Schultern zu dehnen.

Gemma Broad war klein und stämmig, was einige Kollegen zu der Annahme verleitete, sie sei nicht in Form, was ganz und gar nicht der Fall war. In ihrer Freizeit nahm sie an Triathlons teil. Bei einem Hindernislauf für einen guten Zweck, an dem die Polizei von Wiltshire sich letztes Jahr beteiligt hatte, wurden die meisten Männer im Team von ihr geschlagen – obwohl sie bei den höheren Wänden Hilfe gebraucht hatte. Sie war jung, wissbegierig und sehr klug, und sollte eigentlich nicht bei Lockyer und den Cold Cases hocken. Sie war außerdem von Natur aus äußerst neugierig, aber Lockyer wollte nicht über Hedy Lambert oder den Harry-Ferris-Fall sprechen – nicht, solange es nicht unbedingt nötig war.

»Es wird Zeit, dass Sie nach Hause kommen, Gem«, sagte er. »Das kann bis Montag warten.«

»Etwas Neues für uns?«

»Das bezweifle ich.« Er schüttelte den Kopf. »Nur jemand aus einem alten Fall von mir, wahrscheinlich gelangweilt oder auf Aufmerksamkeit aus, und …« Er brach ab, er konnte sich nicht dazu durchringen, über Hedy zu lügen. »Es ist wahrscheinlich nichts. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Gem.«

»Kommen Sie nicht mit auf einen Drink, Chef?«

»Nein, ich bin heute nicht in der Stimmung.«

»Haben Sie am Wochenende was Aufregendes vor?«

»Nur das Übliche. Essen mit der Familie. Am Haus arbeiten.«

»Party, Party, Party, stimmt’s?«

»Ohne Ende. Und Sie?«

»Zu Petes Mutter.« Broad verdrehte nur kurz die Augen. »Schon wieder.«

»Ist das nicht schon das dritte Wochenende hintereinander?«

»Nein.« Mit einem Seufzer stand sie auf. »Aber es fühlt sich so an. Sie ist außer sich, weil die Bauarbeiter die Arbeit niedergelegt haben. Gott weiß, was sie denen gesagt hat. Es wäre mir ja egal, aber sie will Merry nicht im Haus haben. Das arme Tier muss in der Garage übernachten. Und dann beschwert sie sich, wenn sie bei seinem Geheule nicht schlafen kann.«

»Klingt für mich nach einer guten Ausrede, um zu Hause zu bleiben und Pete allein fahren zu lassen.«

»Ja, aber … Nun ja. Er möchte, dass ich ihn begleite«, sagte sie eine Spur verlegen.

»Ich wünsch Ihnen was.«

Lockyer war Broads Freund nur ein paarmal begegnet und konnte nicht verstehen, was sie an ihm fand.

Als sie gegangen war, blieb Lockyer noch eine Weile auf seinem Platz sitzen. Er konnte sich nicht vorstellen, was Hedy Lambert ihm zu sagen hatte – vielleicht wollte sie ihren Zorn an ihm auslassen. Oder – endlich – ein Geständnis ablegen. Nach einer Weile schaltete er das Licht aus, durchquerte die Büros der Kriminalpolizei, ging die Treppe hinunter und verließ das Revier.

Das Polizeipräsidium von Wiltshire war in einem imposanten Backsteingebäude aus den 1960er-Jahren am westlichen Rand von Devizes untergebracht. Die Flagge mit dem Wappen und dem Motto der Polizei hing schlaff und klatschnass an ihrem Mast. Primus et Optimus. Der Erste und Beste – da es der älteste Polizeidistrikt außerhalb Londons war. Er hätte auch Minimus, der Kleinste, heißen können, wenn es nicht das gute alte Warwickshire gegeben hätte. Beide beschäftigten weniger als tausend Beamte.

Lockyer ging langsam zu seinem Auto, das hinter dem Gebäude stand, und dachte über die letzten vierzehn Jahre nach – wo er überall gewesen war, wen er getroffen, an welchen Fällen er gearbeitet hatte. Und während dieser ganzen Zeit war Hedy Lambert im Gefängnis gewesen. Er hatte entscheidend zu ihrer Verhaftung beigetragen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Es fühlte sich genauso an wie bei dem Fall im letzten Jahr, der zu seiner Versetzung vom Major Crime Investigation Team, das bei schweren Verbrechen ermittelte, in die Abteilung für ungeklärte Fälle, Major Crime Review, geführt hatte. Allmählich glaubte er das Gefühl einordnen zu können – es stellte sich stets ein, wenn er kurz davor war, das Falsche zu tun.

Aber er wusste bereits, dass er Hedy Lamberts Bitte nachkommen und sie besuchen würde. Weil er neugierig war, was sie ihm sagen wollte, und weil er das Gefühl nicht loswurde, dass er ihr etwas schuldete. Er konnte nicht vergessen, wie sehr er damals mit sich gehadert, wie er zehnmal am Tag geschwankt hatte, ob er ihr glauben oder an ihren Worten zweifeln sollte. Und er war sich nie sicher gewesen, ob er richtig gehandelt hatte, nicht einmal, als sie wegen Mordes verurteilt worden war.

Hedy Lambert verfolgte Lockyer bis zum Haus seiner Eltern. Es ist wichtig. Es … es könnte dringend sein. Der Fall war schon so lange abgeschlossen, dass er sich nicht vorstellen konnte, was daran dringend sein sollte.

Die Westdene Farm lag einsam in einem leichten Knick der Salisbury Plain, abseits der Hauptstraße, die das Weideland von Melksham nach Salisbury durchquerte. Als er in die Einfahrt abbog und das Auto parkte, peitschten Regenböen über den Hof. Von einigen Heuballen hatte sich die schwarze Plastikplane gelöst und flatterte im Wind, der zwischen den Metallpfeilern der »neuen« Scheune pfiff – die vor dreißig Jahren neu gewesen war. Die Luft roch nach Gülle und Rauch, und die Hunde fingen an zu bellen, als sie den Motor hörten. Es lag der übliche Müll herum – ausrangierte Reifen und Maschinenteile, leere Plastikfässer und Werkzeuge. Überall wucherte Unkraut. Dahinter erhob sich das weite, öde Land.

In der Dämmerung und bei Regen war es ein trostloser Ort. Aber es war ein Zuhause, der Ort, an dem Lockyer aufgewachsen war. Er fühlte sich vertraut und zugleich etwas bedrückend an.

Das jahrhundertealte Bauernhaus mit Backsteinmauern hatte einen quadratischen Grundriss. Lockyers Vater war in diesem Haus geboren worden, ebenso wie sein Vater vor ihm. Wie viele der kleineren Höfe in der Ebene befand sich Westdene seit Generationen im Besitz derselben Familie, deren Mitglieder stets ums Überleben kämpften. Wasser plätscherte von den verstopften Dachrinnen auf die dicken Moospolster darunter, und die Fenster im Obergeschoss wirkten dunkel und abweisend. Doch durchs Küchenfenster fiel gelbes Licht, und Lockyer konnte seine Mutter sehen, schlank und mit kurzem Haar, die eine verblichene Schürze trug und in dampfenden Töpfen rührte. Dem Herrn sei Dank, dass es sie gab. Als er die Tür öffnete, wurde er von zwei grau gefleckten Collies stürmisch begrüßt, und der vertraute Geruch des Hauses umfing ihn: alter Teppich und Ruß, ungewaschene Hundedecken, Kaffee und Essensdünste. Seine Schultern entspannten sich für eine Weile.

Lockyer ging zwei- oder dreimal im Monat zu seinen Eltern zum Abendessen. Da keiner von ihnen gern telefonierte, sprachen sie darüber hinaus nur selten miteinander. Lockyer machte sich Sorgen, dass Trudy und John zunehmend vereinsamten und mit sich und ihren Problemen allein blieben. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre er ihre letzte Verbindung zum Rest der Welt – und jämmerlich ungeeignet für diese Aufgabe.

Er rief einen Gruß, dann setzte er sich auf die Bank im Flur, um seine Schuhe auszuziehen. Die Hunde stupsten ihm ihre Nasen ins Gesicht, und als er sich wieder aufrichtete, sah er seinen jüngeren Bruder Christopher. Er sprang in ausgebeulten Jeans die Treppe herunter, eines seiner zwei guten Hemden bis oben zugeknöpft und in die Hose gesteckt, das kurze blonde Haar mit Gel frisiert, sodass es vom Kopf abstand. Mit gesenktem Blick suchte er in seiner Brieftasche nach einem Zehner. Natürlich, es war Freitagabend.

