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Verfilmt als "Killers of the Flower Moon" von Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio und Robert De Niro: Filmstart 2023
In den 1920ern hatten nicht die Bewohner von New York oder Paris das höchste Pro-Kopf-Einkommen: die reichsten Menschen der Welt waren die Osage-Indianer im amerikanischen Bundesstaat Oklahoma. Das karge Land, das ihnen als Reservat zugewiesen worden war, barg gigantische Ölvorkommen. Doch der Reichtum brachte den Osage kein Glück: Eine mysteriöse Serie von Morden nahm ihren Anfang, der Dutzende Stammesmitglieder zum Opfer fallen sollten.
Die Osage-Morde wurden zum ersten großen Fall für das noch junge FBI. Doch Korruption und Geldgier hatten auch hier bereits Einzug gehalten. Erst einer Gruppe von Undercover-Agenten gelingt es schließlich, diese wohl finsterste und spektakulärste Mordserie in der Geschichte der USA aufzuklären.
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Seitenzahl: 462
Zum Buch
In den 1920ern hatten nicht die Bewohner von New York oder Paris das höchste Pro-Kopf-Einkommen: die reichsten Menschen der Welt waren die Osage-Indianer im amerikanischen Bundesstaat Oklahoma. Das karge Land, das ihnen als Reservat zugewiesen worden war, barg gigantische Ölvorkommen. Doch der Reichtum brachte den Osage kein Glück: Eine mysteriöse Serie von Morden nahm ihren Anfang, der Dutzende Stammesmitglieder zum Opfer fallen sollten. Die Osage-Morde wurden zum ersten großen Fall für das noch junge FBI. Doch Korruption und Geldgier hatten auch hier bereits Einzug gehalten. Erst einer Gruppe von Undercover-Agenten gelingt es schließlich, diese wohl finsterste und spektakulärste Mordserie in der Geschichte der USA aufzuklären.
Zum Autor
DAVID GRANN, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und New-York-Times-Nummer-1-Bestsellerautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u.a. in The Washington Post, The Atlantic Monthly, The Wall Street Journal.
David Grann
Das Verbrechen
KILLERS OF THE FLOWER MOON Ein True-Crime-Thriller
Aus dem amerikanischen Englischvon Henning Dedekind
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Killers of the Flower Moon« bei Doubleday, a division of Penguin Random House LLC, New York
Copyright © 2017 by David Grann
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Semper Smile
Covermotiv: Motion Picture Artwork © 2023 Apple, All Rights Reserved
Karten: Jeffrey L. Ward
MK · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-23936-7V004
www.btb-verlag.de
Für meine Mutter und meinen Vater.
Inhalt
Karte: Osage County Oklahoma
ERSTE CHRONIK: Die gezeichnete Frau
1. Das Verschwinden
2. Ein Akt Gottes oder die Tat eines Menschen?
3. König der Osage Hills
4. Ein unterirdisches Reservat
5. Die Schüler des Teufels
6. Die Millionen-Dollar-Ulme
7. Das Ding der Finsternis
ZWEITE CHRONIK: Der Mann der Beweise
8. Das Ministerium der lockeren Sitten
9. Die Undercover-Cowboys
10. Das Unmögliche ausschließen
11. Der dritte Mann
12. Eine Wildnis voller Spiegel
13. Der Sohn eines Henkers
14. Letzte Worte
15. Das verborgene Gesicht
16. Zur Verbesserung des Büros
17. Der Schnellschütze, der Schränker und der Suppenmann
18. Der Spielstand
19. Ein Verräter seines eigenen Blutes
20. Gott helfe Ihnen!
21. Das Gewächshaus
DRITTE CHRONIK: Der Reporter
22. Geisterlandschaft
23. Der Fall ist nicht abgeschlossen
24. Zwischen zwei Welten
25. Das verschollene Manuskript
26. Das Blut schreit
Danksagungen
Anmerkung zu den Quellen
Unveröffentlichte Quellen und Archive
Anmerkungen
Auswahlbibliografie
Bildnachweis
* * *
Nichts Böses hatte diese verheißungsvolle Nacht zu trüben vermocht, denn sie hatte gelauscht; keine böse Stimme war zu vernehmen gewesen; keine Schleiereule hatte die Stille mit ihrem bebenden Schrei gestört. Sie wusste dies, weil sie die ganze Nacht gelauscht hatte.
John Joseph Mathews, Sundown
Im April erblühen in der mit Schwarzeichen bestandenen Hügellandschaft und den riesigen Prärien des Osage-Territoriums in Oklahoma Millionen kleiner Blumen:1 wilde Stiefmütterchen, Tellerkräuter und Federblumen. Der Osage-Schriftsteller John Joseph Mathews beschrieb das Blütenmeer mit den Worten, es sehe aus, »als hätten die Götter Konfetti verstreut«.2 Im Mai, wenn die Kojoten unter einem ungewöhnlich großen Mond heulen, wachsen nach und nach größere Pflanzen wie Zwerglilien und Sonnenhut über diese kleineren Blumen hinaus und stehlen ihnen damit Licht und Wasser. Die Stängel der kleineren Blumen brechen, ihre Blütenblätter werden fortgeweht, und bald schon sind sie im Erdboden begraben. Aus diesem Grund bezeichnen die Osage-Indianer den Mai als die Zeit des Blumen mordenden Mondes.
Am 24. Mai 1921 begann sich Mollie Burkhart, eine Einwohnerin der im Osage-Reservat gelegenen Stadt Gray Horse, Sorgen zu machen, dass einer ihrer drei Schwestern, Anna Brown, etwas passiert sein könnte.3 Anna war vierunddreißig und damit kaum ein Jahr älter als Mollie. Seit drei Tagen war sie verschwunden. Sie war schon oft »auf die Piste« gegangen, wie sich ihre Familie entmutigt ausdrückte – dann tanzte und trank sie mit Freunden bis in die frühen Morgenstunden hinein. Diesmal jedoch war erst eine Nacht vergangen, dann eine zweite, und Anna war nicht wieder an Mollies Vordertreppe erschienen, wie sie es sonst immer tat. Dann war ihr langes schwarzes Haar immer leicht zerzaust gewesen, und ihre dunklen Augen glänzten, als wären sie aus Glas.
Wenn Anna hereinkam, zog sie gern ihre Schuhe aus. Jetzt vermisste Mollie das beruhigende Geräusch der sich zwanglos im Haus bewegenden Schwester. Stattdessen herrschte eine Stille wie in den Weiten der Prärie.
Vor fast drei Jahren hatte Mollie bereits ihre Schwester Minnie verloren. Ihr Tod war erschreckend rasch gekommen, und obwohl die Ärzte eine »eigenartige Form der Schwindsucht« dafür verantwortlich gemacht hatten, hegte Mollie doch Zweifel: Minnie war erst siebenundzwanzig Jahre alt und stets bei bester Gesundheit gewesen.4
Wie ihre Eltern ließen auch Mollie und ihre Schwestern ihre Namen in die Osage Roll eintragen, was bedeutete, dass sie zu den registrierten Mitgliedern des Stammes gehörten. Es bedeutete außerdem, dass sie ein Vermögen besaßen. Anfang der 1870er-Jahre hatte man die Osage von ihrem Land in Kansas vertrieben und in ein steiniges, wertlos erscheinendes Reservatgebiet im Nordosten Oklahomas umgesiedelt, nur um Jahrzehnte später festzustellen, dass dort unter der Erdoberfläche einige der größten Erdölvorkommen der Vereinigten Staaten schlummerten. Um an dieses Öl zu gelangen, mussten Ölsucher den Osage Pachtgebühren und Lizenzen zahlen. Ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt jedes registrierte Stammesmitglied vierteljährlich einen Scheck. Der Betrag belief sich zunächst nur auf wenige Dollar, doch als mit der Zeit immer mehr Öl gefördert wurde, stiegen die Dividenden zunächst in die Hunderte, dann in die Tausende. Die Zahlungen nahmen praktisch jedes Jahr zu, so wie die Präriebäche, die zu dem breiten, schlammigen Cimarron zusammenflossen. Schließlich hatten die Stammesmitglieder gemeinsam Millionen und Abermillionen von Dollar angehäuft. (Allein im Jahr 1923 nahm der Stamm über dreißig Millionen ein, was einer heutigen Kaufkraft von mehr als vierhundert Millionen Dollar entspricht.) Die Osage galten als das Volk mit dem größten Pro-Kopf-Vermögen der Welt. »Sieh da!«, staunte die New Yorker Wochenzeitung Outlook. »Statt zu verhungern, erfreut sich der Indianer eines regelmäßigen Einkommens, das selbst Bankiers vor Neid erblassen lässt.«5
Angesichts des Wohlstands der Stammesgemeinschaft war die Öffentlichkeit starr vor Staunen, da dies so gar nicht zum Bild des amerikanischen Ureinwohners passen wollte, welches bis zu dem brutalen Erstkontakt mit den Weißen zurückreichte – der Erbsünde, aus der das Land geboren wurde. Journalisten stichelten ihre Leserschaft mit Geschichten über die »plutokratischen Osage«6 und die »roten Millionäre«7 auf, die in Ziegel- und Terrakottavillen mit Kronleuchtern lebten, Diamantringe und Pelzmäntel trugen und über Automobile mit Chauffeur verfügten. Ein Schreiber staunte über Osage-Mädchen, die die besten Internate besuchten und teure französische Kleider trügen, als hätte sich »eine très jolie demoiselle der Pariser Boulevards aus Versehen in diese kleine Stadt im Reservat verirrt«.8
Gleichzeitig stürzten sich die Reporter auf jedes Anzeichen der traditionellen Lebensweise der Osage, die in der öffentlichen Wahrnehmung Visionen von »wilden« Indianern hervorzurufen schienen. In einem Artikel beschrieb der Autor einen »Kreis teurer Automobile um ein offenes Lagerfeuer, an dem die gebräunten und in Decken gehüllten Besitzer auf primitive Weise Fleisch zubereiteten«.9 Ein anderer berichtete über eine Gruppe von Osage-Indianern, die in einem Privatflugzeug zu einem Tanzzeremoniell eintrafen – eine Szene, die zu beschreiben »selbst einem Romanschriftsteller schwer fallen würde«.10 Der Washington Star brachte die öffentliche Stimmung gegenüber den Osage auf den Punkt. Dort hieß es: »Statt ›Ach, der arme Indianer‹ zu jammern, müsste man eigentlich sagen, ›Oh, die reiche Rothaut‹.«11
Gray Horse war eine der älteren Ansiedlungen des Reservates. Diese Außenposten – darunter Fairfax, eine benachbarte größere Stadt mit beinahe eintausendfünfhundert Einwohnern, und Pawhuska, die Osage-Hauptstadt mit einer Bevölkerung von über sechstausend Menschen – wirkten wie Fieberträume. In den Straßen drängten sich Cowboys, Glücksritter, Schwarzhändler, Wahrsager, Medizinmänner, Gesetzlose, US-Marshalls, New Yorker Finanziers und Ölmagnaten. Automobile rasten über befestigte Reitwege, und der Geruch nach Benzin überdeckte den Duft der Prärie. Von Telefondrähten spähten Krähen herab. Es gab Restaurants, die als Cafés angepriesen wurden, Opernhäuser und Polo-Spielfelder.
