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Der Traum vom Erwachsenwerden und die Suche nach der Freiheit
Die junge Hilla Palm ist voller Neugier und Lebenswille. Doch sie sieht sich in den Lebensgewohnheiten einer katholischen Arbeiterfamilie in einer rheinischen Dorfgemeinde gefangen und stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Anschauungen festhalten wollen. Im Deutschland der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.
Ein mitreißender Entwicklungsroman, ein unübertroffenes Sittengemälde der Fünfzigerjahre, ein großes sprachphantastisches Epos.
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Seitenzahl: 1039
Ulla Hahn ist promovierte Germanistin, war Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend bis 1989 Literaturredakteurin bei Radio Bremen. 1994 hatte sie die Heidelberger Poetik-Dozentur inne. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren großen Roman Das verborgene Wort erhielt sie als erster deutscher Schriftsteller 2002 den Deutschen Bücherpreis. 2006 bekam sie für ihr literarisches Werk den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis verliehen.
LOMMER JONN, sagte der Großvater, laßt uns gehen, griff in die Luft und rieb sie zwischen den Fingern. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? Lommer jonn. Ich nahm mir das Weidenkörbchen untern Arm und rief den Bruder aus dem Sandkasten. Es ging an den Rhein, ans Wasser. Sonntags mit den Eltern blieben wir auf dem Damm, dem Weg aus festgewalzter Schlacke. Zeigten Selbstgestricktes aus der Wolle unserer beiden Schafe und gingen bei Fuß. Mit dem Großvater liefen wir weiter, hinunter, dorthin, wo das Verbotene begann, und niemand schrie: Paß op de Schoh op! Paß op de Strömp op! Paß op! Paß op! Niemand, der das Schilfrohr prüfte für ein Stöckchen hinter der Uhr.
Vom Westen wehte ein feuchter, lauer Wind. Der Rhein roch nach Fisch und Metall, Seifenlauge und Laich, und das Tuten der Schleppkähne, bevor sie an der Raffinerie in die Kurve gingen, war schon jenseits des Dammes in den Feldern und Weiden zu hören.
Ich riß mich los von der Hand des Großvaters, rannte vorwärts, zurück, ergriff seine Hand, ließ sie fahren und hielt sie wieder, fiel hin und stieß mir das Knie, schrie, Freudenschreie, aufsässig und wild. In einem weiten Bogen führte ein Pfad die Böschung hinab durch sumpfige Wiesen, durchs Schilf ans Ufer aus Sand und Kies.
Der Großvater ging voran, dicht am Wasser entlang. Flache Wellen füllten die Mulden, die sein Klumpfuß im nassen Sand hinterließ, winzige Teiche, eine blinkende, blitzende Spur, wie nur er sie schaffen konnte.
Wo im seichten Wasser am Ufer die Algen schwangen, zeigte er uns den Bart des Wassermannes, ein gewaltiges grünes Gestrüpp, das nichts von seinem Gesicht erkennen ließ und von der Piwipp, einem Bootshaus am gegenüberliegenden Ufer, bis zur Rhenania reichte. Sprang ein Frosch hoch, sagte der Großvater Prosit! und wir riefen Hatschi! Der Riese hatte geniest.
Hürt ihr de Welle? fragte der Großvater und legte den rechten Mittelfinger auf den Mund. Den Zeigefinger hatte er als junger Mann in der Maggifabrik verloren, noch bevor er aus der Schweiz ins Rheinland gewandert war.
Wir hörten die Wellen und gaben Antwort, sprachen die Wellensprache; doch niemals so gut wie der Großvater, den keine Zähne mehr störten, der schlpp machte, schlpp wie die Wellen. Schlpp, schlpp, das hieß ja, wenn die Welle die Kiesel am Ufer überströmte, Nein, wenn sie sich zurückzog. Ja und Nein; Ja und Nein. Der Rhein wußte Bescheid. Beides gehörte zusammen. Fragte man im richtigen Augenblick, bekam man die richtige Antwort.
Ganz wie die Menschen sprach der Rhein. Milde, wenn der Wind ihn nur leicht bewegte, herrisch und aufbrausend, wenn die Schleppkähne, bergehoch mit Kohle beladen, stromaufwärts tuckerten und ihre Wellen die verbotenen schwarzen Steinhaufen überspülten. Böse Riesen hätten die Haufen zusammengeworfen, um den Rhein aus seiner Bahn zu bringen. Aber die Kribben hielten den Rhein in seinem Bett, tobte er auch so zornig dagegen wie zu Hause der Vater.
Lieber hörte ich auf den Wind in den Bäumen. Kein Baum rauschte wie der andere. Sie sprachen anders zu allen Jahreszeiten, und im Winter verstummten sie beinah ganz. Sichtbar brachte der Wind Schilf und Pappeln zum Reden, die auf seinen geringsten Anruf antworteten, als wollten sie ihm folgen. Lurt ens, sagte der Großvater, schaut mal, wenn im Frühjahr der Pappelsamen flog, do wandere de Bööm.