»Willst du in den Pub?«, fragte Lockyer. Oder hatte er es nur gedacht? Er blinzelte leicht verwirrt, und der Moment ging vorüber. Er hatte es nicht laut ausgesprochen, weil Chris nicht da war. Natürlich nicht. Einen Moment lang saß Lockyer still da und wartete darauf, dass sich die Anspannung in seinem Magen löste.

Während des Essens sprachen seine Eltern hauptsächlich über den Hof, was nicht sehr erbaulich war – noch mehr Ungewissheit aufgrund des Wetters, sinkende Preise, der Austritt aus der EU. John sagte nur sehr wenig zu allem. Erst als Trudy ihn dazu drängte, blickte er von dem Shepherd’s Pie auf. Es gab oft Shepherd’s Pie, wenn nicht Rindergulasch oder Hähnchen mit Klößen von seiner Mutter serviert wurden. Das hatten sie immer gegessen, und Lockyer brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er kein Fleisch mehr aß. Schon seit Jahren nicht mehr, aber er hatte das Gefühl, schon genug gegen ihren Lebensstil aufbegehrt zu haben, indem er weggegangen war und studiert hatte. Anstatt auf dem Hof zu bleiben, war er zur Polizei gegangen. Doch das mit der Polizei hatten sie inzwischen schon verstanden, dachte er.

Manchmal fragte er sich, warum nicht mehr Bauern Vegetarier waren. Er erinnerte sich daran, wie nervös er bei seiner ersten Obduktion gewesen war – ihm war mulmig zumute angesichts der kontrollierten Gewalt, die ihn erwartete. Und er fürchtete, beim Anblick der Eingeweide eines Menschen aschfahl oder grün im Gesicht zu werden, in Ohnmacht zu fallen oder sich zu übergeben – sich vor seinen Kollegen zu blamieren. Am Ende war es deutlich weniger schrecklich gewesen als viele Dinge, die er als Kind auf dem Bauernhof erlebt hatte. Schafe mit Fliegenbefall, die bei lebendigem Leib von Maden gefressen wurden; Kühe mit Blähungen, deren Mägen platzten. Die verzweifelten Schreie der Milchkühe, wenn ihre Kälber zum Schlachthof gebracht wurden. Er war den Tieren, die sie aufzogen, immer sehr nahe gewesen.

»Was ist los, Matthew? Du bist mit deinen Gedanken ganz woanders«, stellte Trudy fest. »Gib mir deinen Teller. Hast du genug geschlafen?«

»Letzte Nacht nicht so viel«, gab er zu.

Sein Vater ächzte.

»Vollmond«, sagte er. John Lockyer schlief auch nicht viel, und es gab eine Liste mit Dingen, die er dafür verantwortlich machte, als müsste er immer eine Erklärung parat haben. Irgendetwas anderes als die wahren Gründe, die sie alle nur zu gut kannten. Lockyer konnte den Anblick der hängenden Schultern seines Vaters kaum ertragen. Wie er immer wieder abwesend mit den dicken Fingern über seine Kleidung und die Tischplatte strich, als ob er nach etwas suchte.

»Kann sein«, sagte er.

»Das hat die Hunde wach gehalten«, sagte John. »Ich habe gehört, wie sie die halbe Nacht unruhig auf und ab gelaufen sind.«

»Ich habe kurz vor Feierabend einen unerwarteten Anruf bekommen, Mum, das ist alles. Wegen eines Falls.«

Die Pause, die auf seine Worte folgte, war ihm vertraut, sie war voller Erwartungen. Sein Vater sah ihm zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen, und Lockyer verfluchte sich.

»Nicht Chris’ Fall«, fügte er sanft hinzu.

»Natürlich nicht.« Trudy lächelte tapfer. »Wir wissen, dass du uns Bescheid sagst, sobald es etwas Neues gibt.«

Sobald es etwas Neues gibt. Es war Lockyers Schuld. Als er zu den Cold Cases gewechselt war, hatte er ihnen gegenüber seinen Bruder erwähnt – um ihnen zu sagen, dass er einen neuen Blick auf den Fall werfen konnte. Das Bedürfnis, den Schuldigen zu fassen, ließ ihn nicht los. Er konnte es nicht ignorieren – es war wie ein ständig an ihm nagendes Hungergefühl. Er hatte nicht erwähnt, dass er sich nicht mit dem Fall befassen durfte, weil er befangen war. Und auch nicht, dass er, als er es doch getan hatte, in denselben Sackgassen gelandet war wie die ursprünglichen Ermittler. Er hatte seinen Eltern Hoffnung gemacht, obwohl er es nicht hätte tun dürfen. Er hatte sich selbst Hoffnung gemacht – er hatte sich eingeredet, er würde etwas finden, was übersehen worden war. Und er hatte viel zu lange gebraucht, bis er schließlich einsehen musste, dass er falschgelegen hatte.

Lockyer nickte. »Es ist einer meiner alten Fälle, um genau zu sein. Einer meiner ersten als DI.«

»Ein ungelöster?«

»Nein, nein. Es wurde jemand festgenommen.« Er sah, dass Trudy seine Wortwahl registrierte. Nicht der Täter wurde gefasst, oder der Fall wurde erfolgreich gelöst. »Wahrscheinlich hat der Anruf nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich läuft es auf nichts hinaus. Was gibt’s zum Nachtisch?«

Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte, er könnte versagt haben oder in noch mehr Schwierigkeiten stecken. Er wusste, dass sie sich Sorgen um ihn machte, neben all den anderen Dingen, um die sie sich sorgen musste. So war das mit plötzlichen Verlusten. Sie führten dazu, dass die Menschen sich an etwas klammerten. Er stand auf, um den Tisch abzuräumen, weil ihm erneut der Fall Hedy Lambert durch den Kopf schoss – er erinnerte sich daran, wie er in der Frühe an einem herrlichen Sommermorgen im Haus von Professor Roland Ferris aufgetaucht war. An den Geruch des blühenden Jasmins an der Mauer und des feuchten, frisch gemähten Rasens. Eine getigerte Katze war um seine Füße gestrichen, als er an die Tür geklopft hatte. Und dann, kurz darauf, hatte er sich neben Hedy in einer kleinen Scheune über den Körper eines Mannes gebeugt, der tot auf dem Fischgrät-Ziegelboden lag.

Er erinnerte sich, wie sie ihn ohne zu blinzeln angestarrt hatte. An ihr Zittern. Wie sie die blutverschmierten Hände von sich gestreckt hatte, als ob sie nicht zu ihr gehörten. Als ob sie ihre Kleidung nicht beflecken wollte, obwohl sie doch schon voller Blut war. Er erinnerte sich daran, dass er für einen Moment seine Ausbildung vergessen und sich genauso verloren gefühlt hatte, wie sie aussah.

Vierzehn Jahre waren vergangen, aber er erinnerte sich sogar noch daran, dass die Katze Janus hieß. An jedes Detail. Es war, als hätte das alles in seinem Hinterkopf gewartet. Als hätte er irgendwo gewusst, dass die Angelegenheit noch nicht erledigt war und er sich eines Tages aufs Neue mit alldem befassen musste.

Trudy folgte ihm mit den restlichen Tellern in die Küche.

»Wie geht es ihm?«, fragte Lockyer sie leise.

»Nicht übel.« Trudy verzog das Gesicht. »Du kennst doch deinen Vater. Alles ist finster und trostlos, aber wir geben nicht auf.«

»Komm schon, Mum.« Sie versuchte zu oft, seine Fragen leichtfertig abzutun.

»Na ja.« Für einen Moment erstarb das sonst stets präsente Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie sah nur noch alt und verloren aus. Lockyer hasste diesen Anblick. »Um diese Jahreszeit ist es immer schlimmer. Wenn nur der verdammte Regen nachlassen würde! Eastground und Flint sind schon überschwemmt.«

»Ja, das habe ich auf dem Herweg gesehen.« Die beiden Felder, die an der Straße lagen, waren auch überflutet.

Es lag ihm auf der Zunge, erneut den Verkauf des Hofs anzusprechen. Dass sie irgendwo in einen kleinen, warmen Bungalow umziehen sollten, wo es weniger Schlamm, Kummer und Arbeit gab. Vielleicht ein paar Nachbarn, die sie daran erinnerten, dass sie Teil einer größeren Gemeinschaft waren und dass es mehr im Leben gab, als Tiere zu füttern und Ställe auszumisten. Als das ständige Rechnen und Flickschustern am Rande des Ruins. Trudy ließe sich vielleicht überreden, dachte er. Sie war in einem komfortablen Reihenhaus in der Kleinstadt Amesbury, nicht weit von Stonehenge aufgewachsen. Aber die Westdene Farm war schon immer Eigentum der Lockyers gewesen, und als er ihnen das letzte Mal einen Verkauf vorgeschlagen hatte, hatte John ihn vollkommen verwirrt angesehen. Verkaufen? Um was zu tun?