Mollie ging mit dem Geld zwar nicht so verschwenderisch um wie manche ihrer Nachbarn, doch hatte sie sich nahe der alten Hütte ihrer Familie – einer Unterkunft aus windschiefen Pfosten, gewebten Matten und Baumrinde – ein hübsches, geräumiges Holzhaus gebaut. Sie besaß mehrere Autos und hatte eine eigene Dienerschaft. Die »Kriecher der Indianer«, wie viele Siedler diese Wanderarbeiter abfällig bezeichneten, waren oft Schwarze oder Mexikaner. Anfang der 1920er-Jahre äußerte ein Besucher des Reservates seinen Unmut darüber, dass »sogar Weiße all die niedrigen Arbeiten im Hause« ausführten, »für die sich kein Osage den Rücken krumm machen will«.12
Mollie war einer der letzten Menschen, die Anna vor ihrem Verschwinden noch gesehen hatten. An jenem Tag, dem 21. Mai, war Mollie im Morgengrauen aufgestanden, eine Angewohnheit, die noch aus den Zeiten stammte, als ihr Vater jeden Morgen die Sonne anbetete. Sie hatte sich an das Konzert der Wiesenlerchen, Wasserläufer und Präriehühner gewöhnt, das nun jedoch vom Lärm in die Erde getriebener Bohrer überlagert wurde. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freunde lehnte Mollie traditionelle Osage-Kleidung nicht ab und trug eine Indianerdecke um die Schultern. Sie hatte auch keinen Pagenschnitt, sondern ließ ihr langes schwarzes Haar den Rücken hinabwallen, wodurch ihr markantes Gesicht mit seinen hohen Wangenknochen und den großen braunen Augen betont wurde.
Ihr Ehemann, Ernest Burkhart, stand mit ihr auf. Der achtundzwanzigjährige Weiße hatte das gute Aussehen eines typischen Wildwestfilm-Statisten: kurzes braunes Haar, graublaue Augen, kantiges Kinn. Er war als Sohn eines armen Baumwollfarmers in Texas aufgewachsen und von den Geschichten über die Osage Hills verzaubert gewesen, jenem Überbleibsel des amerikanischen Grenzlandes, in dem sich angeblich immer noch Cowboys und Indianer tummelten. Im Jahr 1912 hatte er wie Huck Finn, der sich ins Indianerland aufmacht, sein Bündel geschnürt und war zu seinem Onkel nach Fairfax gezogen, einem führenden Viehzüchter namens William K. Hale. »Er war nicht die Art von Mann, die einen bittet, etwas zu tun – er befahl es einem«, sagte Ernest einmal über Hale, der zu seinem Ersatzvater geworden war.13 Obwohl Ernest meist Botendienste für Hale erledigte, arbeitete er bisweilen doch auch als Taxifahrer. So begegnete er Mollie, die er in der Stadt herumkutschierte.
Gelegentlich trank Ernest mit Männern von zweifelhaftem Ruf gern schwarz gebrannten Schnaps und spielte indianisches Stud Poker. Doch unter seiner rauen Schale verbarg sich wohl ein zärtlicher, leicht unsicherer Mensch, in den sich Mollie verliebte. Mollie, die als Kind nur Osage gesprochen hatte, beherrschte seit ihrer Schulzeit ein wenig Englisch; trotzdem lernte Ernest die Sprache ihres Stammes, bis er sich darin mit ihr unterhalten konnte. Sie litt an Diabetes, und wenn ihre Gelenke schmerzten oder sie der Heißhunger überkam, kümmerte er sich um sie. Als er hörte, dass ihr ein anderer Mann zugetan sei, murmelte er, er könne ohne sie nicht leben.
Zu heiraten war für sie nicht einfach. Ernests raubeinige Freunde verspotteten ihn als »Squaw-Mann«. Und obwohl Mollies drei Schwestern weiße Männer geheiratet hatten, fühlte sie sich in der Pflicht, wie ihre Eltern auch eine arrangierte Eheschließung zu vollziehen. Da ihre Familie eine Mischung aus katholischem und Osage-Glauben praktizierte, konnte sie allerdings nicht verstehen, warum Gott sie die Liebe finden lassen sollte, nur um sie ihr daraufhin wieder zu nehmen. Im Jahr 1917 wagten Mollie und Ernest daher den Ringtausch und schworen sich ewige Liebe.
1921 dann hatten sie eine Tochter namens Elizabeth, inzwischen zwei Jahre alt, und einen Sohn, den acht Monate alten James, dessen Spitzname »Cowboy« lautete. Daneben versorgte Mollie ihre alternde Mutter Lizzie, die nach dem Tod von Mollies Vater in das Haus eingezogen war. Aufgrund von Mollies Diabetes fürchtete Lizzie einmal, ihre Tochter werde jung sterben. Flehentlich bat sie ihre anderen Kinder, sich ihrer anzunehmen. Tatsächlich war es aber Mollie, die sich um alle kümmerte.
* * *
Mollie Burkhart
Der 21. Mai sollte eigentlich ein schöner Tag für Mollie werden. Sie hatte gern Gäste und gab eine kleine Einladung zum Mittagessen. Sie zog sich an, dann machte sie den Kindern das Essen. Cowboy hatte oft schreckliche Ohrenschmerzen. Also blies sie in seine Ohren, bis er zu weinen aufhörte. Mollie hielt zu Hause peinlich genau Ordnung und erteilte ihren Angestellten Anweisungen. Das ganze Haus brummte, alle liefen geschäftig umher – bis auf Lizzie, die krank geworden war und im Bett blieb. Mollie bat Ernest, Anna anzurufen und zu fragen, ob sie zur Abwechslung einmal herkommen und helfen könne, Lizzie zu versorgen. Als ältestes Kind der Familie hatte Anna in den Augen ihrer Mutter eine Sonderstellung, und obwohl sich Mollie um Lizzie kümmerte, war Anna trotz ihres heftigen Temperaments diejenige, die von ihrer Mutter verwöhnt wurde.
Ernest Burkhart
Als Ernest Anna mitteilte, dass ihre Mama sie brauche, versprach sie, sofort ein Taxi zu nehmen. Wenig später traf sie ein, trug hellrote Schuhe und – farblich dazu passend – einen Rock und eine Indianerdecke; in der Hand hielt sie eine Kroko-Handtasche. Bevor sie das Haus betrat, kämmte sie hastig ihr vom Wind zerzaustes Haar und puderte ihr Gesicht. Trotzdem bemerkte Mollie, dass ihr Gang unsicher war und sie einen Zungenschlag hatte. Anna war betrunken.
Mollie konnte ihr Missfallen nicht verbergen. Einige der Gäste waren bereits eingetroffen. Darunter waren auch zwei von Ernests Brüdern, Bryan und Horace Burkhart, die, angelockt vom schwarzen Gold, ins Osage County gezogen waren und Hale häufig auf dessen Ranch halfen.14 Eine von Ernests Tanten, die oft rassistische Ansichten über Indianer äußerte, kam ebenfalls zu Besuch, und das Letzte, was Mollie brauchte, war, dass Anna solche Stereotypen bediente.
