Der Untergang der "Wager" - David Grann - E-Book
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Der Untergang der "Wager" E-Book

David Grann

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Beschreibung

*Wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste
*Eines von Barack Obamas »Favorite Books of 2023«
*Auf der Longlist für den Baillie Gifford Prize für Non-Fiction 2023
*Vielfaches Buch des Jahres
*In 25 Sprachen übersetzt

»Die größte Seefahrtsgeschichte, die je erzählt wurde.« The Spectator

»Ein spannender Bericht … dramatisch und fesselnd.« The Economist

»Liest sich wie ein Thriller.« Time Magazine


Januar 1742. Ein windschiefes Segelboot strandet an der Küste Brasiliens, an Bord 30 Männer, die einzigen Überlebenden des königlichen Eroberungsschiffs »The Wager«, das in einem Sturm zerschellt ist. Sechs Monate später: Drei Schiffbrüchige werden in Chile an Land gespült und erklären die 30 Männer zu Meuterern, die skrupellos gemordet hätten … Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Das soll ein britisches Kriegsgericht entscheiden. Es geht um Leben oder Tod. David Grann spinnt aus dem Archivmaterial eines historischen Kriminalfalls eine packende und atmosphärisch dichte Abenteuererzählung. Schuld und Unschuld, Treue und Verrat liegen eng beieinander, und am Ende kommt eine schockierende Wahrheit zutage …

In hochwertiger Ausstattung mit Bildteilen, Karten und Lesebändchen

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Der #1-New-York-Times-Bestseller: »Die größte Seefahrtsgeschichte, die je erzählt wurde.« The Spectator

Januar 1742. Ein windschiefes Segelboot strandet an der Küste Brasiliens, an Bord 30 Männer, die einzigen Überlebenden des königlichen Eroberungsschiffes Wager, das in einem Sturm zerschellt ist. Sechs Monate später: Drei Schiffbrüchige werden in Chile an Land gespült und erklären die 30 Männer zu Meuterern, die skrupellos gemordet hätten … Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Das soll ein britisches Kriegsgericht entscheiden. Es geht um Leben oder Tod.

David Grann spinnt aus dem Archivmaterial eines historischen Kriminalfalls eine packende und atmosphärisch dichte Abenteuererzählung. Schuld und Unschuld, Treue und Verrat liegen eng beieinander, und am Ende kommt eine schockierende Wahrheit zutage …

DAVIDGRANN, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Sein Bestseller Killers of the Flower Moon erschien auf Deutsch bei btb und wurde von und mit Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio verfilmt, die sich auch die Rechte an Granns neuestem Meisterwerk gesichert haben. Der Untergang der Wager stand wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und ist eines von Barack Obamas »Favorite Books of 2023«. Es wurde vielfach zum Buch des Jahres gekrönt und in 25 Sprachen übersetzt. David Grann lebt mit Frau und Kindern in New York.

»Das fesselndste Seemannsgarn, das ich seit Jahren gelesen habe. Ein Meisterwerk der erzählenden Sachliteratur.« The Wall Street Journal

»Ein mitreißendes Abenteuer und eine Erkundung der Macht von Erzählungen, die unsere Wahrnehmung der Realität prägen.« The New York Times

www.cbertelsmann.de

DAVID GRANN

DER UNTERGANG DER

WAGER

Eine wahre Geschichte von SCHIFFBRUCH, MORD und MEUTEREI

Aus dem Englischen von Rudolf Mast

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Wager bei Doubleday, Penguin Random House LLC, New York.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe 2023 David Grann

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Fabian, Lektorat Papierflieger

Karten: Jeffrey L. Ward

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München,

nach einer Idee von John A. Fontana

Umschlagabbildung: Ships in Distress in a Storm, ca. 1720–1730, von Peter Monamy © Tate, London

Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31863-5V004

www.cbertelsmann.de

Für Kyra, Zachary und Ella

Wir sind die Helden unserer eigenen Geschichte.

Mary McCarthy

Vielleicht gibt es doch ein Monster … vielleicht sind das ja nur wir selber.

William Golding, Herr der Fliegen

INHALT

Vorbemerkung

Prolog

Teil eins: Welt aus Holz

1. Der Oberleutnant

2. Ein Freiwilliger aus gutem Hause

3. Der Stückmeister

Teil zwei: Dem Sturm entgegen

4. Gissen

5. Der Sturm im Sturm

6. Allein

7. Golf der Schmerzen

Teil drei: Die Gestrandeten

8. Schiffbruch

9. Das Monster

10. Unsere neue Stadt

11. Nomaden des Meeres

12. Schandtaten

13. Mit aller Härte

14. Die Zuneigung der Leute

15. Die Arche

16. Meine Meuterer

Teil vier: Rettung

17. Byrons Entscheidung

18. Bucht zur Gnade Gottes

19. Der Fluch

20. Der Tag unserer Errettung

Teil fünf: Das Urteil

21. Eine literarische Revolte

22. Die Prise

23. Schreiberlinge

24. Die Beweislage

25. Der Prozess

26. Die Version, die sich durchgesetzt hat

Epilog

Dank

Quellen

Bibliografie

Bildteil

Anmerkungen

VORBEMERKUNG

Ich muss bekennen, dass ich nicht dabei war, als das Schiff auf den Felsen fuhr oder die Mannschaft den Kapitän fesselte. Auch von der Falschheit und dem Mord kann ich nicht aus eigener Anschauung berichten. Ich habe aber Jahre damit verbracht, mich durch Hinterlassenschaften zu arbeiten, die in Archiven aufbewahrt werden: ausgebleichte Logbücher, zerschlissene Briefe, Tagebücher von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, Unterlagen aus dem aufreibenden Prozess vor dem Kriegsgericht. Mit kritischem Blick habe ich die Berichte derer unter die Lupe genommen, die bei den Ereignissen eine aktive Rolle gespielt, sie also nicht bloß miterlebt, sondern ihren Verlauf mitbestimmt haben. Ich habe versucht, die Fakten zusammenzutragen, um auf dieser Grundlage entscheiden zu können, was sich tatsächlich zugetragen hat. Die unterschiedlichen und gelegentlich widerstreitenden Positionen der Beteiligten zu befrieden, bleibt jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Statt solche Differenzen zu glätten oder mich für eine der konkurrierenden Wahrheiten zu entscheiden, habe ich versucht, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen; so bleibt es Ihnen überlassen, ein Urteil zu sprechen – das Urteil der Geschichte.

PROLOG

Die einzige unbefangene Zeugin war die Sonne. Seit Tagen schon konnte sie beobachten, wie das eigentümliche Gefährt über den Ozean torkelte und von Wind und Wellen erbarmungslos herumgestoßen wurde. Ein- oder zweimal war es fast an einem Riff zerschellt, womit diese Geschichte bereits wieder beendet gewesen wäre. Aber irgendwie – ob durch eine schicksalhafte Fügung, wie einige später behaupten würden, oder durch schieres Glück – trieb es, von etlichen Einheimischen zufällig beobachtet, in eine kleine Bucht an der Südostküste Brasiliens.1

Mit einer Länge von gut fünfzehn Metern und einer Breite von drei Metern war es ein gewöhnliches Schiff – nur dass es wirkte, als wäre es aus Holz- und Stoffresten zusammengestückelt und dann sich selbst überlassen worden. Die Segel waren zerfetzt, die Masten geborsten. Seewasser drang in den Rumpf ein, umgekehrt trat ein übler Gestank aus. Die Schaulustigen, die herbeigelaufen kamen, vernahmen befremdliche Geräusche: Dreißig Mann, bis auf die Knochen abgemagert, drängten sich an Deck. Ihre Kleidung hatte sich weitgehend aufgelöst. Die Gesichter waren hinter einem wirren, salzgetränkten Haarschopf verborgen, der an Seetang erinnerte.

Einige waren so schwach, dass sie sich nicht auf den Beinen halten konnten. Kurz darauf tat einer von ihnen den letzten Atemzug und starb. Ein Mann jedoch, der die Verantwortung zu tragen schien, brachte die Kraft und den Willen auf, sich zu erheben und den Einheimischen mitzuteilen, dass sie zur Besatzung der gesunkenen Wager gehörten, einem Schiff der königlich-britischen Kriegsmarine.

Als diese Nachricht England erreichte, rief sie vor allem Ungläubigkeit hervor. Im September 1740, auf dem Höhepunkt einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Spanien, war die Wager mit etwa 250 Mann Besatzung von Portsmouth aus als eines von mehreren Schiffen in geheimer Mission in See gestochen. Ihr Auftrag lautete, eine spanische Galeere aufzubringen, die mit Gold und anderen Kostbarkeiten beladen war und als lukrativste Prise auf allen Weltmeeren galt. Auf der Höhe von Kap Hoorn an der Südspitze Amerikas war das Geschwader in einen schweren Sturm geraten, in dem die Wager mit Mann und Maus zu sinken drohte. Exakt 283 Tage nachdem das Schiff zum letzten Mal gesehen worden war, tauchten diese Männer wundersamerweise in Brasilien auf.