Und natürlich war Christopher auf dem Hof, wenn er überhaupt noch irgendwo war.

Sie hatten sein Zimmer ausgeräumt, hatten keinen Schrein daraus gemacht, aber er war immer noch da. Und gleichzeitig auf so schreckliche Weise auch nicht mehr. Eine einzelne Socke von ihm zwischen den Flusen, die sich hinter dem Trockner angesammelt hatten, das Glas mit Marmite, das nur er mochte und das klebrig und inzwischen ungenießbar hinten im Schrank stand. Lockyer fragte sich, ob seine Eltern Christopher manchmal auch im Haus sahen, so wie er. Eine Sinnestäuschung, eine zu hell aufflackernde Erinnerung – und dennoch ein Moment, ein Sekundenbruchteil, in dem alles wieder in Ordnung zu sein schien. »Wollt ihr nicht mal überlegen, euch wenigstens etwas Hilfe zu holen?«, fragte er. »Eine Aushilfe oder ein Auszubildender würde nicht viel kosten …«

»Er oder sie würde mehr kosten, als wir uns leisten können, Matt.«

Trudy griff in einen hohen Schrank, um eine neue Tüte Zucker herauszuholen. Sie verzog das Gesicht und drückte die Finger in die dünnen Muskeln an ihrer Schulter – der Tribut jahrelanger Landarbeit. Lockyer fühlte sich hilflos, dann flammte eine alte Wut in ihm auf. Anstatt kalt in seinem Grab zu liegen, hätte Christopher da sein sollen, um zu helfen. Er war es gewesen, der auf dem Hof bleiben und sich hier etwas hatte aufbauen wollen. Er war derjenige mit dem Talent, Freunde zu finden und die Leute zum Lachen zu bringen.

Trudy ergriff Lockyers Hand. »Mach dir nicht so viele Sorgen um uns. Wir kommen schon zurecht.«

»Mum …«

»Also, dieser Anruf. Bedeutet das, dass du dir den Fall noch mal ansehen wirst?«

»Das hängt davon ab, was sie mir zu sagen hat.«

»Sie?«

»Hedy Lambert.«

»Hedy? Wie der Filmstar? Sie war eine der Lieblingsschauspielerinnen meines Vaters.«

»Ich habe sie vor vierzehn Jahren wegen Mordes ins Gefängnis gebracht.« Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, locker zu klingen.

Trudy blickte zu ihm hoch und tätschelte seinen Arm. »Ich bin mir sicher, dass sie wegen ihrer Tat ins Gefängnis musste – nicht deinetwegen. Aber du gehörst doch zur Abteilung für ungeklärte Fälle. Wer könnte sich besser darum kümmern?«

»Können zwei Personen eine ›Abteilung‹ sein?«

»Natürlich! Ich mag dieses Mädchen. Gemma. Sie ist vernünftig.« Trudy rührte vier Stück Zucker in Johns Kaffee. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie auf Lockyers missbilligenden Blick hin. »Aber ich konzentriere mich auf das Wesentliche, Matthew.«

»Ich komme morgen wieder und kümmere mich um die Dachrinnen. Ich habe nichts anderes vor, und …«

»Nichts anderes, als dich auszuruhen. Und dich um dein eigenes Haus zu kümmern. Und, oh, ich weiß nicht, vielleicht über so etwas wie ein Sozialleben nachzudenken? Jemanden zu treffen …? Wir kommen schon klar.«

»Ich komme morgen und mach sie sauber. Keine Widerrede, Mum.«

Lockyer würde auch in dieser Nacht nicht gut schlafen. Das war ihm klar, sobald er sich kurz nach Mitternacht hinlegte, während der Wind laut um die Mauern seines kleinen Hauses toste und die kahlen Bäume dahinter durchschüttelte. Es war ein einsames Geräusch, aber er mochte es, auch wenn es ihn immer unruhig machte. Doch es lag nicht nur daran, oder am Shepherd’s Pie, der ihm schwer im Magen lag, dass er nicht einschlafen konnte.

Die Erinnerungen an Hedy Lambert ließen ihn nicht los. Die Leiche, die neben ihr auf dem Ziegelboden gelegen hatte, das Blut an ihren Händen und der dumpfe Klang ihrer Stimme heute am Telefon. Er fragte sich, wie sie jetzt wohl aussah, ob die Jahre gnädig mit ihr umgegangen waren oder ob das Gefängnisleben seinen Tribut gefordert hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er nicht gleich sagen können, was sie von anderen Menschen unterschied. Erst später, als sie alles am Tatort fotografiert, untersucht und aufgezeichnet hatten und sie sich das Blut abwaschen und sich umziehen durfte, war es ihm klar geworden.

Ihr Gesicht war völlig nackt gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine Frau – jedenfalls eine junge – ganz ungeschminkt gesehen hatte. Und ihr Haar war gepflegt, aber in keiner Weise gestylt gewesen. Es sah aus, als sei es schon länger nicht geschnitten worden, und es war auch nicht gefärbt. Es hatte einen unauffälligen Braunton, und sie trug es in der Mitte gescheitelt und hinter die Ohren gesteckt. Kein Schmuck. Anders als viele andere Frauen gab sie sich keine Mühe, aufzufallen und attraktiver zu erscheinen. Alte Jeans und ein ausgebeultes T-Shirt. Hedy Lambert hatte ausgesehen, als versuchte sie, unsichtbar zu sein, und er hatte sie auf den ersten Blick keineswegs hübsch gefunden. Das Gesicht etwas zu lang und zu schmal, die Augen mehr grau als blau. Und dennoch war Lockyers Blick immer wieder zu ihr zurückgekehrt. So wie jetzt die Erinnerung an sie zurückkehrte.

Es hatte keinen Zweck, liegen zu bleiben, wenn er ohnehin nicht schlafen konnte, also stand Lockyer auf. Manchmal half es, ein Stück zu gehen. Er schob die Füße in seine Stiefel, zog sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg. Der Regen hatte aufgehört, und hinter den dahinrasenden Wolken erschien das blasse Gesicht des Mondes. Der Wind rauschte in den Bäumen und klang wie das Meer. Die Hauseinfahrt war aufgeweicht, und der Boden hatte sich in Schlamm verwandelt; alle Schlaglöcher waren mit Wasser gefüllt. Im Nachbarhaus – dem einzigen im Umkreis von einem Kilometer – brannte Licht. Offenbar konnte die alte Mrs. Musprat auch nicht schlafen. In Lockyers Leben gab es eine Menge Menschen, die nicht schlafen konnten. Er fragte sich, ob Hedy Lambert wohl dazugehörte.

Da er als Zivilist und nicht als Polizeibeamter kam, musste der Gefängnisbesuch vierundzwanzig Stunden im Voraus angemeldet werden. Es war Sonntagnachmittag, als Lockyer sich auf den Weg machte und durch die Dörfer fuhr, die wie an einer Perlenkette aufgereiht an der Straße lagen. Er blinzelte in den fahlen Sonnenschein und vermied es tunlichst, zu sehr über die Frau nachzudenken, die er gleich treffen würde, und auch darüber, was sie sagen könnte. Er bog nach Westen auf die M4 und dann nach Norden auf die M5 ab, achtete nicht auf das Radioprogramm und hielt Blick und Gedanken fest auf die Straße gerichtet.

Eastwood Park lag etwas außerhalb des Dorfes Falfield in South Gloucestershire, ein Komplex aus niedrigen, unansehnlichen Zellenblöcken hinter einem hohen grünen Sicherheitszaun. Lockyer hatte morgens einige Zeit im Internet recherchiert. Bei einer Inspektion war kürzlich festgestellt worden, dass drei der Gebäude nicht den Anforderungen entsprachen, da einige der Insassinnen den größten Teil des Tages in ihren Zellen verbringen mussten. Von den etwa vierhundert Frauen, die dort untergebracht waren, bekam über ein Drittel niemals Besuch. Es gab Probleme mit Selbstverletzungen, Drogenmissbrauch und psychischen Erkrankungen, und ein hoher Prozentsatz der Inhaftierten war nach der Entlassung obdachlos. Lockyer hatte aufgehört zu lesen.

Nervös und neugierig zugleich wartete er an einem Tisch im Besuchsraum, wohlwissend, dass er wahrscheinlich gar nicht dort sein sollte. Ein Teil seiner Nervosität war dem Unbehagen zuzuschreiben, das er als Polizist in einem Gefängnis intuitiv empfand, aber das war nicht der einzige Grund.