Anna zog ihre Schuhe aus und machte eine Szene. Sie zog einen Flachmann aus ihrer Handtasche und öffnete ihn. Der stechende Geruch schwarz gebrannten Whiskeys verbreitete sich. Sie beharrte darauf, das Fläschchen leeren zu müssen, bevor die Behörden sie erwischten (seit einem Jahr galt in den USA die Prohibition), und bot den Gästen einen Schluck feinsten Schwarzgebrannten an, wie sie es nannte.
Mollie (rechts) mit ihren Schwestern Anna (Mitte) und Minnie.
Mollie wusste, dass Anna gerade eine schwierige Phase durchlebte. Vor Kurzem hatte sie sich von ihrem Ehemann scheiden lassen, einem Siedler namens Oda Brown, der Fahrzeuge vermietete. Seitdem hatte sie immer mehr Zeit in den turbulenten Boomtowns des Reservats verbracht, die überall aus dem Boden geschossen waren, um den Ölarbeitern Unterkunft und Zerstreuung zu bieten – Städte wie Whizbang, wo, so wurde gesagt, die Menschen den ganzen Tag herumschwirrten (to whiz) und die ganze Nacht auf die Pauke hauten (to bang). »Alle Mächte der Ausschweifung und des Bösen sind hier anzutreffen«, berichtete ein US-Regierungsvertreter.15 »Glücksspiel, Sauferei, Unzucht, Lügen, Diebstahl, Mord.« Anna zogen die Orte an den dunklen Enden der Straßen magisch an: Von außen wirkten diese Etablissements anständig, im Innern jedoch verbargen sich Räume voll mit glänzenden Schwarzbrandflaschen. Eine von Annas Bediensteten erzählte später den Behörden, Anna sei jemand, der viel Whiskey trinke und eine »sehr lockere Moral im Umgang mit weißen Männern« habe.16
In Mollies Haus begann Anna mit Ernests jüngerem Bruder Bryan zu flirten, mit dem sie sich gelegentlich traf. Er wirkte in sich gekehrter als Ernest, hatte unergründliche, gelb gesprenkelte Augen und schütteres Haar, das er zurückgekämmt trug. Ein Gesetzeshüter, der ihn kannte, bezeichnete ihn als kleinen Handlanger. Als Bryan bei der Mittagsrunde eine der Hausangestellten fragte, ob sie mit ihm am Abend tanzen gehen wolle, sagte Anna, sie werde ihn töten, wenn er mit einer anderen Frau etwas anfange.
Derweil murmelte Ernests Tante so laut, dass es alle hören konnten, wie entsetzlich sie es doch finde, dass ihr Neffe eine Rothaut geehelicht habe. Zurückzuschlagen war für Mollie leicht: Eine der Hausangestellten, welche die Tante bedienten, war weiß – ein deutlicher Hinweis auf die soziale Ordnung innerhalb der Stadt.
Anna war weiterhin auf Radau aus. Sie stritt sich mit den Gästen, stritt sich mit ihrer Mutter, und stritt sich auch mit Mollie. »Sie trank und zankte sich«, berichtete eine Dienerin später den Behörden.17 »Ich verstand ihre Sprache nicht, aber sie zankten sich.« Die Hausangestellte fuhr fort: »Sie hatten großen Ärger mit Anna, und ich hatte Angst.«
An jenem Abend wollte Mollie nach ihrer Mutter sehen, während Ernest mit den Gästen in das acht Kilometer nordwestlich gelegene Fairfax aufbrach, um sich dort mit Hale zu treffen und Bringing Up Father zu besuchen, ein Wandersingspiel, das von einem armen irischen Einwanderer handelte, der eine Million Dollar im Lotto gewinnt und sich bemüht, in der höheren Gesellschaft Fuß zu fassen. Bryan, der einen Cowboyhut aufgesetzt hatte, blickte mit seinen katzenartigen Augen unter der Krempe hervor und bot Anna an, sie zu Hause abzusetzen.
Bevor sie sich verabschiedeten, wusch Mollie Annas Kleider, gab ihr etwas zu essen und sorgte dafür, dass sie so weit ausgenüchtert war, dass Mollie ihre Schwester als die fröhliche und charmante Frau wiedererkannte, die sie war. Sie hielten gemeinsam inne, teilten einen Augenblick der Ruhe und Versöhnung. Dann sagte Anna Lebewohl. Durch ihr Lächeln blitzte eine goldene Zahnfüllung.
* * *
Mit jeder Nacht, die nun verging, wurde Mollie besorgter. Bryan beharrte darauf, er habe Anna auf direktem Weg nach Hause gefahren und sie dort abgesetzt, bevor er selbst zu der Show gegangen sei. Nach der dritten Nacht machte Mollie in ihrer ruhigen, aber bestimmten Art alle mobil. Ernest beauftragte sie damit, bei Anna zu Hause vorbeizuschauen. Er rüttelte am Knauf ihrer Eingangstür – sie war verschlossen. Durchs Fenster wirkten die Zimmer im Innern dunkel und verlassen.
Ernest stand allein dort in der Hitze. Einige Tage zuvor hatte ein kühler Regenschauer die Erde benetzt, doch seitdem brannte die Sonne gnadenlos durch die Schwarzeichen. Zu dieser Jahreszeit ließ die Hitze die Prärie verschwimmen und das hohe Gras am Boden ächzen. Durch das gleißende Licht konnte man in der Ferne die skelettartigen Umrisse der Bohrtürme erkennen.
Annas leitende Hausdienerin, die nebenan wohnte, kam heraus. »Wissen Sie, wo Anna ist?«, fragte Ernest sie.18
Vor dem Regen sei sie zu Annas Haus gegangen, um möglicherweise offen stehende Fenster zu schließen, antwortete die Bedienstete. »Ich dachte, es könnte hereinregnen«, erklärte sie.19 Doch sei die Tür verschlossen und von Anna nichts zu sehen gewesen. Sie war fort.
Die Nachricht von ihrem Ausbleiben verbreitete sich in den Boomtowns, von Veranda zu Veranda, von Geschäft zu Geschäft. Das Unbehagen wurde noch verstärkt durch Berichte, dass ein weiterer Osage, Charles Whitehorn, bereits eine Woche vor Anna verschwunden sei.20 Der intelligente und geistreiche einunddreißigjährige Whitehorn war mit einer Frau verheiratet, die halb Weiße und halb Cheyenne war.21 Eine Lokalzeitung bemerkte, er sei »sowohl bei den Weißen als auch bei den Mitgliedern seines Stammes beliebt«.22 Am 14. Mai hatte er sein Zuhause im südwestlichen Teil des Reservates verlassen und sich auf den Weg nach Pawhuska gemacht. Er kehrte nie zurück.
Dennoch hatte Mollie guten Grund, nicht gleich in Panik zu verfallen. Es war durchaus vorstellbar, dass Anna noch einmal fortgegangen war, nachdem Bryan sie abgesetzt hatte, nach Oklahoma City oder über die Grenze in das schillernde Kansas City. Vielleicht tanzte sie in einem jener Jazzclubs, die sie so gern besuchte, ohne zu ahnen, welches Chaos sie zu Hause angerichtet hatte. Und selbst, wenn Anna in Schwierigkeiten geraten war, wusste sie sich doch selbst zu schützen: In ihrer Kroko-Handtasche führte sie häufig eine kleine Pistole mit sich. Sie wird bald wieder zu Hause sein, versicherte Ernest Mollie.
* * *
Eine Woche nach Annas Verschwinden stand ein Ölarbeiter auf einem Hügel, der etwa anderthalb Kilometer nördlich von der Innenstadt Pawhuskas entfernt lag, als er bemerkte, dass aus einem Gestrüpp zu Füßen eines Krans etwas herausragte. Der Arbeiter ging näher heran. Es war ein verwesender Leichnam; zwischen den Augen befanden sich zwei Einschusslöcher. Das Opfer war wie bei einer Hinrichtung erschossen worden.
An dem Hang war es heiß und laut und feucht. Bohrer, die sich durch das Kalkgestein fraßen, ließen die Erde erzittern; Derrickkräne schwangen ihre langen Greifarme hin und her. Andere Leute versammelten sich um den Leichnam, der bereits so stark verwest war, dass man ihn unmöglich identifizieren konnte. In einer Tasche der Kleidung befand sich ein Brief. Jemand zog ihn heraus, glättete das Papier und las ihn vor. Der Brief war an Charles Whitehorn gerichtet, und somit wusste man, dass es sich um ihn handelte.