Sie waren auf einer einsamen Insel vor der Küste Patagoniens gestrandet. Die meisten Männer waren gestorben, aber 81 Überlebende hatten sich in einem Boot, das sie unter anderem aus Wrackteilen der Wager gebaut hatten, auf den Weg gemacht. An Bord war es so eng, dass sie sich kaum bewegen konnten, und doch hatten sie starkem Wind und hohen Wellen getrotzt, Eisstürme und Erdbeben überlebt. Mehr als fünfzig Mann waren im Laufe der qualvollen Fahrt gestorben, und als die wenigen Überlebenden nach dreieinhalb Monaten Brasilien erreichten, hatten sie fast 5000 Kilometer zurückgelegt. Damit gehört diese Reise zu den längsten, die Schiffbrüchige je hinter sich gebracht haben. Für ihr Durchhaltevermögen und ihren Mut wurden sie gefeiert. Wie der Anführer der Gruppe notierte, fiel es schwer, zu glauben, dass »der Mensch einem solchen Elend, wie wir es durchlitten haben, überhaupt gewachsen ist«.2

Sechs Monate später wurde ein weiteres Boot an die Küste gespült, und zwar durch einen Schneesturm vor der Südküste Chiles. Es war noch kleiner – eine Art Einbaum, angetrieben von einem Segel, das aus zerschlissenen Planen zusammengenäht worden war. An Bord befanden sich drei weitere Überlebende, und deren Zustand war noch erbärmlicher. Sie waren halb nackt und ausgemergelt, Insekten umschwärmten sie und bedienten sich von dem wenigen Fleisch, das auf den Körpern übrig war. Einer der Männer war dem Delirium so nahe, dass er »sich selbst verloren« hatte, wie einer seiner Begleiter es nannte. »Er konnte sich nicht an unsere Namen erinnern … nicht einmal an seinen eigenen.«3

Nachdem diese Männer wieder zu Kräften gekommen und nach England zurückgekehrt waren, erhoben sie einen schweren Vorwurf gegen jene Kameraden, die in Brasilien aufgetaucht waren. Die seien keine Helden, sondern Meuterer. Im Zuge der Auseinandersetzung, die sich mit wechselseitigen Vorwürfen anschloss, wurde klar, wie sehr die Männer von der Wager auf der Insel hatten kämpfen müssen, um unter den extremen Bedingungen zu überleben. Mit ständigem Hunger und Kälte konfrontiert, hatten sie eine provisorische Siedlung errichtet und sich bemüht, die militärische Disziplin aufrechtzuerhalten. Doch je mehr sich die Lage zugespitzt hatte, desto mehr waren die Männer der Wager – die doch als Sendboten der Aufklärung galten – verroht, bis schließlich eine Verderbtheit Hobbes’schen Ausmaßes übrig geblieben war. Die Besatzung zerfiel in Lager, die sich gegenseitig bekämpften, es kam zu Plünderungen, Ausschreitungen und Mord. Einige der Männer machten sich auch des Kannibalismus schuldig.

Als sie wieder in England waren, wurden die verschiedenen Lager, Anführer wie Mitläufer, von der Admiralität angeklagt und vor ein Kriegsgericht gestellt. Die Verhandlung drohte nicht nur das Fehlverhalten der Angeklagten öffentlich zu machen, sondern auch die inneren Widersprüche einer Weltmacht, die sich die Verbreitung der sogenannten Zivilisation auf die Fahnen geschrieben hatte.

Mehrere Angeklagte publizierten ihre spektakulären – und sich gegenseitig widersprechenden – Berichte über die, wie einer von ihnen es nannte, »düstere und vertrackte Angelegenheit«.4 Sie beeinflussten die Philosophen Rousseau, Voltaire und Montesquieu, später Charles Darwin und mit Herman Melville und Patrick O’Brian auch zwei der größten Romanciers des Meeres. Hauptziel der Angeklagten war es, die Admiralität und die Öffentlichkeit für sich einzunehmen, und so begann eine geradezu epische Schlacht, die heutige Debatten über konkurrierende und mitunter durchweg falsche »Wahrheiten« vorwegnahm. Ein Überlebender verfasste einen, wie er es nannte, »Tatsachenbericht« und betonte, er habe »penibel darauf geachtet, kein falsches Wort einzubauen. Fehler und Irrtümer wären mit einer Arbeit, die den guten Ruf des Verfassers retten soll, nicht vereinbar.«5 Der Anführer des anderen Lagers behauptete in seinem eigenen Bericht, dass seine Rivalen »eine fehlerhafte Darstellung« vorgelegt hätten, »um uns durch üble Nachrede zu diffamieren«.6 Er schwor: »Unser Leben steht und fällt mit der Wahrheit. Wenn sie uns nicht retten kann, kann es nichts und niemand.«7

Wir alle neigen dazu, in den zufälligen Ereignissen unseres Lebens einen roten Faden – einen Sinn – zu erkennen. Wir durchstöbern unsere Erinnerung und durchsuchen die Bilder, die sich dort angesammelt haben, um sie entweder aufzupolieren oder auszusortieren. So werden wir zu Helden unserer eigenen Geschichte, was es uns ermöglicht, mit dem zu leben, was wir getan und was wir gelassen haben.

Die Männer jedoch, von denen hier die Rede ist, wussten, ihr Leben hing von der Geschichte ab, die sie erzählten. Geriet die nicht überzeugend, drohte ihnen nicht weniger, als an einer Rahe aufgeknüpft zu werden.

TEIL EINS

Welt aus Holz

KAPITEL 1

Der Oberleutnant

Jedes Mitglied des Geschwaders brachte neben einer Seemannskiste seine eigene mehr oder weniger trübselige Vorgeschichte mit. Eine verschmähte Liebe hier, eine Gefängnisstrafe dort, hier eine schwangere Ehefrau, die weinend an Land zurückblieb, dort der Hunger nach Ruhm und Wohlstand oder die Angst vor dem Tod. David Cheap, Oberleutnant auf der Centurion, dem Flaggschiff des Geschwaders, war da keine Ausnahme.1 Der stämmige Schotte, Anfang vierzig, große Nase und gefühlstiefe Augen, war auf der Flucht – vor einem Erbstreit mit seinem Bruder, vor Gläubigern, die ihm nachstellten, vor den Schulden, die es ihm unmöglich machten, eine Frau fürs Leben zu finden. An Land wirkte Cheap verloren, außerstande, die Untiefen des Lebens zu umschiffen. Doch sobald er auf dem Achterdeck eines britischen Kriegsschiffes stand, auf dem Kopf einen Dreispitz, in der Hand ein Fernrohr, und über die Weltmeere fuhr, strotzte er nur so vor Selbstvertrauen – oder vor Überheblichkeit, wie manch einer meinte. In der hölzernen Welt eines Schiffes – eine Welt, deren Grenzen durch die strengen Regeln der Navy, die Gesetze der See und vor allem den zusammengewürfelten Haufen an Bord gebildet wurden – hatte er Zuflucht gefunden. Hier konnte er einem klar definierten Auftrag folgen, der seinem Tun und Lassen einen Sinn verlieh. Ungeachtet aller Risiken, die damit verbunden waren, von Seuchen über die Gefahr, zu ertrinken, bis hin zu feindlichem Beschuss, bot ihm sein neuer Posten das, wonach er sich sehnte: eine Gelegenheit, reiche Beute zu machen, zum Kapitän mit eigenem Kommando aufzusteigen und so zum Herrn der Meere zu werden.

Das Problem aber war, dass er einstweilen das verdammte Festland nicht verlassen konnte. Er hing in den Docks von Portsmouth an der englischen Kanalküste fest, wo er sich ebenso fieberhaft wie vergeblich darum bemühte, die Centurion vollständig auszurüsten und seeklar zu machen. Der massige hölzerne Rumpf, 44 Meter lang und gut zwölf Meter breit, lag in der Werft. Schiffbauer, Kalfaterer, Takler und Zimmerleute huschten wie Ratten (von denen es ebenfalls reichlich gab) über die Decks. Der Lärm von Hämmern und Sägen verband sich zu einer Kakofonie. Durch die kopfsteingepflasterten Straßen jenseits der Werft drängten scheppernde Karren und Pferdefuhrwerke, Gepäckträger, Hausierer, Taschendiebe, Matrosen und Prostituierte. Von Zeit zu Zeit blies ein Bootsmann in seine schrille Pfeife und rief die Seeleute aus den umliegenden Kneipen, wo sie alte oder neue Liebschaften zurückließen und zu ihren abfahrtsbereiten Schiffen eilten, um den Peitschen der Offiziere zu entgehen.

Januar 1740. Das britische Empire rüstete sich für einen Krieg gegen seinen Rivalen Spanien. Im Zuge dessen war George Anson, der Kapitän der Centurion, unter dem Cheap diente, von der Admiralität zum Kommodore eines Geschwaders aus fünf Kriegsschiffen ernannt worden, die in den Krieg gegen die Spanier ziehen sollten – eine Maßnahme, die Cheaps Aussichten dramatisch verbesserte. Die Beförderung Ansons kam unerwartet.2 Als Sohn eines unbedeutenden Gutsbesitzers konnte er nicht auf die Unterstützung bauen – oder sie sich erkaufen –, die Offiziere für ihren Aufstieg (und den einiger Getreuer) auf der Karriereleiter normalerweise benötigten.3 Anson, damals 42 Jahre alt, war mit vierzehn zur Navy gekommen und hatte ihr fast drei Jahrzehnte treu gedient, ohne je einen militärischen Einsatz geleitet oder ein lohnendes feindliches Schiff aufgebracht zu haben.