Und dann kam sie. Bei ihrer Verurteilung war sie fünfundzwanzig Jahre alt gewesen, Lockyer siebenundzwanzig, ein junger, schnell aufgestiegener Detective Inspector. Jetzt war sie neununddreißig und sehr viel dünner, ihre Wangenknochen traten deutlicher hervor, das ungekämmte Haar reichte ihr bis zu den Ellbogen und war noch immer hinter die Ohren gesteckt. An den Schläfen zeigten sich erste graue Strähnen. Ihre Kleidung war unförmig wie eh und je – eine Jogginghose und ein T-Shirt –, und als sie ihn sah, zuckten ihre Mundwinkel. Was jedoch nicht im Entferntesten an ein Lächeln erinnerte.

Sie nahm schweigend Platz, und Lockyer unterdrückte den Impuls, sich zurückzulehnen. Als ob sie zuschlagen könnte. Er fragte sich, warum sein Unterbewusstsein diese Möglichkeit in Betracht zog. Sie musterte ihn mit den klaren grauen Augen, an die er sich so gut erinnerte.

»Danke fürs Kommen«, sagte sie schließlich.

»Wie ist es Ihnen ergangen?«, fragte Lockyer aus Verlegenheit.

Jetzt lächelte sie, es wirkte einen Hauch ironisch.

»Ach, wissen Sie, ganz toll. Meine Zellengenossin hat vorgestern Nacht eine große Dosis Spice genommen, also habe ich den Raum für mich, bis sie wieder auf der Erde landet.« Erneut ließ sie den Blick über sein Gesicht gleiten, und Lockyer erinnerte sich, dass sie klug war. Ganz egal, wie kaputt sie damals gewesen war, und ganz egal, wie kaputt sie auch jetzt sein mochte, sie war klug. »Sie haben also Ihr Talent für Small Talk nicht verloren«, sagte sie. »Nennen Ihre Kollegen Sie immer noch ›Farmer Giles‹?«

»Nicht mehr so oft.«

»Ich dachte, sie würden sich nur über Ihren Akzent lustig machen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass es in deren Cockney-Dialekt ein anderes Wort für Hämorrhoiden ist.«

»Ziemlich nervig«, sagte er gleichmütig. »Aber nur Spaß.«

»Wirklich?«

»Was wollten Sie mir sagen, H… Miss Lambert?«

»Sie können mich gern Hedy nennen. Wir sind ja schließlich alte Freunde.«

»Ich bin nicht als Freund hier, Hedy.«

Sie zuckte zurück. »Nein. Besten Dank.«

»Ich meinte, Sie wollten mich als Polizeibeamten sprechen, nicht als Freund. Richtig?«

»Ja, denn Sie sind der Beamte, der mich hier reingebracht hat.«

»Und bei Ihnen habe ich gelernt, nicht auf mein Bauchgefühl zu hören. Niemals.«

Hedy sah ihn mit trauriger Miene an. Um ihre Augen herum waren müde Falten zu sehen. Ihr Gesicht war wirklich nicht schön, aber sehr markant. Sie hatte immer noch etwas an sich, von dem er sich angezogen fühlte.

»Was, wenn Ihr Gefühl richtig war, Inspector Lockyer?«, fragte sie.

»Worum geht es, Hedy?«

»Harry Ferris ist wieder da.«

»Harry Ferris?«

»Ja. Er ist nach Hause zurückgekehrt.«

Lockyer blinzelte. Sein Herz schlug einmal heftig, als würde er etwas Bedeutendes erkennen. Etwas Großes. »Wohin nach Hause?«, fragte er vorsichtig.

»Nach Hause zu seinem Vater Professor Ferris. Nach Longacres in Stoke Lavington.«

Longacres, wo der Jasmin um die Tür herum wuchs, zu dem Kater namens Janus und der alten Scheune im hinteren Teil des Hauses mit dem Ziegelboden im Fischgrätmuster. Das Blut der Leiche war in den Mörtel zwischen den Ziegeln gelaufen und hatte sich mit schrecklicher geometrischer Präzision ausgebreitet. Zuerst hatte man den Toten für Harry Ferris gehalten – Roland Ferris beharrte darauf, dass es sein lange vermisster Sohn Harry war. Doch dann behauptete Rolands Schwester Serena, dass ihr Bruder sich täuschte und es sich nicht um Harry handelte. Eine Zeit lang hatte der Tote zwei Identitäten gehabt – oder keine. Die Ermittlungen gerieten ins Stocken, weil man erst herausfinden musste, wer das Opfer war. Lockyer erinnerte sich an das hochrote Gesicht der Ermittlungsleiterin, als der erste Satz DNA-Proben verpfuscht worden war. Am Ende gaben die Fingerabdrücke eine eindeutige Antwort. Es handelte sich nicht um Harry, sondern um einen Mann namens Michael Brown.

Später hatte Lockyer herausgefunden, dass Hedy Lambert ein Motiv hatte, sie beide zu töten.

»Woher wollen Sie wissen, dass Harry zurückgekommen ist?«, fragte er jetzt.

»Ich habe noch eine Freundin im Dorf«, antwortete Hedy. »In so einem Ort ist das eine große Neuigkeit. Sie hat mich angerufen.«

»Das ändert nichts … das ändert nichts an dem, was Sie getan haben. Oder daran, was passiert ist.«

»Doch, natürlich!« Sie sprach leise und eindringlich und legte die Hände flach auf den Tisch, die Finger gespreizt. Lockyer bemerkte Narben auf ihren Armen, die vorher nicht da gewesen waren. Dünne, parallel verlaufende rosa und silberne Linien. »Als Sie mich das erste Mal verhaftet haben, war es wegen des Mordes an Harry Ferris. Ein Mann, der fünfzehn Jahre zuvor seinen Vater – sein ganzes Leben – zurückgelassen hatte. Der spurlos verschwunden war. Wie kann es nichts bedeuten, dass er jetzt wieder aufgetaucht ist?«

»Sie haben trotzdem einen Menschen getötet, Hedy. Es war nicht Harry, aber …«

»Ich habe niemanden getötet!«

Der Aufseher sah zu ihnen herüber, und Hedy sank in sich zusammen, ließ die Hände in den Schoß fallen und starrte auf sie hinunter. Das hatte sie die ganze Zeit gesagt. Sie beteuerte hartnäckig ihre Unschuld, wenn auch auf die seltsam distanzierte unbeteiligte Art, die sie damals auszeichnete. Ihr Verhalten hatte ihr weder bei der Polizei noch bei den Geschworenen geholfen.

»Wer ist Ihre Freundin im Ort?«, fragte Lockyer. Hedy führte eine Hand zum Mund und nagte an der Haut um ihren Daumennagel. Eine nervöse Angewohnheit, die sie damals nicht gehabt hatte – 2005 strahlte sie eher eine gewisse Ruhe aus, die ihr im Gefängnis eindeutig abhandengekommen war. Außerdem war die Innenseite ihres Handgelenks vernarbt, und sie sah, dass er es bemerkte. Sie ließ die Hand erneut sinken und runzelte die Stirn.

»Ich habe es probiert«, sagte sie leise. »Vor ein paar Jahren. Aber als ich dabei war, erschien es mir so sinnlos wie das Leben. Sterben, meine ich. Also habe ich es mir anders überlegt und nach den Wärtern gerufen. Sie können sich nicht vorstellen, was ich danach für Prügel bezogen habe. Viele Leute hier wären lieber tot, aber man wird nur respektiert, wenn man den Mut hat, zu seiner Verurteilung zu stehen. Mit einem Hilfeschrei macht man sich nur lächerlich.«

»Sie können nicht mehr allzu lange abzusitzen haben«, sagte Lockyer.

»Ach nein?« Hedy verzog den Mund. »Meinen Sie, weitere sechs Jahre hier drin sind nicht lang?«

»Nun …«

»Lang genug, um sicher zu sein, dass ich nie die Chance haben werde, Kinder zu bekommen. Ich werde nie eine eigene Familie haben.« In die Wut, die ihren Augen einen harten Ausdruck verlieh, mischte sich Kummer. »Lange genug, dass diese Sache, die ich nicht getan habe, meine letzte Chance auf ein besseres Leben zerstört. Ein anständiges Leben.«

»Wer ist Ihre Freundin im Dorf?«

»Werden Sie der Sache nachgehen? Werden Sie mit Harry Ferris sprechen? Werden Sie ihn fragen, wo er die ganze Zeit war und warum sein Vater einen Fremden für ihn gehalten hat?«

»Hedy …«

»Ich weiß, dass Sie jetzt an ungeklärten Fällen arbeiten. Es hat mich überrascht, als ich davon hörte. Damals schien Ihnen eine glänzende Karriere bevorzustehen.«

»Ja. So ist es nun.« Lockyer sah weg. Die meisten Vorruhestandsbeamten hätten es als Degradierung gesehen. Als würde man kaltgestellt – was natürlich auch stimmte. In eine berufliche Sackgasse abgeschoben. Aber es machte ihm nicht annähernd so viel aus, wie die Leute annahmen. »Es passt besser zu mir. Ich war kein guter Politiker.« Er erzählte ihr zu viel, driftete ins Persönliche ab.