Etwa zur selben Zeit war ein Mann zusammen mit seinem halbwüchsigen Sohn und einem Freund am Three Mile Creek in der Nähe von Fairfax auf Hörnchenjagd. Als die beiden Männer einen Schluck Wasser aus einem Bach nahmen, entdeckte der Junge ein Hörnchen und betätigte den Abzug. Es gab einen Hitze- und Lichtstoß, und der Junge sah zu, wie das getroffene Hörnchen leblos über den Rand einer Schlucht stürzte. Er jagte ihm nach und bahnte sich seinen Weg einen bewaldeten Hang hinab in eine Talsenke, wo die Luft dicker war und er das Murmeln des Baches hören konnte. Er fand das Hörnchen und hob es auf. Dann schrie er: »Oh, Papa!«23 Als sein Vater eintraf, hatte der Junge einen Felsblock erklommen. Er deutete in Richtung der moosbewachsenen Uferböschung des Baches und sagte: »Ein toter Mensch.«
Dort lag eine aufgedunsene und verwesende Leiche, offenbar waren es die Überreste einer indianischen Frau. Sie lag auf dem Rücken, ihr verwirrtes Haar im Schlamm, und die leeren Augen starrten gen Himmel. Die Leiche war voller Würmer.
Die Männer und der Junge verließen hastig die Schlucht und rasten mit ihrer Pferdekutsche durch die Prärie, dass Staubwolken um sie herum aufwirbelten. Als sie die Hauptstraße von Fairfax erreichten, konnten sie dort keine Gesetzeshüter finden, also hielten sie vor der Big Hill Trading Company, einer großen Gemischtwarenhandlung, die auch ein Begräbnisinstitut betrieb. Dem Inhaber Scott Mathis berichteten sie, was geschehen war, und dieser verständigte seinen Bestatter, der mit einigen Männern zu dem Bach aufbrach. Dort wälzten sie die Leiche auf eine Wagensitzbank und schleiften sie mittels eines Seils aus der Schlucht. Im Schatten einer Schwarzeiche legten sie die Leiche dann in eine Holzkiste. Als der Bestatter den aufgedunsenen Körper mit Salz und Eis bedeckte, schrumpfte dieser ganz allmählich, als würde auch noch der letzte Rest Leben aus ihm entweichen. Der Bestatter versuchte festzustellen, ob die Frau Anna Brown war – die er gekannt hatte. »Die Leiche war stark verwest und derart aufgedunsen, dass sie beinahe geplatzt wäre, und dazu äußerst übelriechend«, erinnerte er sich später.24 »Sie war schwarz wie ein Nigger«, fügte er hinzu.25
Er und die anderen Männer konnten keine Identifizierung vornehmen. Mathis, der sich um Annas Finanzen kümmerte, verständigte jedoch Mollie, und diese führte eine düstere Prozession zu dem Bach. Darunter waren Ernest, Bryan, Mollies Schwester Rita und Ritas Ehemann Bill Smith. Viele, die Anna kannten, folgten ihnen, auch einige morbide Schaulustige. Kelsie Morrison, einer der berüchtigtsten Alkoholschmuggler und Drogenhändler des Bezirks, kam mit seiner Osage-Frau.
Mollie und Rita traten nahe an die Leiche heran. Der Gestank war überwältigend. Geier zogen unbarmherzig ihre Kreise in der Luft. Mollie und Rita konnten kaum ausmachen, ob das Gesicht zu Anna zu gehörte, da praktisch nichts mehr davon übrig war. Doch sie erkannten ihre Indianerdecke und die Kleider, die Mollie für sie gewaschen hatte. Dann nahm Ritas Mann Bill einen Stock und öffnete ihren Mund, sodass Annas Goldfüllungen zum Vorschein kamen. »Das ist ziemlich sicher Anna«, sagte Bill.26
Rita weinte nun, und ihr Ehemann geleitete sie davon. Schließlich brachte Mollie das Wort »Ja« hervor – es war also Anna. Mollie war diejenige in der Familie, die stets Haltung bewahrte. Nun kehrte sie gemeinsam mit Ernest dem Bach den Rücken und ließ die erste Andeutung jener Dunkelheit hinter sich, die nicht nur ihre Familie, sondern ihren ganzen Stamm zu vernichten drohte.
Hastig beraumte man eine gerichtsmedizinische Untersuchung an, die von Geschworenen unter Leitung eines Friedensrichters in der Schlucht durchgeführt wurde.1 Solche Untersuchungen waren Überbleibsel aus einer Zeit, als die Verantwortung für Verbrechensaufklärung und die Aufrechterhaltung der Ordnung hauptsächlich auf den Schultern gewöhnlicher Bürger ruhte. Noch Jahre nach der Amerikanischen Revolution war die Öffentlichkeit gegen die Schaffung von Polizeibehörden, da man fürchtete, diese könnten zu einem Instrument der Unterdrückung werden. Stattdessen schrien die braven Bürger Zeter und Mordio, wenn es um die Verfolgung Verdächtiger ging. Benjamin N. Cardozo, künftiger Richter am Obersten Gericht, bemerkte einmal, diese Verfolgungen seien »nicht halbherzig und zaudernd« angegangen worden, sondern »aufrecht und tapfer und mit allen zur Verfügung stehenden und geeigneten Mitteln und Werkzeugen«.2
Erst im 19. Jahrhundert, nach dem Entstehen industrieller Metropolen und einer Reihe innerstädtischer Unruhen (nachdem also die Furcht vor sogenannten gefährlichen Klassen das Misstrauen gegenüber dem Staat überwog), kam es in den Vereinigten Staaten zur Gründung von Polizeibehörden. Zum Zeitpunkt von Annas Tod gehörte das informelle System bürgerlicher Polizeiarbeit längst der Vergangenheit an, doch einige Überbleibsel hielten sich hartnäckig, insbesondere an Orten, die immer noch am Rande von Geografie und Geschichte zu existieren schienen.
Der Friedensrichter wählte die Geschworenen aus den weißen Männern in der Schlucht, darunter Mathis. Sie sollten darüber befinden, ob Anna durch einen Akt Gottes oder durch die Hand eines Menschen gestorben sei. Für den Fall, dass man auf ein Verbrechen schließen musste, sollten sie versuchen, mögliche Hintermänner und Täter zu ermitteln. Zwei Ärzte, die Brüder James und David Shoun, die auch Mollies Familie behandelten, wurden mit einer Autopsie beauftragt. Sie beugten sich über die Leiche und begannen mit der Untersuchung, während sich die Mitglieder der gerichtlichen Ermittlung um sie drängten.
Die Schlucht, in der Anna Browns Leichnam gefunden wurde.
Jeder Leichnam erzählt seine eigene Geschichte. Ein gebrochenes Zungenbein etwa – ein Knochen im Hals, der die Zunge stützt – kann darauf hindeuten, dass eine Person stranguliert worden ist. Abdrücke am Hals können weiteren Aufschluss darüber geben, ob der Täter dazu seine bloßen Hände gebraucht oder einen Strick verwendet hat. Selbst ein abgerissener Fingernagel des Opfers kann Anzeichen für einen verzweifelten Kampf sein. Ein richtunggebender Leitfaden zur medizinischen Jurisprudenz aus dem 19. Jahrhundert zitierte folgende Redensart: »Ein der Medizin Kundiger, der einen Toten sieht, sollte auf alles achten.«3
Die Gebrüder Shoun errichteten mit einem Brett einen provisorischen Tisch. Aus einer Medizintasche entnahmen sie einige primitive Instrumente, darunter eine Säge. Die Hitze drang bis in den Schatten vor. Fliegen schwärmten umher. Die Ärzte untersuchten die Kleidung, die Anna trug – ihre Damenpumphose, ihren Rock –, und suchten dabei nach ungewöhnlichen Rissen oder Flecken. Als sie nichts fanden, versuchten sie den Todeszeitpunkt festzustellen.
Dies ist schwieriger, als gemeinhin angenommen wird, besonders wenn ein Mensch seit mehreren Tagen tot ist. Im 19. Jahrhundert glaubten die Wissenschaftler, das Rätsel gelöst zu haben, indem sie die Phasen untersuchten, die eine Leiche nach dem Tod durchmacht: die Versteifung der Gliedmaßen (Rigor mortis), die Veränderung der Körpertemperatur (Algor mortis) und die durch absinkendes Blut entstehenden Totenflecken (Livor mortis). Bald jedoch stellten die Pathologen fest, dass zu viele Varianten – von der Luftfeuchtigkeit bis zur Beschaffenheit der Kleidung, die ein Toter trug – den Verwesungsprozess beeinflussten und eine präzise Berechnung somit nicht möglich war. Eine grobe Schätzung des Todeszeitpunkts ließ sich dennoch vornehmen, und die Shouns gingen davon aus, dass Anna etwa fünf bis sieben Tage zuvor gestorben war.
Vorsichtig drehten die Ärzte Annas Kopf in der hölzernen Kiste. Ein Teil ihrer Kopfhaut löste sich und gab den Blick auf ein kreisrundes Loch in ihrem Hinterkopf frei. »Sie ist erschossen worden!«, rief einer der Shouns aus.4
Die Männer wurden unruhig. Als sie genauer hinsahen, bemerkten sie, dass der Durchmesser des Loches kaum dem eines Bleistifts entsprach. Mathis glaubte, dass eine Kugel vom Kaliber 32 die Wunde verursacht habe. Als die Männer den Schusskanal verfolgten – die Kugel war knapp unterhalb der Schädelkalotte eingedrungen und dann abwärts weitergewandert –, gab es keinen Zweifel mehr: Anna war kaltblütig ermordet worden.