Anson, der groß gewachsen war, ein längliches Gesicht und eine hohe Stirn hatte, wirkte eigentümlich distanziert und unnahbar. Der Blick seiner blauen Augen war unergründlich, und das Wort ergriff er nur im Kreis einiger enger Vertrauter. Es war, als misstraute er der Fähigkeit von Worten, das zum Ausdruck zu bringen, was er sah oder empfand. »Lesen bedeutete ihm wenig, noch weniger, einen Brief zu schreiben oder zu diktieren. Weil das leicht als Desinteresse ausgelegt werden konnte, trug es ihm den Groll einiger seiner Mitmenschen ein«, schrieb ein Verwandter.4 Ein Diplomat äußerte später im Scherz, dass Anson der Welt so entrückt war, dass er sie zwar »umrundet, aber nie betreten« hat.5

Nichtsdestotrotz hatte die Admiralität erkannt, was Cheap nach zwei Jahren auf der Centurion nur bestätigen konnte: Anson war ein vorzüglicher Seemann, der nicht nur die Welt aus Holz im Griff hatte, sondern auch sich selbst. Auch unter Druck behielt er stets die Nerven. Laut dem Verwandten bedeuteten ihm »Werte wie Ehrlichkeit und Ehre« viel, und »er stand in jeder Lebenslage für sie ein«.6 Dank dieser Eigenschaften hatte er eine Gruppe talentierter junger Offiziere und Protegés um sich scharen können, zu der auch Cheap zählte. Jeder dieser Männer buhlte um Ansons Aufmerksamkeit. Einer ging so weit, vor Anson zu beteuern, dass er sich ihm mehr verpflichtet fühle als seinem eigenen Vater und alles tun würde, um »dem guten Bild zu entsprechen, dass Sie zu meiner Freude von mir haben«.7 In seiner neuen Rolle als Kommodore des Geschwaders konnte Anson zum Kapitän ernennen, wen immer er wollte. Und Cheap, ursprünglich als einfacher Leutnant an Bord gekommen, war als Oberleutnant schon jetzt seine rechte Hand.

Wie Anson hatte Cheap einen Großteil seines Lebens auf See verbracht, auch wenn diese mitunter qualvolle Art der Existenz ihn anfänglich abgestoßen hatte. Wie Samuel Johnson einst bemerkte: »Wer es einrichten kann, ins Gefängnis zu kommen, wird nicht Seemann, denn auf einem Schiff ist es genau wie im Gefängnis, nur dass man Gefahr läuft zu ertrinken.«8 Cheaps Vater hatte im schottischen Fife Ländereien besessen, und einer der Titel, die ihm als Großgrundbesitzer zustanden – 2. Laird of Rossie –, kündete von adliger Herkunft, die sein Stammbaum nicht hergab. Das Motto, das auf dem Familienwappen prangte, lautete Ditat virtus, Tugend bereichert. Mit seiner ersten Frau hatte er sieben Kinder, und als sie starb, heiratete er eine andere und zeugte weitere sechs Kinder, zu denen auch David gehörte.

Im Jahr 1705, David feierte seinen achten Geburtstag, verließ sein Vater das Haus, um Ziegenmilch zu holen. Dabei fiel er tot um. Wie damals üblich, erbte der älteste männliche Nachfolger – Davids Halbbruder James – den Großteil des Landes. In einer Welt, die zwischen Erstgeborenem und sonstigen Nachfahren unterschied, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, sah sich David Zwängen gegenüber, die er nicht beeinflussen konnte. James, der sich mit dem Titel 3. Laird of Rossie schmückte, weigerte sich beharrlich, seinen Halbgeschwistern das Erbe auszuzahlen, das ihnen laut Testament zustand. Manches Blut ist offenbar dicker als anderes. Auf der Suche nach Arbeit begab sich David bei einem Kaufmann in die Lehre, doch seine Schulden wuchsen. Im Alter von siebzehn Jahren zog er die Reißleine und beschloss, zur See zu fahren, eine Entscheidung, die seine Familie offenbar begrüßte. Dafür sprechen zumindest die Worte, die sein Vormund an den älteren Bruder schrieb: »Je eher er geht, desto besser für uns.«9

Diese Nackenschläge fachten Cheaps Entschlossenheit an, die Träume, die in ihm schwelten, zu verwirklichen und seinem »unseligen Los«10 zu entkommen, wie er es nannte. Auf sich gestellt, in einer Welt, die das Gegenteil dessen war, was er kannte, sah er die Chance, sich im Kampf gegen die Unbilden des Ozeans zu bewähren, Stürme abzuwettern, feindliche Schiffe aufzubringen und Kameraden zu retten, die in Gefahr geraten waren.

Doch obwohl Cheap einige Piraten festgesetzt hatte – darunter den Iren Henry Johnson, der nur eine Hand hatte und zum Schießen den Lauf des Gewehres auf dem Armstumpf ablegte –, waren die ersten Seereisen weitgehend ereignislos verlaufen. So war er in die Karibik entsandt worden, was als Todeskommando galt, weil dort Krankheiten wie Gelbfieber, Ruhr, Knochenbrecherfieber und Cholera lauerten.

Cheap aber war wohlbehalten zurückgekehrt. Sprach nicht schon das für ihn? Darüber hinaus hatte er Ansons Vertrauen gewonnen und sich bis zum Oberleutnant emporgearbeitet. Dabei war ihm zugutegekommen, dass beide für die groben Scherze, zu denen Seeleute fähig sind – von Cheap auch als »großmäuliges Gehabe«11 abgetan –, Verachtung empfanden. Ein schottischer Geistlicher, der mit Cheap befreundet war, äußerte die Vermutung, Anson habe Cheap befördert, »weil er gesunden Menschenverstand mit Fachwissen verband«.12 Cheap, noch vor Kurzem hoffnungslos verschuldet, war nur noch eine Beförderung von dem ersehnten Kapitänsamt entfernt. Nun würde ihm der Krieg gegen Spanien die erste wirkliche Seeschlacht seiner Karriere bescheren.

Der Krieg war das Ergebnis des endlosen Ringens der europäischen Großmächte um die Vergrößerung ihres Staats- und Einflussgebietes.13 Beide Reiche waren bestrebt, immer neue Regionen der Erde zu erobern oder unter ihre Kontrolle zu bringen, um sie auszubeuten und anderen Nationen den Zugang zu wertvollen Ressourcen und Märkten streitig zu machen. Dabei unterjochten und ermordeten sie unzählige Einheimische und rechtfertigten die rücksichtslose Durchsetzung ihrer Interessen – nicht zuletzt den stetig zunehmenden Sklavenhandel über den Atlantik – mit der Behauptung, die »Zivilisation« bis in die entlegensten Ecken der Welt zu tragen. In Lateinamerika waren die Spanier lange dominant, aber Großbritannien, das bereits Kolonien an der Ostküste Amerikas besaß, beanspruchte zunehmend die Führungsrolle – und entschloss sich dazu, den Spaniern die Vormachtstellung im westindischen Raum streitig zu machen.

Im Jahr 1738 erschien Robert Jenkins, Brite und Kapitän eines Handelsschiffes, vor dem Parlament und berichtete, dass in der Karibik ein spanischer Offizier an Bord seines Schiffes gekommen sei, ihn des Schmuggels von Zucker bezichtigt und ihm schließlich ein Ohr abgeschnitten habe. Zum Beweis legte Jenkins das angebliche Corpus Delicti, in Alkohol eingelegt, vor und klagte den Abgeordneten sein Leid. Der Auftritt verfehlte nicht seine Wirkung, denn Parlament und Öffentlichkeit reagierten empört, immer häufiger wurde der Ruf nach Rache laut. Dass nebenbei auch noch fette Beute winkte, heizte die Krisenstimmung weiter an. 1739 erklärten sich beide Seiten den Krieg, der in England »War of Jenkins’ Ear« genannt wird – der Krieg um Jenkins’ Ohr.

Bald nach Kriegsausbruch schmiedeten die britischen Behörden den Plan, mit Cartagena ein Zentrum des spanischen Wohlstands anzugreifen. In der südamerikanischen Stadt am Rande der Karibik wurde ein Gutteil des Silbers, das aus den peruanischen Minen stammte, auf Schiffe geladen und in bewaffneten Konvois auf den Weg nach Spanien geschickt. Die britische Offensive – an der unter der Führung von Admiral Edward Vernon 186 Schiffe beteiligt waren – gilt als die größte Ansammlung von Kriegsschiffen in der Geschichte. Parallel fand aber noch eine andere, deutlich kleinere Aktion statt, mit deren Leitung Kommodore Anson betraut wurde.

Mit fünf Kriegsschiffen und einem Aufklärer sollten Anson und etwa 2000 Männer über den Atlantik und rund Kap Hoorn segeln,14 um unterwegs feindliche Schiffe »zu erobern, zu versenken, niederzubrennen oder auf andere Weise unbrauchbar zu machen«,15 und so die spanische Vorherrschaft von der Pazifikküste Südamerikas bis zu den Philippinen brechen. Die britische Regierung, die diesen Plan erdacht hatte, unternahm alles, um den Eindruck zu vermeiden, sie fördere schnöde Piraterie. Im Kern jedoch war der Plan nichts anderes als der Aufruf zum Diebstahl: Eigentliches Ziel war eine spanische Galeone, die mit Silberbarren und Hunderttausenden Silbermünzen beladen war. Zweimal im Jahr entsandte Spanien eine solche Galeone – es war nicht immer dasselbe Schiff – von Mexiko aus zu den Philippinen, um dort Seide und Gewürze und andere Kostbarkeiten Asiens zu beschaffen und sie anschließend in Europa und Amerika zu verkaufen. Dieses Tauschgeschäft bildete ein wesentliches Element im weltumspannenden Kolonialsystem der Spanier.