»Nein. Das kann ich mir vorstellen.« Sie lehnte sich wieder nach vorne. »Dann behandeln Sie den Fall als Cold Case. Rollen Sie ihn wieder auf.«

»Ich suche nach ungelösten Fällen, bei denen neue Beweise aufgetaucht sind. Bei denen neue forensische Techniken zu neuen Erkenntnissen führen können, oder bei denen ich einen Ermittlungsansatz finde, der bislang übersehen wurde. Dies ist kein ungelöster Fall.«

»Doch, das ist er.« Sie starrte ihn an. »Haben Sie Angst davor, sich zu irren? Angst, dass Sie sich geirrt haben könnten, meine ich?«

»Die Geschworenen haben Sie verurteilt, Hedy. Nicht ich.«

»Sie haben ihnen gegeben, was sie brauchten. Aber die haben sich geirrt, und Sie ebenso.«

»Ich kann keinen alten, abgeschlossenen Fall einfach wieder aufrollen. Nicht ohne guten Grund.«

»Harry Ferris ist ein guter Grund!« Er hörte, dass ihre Verzweiflung wuchs. »Ist sein Auftauchen kein neuer ›Ermittlungsansatz‹? Meine Freundin ist Cass Baker. Sie arbeitet immer noch am Postschalter im Dorfladen. Reden Sie mit ihr – sie ist die Einzige, die mir glaubt, dass ich es nicht getan habe. Zumindest sagt sie das …« Sie wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Sogar meine Mutter denkt … Sie würde es nie aussprechen, aber ich kann es in ihren Augen sehen – sie ist sich nicht ganz sicher. Nicht dass ich sie noch oft sehen würde. Sie sind vor ein paar Jahren nach Spanien gezogen, sie und Derek wollten vor dem Brexit dorthin. Sie besucht mich noch ein- oder zweimal im Jahr.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Sie müssen doch mit Harry Ferris sprechen wollen? Sind Sie nicht mal ein bisschen neugierig, wo er neunundzwanzig Jahre lang gewesen ist? Warum er weggegangen und jetzt zurückgekommen ist?«

Lockyer schwieg einen Moment. Er war natürlich neugierig. Harry hatte sich mit seinem Vater zerstritten und war als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten – so weit, so unspektakulär. Er war allerdings so sehr aus der Spur geraten, dass er von der Privatschule flog und mit fünfzehn zu seiner Tante und seinem Cousin zog. Nachdem er drei Jahre lang jeden Kontakt zu seinem Vater verweigert hatte, packte er mit achtzehn seine Sachen und verschwand ganz und gar. Und sein Vater Roland hatte sich so sehr nach seiner Rückkehr gesehnt, dass er sich an einen Fremden klammerte, der zwölf Jahre später in seinem Haus auftauchte, und ihn für Harry hielt. Aber Lockyer blieb stumm. Es genügte ihm nicht, neugierig zu sein – nichts, was er über Harry Ferris herausfinden könnte, würde an Hedys Tat etwas ändern.

Hedy wartete und beobachtete ihn, schließlich sprach sie wieder. »Vor einer Minute haben Sie gesagt, dass Sie bei mir gelernt hätten, niemals Ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Heißt das, Sie haben nicht geglaubt, dass ich es war? Dass Sie an einem bestimmten Punkt der Untersuchung dachten, ich sei unschuldig?«

»Irgendwann mal. Vielleicht. Ich glaube, das wissen Sie schon.« Er sah ihr in die Augen und hielt ihrem Blick stand. »Aber ich habe mich geirrt.«

»Was, wenn nicht?«, gab sie blitzschnell zurück. »Was, wenn Ihr Bauchgefühl Ihnen die Wahrheit gesagt hat?« Für einen kurzen Moment herrschte Stille. »Wer auch immer Michael Brown getötet hat, er ist davongekommen, Inspector. Und ich weiß, dassdas die Wahrheit ist.«

2

TAG VIER, MONTAG

Lockyer und DC Broad hatten an einer Serie von Überfällen auf Tante-Emma-Läden und Spirituosengeschäfte gearbeitet, die sich 1997 in und um Chippenham ereignet hatten – insgesamt sechs an der Zahl. Der letzte Überfall hatte für den zwanzigjährigen Verkäufer Gavin Hinch lebensverändernde Verletzungen zur Folge gehabt. Man hatte ihn mit einem Kricketschläger so fest auf den Kopf geschlagen, dass er fast gestorben wäre. Es hatte Monate gedauert, bis er wieder laufen und sprechen konnte. Speichelproben des Täters waren aufbewahrt worden – Speichel, der auf dem Tresen gelandet war, als er seine Anweisungen gebrüllt hatte. Aber damals war es technisch noch nicht möglich gewesen, ein DNA-Profil zu erstellen. Inzwischen verfügten sie zwar über das Profil, aber es hatte keine Treffer in der Datenbank ergeben.

Broads Enttäuschung war nahezu greifbar. Sie wollte Ergebnisse. Sie wollte Erfolge, eine Aufklärungsquote – etwas vorweisen können. Lockyer fragte sich, wie sehr sie sich wünschte, von den ungeklärten Fällen abgezogen zu werden. Sie hütete sich allerdings, es zu zeigen. Sie hatten am Donnerstag und Freitag nach anderen Spuren gesucht, denen sie nachgehen konnten, nach anderen Raubüberfällen desselben Modus Operandi, aber es war an der Zeit, den Sack zuzumachen. Das Profil des Täters blieb in der Datenbank, und wenn er jemals so unvorsichtig sein sollte, seine DNA an einem anderen Tatort zu hinterlassen, würden sie ihn kriegen. Es war frustrierend, aber es war an der Zeit, sich einem anderen Fall zuzuwenden.

Broad kam mit zwei dampfenden Bechern herein, einer mit Kaffee für sie, einer mit Tee für ihn, der die Farbe von Torf hatte. Sie sah frisch aus, ihre blauen Augen waren klar. Das lockige blonde Haar hatte sie zurückgekämmt, was Lockyer bei ihrem runden Gesicht als wenig schmeichelhaft empfand, aber bei ihr gab es keine Montagmorgen-Trägheit, niemals. Normalerweise fühlte er sich in ihrer Gegenwart hundert Jahre alt, aber wenigstens hatte er die Nacht zuvor besser geschlafen. Um zehn Uhr abends hatte er sich einen Podcast angehört – eine Folge von Making Sense – und sich gleichzeitig darangemacht, jahrzehntealten dunkelbraunen Lack von seinem Treppengeländer abzuschleifen – eine mühsame und anstrengende Arbeit, bei der sich Hände und Schultern verkrampften. Um ein Uhr morgens war er ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Der Besuch in Eastwood Park hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, aber jetzt fühlte er sich wieder ruhiger. Ihm fielen mehrere wichtige Gründe ein – vor allem einer –, sich nicht noch einmal mit dem Fall Hedy zu befassen, aber er war sich nicht sicher, ob er ihn wirklich loslassen konnte.

Constable Broad und er teilten sich ein kleines Büro im Dachgeschoss des Gebäudes: zwei Schreibtische, zwei Computer, zwei Telefone, ein Whiteboard, das sie nie benutzten. Grüner Kunststoffteppich, Schreibtische mit Metallfüßen und hellen Holzplatten. Broads Schreibtisch stand in der Ecke an der Wand, seiner seitlich dazu und dem Raum zugewandt. Ihr Schreibtisch war tadellos aufgeräumt, darüber waren ein paar Fotos angepinnt – Broad und eine Freundin, schlammverkrustet und mit geröteten Wangen, wie sie die Medaillen um ihren Hals hochhielten; ihr Jack Russell Merry mit heraushängender Zunge irgendwo am Strand; ihre Eltern und ihr Bruder, die lachend die Köpfe zusammensteckten, mit Biergläsern in den Händen.