Wir sammelten flache Steine, nicht dicker als eine Graubrotscheibe, von der Großmutter geschnitten. Wenn der Großvater in die Knie ging und sie aus einer Drehung des Oberkörpers heraus übers Wasser schickte, war jede Berührung von Strom und Stein Station auf seiner Reise. Einmal, zweimal, dreimal; Kiesberg, Holtschlößchen, Großenfeld; Endstation der Elektrischen, die halbstündlich hinter unserem Garten in den Gleisen quietschte. Wollten wir weiterreisen, mußten wir weiterzählen. Fünfmal ging es nach Rüpprich zum falschen Großvater, dem Stiefvater des Vaters, siebenmal war Schloß Burg. Zehnmal war Kölle. Ließ der Großvater einmal wie aus Versehen einen Stein, Plumps! versinken, schrien wir Düsseldörp! Eine glatte Null.
Bei unserer Weide sammelten wir Steine fürs Ritterspiel. Nie machten wir den ersten Ausflug im Jahr zu den Weiden, bevor wir nicht unter den größten und schönsten Busch, unter unsere Weide, die Großvaterweide, kriechen konnten und die Zweige über uns zusammenrauschten.
Kleine, runde Steine brauchten wir zuerst, Zwerge und Diener. Sie mußten mich zu Kaisern und Königen, Prinzessinnen und Feen, den Bruder auf die Spuren finsterer Räuber und kühner Ritter führen. War ein grauer Spitzling ein Räuberhauptmann oder doch ein Kunibert, ein Ritter? Hexen waren rauh und bucklig, Feen warm und glatt. Die Königsbraut, weiß, seidig und eiförmig, wurde mit Erde eingerieben; grau und unscheinbar getarnt, hatte sie unter tiefhängenden Weidenzweigen ihrer Erlösung zu harren. Die kam mit dem König, dem sonderbarsten und dicksten Stein, einem Kaiser, wenn er durchlöchert war. In einer Weidenkutsche machte er sich auf die Suche nach einer Frau. Einmal um die Weide, wo der Großvater auf seinem Taschentuch saß, ging der Weg in die weite Welt, gefährlich bevölkert von düsteren Räubern, die wir gemeinsam mit Ritter-Kuniberten einen nach dem andern in den Sand streckten.
Versteckte der Großvater die Königsbraut, vermuteten wir böse Mächte, bis er den Zauberstein aus seiner Westentasche zog und in die Sonne hielt, ein dunkellila Strahlenbündel, prächtiger als der Kranz der Maria im Kapellchen, das Auge Gottes in der Kirche, und ebenso allwissend. Immer blitzte der herrliche Stein dorthin, wo die Königin ihrer Entdeckung harrte. Frohgemut fuhr der Erlöser vor, lud die mit Erde Beschmierte auf und spülte sie hochzeitlich sauber in den Wellen des Rheins.
Im Schloß unter der Weide spielten wir mit unseren Schilfrohrflöten zum Hochzeitsschmaus auf. Jedesmal tat der Großvater, als sei sie verschwunden, bis er sie schließlich aus dem Hemdkragen, dem Schuh, dem Ohr hervorzog oder einfach aus dem Ärmel schüttelte, seine Hohners-Mundharmonika. Ein Bienenschwarm brauste von seinen Lippen, der Großvater nickte uns zu, stampfte den Takt mit seinem gesunden Bein, und ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen‹, ›Hänsjen klein‹, ›Komm lieber Mai‹ schwang der König die Königin im Kreis. ›Die Steine selbst, so schwer sie sind‹, sangen wir und schickten die entzauberten Ritter, Könige und Zwerge auf Wanderschaft ins Wasser.
Nach einer Weile zauberte der Großvater seine Mundharmonika wieder weg und hexte Hasenbrote hervor. Köstliches Graubrot mit Rübenkraut oder Holländerkäse. Jede Scheibe einzeln wollte er den Hasen abgejagt haben. Von der Großmutter kam nur das Pergamentpapier. Das mußte man falten und wieder mit nach Hause bringen. War das Brot vom bösen Hasen, wollten wir wissen, dem mit den grausigen Zähnen und Ohren, so lang, daß er sie am Hinterkopf verknoten mußte, um beim Hakenschlagen nicht draufzutreten. Immer war es dem Großvater am Ende gelungen, den Hasen hereinzulegen, sei es, daß er sich ein grünes Taschentuch über den Kopf gelegt und der Hase ihn für einen frischen Kohlkopf gehalten hatte, sei es, daß es ihm geglückt war, dem Hasen Salz auf den Schwanz zu streuen. Jedesmal zog der Großvater sein Taschentuch oder ein Backpulvertütchen mit Salz hervor, seine Waffen, Beweis für Jagd und Beute.
Nach dem Essen nahm der Großvater mich in seinen rechten Arm, den Bruder zwischen die Knie, und wir gingen auf Reisen zur alten Kopfweide zwischen Pappeln und Erlengestrüpp, ein paar Meter von uns entfernt.
Nur dä Stamm, sagte der Großvater. Ich heftete meine Augen auf das rissige Anthrazit, die gekrümmte, schrundige Borke, die matt glänzenden, unregelmäßig gekerbten Rechtecke der Rinde, ihre Vertiefungen, holzigen Rinnsale, grün, wo der Wind das alte Holz feucht verfärbt hatte. Meine Augen öffneten die Weide, öffneten sich für die Weide, Weide wurde zu Augen, die Augen zu Weide, Augenweide. Stark und spielerisch, frei und beharrlich genoß ich jede Bewegung der Pupillen, vor und zurück, auf und nieder, Kreise und Winkel von dunklen und hellen Flecken, schwebend im Raum und tief in die Dinge getaucht. Wie viele Seiten hatte ein jedes Ding? So viele, wie wir Blicke für sie haben, sagte der Großvater.
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