Cheap und die anderen Männer, die auf diese Mission geschickt wurden, hatten von den wahren Motiven der Herrschenden keinen Schimmer; sie ließen sich von einer lukrativen Aussicht locken: einem Anteil an der Beute. Reverend Richard Walter, der Bordgeistliche der Centurion, der später einen Bericht über die Reise verfasste, bezeichnete die spanische Galeone als »die begehrenswerteste Prise, die auf der Welt zu haben war«.16

Im Erfolgsfall – oder, wie die Admiralität es nannte, »falls Gott es beliebt, unsere Waffen zu segnen«17 – sollten Anson und seine Männer die Reise um die Welt fortsetzen und dann erst zurück nach England segeln. Die Admiralität hatte Anson einen Chiffriercode und -schlüssel übergeben, die er für seine schriftlichen Mitteilungen verwenden sollte, und ein Beamter wurde nicht müde zu betonen, dass die Mission »schnell und unter größter Geheimhaltung« durchgeführt werden musste.18 Andernfalls bestand die Gefahr, dass Ansons Geschwader entdeckt und von der spanischen Armada zerstört wurde, die sich, befehligt von Don José Pizarro, zeitgleich formierte.

Cheap stand vor seiner bis dahin längsten Seereise – sie konnte bis zu drei Jahre dauern – und zugleich seiner gefährlichsten. Er selbst verstand sich aber als Ritter zur See, der der »größten Prise aller sieben Weltmeere« nachjagte. Und ganz nebenbei würde er möglicherweise zum Kapitän ernannt.

Sollte sich die Abreise verzögern, so Cheaps Sorge, bekäme das Geschwader es mit einem Feind zu tun, der noch gefährlicher war als die spanische Armada: den widrigen Wind- und Wetterbedingungen rund um Kap Hoorn. Nur wenige britische Seeleute hatten das Kap erfolgreich gerundet. Dort weht der Wind meist in Sturmstärke, die Wellen können bis zu dreißig Meter hoch werden, und in den Wellentälern lauern nicht selten Eisberge. Damals herrschte die Überzeugung, dass der südliche Sommer die beste Jahreszeit war, um das Kap zu umrunden, also die Zeit zwischen Dezember und Februar. Reverend Walter nannte es eine »grundlegende Maxime«,19 da im Winter nicht nur die See aufgepeitschter und die Temperaturen frostiger waren, sondern die Tage auch zu kurz, um sich an der unkartierten Küste Südamerikas zu orientieren. So oder so blieb die Umrundung der unbekannten Landspitze »ein denkbar schwieriges und schreckliches Unterfangen«.20

Seit im Oktober 1739 der Krieg erklärt worden war, lagen die Centurion und die anderen Schiffe des Geschwaders – zu dem auch die Gloucester, die Pearl und die Severn gehörten – in England herum und warteten darauf, repariert und für die anstehende Reise ausgerüstet zu werden. Cheap musste tatenlos zusehen, wie die Zeit verstrich. Der Januar 1740 kam und ging. Es folgten Februar und März. Seit Kriegsausbruch war fast ein halbes Jahr vergangen, aber noch immer war das Geschwader nicht seeklar.

Kriegsschiffe gehörten zu den ausgeklügeltsten Erfindungen der damaligen Zeit: Es waren schwimmende Festungen aus Holz, die, angetrieben vom Wind in den Segeln, über die Ozeane jagten. Ihren Erbauern nicht unähnlich, waren sie janusköpfige Geschöpfe: einerseits todbringende Maschinen, andererseits Heimstatt für Hunderte Seeleute, die an Bord wie eine Familie zusammenlebten. In einem tödlichen Schachspiel wurden sie über den Globus verschoben, um für das einzustehen, was Sir Walter Raleigh folgendermaßen formulierte: »Wer die Weltmeere beherrscht, beherrscht den Welthandel, und wer den Welthandel beherrscht, herrscht über den Reichtum der Welt.«21

Cheap war sich darüber im Klaren, dass die Centurion ein besonderes Schiff war. Sie war schnell und stabil, verdrängte circa 1000 Tonnen, und wie die anderen Schiffe aus Ansons Geschwader war sie mit drei Masten und den entsprechenden Rahen bestückt, jenen waagerechten Rundhölzern, die die Segel tragen. Die Centurion konnte zeitgleich sage und schreibe achtzehn Segel führen. Der Rumpf war glänzend lackiert, das Heck mit Figuren aus der griechischen Mythologie in goldenem Relief verziert, darunter Poseidon. Der Bug trug einen fünf Meter hohen roten Löwen als Galionsfigur. Um vor feindlichem Beschuss besser geschützt zu sein, war der Rumpf doppelt beplankt, dreißig Zentimeter stark. Das Schiff besaß mehrere übereinanderliegende Decks, von denen zwei auf beiden Seiten mit Kanonen bestückt waren, deren bedrohlich schwarz gestrichene Rohre aus Stückpforten ragten. Augustus Keppel, ein fünfzehnjähriger Fähnrich und einer von Ansons Protegés, prahlte, dass kein Kriegsschiff der Welt es mit der geballten Macht der Centurion aufnehmen konnte.22

Ein solches Schiff zu bauen, zu reparieren und auszurüsten, war auch in Friedenszeiten eine Herkulesaufgabe, unter Bedingungen eines Krieges aber kaum zu bewerkstelligen. In den königlichen Docks, die zu den größten Handwerksbetrieben der Welt gehörten, drängten sich Schiffe, die leckten, halb fertig waren, beladen und entladen werden mussten. Ansons Geschwader lag in einem Teil der Docks, der Rotten Row genannt wurde.23 So ausgeklügelt Kriegsschiffe, ihre Takelage und ihre Bewaffnung auch waren, so gewöhnlich und vergänglich war das Material, aus dem sie gebaut wurden: Hanf, Segeltuch und vor allem Holz. Für den Bau eines einzigen Kriegsschiffes wurden bis zu 4000 Bäume benötigt, was einem Wald von einem halben Quadratkilometer Größe entspricht.24

Zum Einsatz kam vor allem hartes Eichenholz, doch selbst das war nicht immun gegen die zersetzende Kraft von Wind und Wellen. Teredo navalis – eine Schiffsbohrwurm genannte Muschelart, die bis zu dreißig Zentimeter lang wird – fraß sich durch die Planken.25 (Bei seinen vier Reisen in die Karibik verlor Kolumbus neun Schiffe an diese Lebewesen.) Termiten bohrten sich durch Decks, Masten und Kabinentüren, und der Gescheckte Nagekäfer tat es ihnen gleich. Eine lästige Pilzart zersetzte derweil das Schiff vom Kiel auf. Samuel Pepys, Sekretär der Admiralität, staunte nicht schlecht, als er 1684 feststellen musste, dass einige noch im Bau befindliche Kriegsschiffe bereits so morsch waren, dass sie »schon beim Stapellauf zu versinken drohen«.26

Einem führenden Schiffbauer zufolge hatte ein gewöhnliches Kriegsschiff eine Lebenserwartung von nur vierzehn Jahren. Um so lange zu halten, musste es nach jeder Reise von Grund auf überholt, die Beplankung ausgebessert und die Takelage erneuert werden. Wurde darauf verzichtet, drohte Unheil. Im Jahr 1782 ankerte die Royal George, mit knapp sechzig Metern Länge damals das größte Kriegsschiff der Welt, unweit von Portsmouth, als unvermittelt Wasser in das Schiff eindrang und es mit Mann und Maus unterging. Über die Ursache wurde lange gestritten, bis eine Untersuchung »den schlechten Allgemeinzustand der Beplankung« als Schuldigen entlarvte.27 Den Preis für diese Nachlässigkeit zahlten schätzungsweise 900 Männer, die ertranken.

Eine gründliche Untersuchung der Centurion hatte, wie Cheap erfuhr, die üblichen Schäden und Mängel gefunden. Ein Schiffbauer kam zu dem Schluss, dass die Beplankung »so wurmstichig« war, dass sie abgenommen und ersetzt werden musste.28 Der Fockmast wies ein dreißig Zentimeter tiefes Loch auf, die Segel waren, wie Anson im Logbuch festhielt, »von Ratten förmlich zerfressen«.29 Die vier anderen zum Geschwader gehörenden Kriegsschiffe hatten ähnliche Schäden. Und doch musste jedes der Schiffe mit mehreren Tonnen Vorräten beladen werden, darunter allein 65 Kilometer Leinen, fast 500 Quadratmeter Segel und ein Tierbestand, der einem Bauernhof zur Ehre gereicht hätte: Hühner, Schweine, Ziegen und Rinder. (Die Tiere an Bord zu bringen konnte ausgesprochen mühsam werden: Rindviecher »sind wasserscheu«, klagte ein britischer Kapitän.30)

Cheap wurde bei der Marineverwaltung vorstellig, um die Reparatur der Centurion zu beschleunigen. Doch es kam, wie es in Kriegszeiten häufig kommt: Das Volk hatte den Krieg zwar förmlich herbeigeschrien, aber nur wenige waren bereit, dafür zu bezahlen. Und die Navy war ohnehin bis an die Schmerzgrenze belastet. Cheap neigte zur Launenhaftigkeit, seine Stimmung konnte von einem Moment auf den anderen umschlagen. Und nun sah er sich gezwungen, wie ein beliebiger Bürohengst an Land zu hocken. Er drängte die Werftleitung, den beschädigten Mast der Centurion zu ersetzen, doch dort meinte man, der ließe sich ebenso gut flicken. Cheap schrieb an die Admiralität und beklagte sich über die »befremdliche Entscheidung«, woraufhin die Werftleitung einlenkte.31 Aber erneut war viel Zeit verloren gegangen.