Von ihrem Freund Pete gab es kein Foto. Als Lockyer danach gefragt hatte, war Broad rot geworden und sagte, dass Pete sich nicht gern fotografieren lasse. Sie hatte auch ein Usambaraveilchen, das anscheinend nie blühte. Wahrscheinlich lag das an dem schwachen Oberlicht. Auf Lockyers Schreibtisch herrschte ein einziges Durcheinander, und er hatte keine Fotos – überhaupt keine persönlichen Gegenstände. Durch Broad wurde er manchmal auf die Lücken in seinem Leben aufmerksam. Auf die Abwesenheit von anderen Lebewesen.

Sie drehte ihren Stuhl zu ihm und wärmte sich die Hände an ihrem Becher.

»Also, was als Nächstes, Chef?«

Sie pustete in ihren Kaffee und nippte daran, und er wusste, dass sie über den Anruf von Freitag informiert werden wollte. Der Zettel, auf den er HMP E Park geschrieben hatte, lag noch auf seinem Schreibtisch, und sie musste ihn gesehen haben. So war sie nun einmal – sie sah Dinge, ohne dass sie schnüffeln musste oder wollte. Er lächelte sie kurz an.

»Also, es hat sich etwas ergeben, aber …« Er setzte eine neutrale Miene auf.

»Ein alter Täter, der will, dass Sie sich seinen Fall noch mal ansehen?«, vermutete sie.

Lockyer nickte, obwohl ein alter Täter nicht nach Hedy Lambert klang. »Es war einer meiner ersten Fälle als DI, und ich hatte Bereitschaftsdienst, also war ich auch der Erste, der vor Ort war – die Leiche wurde am frühen Morgen gefunden. Ein Mord in einem Haus in Stoke Lavington. Der Name des Opfers war Michael Brown, bekannt als Mickey. Er gehörte zu einer Gruppe von Pavees, die sich in der Nähe niedergelassen hatte. Aber in den ersten Tagen dachten wir, es sei Harry Ferris, der Sohn des Hausbesitzers Roland Ferris, einem emeritierten Professor für mittelalterliche Geschichte.«

»Was bedeutet ›emeritiert‹?«

»Es bedeutet, dass er früher Professor an einer Universität war – ich glaube in Oxford – und dass er den Titel behalten durfte, als er in den Ruhestand ging. Es ist ein Ehrentitel.«

»Warum dachten Sie, das Opfer sei sein Sohn?«

»Weil Professor Ferris darauf beharrte.«

Lockyer schilderte Broad den Fall, wie er ihn in Erinnerung hatte. Hedy Lambert, Roland Ferris’ Köchin und Haushälterin, die im Haus wohnte, hatte die Leiche gefunden, als sie ihm wie jeden Morgen das Frühstück brachte. Das Opfer, vermeintlich Harry Ferris, hatte zu jenem Zeitpunkt bereits seit etwa sechs Wochen in der Scheune geschlafen, und auf Drängen Rolands hatte Hedy ihn dreimal am Tag mit Mahlzeiten versorgt. Ihm war mit dem großen Küchenmesser, das Hedy am Abend zuvor zum Gemüseschneiden benutzt hatte, in die Brust gestochen worden. Sie erinnerte sich, dass sie das Messer abgewaschen und auf dem Abtropfbrett liegen gelassen hatte. Die Hintertür des Hauses war verschlossen gewesen, als sie zur Arbeit kam – sie erklärte, dass sie die Tür wie üblich aufgeschlossen hatte. Es gab keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Der Mörder hatte also Zugang zum Haus – oder befand sich im Haus – und war in der Lage, das Messer zu nehmen und die Tür wieder abzuschließen.

Die einzigen Fingerabdrücke auf dem Messer stammten von Hedy, aber sie benutzte es regelmäßig für die Küchenarbeit. Im Haus gab es keine brauchbaren Spuren – kein Hinweis darauf, dass sich jemand in einem der Waschbecken gesäubert hatte, keine eilig versteckte blutverschmierte Kleidung oder Schuhe, keine mysteriösen Fußabdrücke. Nur Hedy, voller Blut. Sie sagte, es sei noch ziemlich dunkel in der Scheune gewesen, sodass sie die Leiche zuerst nicht gesehen habe. Sie sei in der Blutlache ausgerutscht und auf die Knie gefallen. Und sie habe ihn angefasst, um zu sehen, ob sie einen Puls finden könne.

Die einzigen Spuren an der Leiche stammten von Hedy: ihre DNA von ein paar Haaren und Fasern von einem Pullover, der ihr gehörte – genug, um eine enge körperliche Verbindung zu vermuten, obwohl sie den Pullover nicht getragen hatte, als Lockyer sie fand. Die einzigen Fußabdrücke stammten von den Gummischuhen, die neben der Hintertür standen und die sie anzog, wenn sie zu den Mülltonnen oder zum Komposthaufen ging. Sie hatte sie angezogen, um zur Scheune zu gehen, und sie getragen, als sie durch das Blut des toten Mannes gelaufen war.

»Klingt für mich so, als wäre die richtige Person ins Gefängnis gewandert, Chef«, sagte Broad vorsichtig.

»Möglicherweise.« Lockyer hörte, wie das klang. »Wahrscheinlich, ja.«

»Aber nicht eindeutig?«

»Das Blut an ihren Schuhen und ihrer Kleidung könnte auf die Art und Weise dort hingekommen sein, wie sie behauptet – sie hat ihn gefunden, ist ausgerutscht und hat den Puls überprüft. Sie ist etwas in Panik geraten.«

»Was ist mit den Spritzern aus der eigentlichen Stichwunde?«

»Der Pathologe sagte, dass es nicht unbedingt welche gegeben haben muss. Die Wunde bestand aus einem einzelnen Stich, der mit viel Kraft ausgeführt wurde. Zufällig verfehlte er die Rippen und ging direkt durch ihn hindurch – er war kein großer Mann. Es wurde eine Hauptvene durchtrennt, keine Arterie, sodass er schnell verblutete, aber das Blut lief durch die Austrittswunde aus und sammelte sich auf dem Boden, anstatt aus der Eintrittswunde zu spritzen.«

»Mein Gott – wie groß war das Messer?«

»Groß. Ein Kochmesser mit Holzgriff und einer dreiundzwanzig Zentimeter langen Klinge.«

»War sie eine große Frau? Stark genug, um ihn zu überwältigen und ihm einen solchen Stich zu versetzen?« Lockyer dachte an Hedys schlanke Arme und die angespannten Schultern, ihre zarten knochigen Hände.

»Es gab keine Hinweise auf einen Kampf.« Er schüttelte den Kopf. »Es sah aus, als hätte er geschlafen, als es passierte.«

»Okay. Dann hat er sich also nicht gewehrt«, stellte Broad fest. Sie legte den Kopf schief und warf Lockyer einen durchdringenden Blick zu. »Sie erinnern sich ziemlich gut an den Fall, Chef.«

»Es war mein erster Mord im Bereitschaftsdienst. Der Tatort hat mich beeindruckt.« Hedy, die blutverschmiert und zitternd neben der Leiche stand, die grauen Augen auf ihn gerichtet, ohne ihn dabei wirklich zu sehen. »Nachdem wir Hedy Lambert mitgenommen hatten, wollte sie nur noch mit mir reden. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort mit jemand anderem zu sprechen. Also führte ich alle Verhöre und nahm schließlich eine aktivere Rolle bei den Ermittlungen ein, als ich es sonst vielleicht getan hätte.«

»Wie kommt es, dass sie nur mit Ihnen geredet hat, Chef?«

»Keine Ahnung.«

Er wusste es, oder glaubte es zu wissen. Es war ihm unangenehm. Damals hatte es ihn veranlasst, ihr gegenüber besonders streng und misstrauisch aufzutreten. Er war jünger gewesen, wütender. Eifriger.

