Das vergessene Fest - Lisa Kreißler - E-Book

Das vergessene Fest E-Book

Lisa Kreißler

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Beschreibung

Nina, Arif und Ronda sind Freunde seit der Uni. Damals glaubten sie an die Liebe, daran, dass ihre Leben sich entfalten würden wie eine Erzählung. 15 Jahre später ist Arif geschieden, Ronda allein mit ihrem Sohn, und Nina steht auf einer Lichtung im Wald – und sagt vor allen Gästen Nein zu ihrem Bräutigam. Gemeinsam verlassen die Freunde das Fest und gehen in den Wald hinein, wo sie Menschen wie aus einer anderen Wirklichkeit begegnen, die sie einbinden in ein fremdes Ritual. Und irgendwann ist Nina verschwunden. "Das vergessene Fest" ist ein Roman über Lebensträume und das Irrewerden an der Wirklichkeit, der hineinführt in eine aufs Neue verzauberte Welt.

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Nina, Arif und Ronda sind Freunde seit der Uni. Damals glaubten sie an die große Liebe, daran, dass ihre Leben sich entfalten würden wie eine Erzählung. Fünfzehn Jahre später ist Arif geschieden, Ronda alleingelassen mit ihrem kleinen Sohn, und Nina steht als Braut in Weiß auf einer Lichtung im Wald – und sagt vor allen Gästen Nein zu ihrem Bräutigam. Gemeinsam verlassen die Freunde das Fest und gehen in den Wald hinein, wo sie Menschen wie aus einer anderen Wirklichkeit begegnen, die sie einbinden in ein fremdes Ritual. Und als es dunkel wird, ist Nina plötzlich verschwunden. Manchmal erleben wir die Welt als mit Sinn erfüllt, doch nur Momente später erscheint alles banal und kalt. Das Alltägliche und das Magische, das Helle und das Dunkle grenzen aneinander, ganz leicht rutscht man vom einen ins andere – davon erzählt Lisa Kreißler in ihrer ganz eigenen Form des magischen Realismus.

Hanser Berlin E-Book

Lisa Kreißler

Das vergessene Fest

Roman

Hanser Berlin

Für Alphan

1  |  Die Enttäuschten

Es ist schade, dass Verbotene Liebe abgesetzt wird, denkt Arif und wischt mit einem feuchten Lappen über den Fernseher. Niemand scheint bemerkt zu haben, dass sich die Qualität der Serie eine Zeitlang auf amerikanischem Niveau bewegt hat. Nur dass sie eben auf Deutsch war und nicht amerikanisch sein wollte, sondern pragmatisch, schwärmerisch und tragisch, wie die deutsche Sprache es nun mal ist.

Arif taucht den Lappen in den kleinen roten Eimer, der neben seinen nackten Füßen steht, wringt ihn gründlich aus und wendet sich vom Fernseher ab, um eine Reihe fragiler Porzellanfiguren vom Regalbrett zu nehmen.

Auf dem Bildschirm in seinem Rücken bewegen sich zwei stark gepuderte Gesichter im Profil aufeinander zu. Zärtliche Klaviermusik begleitet die Szene. Arif wischt zweimal sorgfältig über das Regal. Die Konzentration, mit der er sich dem Putzen widmet, verleiht seinem Gesicht einen besorgten Ausdruck. Mit einem gezielten Stoß pustet er jeder Porzellanfigur ein Staubhäubchen vom Kopf. Dann stellt er sie eine nach der anderen zurück auf die langsam trocknende Regalfläche.

Es ist noch früh am Morgen. Die tiefstehende Sonne flutet das Zimmer mit goldenem Licht.

Im Fernseher ringen zwei Männer in billigen Anzügen vor einem bunt bemalten Bauwagen miteinander.

»Du hättest mir lieber gleich die Wahrheit sagen sollen!«, schreit der eine.

»Aber du warst doch mit Kim in Puerto Rico!«, schreit der andere.

Die Kamera zoomt auf sein Gesicht. Der Schauspieler hat Nasenbluten und versucht, indem er die Augenbrauen zusammenzieht und seinen Unterkiefer zittern lässt, zu gleichen Teilen Angst und Reue auszudrücken.