Und was war mit dem Bastard der Flotte, der Wager? Anders als die anderen Schiffe war sie nicht für kriegerische Zwecke, sondern als Handelsschiff gebaut worden – als sogenannter Ostindienfahrer, benannt nach der Region, in der sie verkehrte. Um möglichst viel Ladung transportieren zu können, war die Wager rundlich und schwerfällig, ein 37,50 Meter langer Schandfleck der Meere. Zu Kriegsbeginn – es wurden zusätzliche Schiffe benötigt – kaufte die Navy die Wager von der East India Company für fast 4000 Pfund. Seitdem lag sie in Deptford, einem Stadtteil von London, wo die Navy direkt an der Themse eine Werft betrieb. Dort vollzog sie eine Metamorphose: Kabinen wurden herausgerissen, Löcher für die Stückpforten in die Außenhaut geschnitten und Niedergänge entfernt.

Der Kapitän der Wager, Dandy Kidd, beaufsichtigte die Arbeiten. Kidd war 56 Jahre alt, angeblich ein Nachfahre des berüchtigten Freibeuters William Kidd und ein erfahrener Seemann – ein abergläubischer obendrein, der meinte, in Wind und Wellen gute oder schlechte Vorzeichen erkennen zu können. Gleichwohl hatte er nach Cheaps Dafürhalten die Ernennung zum Kapitän verdient – im Gegensatz zu Richard Norris, dem Kommandanten der Gloucester, dessen Vater Sir John Norris ein hochdekorierter Admiral war. Sir John hatte seine Beziehungen spielen lassen, damit sein Sohn einen Posten in dem Geschwader bekam, dessen Mission »jenen, die die Reise überleben, sowohl Kampfeinsätze als auch Geld« versprach.32 Die Gloucester war das einzige Schiff des Geschwaders, das rechtzeitig repariert wurde, was ein anderer Kapitän zu der Klage veranlasste: »Seit drei Wochen liege ich im Dock, und noch wurde kein einziger Nagel eingeschlagen, weil der Sohn von Sir John Norris als Erster bedient wird.«33

Kapitän Kidd war mit einer großen Sorge an Bord gekommen. Er hatte einen fünfjährigen Sohn in einem Internat zurückgelassen, der ebenfalls Dandy hieß. Eine Mutter, bei der er hätte bleiben können, gab es nicht. Was würde aus ihm, wenn der Vater die Reise nicht überlebte? Kidd hatte eine böse Vorahnung. In seinem Logbuch notierte er, dass sein neues Schiff extrem instabil war, und äußerte gegenüber der Admiralität sogar die Sorge, es handele sich um eine Fehlkonstruktion.34 Um das Schiff zu stabilisieren, wurden mehr als 400 Tonnen Ballast in Form von Gusseisen und Steinen in den Tiefen des Rumpfes verstaut.

Die Werftarbeiter kämpften gegen einen der kältesten Winter an, die England je erlebt hatte, und als die Wager endlich klar zum Auslaufen war, sah sich Cheap einem neuen Problem gegenüber: Die Themse war von Ufer zu Ufer mit einer dicken, glitzernden Eisschicht bedeckt. Die Werftleitung informierte die Admiralität darüber, dass die Wager festsaß, bis die Themse wieder schiffbar war. Bis es so weit war, vergingen zwei Monate.

Im Mai 1740 konnte der ehemalige Ostindienfahrer die Werft in Deptford endlich verlassen. Die Navy klassifizierte ihre Kriegsschiffe seinerzeit nach der Anzahl der Kanonen, die sie mitführten, und mit 28 solcher Kanonen gehörte die Wager in die sechste und damit niedrigste Klasse. Den Namen erhielt sie zu Ehren von Sir Charles Wager, dem 74-jährigen Ersten Lord der Admiralität. Der Name war Programm, denn eine »Wette« – so die Bedeutung des Wortes wager – gingen alle ein, die sich an Bord begaben. Der Einsatz war nicht weniger als das Leben.

Als die Wager die Themse hinunterfuhr und sich vom ablaufenden Wasser über diese wichtige Handelsroute schieben ließ, begegnete sie Westindienfahrern, die mit Zucker und Rum aus der Karibik beladen waren, Ostindienfahrern mit Seide und Gewürzen aus Asien und Walfängern, die mit Tran für Laternen und Seifen aus der Arktis zurückkamen. Bei dem Versuch, sich einen Weg durch den Verkehr zu bahnen, lief die Wager auf Grund. Sollte die Reise schon auf der Themse enden? Doch sie kam wieder frei, und im Juli erreichte sie endlich den Hafen von Portsmouth, wo Cheap sie zum ersten Mal sah. Seeleute sind in ihrem Urteil über andere Schiffe meist sehr bestimmt. Elegante Linien werden überschwänglich gelobt, ein misslungener Deckssprung hingegen gnadenlos verrissen.35 Und obwohl sich die Wager alle Mühe gab, wie ein richtiges Kriegsschiff auszusehen, konnte sie ihre eigentliche Bestimmung nicht verleugnen. Aus diesem Grunde drängte Kapitän Kidd die Admiralität noch in Portsmouth, dem Schiff einen frischen Anstrich zu gönnen, damit es mit den anderen Schiffen um die Wette strahlen konnte.

Mitte Juli währte der Krieg bereits neun Monate, ohne dass ein Tropfen Blut geflossen war. Würde das Geschwader unverzüglich in See stechen, so Cheaps Überlegung, dann könnte es Kap Hoorn noch vor dem Ende des südlichen Sommers erreichen. Noch aber fehlte etwas ganz Entscheidendes: die Besatzung.

Wegen der Länge der Reise und der Einsätze, die sowohl zu Wasser als auch an Land geplant waren, sollten alle Schiffe aus Ansons Geschwader mehr Seeleute und Soldaten an Bord nehmen, als im Normalfall vorgesehen war. Die Besatzung der Centurion, in der Regel 400 Mann groß, sollte auf 500 anwachsen, und auf der Wager sollten 250 Mann in See stechen – fast das Doppelte der normalen Mannschaftsstärke.

Cheap wartete mit wachsender Ungeduld auf die Besatzung. Doch der »Vorrat« der Navy an Freiwilligen war erschöpft, und eine Wehrpflicht gab es in Großbritannien nicht.36 Robert Walpole, der erste Premierminister,37 hatte vermeldet, dass durch den Mangel an Männern ein Drittel der Schiffe der Navy unbrauchbar geworden war. »Seeleute, Seeleute, Seeleute!«, rief er in einer Sitzung.38

Während sich Cheap und einige weitere Offiziere nach Kräften bemühten, Besatzungsmitglieder für ihre Schiffe zu gewinnen, machte eine beunruhigende Nachricht die Runde: Die bereits verpflichteten Männer wurden von einer mysteriösen Krankheit befallen. Sie litten unter starken Kopf- und Gliederschmerzen und fühlten sich regelrecht zerschlagen. In mehreren Fällen kamen Durchfall und Übelkeit hinzu, Adern platzten ohne äußere Einwirkung, und das Fieber stieg auf bis zu 41 Grad Celsius. Die Betroffenen fielen ins Delirium – »sie griffen nach Dingen, die sie sich einbildeten«, wie ein Arzt beobachtete.39

Einige Männer starben, ehe die Reise losgegangen war. Allein auf der Centurion waren 200 Kranke und mehr als 25 Tote zu beklagen, so Cheaps Zählung. Er hatte seinen Neffen Henry als Schiffsjungen an Bord geholt – was, wenn er starb? Sogar Cheap, der doch einen eisernen Willen besaß, beklagte seine, wie er es nannte, »angeschlagene Gesundheit«.40

Die Krankheit, die zunächst Kriegspest genannt wurde und heute als Fleckfieber bekannt ist, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Damals wusste noch niemand, dass es sich um eine bakterielle Infektion handelt, die durch Läuse oder anderes Ungeziefer übertragen wird. In den Booten, mit denen die ungewaschenen Rekruten auf die Schiffe gebracht wurden, herrschte bedrückende Enge, und so wurden die infizierten Männer zu Sendboten einer Erkrankung, die tödlicher war als jeder Kanonenbeschuss.

Anson wies Cheap an, die Kranken in ein provisorisches Hospital in Gosport, unweit von Portsmouth, zu verlegen. Dort sollten sie sich nach Möglichkeit so schnell erholen, dass sie die Reise mitmachen konnten. Der Mangel an einsatzfähigen Männern war auch so schon eklatant. Doch weil das Hospital bald überfüllt war, wurden die Kranken in den Wirtshäusern des Umlands untergebracht. Dort war leichter an Alkohol zu kommen als an Medikamente. Zudem mussten sich drei Männer oft ein Krankenbett teilen. Ein Admiral notierte: »Unter solch erbärmlichen Bedingungen sterben sie wie die Fliegen.«41

Nachdem es nicht gelungen war, die Besatzungen auf friedlichem Wege zu rekrutieren, griff die Navy zu »brachialeren Methoden«, wie es ein Sekretär der Admiralität nannte.42 Bewaffnete Rekrutierungskommandos wurden ausgeschickt, die Männer, die ihnen geeignet erschienen, zwangsverpflichteten – entführten, um es deutlich zu sagen. Diese Kommandos durchkämmten Städte und Dörfer und griffen sich jeden, der auch nur den leisesten Hinweis auf eine Vergangenheit als Seemann bot: ein kariertes Hemd, Kniebundhose, ein runder Hut. Verdächtig waren auch teerverschmierte Finger, weil Teer an Bord eines Schiffes immer dann verwendet wurde, wenn etwas wasserdicht gemacht werden sollte. (Deshalb wurden Matrosen auch »Teerjacken« genannt.) Und die Behörden vor Ort wurden angewiesen, »alle durchziehenden Seeleute, Fährmänner, Kahnführer, Fischer und Schauerleute zu verhaften und der Marine zu überstellen«.43

Ein Seemann schilderte, wie er einst durch London flanierte, als ihn ein Fremder ansprach und fragte, auf welchem Schiff er fuhr. Der Seemann bestritt, ein Seemann zu sein, aber seine teerverschmierten Hände verrieten ihn. Der Fremde blies in eine Pfeife und rief Verstärkung herbei. »Ich wurde von sechs oder acht Schlägern bedrängt, die mich mit Gewalt anheuern wollten«, schrieb der Seemann. »Begleitet von Verwünschungen der Passanten, die mir wiederum Mut zusprachen, schleiften sie mich durch die Straßen.«44

Auch mit Booten waren solche Kommandos unterwegs. Sie suchten den Horizont nach einlaufenden Handelsschiffen ab, die reiche Beute versprachen. Oft wurden Matrosen zwangsrekrutiert und verschleppt, die gerade von einer langen Reise zurückkamen und seit Jahren von ihren Familien getrennt gewesen waren. Und weil die nächste Reise, zu der sie gezwungen wurden, in den Krieg führte, war die Gefahr groß, dass sie ihre Angehörigen nie wieder sehen würden.