»Es kommt mir immer manipulativ vor, wenn ein Verdächtiger solche Forderungen stellt«, sagte Broad. »Das klingt nicht nach Unschuld, oder? Der Versuch, das Geschehen zu bestimmen.«

»Ja. Die Ermittlungsleiterin hat genau dasselbe gesagt. Sie war überhaupt nicht glücklich darüber, aber uns blieb keine andere Wahl, denn Lambert hatte nach ihrer Verhaftung kaum ein Wort gesagt, und wir brauchten ihre Aussage. Aber falls sie sich eingebildet hatte, es würde ihr helfen, da rauszukommen, ging der Schuss nach hinten los. Meine Vernehmungen haben zu ihrer Verurteilung beigetragen.«

»Sie meinen also, sie glaubte vielleicht, sie könnte mit Ihnen spielen, Chef?«

»Vielleicht.«

»Und warum ist sie jetzt wieder aufgetaucht? Diese Heidi?«

»Hedy. Sie hat immer ihre Unschuld beteuert.«

»Aber das ist doch nicht so ungewöhnlich, oder?«

»Nein … Es lief alles auf das Motiv hinaus. Wir hatten natürlich die Spuren von ihr, aber um es wasserdicht zu machen, mussten wir ihr Motiv herausfinden.«

»Und ist es Ihnen gelungen? In den Befragungen?«

»Ja, genau«, sagte Lockyer. »Wir mussten herausfinden, warum Roland Ferris daran festhielt, dass der Tote sein Sohn Harry sei. Sie hatten sich entfremdet, sich seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und wir mussten herausfinden, wer in diesem Haus wusste, dass es nicht Harry war, und wer glaubte, dass er es war.«

»Und was traf auf sie zu?«

»Hedy? Sie sagte, sie wusste, dass das Opfer nicht Harry war. Aber wir hatten nur ihr Wort. Die einzige Person, die das hätte bestätigen oder abstreiten können, wäre der Tote gewesen.«

»Und … warum ist sie jetzt wieder aufgetaucht?«

»Anscheinend ist Harry Ferris nach Hause zurückgekehrt. Diesmal tatsächlich.« Lockyer trank einen Schluck Tee und schaute aus dem Fenster. Am grauen Himmel ballten sich dichte weiße Wolken, der Wind zerrte an der Polizeiflagge. Ihn befielen Zweifel. Er traute seinen eigenen Motiven nicht, den Fall noch einmal aufzurollen. Er ahnte, dass das nur zu Kummer führen würde.

Broad unterbrach seine Gedanken. »Sie meinen, er ist zum ersten Mal wieder zu Hause? Seit …«

»1990. Genau. Laut Hedys Freundin Cass, die immer noch im Dorfladen arbeitet.«

»Nun, Sie wollen doch bestimmt mit ihm sprechen, oder?«

Lockyer sah Broad überrascht an.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »ich sehe ein, dass es für Lamberts Verurteilung vermutlich nicht relevant ist, aber wäre es nicht der Vollständigkeit halber nützlich zu wissen, was dort los war? Sind Sie je der Frage nachgegangen, warum Professor Ferris glaubte, der Tote sei sein Sohn? Harry?«

»Nicht gründlich.«

»Und warum in aller Welt hat das Opfer in der Scheune geschlafen?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich weiß nicht, was es bringen soll, noch einmal mit ihm zu sprechen.«

»Na, es kann doch nicht schaden, oder?«, meinte Broad. »Ich könnte die Akte heraussuchen und durchgehen, solange Sie weg sind. Es sei denn, Sie wollen, dass ich mitkomme?«

»Nein. Ich habe keinen richtigen Grund, ihm einen Besuch abzustatten. Besser, wir machen keine große Sache daraus.«

Die Polizeidirektion, die von den Revieren Melksham, Devizes und Bradford on Avon aus operierte, deckte ein riesiges Gebiet von Wiltshire ab, von der A303 im Süden bis Swindon im Nordosten, aber Lockyer brauchte nur eine Viertelstunde, um die zehn Kilometer nach Stoke Lavington zu fahren. Das Dorf lag nur anderthalb Kilometer von der Hauptstraße entfernt, die zum Hof seiner Eltern führte, aber an einer kleinen Straße, die in eine Sackgasse am Gelände des Verteidigungsministeriums mündete. Daher war er in den vierzehn Jahren, seit sie den Fall abgeschlossen hatten, nicht ein einziges Mal durch das Dorf gefahren. Als die ersten Häuser in Sicht kamen, spürte er einen seltsamen Ruck durch seinen Körper gehen.

Es hatte sich nichts verändert – oder besser gesagt, die einzigen Veränderungen waren die durch die Jahreszeit bedingten. Er erinnerte sich noch immer an die frühsommerliche Frische während seines letzten Besuchs. In jedem Beet und in jeder Blumenampel hatte es geblüht, und die Blätter an den Bäumen waren so grün gewesen, dass sie fast künstlich gewirkt hatten. Jetzt war es matschig, am Wegesrand standen Pfützen, die Bäume waren kahle Skelette, und die Häuser wirkten farblos und feucht. Die Mischung war typisch für die Dörfer im Norden und Westen von Wiltshire – es gab Häuser aus Back- und Naturstein, Stroh-, Ziegel- und Schieferdächer. Einige sehr hübsche Cottages, die mehrere Hundert Jahre alt waren, und einige sehr hässliche Nachkriegsbauten. Wasser tropfte von Dachrinnen und Zweigen. Außer einem älteren Mann, der mit einem angegilbten West Highland Terrier spazieren ging, war niemand zu sehen.

Lockyer parkte seinen Wagen – einen alten Volvo mit Allradantrieb – auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Longacres und betrachtete das Haus von Roland Ferris. Es war das größte im Dorf – niedrig, weitläufig, Hunderte von Jahren alt. Die Art von Haus, bei dem Touristen anhielten, um es zu fotografieren. Gräuliche Holzbalken zogen sich durch die alten Ziegelmauern. Über der Eingangstür befand sich eine Sonnenuhr, und auf der linken Seite führte ein Tor in einen großen Hof, der von Scheunen und alten Ställen umgeben war. Zum Zeitpunkt des Mordes waren dort Oldtimer statt Pferde untergebracht gewesen. Ferris sammelte und restaurierte sie, und der Hof war makellos gewesen, der Kies frei von Unkraut und glatt geharkt. Jetzt war er zerfurcht, von Moos und vertrocknetem Winterlöwenzahn überwachsen und um das Tor herum von Schlaglöchern übersät. Der Jasmin vor der Haustür war durch eine niedrige Klematis ersetzt worden, die sich weigerte, ein Spalier zu erklimmen. Sogar von der anderen Straßenseite aus konnte er sehen, dass die Farbe der Fenstersimse abgeblättert war. Aber abgesehen davon, dass das Haus vernachlässigt aussah, war es unverändert. Einer der Schornsteine rauchte. Lockyer stieg aus dem Wagen.

Die Frau, die auf sein Klopfen hin öffnete, war Ende sechzig, schlank und gepflegt. Ihr Haar war sorgfältig gefärbt, sodass es immer noch aschblond und irgendwie auch natürlich aussah. Er erkannte sie sofort wieder.

»Mrs. Godwin …«

Falls er erwartet hatte, dass sie sich ebenfalls an ihn erinnerte, wurde er enttäuscht. Die Schwester von Roland Ferris musterte ihn kühl und abweisend. »Ja? Wir kaufen nichts an der Tür.« Sie hielt die Türkante fest umklammert, als wollte sie sie gleich wieder schließen – notfalls mit Gewalt.

Lockyer zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Detective Inspector Lockyer. Wäre es wohl möglich, mit Ihrem Bruder Professor Ferris zu sprechen?«

»Lockyer … sagen Sie nicht, dass Sie der Lockyer sind? Der vor all den Jahren wegen dieser lächerlichen Sache mit dem toten Landstreicher hier war?«

»Ja, genau der.« Lockyer lächelte nicht. Er erinnerte sich an Serena Godwins scharfe Zunge, ihre extremen Ansichten. Ihre Kälte, die ihre steifen Umgangsformen und ihre gepflegte Aussprache nur mäßig verbargen.

»Immer noch DI? Müssten Sie nicht inzwischen befördert worden sein?«

»Darf ich reinkommen?«

»Ist das ein offizieller Besuch? Meine Güte, sagen Sie nicht, dass etwas anderes passiert ist?«

»Ich möchte nur kurz mit Ihrem Bruder sprechen, Mrs. Godwin. Wenn er zu Hause ist.«

Schnaubend trat Serena zur Seite, um ihn einzulassen. »Kommen Sie besser rein, während ich nachsehe, ob er wach ist«, sagte sie. »Diesmal liegt er tatsächlich im Sterben, glaube ich.«

Sie ließ ihn in der Diele stehen und ging die Treppe hinauf. Lockyer blickte den Korridor hinunter, der sich zu beiden Seiten des zentralen Treppenaufgangs durch das Haus zog. Gerahmte Aquarelle und Fotografien, polierte dunkle Antikmöbel, dicke Teppiche und Vorhänge in gedeckten Farben. Es war die Art von traditioneller Einrichtung, die nie ganz aus der Mode gekommen war. Klassisch, aber inzwischen etwas verblasst und muffig.