* * *
Gesetzeshüter waren damals noch weitgehend Amateure. Nur selten besuchten sie entsprechende Ausbildungsstätten oder befassten sich mit den aufkommenden wissenschaftlichen Erkennungsmethoden, etwa der Analyse von Fingerabdrücken und Blutflecken. Insbesondere die Gesetzeshüter im Grenzland waren vorwiegend Revolverhelden und Fährtenleser; man erwartete von ihnen, abschreckend zu wirken und bekannte Gangster möglichst lebendig, wenn nötig aber auch tot zu fassen. »Ein Polizist war damals buchstäblich das Gesetz, und zwischen ihm und der Ewigkeit stand nichts als sein Urteil und sein Finger am Abzug«, schrieb die Tulsa Daily World im Jahr 1928 nach dem Tod eines altgedienten Gesetzeshüters, der im Osage-Gebiet tätig gewesen war.5 »Oft stand ein einzelner Mann gegen eine ganze Horde gerissener Teufel.« Da diese Gesetzeshüter erbärmliche Gehälter bezogen und dafür geschätzt wurden, dass sie kein großes Federlesen machten, ist es nicht weiter überraschend, dass die Grenzen zwischen guten und schlechten Gesetzeshütern durchaus fließend waren. Der Anführer der Dalton-Bande, einer im 19. Jahrhundert berüchtigten Gruppe Gesetzloser, hatte einst die Polizeigewalt im Osage-Reservat vertreten.
Zum Zeitpunkt von Annas Ermordung war der Bezirkssheriff des Osage County, der die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz in der Gegend trug, ein achtundfünfzig Jahre alter und hundertfünfundzwanzig Kilo schwerer Grenzer namens Harve M. Freas. Ein 1916 erschienenes Buch über die Geschichte Oklahomas beschrieb Freas als »Schrecken aller Missetäter«.6 Es gab jedoch auch Gerüchte, er sei gewissen kriminellen Elementen gegenüber milde gestimmt gewesen – dass er Glücksspielern und Schwarzbrennern wie Kelsie Morrison und Henry Grammer freie Hand gelassen habe. Letzterer war ein Rodeo-Champion, der einst wegen Mordes eingesessen hatte und den lokalen Vertrieb illegalen Alkohols kontrollierte. Einer von Grammers Mitarbeitern gestand den Behörden später: »Ich hatte die Versicherung, dass ich, sollte ich je verhaftet werden … fünf Minuten später wieder auf freien Fuß gesetzt würde.«7 Eine Gruppe von Bürgern des Osage County hatte zuvor eine Resolution veröffentlicht – im Namen von »Religion, Gesetzestreue, Anstand und Moral«. Darin hieß es, »dass die Menschen, die der Ansicht sind, dass ein vereidigter Gesetzeshüter dem Gesetz Geltung verschaffen soll, hiermit aufgefordert werden, umgehend Sheriff Freas aufzusuchen oder ihm zu schreiben und ihn dazu aufzurufen, seiner beeideten Pflicht nachzukommen«.8
Als Sheriff Freas von Annas Ermordung erfuhr, war er bereits mit Whitehorns Tod beschäftigt und sandte zunächst einen seiner Stellvertreter aus, um Beweise zu sammeln. In Fairfax gab es einen Stadt-Marshall, das Äquivalent eines Polizeichefs, der sich in der Schlucht dem Hilfssheriff anschloss, während die Shouns noch immer ihre Autopsie durchführten. Um die Mordwaffe zu identifizieren, mussten die Gesetzeshüter die Kugel herausnehmen, die offenbar in Annas Schädel steckte. Mithilfe ihrer Säge öffneten sie die Schädeldecke, hoben dann vorsichtig das Gehirn heraus und legten es auf das Brett. »Das Gehirn war in derart schlechtem Zustand, dass man den Kugelkanal nicht mehr rückverfolgen konnte«, erinnerte sich David Shoun.9 Er nahm einen Stock und untersuchte damit gründlich das Gehirn. Die Kugel, so verkündete er, war nirgends zu finden.
Die Gesetzeshüter gingen zu dem Bach hinunter und nahmen den Tatort in Augenschein. Bei einem Felsen am Ufer zeigten Blutflecken an, wo Annas Leiche gelegen hatte. Es gab keine Spur von der Kugel, doch einer der Gesetzeshüter entdeckte eine am Boden liegende Flasche, in der sich noch Reste einer klaren Flüssigkeit befanden. Die Gesetzeshüter nahmen daher an, dass Anna auf einem Stein gesessen und getrunken hatte, als sich ihr jemand von hinten genähert und sie aus nächster Nähe erschossen hatte, wodurch sie vornübergekippt war.
Der Marshall machte zwei verschiedene Arten von Reifenspuren aus, die zwischen der Straße und der Schlucht verliefen. Er rief den Deputy Sheriff und die Mitglieder der Untersuchung herbei. Es sah aus, als wären beide Fahrzeuge von Südosten her in die Schlucht gekommen und dann in umgekehrter Richtung davongefahren.
Weitere Beweise wurden nicht gefunden. Die Gesetzeshüter waren in forensischer Methodik nicht geschult und machten weder einen Abguss der Reifenspuren, noch überprüften sie die Flasche auf Fingerabdrücke oder untersuchten Annas Leiche nach Rückständen von Schießpulver. Sie fotografierten nicht einmal den Tatort, der von den vielen Beobachtern ohnehin schon kontaminiert war.
Irgendjemand jedoch nahm der Leiche einen von Annas Ohrringen ab und brachte ihn Mollies Mutter, die zu krank war, um selbst an den Bach zu kommen. Lizzie erkannte ihn sofort. Anna war also tot. Wie für alle Osage war die Geburt ihrer Kinder der größte Segen von Wah’Kon-Tah gewesen, der geheimnisvollen Lebenskraft, welche die Sonne und den Mond und die Erde und die Sterne durchdringt; jene Kraft, um die die Osage seit Jahrhunderten ihr Leben strukturierten, in der Hoffnung, im Chaos und dem Durcheinander auf Erden eine gewisse Ordnung zu schaffen. Es war die Macht, die da war und nicht da war, unsichtbar, entfernt, Ehrfurcht gebietend, die zwar gab, aber nicht antwortete. Viele Osage hatten ihren traditionellen Glauben aufgegeben, Lizzie jedoch hatte daran festgehalten. (Ein US-Regierungsvertreter hatte einmal beklagt, Frauen wie Lizzie hielten »den alten Aberglauben am Leben und lachen über moderne Ideen und Gebräuche«.10) Nun hatte jemand – etwas – Lizzies älteste und bevorzugte Tochter vor ihrer Zeit getötet – vielleicht ein Zeichen dafür, dass Wah’Kon-Tah seine Segnungen zurückgenommen hatte und die Welt in einem noch größeren Chaos versinken würde. Lizzie litt sehr an ihrem Kummer, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter.
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Mollie erfuhr große Unterstützung durch Ernest.11 Ein Rechtsanwalt, der beide gut kannte, bemerkte, seine »Hingabe für seine indianische Frau und seine Kinder« sei »ungewöhnlich« und »bemerkenswert« gewesen.12 Er tröstete Mollie, die sich in die Organisation von Annas Begräbnis stürzte. Blumen mussten gekauft werden, ebenso ein weißer Metallsarg und ein Grabstein aus Marmor. Die Bestatter berechneten den Osage exorbitante Beerdigungskosten, was keinesfalls eine Ausnahme war. Der Bestatter verlangte eintausendvierhundertfünfzig Dollar für den Sarg, hundert Dollar für die Vorbereitung und Balsamierung der Leiche und weitere fünfundzwanzig für die Anmietung eines Leichenwagens. Als er sämtliche Zusatzkosten abgehakt hatte, darunter Handschuhe für den Totengräber, war die Gesamtsumme in astronomische Höhen geklettert. Ein in der Stadt ansässiger Anwalt sagte: »Es ging so weit, dass man einen Osage-Indianer nicht für unter sechstausend Dollar begraben konnte.«13 Eine Summe, die inflationsbereinigt einem heutigen Gegenwert von annähernd achtzigtausend Dollar entspricht.
Mollie (rechts) mit ihrer Schwester Anna und ihrer Mutter Lizzie.
Die Beerdigung wurde so gestaltet, dass sie sowohl den katholischen Glauben als auch die Osage-Traditionen der Familie widerspiegelte.14 Mollie, die eine Missionsschule in Pawhuska besucht hatte, ging regelmäßig zur Messe. Sie genoss es, in den Bankreihen zu sitzen, wenn sonntagmorgens das Licht durch die Fenster fiel, und der Predigt des Priesters zu lauschen. Außerdem verkehrte sie gern mit Freunden, was man an Sonntagen ausgiebig tun konnte.