Cheap freundete sich mit einem Fähnrich namens John Campbell an, der auf der Centurion fuhr. Er war ursprünglich auf einem Handelsschiff gefahren. Ein Rekrutierungskommando der Navy hatte es gestürmt und einen älteren Mann in seine Gewalt gebracht, der vor Verzweiflung in Tränen ausgebrochen war. Daraufhin war Campbell vorgetreten und hatte sich im Austausch gegen den Kollegen angeboten. Der Anführer des Kommandos hatte nur gesagt: »Ein junger, aufgeweckter Kerl ist mir ohnehin lieber als ein heulender alter Mann.«45

Anson war, wie es hieß, von Campbells Edelmut so angetan, dass er ihn zum Fähnrich ernannte. Die meisten Seeleute aber taten alles Erdenkliche, um den »Leichendieben« zu entkommen. Sie versteckten sich zwischen der Ladung, trugen sich in die Musterrolle als verstorben ein oder verließen ihr Schiff noch vor der Ankunft in einem größeren Hafen. 1755 hatte eine solches Kommando eine Kirche in London umstellt, in die sich ein Seemann gerettet hatte. Laut einem Zeitungsbericht gelang ihm die Flucht, indem er sich »mit dem langen Mantel, dem Hut und der Haube einer alten Frau« tarnte.46

Seeleute, die das Kommando aufgegriffen hatte, wurden in den Laderäumen sogenannter Ausschiffungsboote transportiert, die an schwimmende Gefängnisse erinnerten: Die Luken waren mit Gittern versehen, Soldaten mit Musketen und Bajonetten standen Wache. »In einem solchen Boot verbrachten wir einen Tag und eine Nacht eng zusammengepfercht. Es gab nicht genügend Platz, um sich hinzusetzen oder -stellen, ohne jemand anderem in die Quere zu kommen«, berichtete ein Seemann. »Wir befanden uns in einer wahrlich bedauernswerten Lage. Viele der Männer waren seekrank, einige mussten sich übergeben, andere rauchten, während wiederum andere von dem Gestank so mitgenommen waren, dass sie ohnmächtig wurden.«47

Wenn Familienangehörige erfuhren, dass einer der Ihren – der Sohn, der Bruder, Ehemann oder Vater – zwangsrekrutiert worden war, eilten sie mitunter zum Kai, an dem die Ausschiffungsboote losfuhren, um ihre Liebsten ein letztes Mal zu sehen. In seinem Tagebuch berichtet Samuel Pepys über eine Gruppe Ehefrauen von zwangsrekrutierten Matrosen, die sich am Kai unweit des Londoner Towers versammelt hatten. »Nie in meinem Leben habe ich einen solch unverstellten Ausdruck von Leidenschaft gesehen wie in den Gesichtern dieser Frauen, die ihr Los beklagten und jeder Gruppe von Gefangenen, die herangeführt wurde, entgegenliefen, um zu schauen, ob ihre Ehemänner darunter waren, die über jedes Schiff, das den Hafen verließ, Tränen weinten, weil sie ihre Männer an Bord vermuteten, und ihm nachsahen, bis es im düsteren Licht des Mondes verschwand, dass es mir sehr zu Herzen ging, ihnen zuzuhören.«48

Auch Ansons Geschwader wurde mit Zwangsrekrutierten besetzt. Cheap nahm für die Centurion mindestens 65 Mann in Empfang. Wie immer er zur Zwangsrekrutierung stehen mochte, brauchte er doch jeden Seemann, den er bekommen konnte. Die mit Gewalt angeworbenen Matrosen aber nutzten die erstbeste Gelegenheit, Reißaus zu nehmen, und manch einer, der freiwillig an Bord gekommen war, tat es ihnen gleich, weil ihm Böses schwante. So verschwanden allein von der Severn an einem einzigen Tag dreißig Mann. Von den Kranken, die nach Gosport geschickt worden waren, nutzten viele die Gunst der Stunde und machten sich aus dem Staub – oder, wie ein Admiral es nannte, »verschwanden, kaum dass sie wieder kriechen konnten«.49 Insgesamt büßte das Geschwader auf diese Weise mehr als 240 Männer ein,50 darunter auch den Bordgeistlichen der Gloucester. Als Kapitän Kidd ein Kommando losschickte, das neue Besatzungsmitglieder für die Wager beschaffen sollte, suchten sechs Mitglieder des Kommandos kurzerhand das Weite.

Anson gab den Befehl, die Schiffe so weit vor dem Hafen von Portsmouth ankern zu lassen, dass das Land schwimmend nicht erreicht werden konnte – ein übliches Vorgehen, dessen Folgen ein gedungener Seemann in einem Brief an seine Frau beschrieb: »Ich würde alles geben, was ich besitze, und wenn es Hunderte Guinees wären, wenn ich an Land kommen könnte. Ich liege jede Nacht an Deck …, aber ich sehe keine Möglichkeit, zu dir zu kommen. Kümmere dich um dich selbst und die Kinder. Gott möge euch behüten, bis ich wieder bei euch bin.«51

Cheap, der »Ehrgefühl, Mut und Zuverlässigkeit«52 für unverzichtbare Tugenden eines Seemanns hielt, war über die Qualität der Rekruten, die nicht geflohen waren, zweifelsohne entsetzt. Die Behörden vor Ort, die um den schlechten Ruf der Zwangsrekrutierung wussten, nutzten die Gelegenheit, unerwünschte Personen loszuwerden und der Navy anzudienen. Doch die Rekruten, die nun übrig blieben, waren schlicht jämmerlich und die Freiwilligen kaum besser. Ein Admiral zeigte sich entsetzt über eine Gruppe von Rekruten, »die an Pocken und Krätze, Lähmungen und Skrofulose und allen sonstigen Krankheiten leiden, die in den Krankenhäusern Londons anzutreffen sind und sich an Bord in Windeseile ausbreiten werden. Die Übrigen sind Diebe, Einbrecher, Galgenvögel und sonstiger Abschaum Londons.« Seine Schlussfolgerung lautete: »In keinem Krieg, den ich bislang erlebt habe, sind mir je auch nur halb so heruntergekommene Männer begegnet. Sie sind so heruntergekommen, dass mir die Worte fehlen, um es zu beschreiben.«53

Um den Mangel an Männern wenigstens halbwegs auszugleichen, kommandierte die Regierung 143 Marineinfanteristen samt den dazugehörigen Offizieren zu Ansons Geschwader ab. Die Marineinfanteristen oder Seesoldaten sollten vor allem bei Operationen an Land zum Einsatz kommen, sich aber auch auf See nützlich machen. Allerdings waren die meisten von ihnen noch so jung, dass sie noch nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt oder ein Gewehr abgefeuert hatten. Die Admiralität musste zugeben, dass sie im Grunde »nutzlos« waren.54 In einer Art Verzweiflungstat verfiel die Navy daher auf die Idee, 500 kranke und dienstunfähige Soldaten zu entsenden, die im Royal Hospital in Chelsea untergebracht waren, einem Haus für Veteranen, das im 17. Jahrhundert eingerichtet worden war, um »alten, lahmen oder im Dienst für die Krone versehrten Soldaten« ein Obdach zu bieten.55 Viele der Männer waren schon in ihren Sechzigern oder noch älter, sie litten an Rheuma oder Krämpfen, waren schwerhörig, sehbehindert oder hatten Gliedmaßen verloren. Aus dem aktiven Dienst waren sie aufgrund ihres Alters und ihrer Krankengeschichte ausgeschieden. Reverend Walter beschrieb sie als »die hinfälligsten und elendsten Gestalten, an die man geraten konnte«.56

Auf dem Weg nach Portsmouth suchte die Hälfte der Invaliden das Weite, darunter auch ein Veteran, der sich trotz eines Holzbeines aus dem Staub machte. »Alle, die noch laufen konnten und genügend Kraft hatten, um Portsmouth zu verlassen, desertierten«, notierte Reverend Walter.57 Anson drängte die Admiralität, die »überalterte und kranke Truppe« zu ersetzen. Aber andere Rekruten waren nicht verfügbar, sodass seine Vorgesetzten auch Männer, die Anson bereits ausgemustert hatte, zurück an Bord orderten.