Er schlenderte den Korridor entlang und blieb stehen, um sich eine Fotomontage in den verblassten, sonnengebleichten Farben der 1980er-Jahre anzusehen. Die meisten Bilder zeigten Oldtimer – herrlich glänzend und makellos. Roland Ferris saß am Steuer oder stand lächelnd daneben, eine Hand stolz auf der Motorhaube oder einer offenen Tür. Auf einem Foto war eine blonde Frau in einem blau-weiß gestreiften Kleid zu sehen. Ihr Haar wurde von einer Sonnenbrille zurückgehalten. Sie stützte sich mit einem Ellbogen auf das Autodach und lachte in die Kamera. Lockyer nahm an, dass es sich um Ferris’ Frau handelte, die schon lange tot gewesen war, bevor er oder Hedy nach Longacres gekommen waren. Den Wagen kannte er nicht – er war kein Experte. Das Symbol vorn bestand aus einer winzigen geflügelten Frauenfigur, soweit er es erkennen konnte. Vielleicht ein Rolls Royce. Die Seiten des Wagens waren in einem satten Rotton gehalten, das Dach und die Radkästen waren schwarz. Im Hintergrund waren unscharf weitere Autos zu erkennen, die in einer ordentlichen Reihe in den Stallungen standen.

Lockyer wollte gerade weitergehen, als ihm etwas auffiel, das er bislang übersehen hatte – auf dem Fahrersitz des roten Wagens, der nur halb von der Sonne beschienen wurde, waren ein dunkler Haarschopf, ein blinzelndes Augenpaar und kleine Hände zu erkennen, die das Lenkrad umklammerten. Sie gehörten einem blassen Jungen von etwa elf oder zwölf Jahren – Harry Ferris.

Lockyer ging zu einer Zeichnung, die Boote in einem Hafen in Cornwall zeigte, dann weiter zum Ende des Flurs. Dort befand sich in einem großen, gewölbeartigen Anbau auf der nach Osten gewandten Rückseite des Hauses in der Nähe der Scheunen die Küche, die Hedys Reich gewesen war. Hedy hatte in einer umgebauten Wohnung über der Remise gewohnt. Das war damals ihre Welt gewesen: ihre Wohnung, der kurze Weg über den Kies zum Haus, Putzen, Kochen. Wenn sie ausgegangen war, dann nur zum Dorfladen mit dem Postamt. Es war eine kümmerliche, eingeschränkte Existenz gewesen, und Lockyer hatte einige Zeit gebraucht, um sie zu verstehen.

Serena rief von oben herunter.

»Sie können heraufkommen, Inspector. Mein Bruder empfängt Sie jetzt.«

Manche Menschen sprachen mit anderen Menschen automatisch so, als wären sie ihre Angestellten, und Serena Godwin war eine von ihnen. Lockyer erinnerte sich jedoch daran, dass er Roland Ferris fast zu mögen begonnen hatte.

Der Professor lag auf einem schmalen Bett, das in eine Ecke seines Arbeitszimmers gerückt worden war. Er war auf Kissen gestützt, aber vollständig bekleidet – eine senffarbene Weste über einem zerknitterten Hemd und eine dicke Cordhose, die an den Knien ausgebeult war. Das Bett war mit einem Haltegriff und einem elektrisch verstellbaren Kopfteil ausgestattet worden, um ihm das Aufstehen und Hinlegen zu erleichtern. Lockyers Blick fiel auf eine Kommode, eine Geh- und eine Greifhilfe. Die üblichen Dinge, die in einem Haus Einzug hielten, wenn ein Mensch alt und gebrechlich wurde. Es roch schwach nach Körpern und nach Kleidung, die zu lange getragen und ungewaschen war. Roland selbst war dünn und sah erschöpft aus, deutlich älter als seine vierundsiebzig Jahre. Das Weiß seiner Augen hatte einen gelblichen Ton angenommen, und er hatte sämtliche Haare verloren.

Serena bot Lockyer nichts zu trinken an und verließ wortlos das Zimmer.

»Inspector Lockyer. Verzeihen Sie mir, wenn ich nicht aufstehe, ich liege im Sterben, wie Sie sehen …« Der Professor hielt inne und hustete. »Erinnern Sie sich an Paul Rifkin, mein Mädchen für alles?«

Ein Mann, der auf einem der beiden Stühle an Rolands großem Schreibtisch gesessen hatte, stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Er war klein und stämmig, mit kurz geschnittenem grau meliertem Haar. Lockyer war selbst überrascht, ihn wiederzuerkennen. »Ja, natürlich. Hallo.« Lockyer schüttelte Pauls erstaunlich kleine Hand und erinnerte sich gleichzeitig daran, dass er ihn überhaupt nicht mochte. Seine Unterwürfigkeit und die zugleich überhebliche und selbstbewusste Art, mit der er alles tat, was man ihm sagte. Als ob seine Unterwürfigkeit etwas Einzigartiges und Edles wäre. Er war in der Armee gewesen, hatte als Teenager auf den Falklandinseln gekämpft und schaffte es, in jedem Gespräch irgendwie darauf zu verweisen. So ein Typ war er. »Ich bin überrascht, dass …« Lockyer unterbrach sich selbst.

»Überrascht, dass ich noch hier bin?«, beendete Paul den Satz für ihn und lächelte ein wenig zu breit. Er sprach mit einem leichten Geordie-Akzent. »Nun, ich wundere mich auch – an manchen Tagen jedenfalls! Nein, ich scherze nur. Ich könnte Sie jetzt wohl kaum im Stich lassen, in der Stunde der Not, nicht wahr, Professor?«

»Von mir aus können Sie abhauen«, murmelte Roland. Paul lachte, aber Roland unterbrach ihn. »Und ich bin nicht zu krank, um Sie zu feuern, wenn Sie nicht aufhören, auf diese alberne Art mit mir zu reden. Ich bin kein Kind!«

»Nun regen Sie sich doch nicht auf. Natürlich sind Sie kein Kind.«

»Werden Sie bloß nicht alt, Inspector«, sagte Roland. »Die Leute behandeln Sie wie einen Idioten. Mit meinem Kopf ist noch alles in Ordnung, nur mein Körper gibt den Geist auf. Diesmal läuft die Uhr wirklich ab. Hat meine Schwester Ihnen das gesagt?«

»Das hat sie. Es tut mir leid, das zu hören, Professor Ferris.«

Roland winkte ab. »Das muss es nicht. Ich habe in den letzten Jahren so viele Fehlstarts gehabt, dass ich mich eigentlich darauf freue, das Rennen endlich zu beenden. Wenn ich heute einigermaßen beieinander bin, dann nur, weil ich gerade eine Bluttransfusion bekommen habe. Die meiste Zeit bin ich reine Platzverschwendung. Aber das Sterben hat mir nach all den Jahren wenigstens meinen Sohn zurückgebracht.« Rolands Augen leuchteten. »Wie könnte ich es also nicht begrüßen?«

»Das habe ich auch gehört«, gab Lockyer zu.

»Natürlich haben Sie das – warum wären Sie sonst hier? Die interessantere Frage ist meiner Meinung nach, wie Sie davon erfahren haben. Paul, bringen Sie uns bitte einen Kaffee, ja? Und ein paar von diesen Pepparkakor-Keksen.«

Als Paul den Raum verlassen hatte, sagte Roland: »Das ist der andere Vorteil am Sterben. Niemand nörgelt herum, was man alles besser nicht essen sollte. Das ist doch nicht mehr wichtig, oder?« Er schob sich im Bett etwas höher und hob das Kinn an. »Sagen Sie, Inspector, wie geht es der lieben Hedy?«

»Hedy?«, echote Lockyer erstaunt.

»Ich kann nur annehmen, dass sie Sie irgendwie über Harrys Rückkehr informiert hat. Ich bin mir sicher, dass das ganze Dorf darüber redet, aber mir fällt niemand ein, der auf die Idee käme, die Polizei zu informieren.«

»Sie hat mich gebeten, sie zu besuchen, und ja, sie hat es mir erzählt«, gestand Lockyer.

Roland nickte traurig. »Und?«

»Und was?«

»Und wie geht es ihr?«

»Ich glaube, ganz gut.« Lockyer verlagerte etwas verlegen das Gewicht. Die Narben auf ihren Armen und an ihren Handgelenken. Wie sie an ihrem Daumen genagt hatte, ihre unterdrückte Verzweiflung. Wie ein Tier, das kurz davor war, sich ein Glied abzunagen, um sich zu befreien. »Unglücklich«, sagte er ehrlicher. »Sie möchte unbedingt raus. Um wieder ein Leben zu haben.«

Roland seufzte und ließ sich zurücksinken. »Arme, arme Hedy. Sie war so zerbrechlich, als sie herkam – und sie hat nie darüber gesprochen, warum. Über das, was geschehen ist. Aber ich konnte sehen, dass sie einen Ort brauchte, um sich zu erholen. Ich dachte immer, sie würde irgendwann in eine viel bessere Lage kommen, ihre Unabhängigkeit zurückerlangen. Stattdessen geschah das Gegenteil.«

»Hatten Sie sie gern?«