Der Begräbnisgottesdienst für Anna begann in der Kirche. William Hale, Ernests Onkel, der Annas und Mollies Familie sehr nahestand, war einer der Sargträger. Der Priester sang die rhythmische Hymne »Dies Irae« aus dem 13. Jahrhundert, die in einem Bittgesuch endet:
Milder Jesus, Herrscher Du, Schenk den Toten ew’ge Ruh.15
Nachdem der Priester Annas Sarg mit Weihwasser besprengt hatte, führte Mollie ihre Familie und die anderen Trauergäste zu einem Friedhof in Gray Horse, einem ruhigen, abgeschiedenen Ort, der die endlose Prärie überblickt. Mollies Vater und ihre Schwester Minnie waren in angrenzenden Gräbern beigesetzt, daneben befand sich eine frisch ausgehobene Grube, feucht und dunkel, die auf Annas Sarg wartete, den man bis zum Rand ihres Grabes getragen hatte. Ihr Grabstein trug die Inschrift »Wiedersehen im Himmel«. Für gewöhnlich wurde der Sargdeckel auf dem Friedhof vor der Grablegung ein letztes Mal geöffnet, damit sich die Trauernden verabschieden konnten, doch der Zustand von Annas Leiche machte dies unmöglich. Schlimmer noch war, dass man ihr Gesicht nicht mit den Farben ihres Stammes und ihres Klans hatte bemalen können – eine Tradition bei Osage-Bestattungen. Wenn dieses Ornamentierungsritual nicht eingehalten wurde, so fürchtete Mollie, wäre Annas Geist möglicherweise verloren. Dennoch hatten Mollie und ihre Familie ausreichend Nahrung für die dreitägige Reise zu jenem Ort in den Sarg gelegt, den die Osage als die Ewigen Jagdgründe bezeichnen.
Die älteren Trauergäste, etwa Mollies Mutter, begannen Osage-Gebete zu rezitieren, in der Hoffnung, dass Wah’Kon-Tah sie hörte. Der große Historiker und Autor John Joseph Mathews (1894–1979), der selbst zu einem Viertel Osage war, dokumentierte viele Traditionen des Stammes. Ein typisches Gebet beschrieb er einmal folgendermaßen: »Es erfüllte meine Kleine-Jungen-Seele mit Furcht und Bittersüße, einer fremdartigen Sehnsucht, und als es vorüber war und ich in meiner frohlockenden Angsttrance dalag, hoffte ich inbrünstig, dass es weiterging, und fürchtete gleichzeitig, dass dies tatsächlich geschehen könnte. Später, als ich vernünftig zu denken begonnen hatte, erschien es mir, als ob dieses Gebetslied, dieser Gesang, dieses die Seele aufwühlende Flehen vor seinem eigentlichen Schluss stets in einem frustrierten Schluchzen endete.«16
Mollie, die mit Ernest am Grab stand, vernahm das Todeslied der alten Leute, deren Gesang von Weinen unterbrochen wurde. Brown, Annas Exmann, war so aufgelöst, dass er beiseitetrat. Genau zur Mittagsstunde – als die Sonne, die größte Manifestation des Großen Geistes, ihren Zenit erreichte – nahmen Männer den Sarg auf und senkten ihn langsam in die Grube hinab. Mollie sah zu, wie der glänzend weiße Sarg in der Tiefe verschwand, bis die lang gezogenen, durchdringenden Klagegesänge verstummten und man hörte, wie die Erde auf den Deckel fiel.
Die Morde an Anna Brown und Charles Whitehorn sorgten für eine Sensation. Eine Schlagzeile im Pawhuska Daily Capital verkündete: »Zwei verschiedene Mordfälle fast gleichzeitig untersucht.«1 Es kursierten Theorien darüber, wer wohl verantwortlich sei. Die zwei Kugeln in Whitehorns Schädel stammten offenbar aus einer 32er-Pistole – derselben Art von Waffe, die man auch im Zusammenhang mit Annas Ermordung vermutete. War es nur ein Zufall, dass beide Opfer wohlhabende Osage-Indianer in ihren Dreißigern gewesen waren? Oder war dies die Tat eines Serienmörders – jemandem wie Dr. H. H. Holmes? Dieser hatte in Chicago mindestens siebenundzwanzig Menschen umgebracht, viele davon während der Weltausstellung im Jahr 1893.
Lizzie überließ es Mollie, sich mit den Behörden in Verbindung zu setzen. Im Laufe von Lizzies Leben hatten sich die Osage dramatisch von ihren Traditionen entfernt. Louis F. Burns, ein Historiker mit Osage-Wurzeln, schrieb, dass der Stamm nach den Ölfunden »in eine fremde Welt abgedriftet« sei. »In der Welt des weißen Wohlstandes gab es nichts Vertrautes, woran man sich festklammern und über Wasser hätte halten können.«2 Wenn der Stamm in früheren Zeiten plötzliche Veränderungen durchgemacht hatte oder in unbekannte Gefilde vorgestoßen war, hatte stets ein bestimmter Osage-Klan, zu welchem eine Gruppe namens »Reisende im Nebel« gehörte, die Führung übernommen. Obgleich sie durch den Aufruhr, der sie umgab, oft verwirrt war, übernahm Mollie in ihrer Familie die Führungsrolle – eine moderne Reisende im Nebel. Sie sprach Englisch, war mit einem weißen Mann verheiratet und nicht den Versuchungen erlegen, durch die viele junge Stammesmitglieder Schaden genommen hatten, darunter auch Anna. Für manche Osage, insbesondere für ältere Stammesangehörige wie Lizzie, war das Öl Fluch und Segen zugleich. »Eines Tages wird das Öl fort sein, dann wird es nicht mehr alle paar Monate fette Schecks vom Großen Weißen Vater geben«, sagte ein Osage-Häuptling im Jahr 1928. »Es wird keine teuren Autos und neuen Kleider mehr geben. Ich weiß, dass mein Volk dann glücklicher sein wird.«3
Mollie drängte die Behörden, in Annas Mordfall zu ermitteln, doch die meisten Beamten fanden offenbar, dass ein »toter Indianer« die Mühe nicht wert sei. Also wandte sich Mollie an Ernests Onkel, William Hale.4 Seine geschäftlichen Interessen beherrschten inzwischen das Land, und er war zu einem mächtigen lokalen Verfechter von Recht und Gesetz geworden – zum Schutz derer, die er als »gottesfürchtige Seelen« bezeichnete.
Hale hatte ein eulenartiges Gesicht, kräftiges Haar und kleine, wachsame Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Beinahe zwei Jahrzehnte zuvor hatte er sich im Reservat niedergelassen. Wie eine fleischgewordene Version von Faulkners Thomas Sutpen schien er aus dem Nichts aufgetaucht zu sein – ein Mann ohne bekannte Vergangenheit. Als er in der Gegend eintraf, besaß er kaum mehr als seine Kleider am Leibe und ein zerlesenes Altes Testament. Jemand, der ihn gut kannte, sagte einmal, er habe sich in einem »Randgebiet der Zivilisation … sein Überleben und sein Vermögen erkämpft«.5
Hale fand Arbeit als Cowboy auf einer Ranch. Bevor Züge kreuz und quer durch den Westen fuhren, trieben Cowboys das Vieh von Texas ins Osage-Territorium, wo die Herden das üppige Gambagras abweideten, bevor man sie weiter nach Kansas brachte, wo sie schließlich zu den Schlachthöfen in Chicago und anderen Städten verladen wurden. Diese Viehtriebe befeuerten zwar die amerikanische Faszination für den Cowboy, doch die Arbeit war alles andere als romantisch. Hale schuftete Tag und Nacht für einen Hungerlohn; er ritt durch Stürme – Hagel, Gewitter, Sand – und überlebte Stampeden, indem er das Vieh in kleiner werdenden Kreisen zusammentrieb, bevor es ihn zertrampeln konnte. Seine Kleider trugen den beißenden Geruch von Schweiß und Dung, und er zog sich regelmäßig Prellungen, wenn nicht gar Knochenbrüche zu. Schließlich kratzte und borgte er genug Geld zusammen, um eine eigene Herde im Osage-Territorium kaufen zu können. »Er ist der energischste Mensch, denn ich je kennenlernte«, erinnerte sich ein Mann, der in sein Unternehmen investierte. »Selbst, wenn er nur die Straße überquerte, schritt er, als wäre er hinter etwas Großem her.«6
Hale ging bald bankrott – ein bitteres Versagen, das seinen Ehrgeiz aber nur noch weiter schürte. Nach seinem Neustart im Viehgeschäft nächtigte er oft in einem Zelt in der Prärie, allein mit seinem Zorn. Jahre später beschrieb ein Reporter, wie er vor einem Feuer immer noch »wie ein angeleintes Tier auf und ab ging. Nervös rieb er sich die Hände über den Flammen. Sein stark gerötetes Gesicht glühte vor Kälte und Erregung«.7 Er arbeitete mit dem Fieber eines Mannes, der nicht nur den Hunger, sondern einen alttestamentlichen Gott fürchtete, der ihn jeden Augenblick wie Hiob strafen könnte.