Cheap betrachtete die Invaliden, die sich auf das Schiff schleppten. Einige waren so schwach, dass sie auf Tragen an Bord gebracht werden mussten. Die verängstigten Gesichter verrieten, was sie dachten: dass sie sich auf eine Fahrt in den Tod begaben. Oder, wie Reverend Walter es formulierte: »Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie langsam, aber sicher einer schmerzhaften Krankheit erliegen – und das, nachdem sie ihre Jugend und ihre Gesundheit dem Dienst an ihrem Vaterland geopfert haben.«58

Am 23. August 1740, mit fast einem Jahr Verspätung, war die Schlacht, die dem Krieg vorausging, beendet. »Alles war für die Abfahrt bereit«, wie ein Offizier der Centurion in sein Tagebuch schrieb.59 Anson befahl Cheap, eine der Kanonen abzufeuern. Mit diesem Signal wurde das Geschwader aufgefordert, die Anker zu lichten. Der Knall erweckte die kleine Flotte mit einem Schlag zum Leben – fünf Kriegsschiffe, der 25 Meter lange Aufklärer Trial60 sowie zwei kleinere Frachtschiffe, die Anna und die Industry, die das Geschwader auf dem ersten Stück der Reise begleiten sollten. Die Offiziere kamen aus ihren Kabinen, Bootsleute bliesen in ihre Pfeifen und riefen »Alle Mann an Deck!«, woraufhin die Matrosen die Kerzen löschten, die Hängematten verstauten und in die Takelage kletterten, um die Segel zu setzen. Cheap schien es, als sei vor seinen Augen alles in Bewegung, und diese Bewegung übertrug sich schließlich auf die Schiffe selbst. Schuldeintreiber, verhasste Bürokraten, endlose Enttäuschungen – sie alle blieben hinter ihnen zurück.

Auf seinem Weg durch den Ärmelkanal Richtung Atlantik wurde der Konvoi von zahllosen anderen ausfahrenden Schiffen umringt, die ihm Wind und Seeraum streitig machten. Es kam zu Kollisionen, die die unerfahrenen Rekruten an Bord zusammenfahren ließen. Und dann drehte der Wind, dieser unstete Geselle, unvermittelt so, dass er fast von vorne kam. Weil die Schiffe aus Ansons Geschwader nicht kreuzen konnten, mussten sie wenden und zum Ausgangspunkt zurückkehren. Dieses Spiel wiederholte sich noch zwei Mal. Am 5. September berichtete die Londoner Zeitung Daily Post, dass das Geschwader »weiterhin auf günstigen Wind wartet«. Nach allen Prüfungen und Herausforderungen, die sie überstanden hatten – die Cheap überstanden hatte –, schien das Schicksal sie an diesem Ort festhalten zu wollen.

Am 18. September, die Sonne ging gerade unter, erwischten die Seeleute eine günstige Brise. Sogar einige der renitentesten Rekruten waren erleichtert darüber, dass es endlich losging. So hätten sie immerhin etwas zu tun, um sich abzulenken, und außerdem war da ja noch die verbotene Frucht, von der sie kosten wollten: die spanische Galeone. »Die Männer waren voller Hoffnung, unermesslich reich zu werden«, schrieb ein Besatzungsmitglied der Wager in sein Tagebuch, »und in ein paar Jahren mit den Schätzen ihrer Feinde nach England zurückzukehren.«61

Cheap nahm seinen Posten auf dem Achterdeck ein, einer erhöhten Plattform am Heck des Schiffes, von der aus die Offiziere ihre Befehle gaben und auf der sich das Ruder und der Kompass befanden. Er atmete die salzige Luft ein und lauschte der Sinfonie, die ihn umgab. Die Instrumente waren das Schiff, das hin und her schaukelte, die Fallen, die im Wind schlugen, und die Wellen, die gegen den Rumpf klatschten. So glitten die Schiffe hintereinander aufgereiht durchs Wasser, an der Spitze die Centurion, deren Segel sich wie Flügel entfalteten.

Schließlich ließ Anson am Großmast der Centurion einen roten Stander setzen, um zu signalisieren, dass der Kommodore an Bord war. Die anderen Kapitäne gaben daraufhin dreizehn Kanonenschüsse ab – eine Art donnernder Applaus, der eine Rauchfahne in den Himmel sandte. Bald ließen die Schiffe den englischen Kanal hinter sich und hatten endlich freien Seeraum vor sich. Cheap, umsichtig, wie er war, blieb auf seinem Posten und beobachtete das Land, bis es hinter dem Horizont verschwand und um ihn her nur noch blaues Meer zu sehen war.

KAPITEL 2

Ein Freiwilliger aus gutem Hause

John Byron wurde von durchdringenden Rufen des Bootsmanns und dessen Maaten aus dem Schlaf gerissen, die die Morgenwache auf der Wager zum Dienst beorderten.1 »Reise reise, aufstehen, ihr Langschläfer!«, hallte es durch das Schiff. Es war kurz vor vier und noch dunkel, aber von seiner Koje tief im Inneren des Schiffes aus konnte Byron nicht ausmachen, ob es Tag oder Nacht war. Als Fähnrich auf der Wager – er war erst sechzehn – hatte man ihn nicht auf dem Unterdeck einquartiert, wo die einfachen Seeleute zwischen den Balken des Schiffes in Hängematten schliefen, Byron hatte man in den hinteren Teil des Orlopdecks gesteckt, in ein feuchtes, stickiges Loch, in das kaum je Tageslicht drang. Unter dem Orlop lag nur noch der Laderaum mit der Bilge, in dem sich schmutziges Wasser sammelte, dessen fauliger Gestank Byron, der direkt darüber schlief, in die Nase stieg.

Die Wager und die anderen Schiffe des Geschwaders waren seit knapp zwei Wochen auf See, und Byron musste sich an die neue Umgebung immer noch gewöhnen. Das Orlop war nur gut 1,50 Meter hoch, und wenn er sich beim Aufstehen nicht bückte, stieß er sich schmerzhaft den Kopf. Mit ihm waren die anderen jungen Fähnriche hier untergebracht. Für die Hängematten blieb ihnen ein Platz von nicht mehr als fünfzig Zentimetern Breite, sodass sie im Schlaf häufiger Bekanntschaft mit einem Ellbogen oder einem Knie des Nachbarn machten. Immerhin standen ihnen fast zwanzig Zentimeter mehr zur Verfügung als den einfachen Matrosen, aber doch deutlich weniger als den Offizieren, die feste Kojen hatten, allen voran der Kapitän, dessen große Kabine im Heck über eine separate Schlafkammer, einen Essbereich und eine Galerie verfügte, von der aus er ungehindert auf das Meer schauen konnte. Nicht anders als an Land gab es feine Unterschiede hinsichtlich der Unterbringung, und wo man sich bettete, stand zugleich dafür, welchen Platz man in der Hackordnung einnahm.

Die Gruft aus Eiche beherbergte auch die wenigen Dinge, die Byron und seine Kameraden in ihren Seekisten mit an Bord gebracht hatten. In diesen hölzernen Gepäckstücken befand sich ihre komplette Habe. An Bord dienten sie zugleich als Stuhl, Unterlage fürs Kartenspiel und Schreibtisch. In einem Roman findet sich die Beschreibung der Koje eines Fähnrichs aus dem 18. Jahrhundert, auf der sich, so der Autor, verschmutzte Kleidung und »Teller, Gläser, Bücher, Dreispitze, dreckige Socken, Läusekämme sowie ein Wurf weiße Mäuse und ein Käfig mit einem Papagei« stapelten.2

Charakteristisch für die Unterkunft von Fähnrichen war ein Holztisch, der lang genug sein musste, dass ein Mann darauf liegen konnte. Hier wurden im Bedarfsfall Gliedmaßen amputiert. Der Schlafraum diente gleichzeitig als Operationssaal, und der Tisch war eine ständige Erinnerung an die Gefahren, die vor den Männern lagen: Wenn die Wager erst den Kampf mit den Spaniern aufgenommen hatte, würde sich Byrons Bleibe mit Blut und Knochensägen füllen.

Der Bootsmann und seine Maate, denen an Bord die Rolle der Stadtschreier zukam, brüllten weiter und bliesen dazu in ihre Pfeifen. Mit Laternen in Händen zogen sie über alle Decks und weckten die schlafenden Seeleute. »Hoch die Hintern, oder wir schneiden die Hängematten ab!« Wer nicht schnell genug reagierte, fand sich auf dem harten Boden wieder. Der Bootsmann der Wager, ein korpulenter Kerl namens John King, würde sich an Fähnrichen nicht vergreifen, aber Byron zog es trotzdem vor, ihm nicht in die Quere zu kommen. Bootsleute, die für die Disziplin der Mannschaft verantwortlich waren und im Falle eines Falles Strafen vollzogen – darunter die gefürchteten Hiebe mit einem Bambusrohr –, waren in aller Regel brutale Schlägertypen. King allerdings war besonders furchteinflößend. Ein Besatzungsmitglied ließ sich in seinem Tagebuch über Kings »durch und durch verdorbenen Charakter« aus und klagte, er würde »in einer Weise ausfallend, dass es nicht zu ertragen war«.3

Byron tat daher gut daran, so schnell wie möglich aufzustehen. Um sich zu waschen, reichte die Zeit nicht, aber die Männer wuschen sich ohnehin eher selten, schon weil die Wasservorräte es nicht hergaben. Stattdessen begann er sich anzuziehen und überwand das Unbehagen, das er empfand, wenn er sich vor anderen entblößte – erst recht in einem Dreckloch wie dem Orlopdeck. Er stammte aus einer der ältesten Familien Englands – sein Stammbaum ließ sich bis zur Invasion der Normannen zurückverfolgen – und von der väterlichen wie der mütterlichen Linie hatte er blaues Blut geerbt. Sein Vater, der schon nicht mehr lebte, war der 4. Lord Byron gewesen, seine Mutter war die Tochter eines Barons. Sein älterer Bruder, der 5. Lord Byron, gehörte als Peer dem Oberhaus des britischen Parlaments an. Als Sohn eines Adligen war John, nach damaligem Sprachgebrauch, ein »ehrenwerter Herr«.