Er wurde zu einem Experten im Brandmarken, Enthornen, Kastrieren und Verkaufen von Rindern. Als seine Gewinne anstiegen, kaufte er von den Osage und benachbarten Siedlern immer mehr Land auf, bis er rund achtzehntausend Hektar des besten Weidelandes im Bezirk beisammenhatte und zudem über ein kleines Vermögen verfügte. Dann begann er auf jene verblüffende amerikanische Weise an sich selbst zu arbeiten. Er tauschte seine zerlumpten Hosen und den alten Cowboyhut gegen einen stutzerhaften Anzug mit Fliege und Filzhut. Seine Augen blickten nun durch eine distinguiert wirkende Brille mit runden Gläsern. Er heiratete eine Schullehrerin und bekam eine Tochter, die ihn anhimmelte. Er trug Gedichte vor. Der legendäre Wildwest-Showman und einstige Partner Buffalo Bills, Pawnee Bill, beschrieb Hale als einen »niveauvollen Gentleman«.8
William Hale nimmt als Cowboy an einem Ruderwettbewerb teil.
In Fairfax wurde er zum Hilfssheriff der Reserve ernannt, eine Position, die er auch fürderhin innehatte. Es handelte sich mehr oder weniger um einen Ehrentitel, der ihn jedoch berechtigte, ein Abzeichen zu tragen und Suchtrupps zu leiten. Manchmal trug er in seiner Seitentasche eine Pistole und eine weitere in einem Hüfthalfter. Diese repräsentierten, wie er gern sagte, seine Autorität als Vertreter des Gesetzes.
Der gewandelte Hale mit Frau und Tochter.
Als sein Wohlstand und seine Macht wuchsen, buhlten bald auch Politiker um seine Gunst, da sie wussten, dass sie ohne seinen Segen nicht gewinnen konnten. Er besiegte seine Gegner durch Arbeit und List, was ihm viele Feinde bescherte, die ihn am liebsten tot gesehen hätten. »Manche hassten ihn«, räumte ein Freund ein.9 Mollie Burkhart und viele andere sahen jedoch den größten Wohltäter von Osage County in ihm. Er unterstützte die Osage, bevor das Öl sie reich machte, spendete für Wohltätigkeitsorganisationen, Schulen und ein Krankenhaus. Als er ein Predigeramt übernahm, unterzeichnete er mit »Rev. W. K. Hale«. Ein ortsansässiger Arzt sagte: »Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie viele kranke Menschen auf seine Kosten medizinisch behandelt oder wie viele hungrige Mäuler von seinem Wohlstand genährt wurden.«10 Später verfasste Hale einen Brief an einen stellvertretenden Stammeshäuptling, in dem es hieß: »Ich hatte in meinem Leben nie bessere Freunde als die Osage … ich werde stets der treue Freund der Osage bleiben.«11 In diesem letzten Überrest des amerikanischen Grenzlandes wurde Hale als »König der Osage Hills« verehrt.
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Hale kam regelmäßig an Mollies Haus vorbei, um Ernest abzuholen. Nicht lange nach Annas Beerdigung tauchte er dort auf, um Mollie und ihrer Mutter zu kondolieren. Er schwor, dafür zu sorgen, dass Anna Gerechtigkeit widerfuhr.
Angesichts seines unerschütterlichen Selbstvertrauens und seiner Beherrschung jener geheimen Welt der Weißen – er trug häufig eine mit Diamanten besetzte Anstecknadel der Freimaurer –, schien es ohne Belang, dass er keine formale Rolle bei den Mordermittlungen spielte. Er hatte seine Zuneigung für Anna stets zum Ausdruck gebracht, »wir waren dicke Freunde«, sagte er.12 Bei einem anderen Besuch sah Mollie, wie er mit Ernest im Gespräch vertieft war. Offenbar redeten sie darüber, wie sie den mutmaßlichen Mörder ihrer Schwester fangen wollten.
Mitglieder der gerichtsmedizinischen Untersuchungskommission sowie der Bezirksstaatsanwalt ermittelten weiter in Annas Mordfall, und kurz nach Annas Beerdigung sagte Mollie bei einer Anhörung in Fairfax aus. Das Department of the Interior’s Office of Indian Affairs (Amt des Innenministeriums für Indianerangelegenheiten) – das die Beziehung zwischen Regierung und Stämmen leitete und später in Bureau of Indian Affairs (Büro für Indianerangelegenheiten) umbenannt wurde – beschäftigte einen für das Osage-Gebiet zuständigen Außendienstmitarbeiter, der Mollie kannte. Er sagte, sie sei »bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um … die schuldigen Parteien der Gerechtigkeit zuzuführen«.13 Die Behörden hatten Mollie einen Dolmetscher besorgt, aber sie winkte ab und sprach in knappem Englisch, wie es ihr die Nonnen als Kind beigebracht hatten.
Mollie schilderte den Geschworenen, wie Anna sie das letzte Mal zu Hause besucht hatte. Sie sagte, Anna habe ungefähr bei Sonnenuntergang das Haus verlassen. In einer späteren Sitzung fragte ein Regierungsvertreter sie: »Wie verließ sie das Haus?«14
»Sie fuhr in einem Auto.«
»Wer war bei ihr?«
»Bryan Burkhart.«
»Wissen Sie, in welche Richtung sie fuhren?«
»Richtung Fairfax.«
»War außer Bryan und Anna sonst noch jemand im Wagen?«
»Nein, nur Bryan und Anna …«
»Haben Sie sie danach noch einmal lebendig gesehen?«
Mollie bewahrte die Fassung. »Nein«, sagte sie.
»Sie haben ihre Leiche gesehen, nachdem sie gefunden wurde?«
»Ja.«
»Wie viel Zeit verging, nachdem Ihre Schwester mit Bryan Burkhart das Haus Ihrer Mutter verlassen hatte, bis Sie ihre Leiche sahen?«
»Etwa fünf oder sechs Tage.«
»Wo sahen Sie die Leiche?«
»Auf der Weide … gleich dort.«
Mollie schien bei der Untersuchung zwar bestrebt, auf jede Frage zu antworten, um ganz sicher zu gehen, dass nichts ausgelassen würde, doch der Friedensrichter und die Geschworenen wollten kaum etwas von ihr wissen. Sie ignorierten sie vielmehr, vielleicht aufgrund von Vorurteilen – weil sie eine Osage und eine Frau war. Weitaus gründlicher befragte das Gremium Bryan Burkhart, über den am Ort bereits hie und da getuschelt wurde; schließlich war er der Letzte gewesen, der Anna vor ihrem Verschwinden gesehen hatte. Bryan verfügte nicht über dasselbe gute Aussehen wie sein Bruder Ernest, Mollies Ehemann. Etwas Kaltes umgab ihn, und er besaß unangenehm stechende Augen. Hale hatte ihn einmal dabei erwischt, wie er sein Vieh stahl, und ihn angezeigt, um seinem Neffen eine Lektion zu erteilen.
Der Bezirksstaatsanwalt befragte Bryan zu dem Tag, an dem er, wie er selbst sagte, Anna mit dem Auto nach Hause gebracht habe. »Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie sie zurückgebracht hatten?«15
»Bin in die Stadt gegangen.«
»Wann war das?«
»Vielleicht gegen fünf oder halb fünf.«
»Seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Nein, Sir.«
Einmal hielt der Bezirksstaatsanwalt inne und fragte: »Tatsächlich?«
»Ja, Sir.«
Bei einer späteren Anhörung wurde auch Ernest befragt. Ein Strafverfolgungsbeamter hakte wegen seines Bruders bei ihm nach: »Sie verstehen, dass er der Letzte ist, der mit dieser Frau, Anna Brown, gesehen wurde?«16
»Ich verstehe«, erwiderte Ernest und fügte hinzu, Bryan habe ihm gesagt, »dass er sie zu Hause abgesetzt hat. Das ist alles.«
»Glauben Sie das?«
»Ja, Sir.«
Nach der ersten Anhörung wurde Bryan von den Behörden verhaftet. Zu Mollies Entsetzen nahmen sie auch Ernest in Gewahrsam – für den Fall, dass er seinen jüngeren Bruder deckte. Beide Männer wurden jedoch rasch wieder auf freien Fuß gesetzt. Außer der Tatsache, dass Bryan mit Anna vor deren Verschwinden zusammen gewesen war, gab es keinerlei Beweise gegen ihn. Als man Ernest fragte, ob er etwas darüber wisse, wie Anna zu Tode gekommen sei, verneinte er und fügte hinzu: »Mir ist nichts darüber bekannt, dass sie Feinde hatte oder irgendjemand sie nicht mochte.«
* * *
Eine vorherrschende Theorie war, dass ihr Mörder von außerhalb des Reservates stammte. Einst hatte sich der Stamm mit seinen Feinden auf der Prärie bekriegt; nun kamen sie in Gestalt von Eisenbahnräubern, Wegelagerern und anderen Gesetzlosen. Der Erlass der Prohibitionsgesetze hatte die Atmosphäre der Gesetzlosigkeit innerhalb des Territoriums nur noch verstärkt, da sich nun das organisierte Verbrechen angesprochen fühlte. So entstand, in den Worten eines Historikers, »die größte kriminelle Spielwiese der amerikanischen Geschichte«17. Wenige Landstriche waren so chaotisch wie Osage County, wo die ungeschriebenen Gesetze des Westens, die Traditionen, durch die ganze Gemeinden zusammengehalten wurden, aus den Fugen geraten waren. Einem Bericht zufolge steckte im Öl mehr Geld als in sämtlichen Goldräuschen des alten Westens zusammen, und dieses Vermögen hatte im ganzen Land alle Sorten von Übeltätern angelockt. Ein Vertreter des US-Justizministeriums warnte, dass sich in den Osage Hills möglicherweise mehr Flüchtige verbargen als »in jedem anderen Bezirk des Staates oder jedem Staat der Union«.18
Gesetzeshüter beschlagnahmen eine Schwarzbrennerei in Osage County, 1923.
Unter diesen war der hartgesottene Räuber Irvin Thompson, auch bekannt als Blackie – vielleicht wegen seiner dunklen Hautfarbe (er war zu einem Viertel Cherokee) oder wegen seines finsteren Herzens: Ein Gesetzeshüter bezeichnete ihn als »gemeinsten Kerl, mit dem ich je zu tun hatte«.19 Sogar noch gefürchteter war Al Spencer, der sogenannte Phantom Terror, der den Wechsel vom Pferdegalopp zur halsbrecherischen Autofahrt bewältigt und von Jesse James den Titel des berüchtigtsten Gesetzlosen der Region geerbt hatte. Im Arizona Republican stand, dass Spencer, mit seinem »kranken Geist und einer fehlgeleiteten Abenteuerlust«, jene Bevölkerungsteile im Lande anspreche, »die sich gern in falscher Götzenverehrung ergehen«.20 Mitglieder seiner Bande, darunter Dick Gregg und Frank »Jelly« Nash, zählten ihrerseits zu den am meisten gefürchteten Gesetzlosen ihrer Zeit.
Mitglieder der Al Spencer Gang bedrohen sich zum Scherz gegenseitig mit der Waffe.
Eine weitaus verstörendere Theorie zu Annas Tod lautete, dass ihr Mörder wie ein Wolf im Schafspelz unter ihnen lebte. Mollie und andere wurden nun misstrauisch gegenüber Annas Exehemann Oda Brown, der sich selbst als Geschäftsmann bezeichnete und den größten Teil seiner Zeit mit Zechen verbrachte. Rückblickend hatte sein verzweifeltes Auftreten beinahe zu theatralisch gewirkt. Ein Ermittler notierte: »Es mag sich um wahre Trauer gehandelt haben oder … reine Schau gewesen sein.«21 Nachdem sich Anna von ihm hatte scheiden lassen, hatte sie ihm jeden Anteil am Erbe verweigert und praktisch ihr gesamtes Vermögen Lizzie hinterlassen. Seit der Beerdigung hatte Brown einen Anwalt engagiert und versuchte nun erfolglos, das Testament anzufechten. Der Ermittler schloss, Brown sei »absolut kein guter Mensch und fähig, für Geld so gut wie alles zu tun«.22
Ein paar Wochen nach dem Begräbnis schrieb ein Mann, der in Kansas wegen Scheckfälschung verhaftet worden war, einen Brief an Sheriff Freas, in dem er behauptete, er habe Informationen bezüglich Annas Ermordung. »Ehrenwerter Herr«, schrieb er. »Ich hoffe, Ihnen dienlich sein zu können.«23 Er legte jedoch nicht offen, was er wusste. Nachdem der Sheriff die Nachricht erhalten hatte, machte er sich in einem »schnellen Automobil« auf den Weg, wie es in der Presse hieß. Hale, der von dem bevorstehenden Durchbruch bei den Ermittlungen erfahren hatte, eilte ebenfalls zu dem Gefängnis. Bei der Befragung behauptete der Fälscher, ein achtundzwanzig Jahre alter, unruhiger Mann, Brown habe ihm achttausend Dollar für den Mord an Anna gezahlt. Er schilderte, wie er ihr in den Kopf geschossen und die Leiche dann in seinen Armen zum Bach hinabgetragen habe.
Kurz nach seinem Geständnis machte sich eine Gruppe Gesetzeshüter auf den Weg und verhaftete Brown, als dieser geschäftlich in Pawhuska war. Der Pawhuska Daily Capital verkündete die Neuigkeit: »Mörder von Anna Brown gesteht Verbrechen.«24 Weiter hieß es: »Oda Brown, Ehemann der Frau, ebenfalls verhaftet.« Mollie und ihre Familie waren angesichts der Vorstellung, dass Oda für den Mord an Anna verantwortlich war, schockiert. Doch fanden sie Trost in dem Gedanken, dass er seine gerechte Strafe erhalten würde, vielleicht den Galgen oder den elektrischen Stuhl. Innerhalb weniger Tage jedoch kamen die Behörden zu dem Schluss, dass es nicht ausreichend Beweise für die Behauptungen des Fälschers gebe – weder dafür, dass dieser zum Zeitpunkt von Annas Ermordung in Osage County gewesen war, noch, dass Brown sich überhaupt mit ihm in Verbindung gesetzt hatte. Den Behörden blieb nichts anderes übrig, als Brown wieder auf freien Fuß zu setzen. »Es wird viel geredet«, soll der Sheriff gesagt haben. »Man braucht aber kein Gerede, sondern Beweise.«25
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Wie viele Beamte verdankte auch der Bezirksstaatsanwalt die Wahl auf seinen Posten wenigstens teilweise William Hale. Als er zum ersten Mal für das Amt kandidierte, sagten ihm seine Berater, er müsse Hales Unterstützung gewinnen, also unternahm er mehrere Ausflüge zu dessen Ranch. Dort traf er ihn allerdings nie an, bis ihm schließlich ein Viehinspekteur mitteilte: »Wenn Sie Bill Hale treffen wollen, müssen Sie früh auf seine Ranch kommen – und ich meine verdammt früh.«26 Also parkte der Anwalt um drei Uhr morgens seinen Ford Model T vor der Ranch und legte sich im Wagen schlafen. Es dauerte nicht lange, da wurde er von einem grimmig dreinblickenden Mann wachgerüttelt, der wissen wollte, was er auf seinem Grund und Boden zu suchen habe. Der Anwalt legte sein Vorhaben dar, und Hale stellte fest, dass er dessen Eltern kannte, die ihm einmal während eines Blizzards Schutz gewährt hatten. Hale versprach, er wolle dafür sorgen, dass die Wahl zu seinen Gunsten entschieden werde. Ein Berater des Anwalts bemerkte, Hale »log niemanden an, und wenn er sagte, dass er etwas tun werde, dann tat er es auch«.27 Am Wahltag errang der Anwalt in jenem Teil von Osage County in sämtlichen Wahlbezirken den Sieg.
Hale hatte engen Kontakt zu dem Bezirksstaatsanwalt gehalten und mit ihm und anderen Beamten auch über Annas Ermordung gesprochen. Am Ende beschloss der Bezirksstaatsanwalt, erneut nach der Kugel zu suchen, die den Ermittlern bei Annas Autopsie entgangen war. Man besorgte eine gerichtliche Anordnung, Anna zu exhumieren. Scott Mathis, der Eigentümer der Big Hill Trading Company, der mit Hale und Mollie befreundet war, wurde gebeten, die grausige Aufgabe zu überwachen. Er ging mit seinem Bestatter und einem Totengräber zum Friedhof. Das Gras auf Annas Grab hatte kaum Zeit gehabt, wieder zu wachsen. Die Männer brachen die unversöhnliche Erde mit ihren Spaten auf, legten den einst weißen, nun vom Dreck geschwärzten Sarg frei und hievten ihn an die Oberfläche. Dann öffneten sie gewaltsam den Deckel. Ein grässlicher Gestank, der Tod selbst, erfüllte die Luft.
Die Gebrüder Shoun, welche die erste Autopsie durchgeführt hatten, trafen am Friedhof ein und nahmen die Suche nach der Kugel wieder auf. Diesmal legten sie Handschuhe an und holten ein Fleischerbeil hervor, mit dem sie Annas Kopf zu »Wurstbrät« zerschnitten, wie sich der Bestatter ausdrückte.28 Doch abermals fanden die Brüder nichts. Die Kugel schien verschwunden zu sein.
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Im Juli 1921 hatte der Friedensrichter den Fall mit der Begründung geschlossen, Annas Tod sei »durch die Tat unbekannter Dritter« herbeigeführt worden29 – dieselbe Feststellung wie bei den Whitehorn-Ermittlungen. Das wenige Beweismaterial, das zusammengetragen wurde, legte der Friedensrichter in seinem Büro zu den Akten – für den Fall, dass weitere Informationen auftauchten.
Derweil verschlechterte sich Lizzies Gesundheitszustand. Hatte sie einst dieselbe Energie und Hartnäckigkeit besessen wie Mollie, schien sie nun mit jedem Tag ein wenig weiter entfernt, etwas substanzloser. Es war, als litte sie unter derselben »eigenartigen Form der Schwindsucht«, die auch Minnie dahingerafft hatte.