Nur war die Wager nicht der richtige Ort, um diese Anrede einzufordern. Wie weit sie doch entfernt war von Newstead Abbey, dem Anwesen der Familie Byron, auf dem ein prächtiges Landschloss stand, das bis ins 12. Jahrhundert als Kloster gedient hatte. Die Ländereien erstreckten sich über gut zwölf Quadratkilometer und lagen inmitten des Sherwood Forest, in dem einst der sagenhafte Robin Hood zu Hause war. Byrons Mutter hatte Johns Namen und Geburtsdatum – den 8. November 1723 – in ein Fenster der Klosterkirche gravieren lassen. Der junge Fähnrich der Wager sollte später der Großvater des Dichters Lord Byron werden, der in seinen Büchern oft auf Newstead Abbey zu sprechen kam. »Das Anwesen war riesig und altehrwürdig«, heißt es an einer Stelle. »Seinem Zauber konnte sich niemand entziehen, zumindest niemand, der mit dem Herzen schaut.«4

Zwei Jahre bevor Ansons Mission begann, hatte John Byron im Alter von vierzehn Jahren die Eliteschule von Westminster verlassen und sich freiwillig bei der Navy verpflichtet. Der Hauptgrund war, dass sein Bruder William nicht nur das Familienanwesen geerbt hatte, sondern auch den unsteten Lebenswandel, der so vielen Byrons eigen war. In diesem Falle äußerte er sich so, dass William das Vermögen der Familie verschleuderte und Newstead Abbey herunterwirtschaftete. (»Das Heim meiner Vorfahren steht vor dem Verfall«, schrieb der Dichter.5) William, der zum Zeitvertreib Seeschlachten auf einem Teich nachstellte und in einem Duell seinen Cousin tötete, wurde auch »der verruchte Lord« genannt.

John Byron musste sehen, wie und wovon er sein Leben fristen konnte. Er hätte Priester werden können, wie ein jüngerer Bruder es später tun sollte, aber das erschien ihm zu langweilig. Eine andere Möglichkeit war, zum Heer zu gehen, wozu sich viele Gleichaltrige seines Standes entschlossen, weil sie dort auf dem Rücken eines Pferdes sitzen und einen guten Eindruck machen konnten. Und schließlich gab es noch die Navy, in der man hart arbeiten und sich die Hände schmutzig machen musste.

Samuel Pepys hatte sich in seiner Funktion als Sekretär der Admiralität bemüht, jungen Adligen den Dienst bei der Navy als »Ehrendienst« schmackhaft zu machen.6 1676 hatte er eine neue Regelung eingeführt, die eine Laufbahn in der Navy für privilegierte junge Männer attraktiver machen sollte: Wenn sie sich mindestens sechs Jahre lang auf einem Kriegsschiff ausbilden ließen und anschließend eine mündliche Prüfung bestanden, würden sie zu Offizieren der königlichen Kriegsmarine ernannt. Diese Freiwilligen, die oft als persönlicher Diener des Kapitäns begannen, bekleideten in der Regel den Rang eines Fähnrichs, was auf einem Kriegsschiff eine durchaus zwiespältige Position bedeutete. Um die Schiffsführung zu erlernen, mussten sie dieselben Arbeiten verrichten wie die einfachen Matrosen. Gleichzeitig galten sie als Offiziersanwärter und künftige Leutnants oder Kapitäne, wenn nicht gar Admirale, und hatten Zutritt zum Achterdeck. Pepys’ Werben zum Trotz galt eine Laufbahn bei der Navy für einen jungen Mann von Byrons Herkunft als unziemlich – als »Pervertierung« gar, wie Samuel Johnson, der die Byrons kannte, es formulierte.7 Der junge Byron aber fühlte sich vom Nimbus der Seefahrt angezogen. Ihn faszinierten Bücher über Seefahrer wie Sir Francis Drake so sehr, dass er sie mit auf die Wager gebracht hatte. Die Geschichten über Heldentaten auf den Weltmeeren steckten in seiner Seekiste.

Doch auch für einen jungen Adligen, der sich zur Seefahrt berufen fühlte, war die Umstellung auf das Leben an Bord alles andere als leicht. »Mein Gott, wo bin ich nur gelandet!«, stöhnte ein Fähnrich. »Ich hatte geglaubt, ich komme auf ein elegantes Schiff mit Kanonen und gesitteten Menschen, also Leuten, wie ich sie von der Grosvenor Place kenne, mit denen ich auf einer Art Arche Noah übers Meer schippere.« Stattdessen, so notierte er, war das Deck »dreckig, glitschig und nass, der Gestank unerträglich, der Anblick ekelerregend, und als ich sah, wie nachlässig sich die Fähnriche kleideten, schäbige Jacken und verdreckte Hüte, aber keine Handschuhe und manche nicht einmal Schuhe trugen, war die Herrlichkeit vorbei, und wohl zum ersten und hoffentlich zum letzten Mal im Leben nahm ich mein Taschentuch und weinte wie ein Kind, das ich im Grunde ja war.«8

Die unseligen gedungenen Seeleute erhielten zwar eine Grundausrüstung an Kleidung, um, wie es hieß, »krank machende üble Gerüche« und »übermäßige Rohheit« zu vermeiden,9 eine offizielle Uniform der Navy gab es aber noch nicht. Und obwohl die meisten Männer von Byrons Deck es sich hätten leisten können, sich in Spitze und Seide zu kleiden, musste ihr Äußeres doch stets den Anforderungen des Lebens auf einem Schiff entsprechen. Dazu gehörten ein Hut, der vor der Sonne schützte, eine (in der Regel blaue) Jacke, die warm hielt, ein Halstuch, um den Schweiß von der Stirn zu wischen, und eine Hose – die auch andernorts zur Mode wurde, hier aber ihren Ursprung hatte. Denn wie die Jacke fiel die Hose sehr kurz aus, damit sie sich nicht in den Leinen verfing. Gegen Wind und Regen wurden beide mit klebrigem Teer beschichtet. Selbst in dieser unscheinbaren Kleidung blieb Byron eine auffallende Erscheinung. Er hatte helle, fast bleiche Haut, große und wache braune Augen und leicht gelocktes Haar. Ein Zeitzeuge beschrieb ihn als außergewöhnlich gut aussehend und »von edler Statur«.10

Byron band seine Hängematte los, rollte sie auf und verstaute sie mitsamt dem Bettzeug. Dann stieg er mehrere Niedergänge hoch, die die Decks verbanden, wobei er darauf achtgeben musste, sich im labyrinthischen Inneren des Schiffes nicht zu verirren. Schließlich kroch er wie ein Grubenarbeiter aus einer Luke auf das Achterdeck, wo er endlich frische Luft einsog.

Wie auch Byron waren die meisten Männer an Bord in die beiden Wachen eingeteilt – jede umfasste circa hundert Mann –, und während er und die Angehörigen seiner Wache an Deck und in den Rahen arbeiteten, lagen die, deren Wache zu Ende gegangen war, erschöpft in ihren Kojen. In der Dunkelheit drangen der Klang von Schritten und ein babylonisches Gewirr an Mundarten und Dialekten an Byrons Ohr. Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten waren an Bord, Dandys ebenso wie arme Schlucker, deren Heuer vom Proviantmeister einbehalten wurde, um so die Schulden für Kleidung und Essgeschirr abzutragen. Neben den klassischen Handwerkern auf See – Zimmerleute, Böttcher und Segelmacher – war eine wirre Fülle an Berufen vertreten.11

Mit John Duck aus London war auch mindestens ein schwarzer Seemann an Bord – und das freiwillig. Die britische Navy verdiente am Sklavenhandel durchaus mit, aber wenn Kapitäne erfahrene Matrosen brauchten, durften sie auch schwarze Seeleute anheuern, die ihre Arbeitskraft anboten.12 An Bord war die Trennung in Klassen und Rassen bei Weitem nicht so streng wie an Land, gleichwohl war Diskriminierung an der Tagesordnung. Duck, der keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat, sah sich einer Bedrohung ausgesetzt, die kein weißer Seemann fürchten musste: Geriet er in Übersee in Gefangenschaft, musste er damit rechnen, als Sklave verkauft zu werden.

Auch ein gutes Dutzend Kinder war an Bord – die jüngsten nicht älter als sechs Jahre. Einige von ihnen wurden von ihren Vätern mitgebracht, wie der Sohn des Chefnavigators Thomas Clark, und bereiteten sich auf eine Laufbahn als Gefreiter oder Offizier vor. Am anderen Ende der Skala standen runzelige alte Männer: Thomas Maclean, der Koch, war über achtzig. »Ein Kriegsschiff«, so beschrieb es ein Seemann, »ist eine Welt im Kleinen. Jeder Charakter ist hier vertreten, sei er gut oder schlecht.« Zu den Vertretern der letzteren Kategorie zählte er »Wegelagerer, Einbrecher, Taschendiebe, Lüstlinge, Ehebrecher, notorische Glücksspieler, Lügner und Verleumder, Lumpen, Hochstapler, Kuppler, Nassauer, Schläger, Heuchler, heruntergewirtschaftete Lebemänner«.13

Die britische Marine war bekannt für ihre Fähigkeit, auch aufsässige Männer in eine »Gemeinschaft von Brüdern« einzuspannen, wie Vizeadmiral Horatio Nelson es nannte. Auf der Wager allerdings hatte sich eine außergewöhnlich hohe Zahl an widerspenstigen und streitlustigen Männern versammelt. Zu ihnen gehörte der