Arif tut es weh, mit anzusehen, wie lieblos die Konflikte in diesen letzten Folgen aufgebaut und gelöst werden. Fabrikarbeit ohne Gespür für das richtige Tempo und die richtige Emotion. Ihm fehlen die verstörenden Elemente der früheren Folgen. Da gab es sonderbare Nahaufnahmen von Füßen, rasante Schwenks durch die Straßen von Düsseldorf oder verspielte Nebenhandlungen wie das Drama einer missglückten Dauerwelle, die sich auch mit Hilfe eines ganzen Arsenals von Chemikalien nicht wieder rückgängig machen ließ. Diesen intuitiv gesetzten Brücken, die von der Haupthandlung wegführten, hatten die Figuren ihre Schönheit zu verdanken und ihre Tragik.

Arif zieht seine Boxershorts hoch und stößt den Staubsauger energisch über den Teppich. In Gedanken ist er bei seinem Lieblingshandlungsstrang von Verbotene Liebe.

Diese Wahnsinnsgeschichte um Juri Adam und Martha. So einfach und so genial. Die gutmütige, übergewichtige, in formlose Strickpullover gekleidete Praktikantin Martha will den schönen, kriegstraumatisierten Modedesigner Juri Adam. Eine unmögliche Konstellation. Juri Adam fliegen wie von selbst perfekt modellierte Frauenkörper ins Bett. Er sieht in Martha den Kumpel, und dieses Wort tut ihr so weh. Aber Marthas Liebe ist größer als alle Demütigung. Sie bleibt dran!

Als niemand mehr damit rechnet, zeichnet sich plötzlich die wunderbare Wendung ab: Juri Adam fühlt sich zu Martha hingezogen. Und obwohl sie nicht abnimmt und ihren bizarren Kleidungsstil nur minimal verändert, tritt mit jeder Folge mehr von der Schönheit in ihre Augen, die Juri Adam am Ende zu einem besseren Menschen werden lässt.

Die Geschichte hatte von Anfang an etwas Elektrisierendes.

Beim Gedanken an den ersten Auftritt von Juri Adam bekommt Arif eine Gänsehaut.

Während der Präsentation von LCL, dem Modelabel, für das sie beide arbeiteten, riss Marthas Kleid und sie stand entblößt im hautfarbenen Schlüpfer auf der Treppe. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Aber dann ist da plötzlich das Gesicht dieses schönen fremden Mannes auf dem Bildschirm, das sich auf Martha zubewegt. Der Zuschauer sieht ihn durch ihre Augen. Juri Adam zieht in einer wild entschlossenen Geste seine Lederjacke aus, bedeckt damit Marthas Schultern. Dann nimmt er sie hoch und trägt sie auf beiden Armen wie eine Braut an den glotzenden Modeuschis vorbei. Alles in Zeitlupe natürlich. Juri Adam steuert auf einen dicken roten Vorhang zu, schiebt ihn beiseite und verschwindet mit Martha hinter dem schwingenden Samt.

Arif hatte diese Folgen fiebrig mitverfolgt. Den ganzen Tag über freute er sich auf die Fortsetzung am Abend. So sehr war er mit der Frage beschäftigt, wie es mit Martha und Juri Adam weitergehen würde, dass er sich im Büro nur schwer auf seine Artikel konzentrieren konnte. Manchmal steckte er mitten in einem Satz und hatte plötzlich Juri Adam vor Augen, der wieder total inspiriert war von irgendwelchen Müllteilen oder Graffiti. Wie er sich dann durch die Haare fuhr, mit beiden Händen, und dieser wilde künstlerische Gesichtsausdruck. Er hatte eine aufregende Physis, das kam noch dazu. Die Darstellung war aber vor allem deshalb so interessant, weil der Schauspieler alle Gefühle unbefangen übertrieb. Fast wie im Stummfilm.

Arif ist beim Staubsaugen ins Schwitzen gekommen. Er stellt das Gerät ab, läuft zur Spüle und trinkt ein paar Schlucke direkt aus dem Hahn. Als er sich wieder aufrichtet, fällt sein Blick auf das Foto, das ungerahmt über der Spüle hängt. Er hat es lange nicht mehr angesehen.

Ein Schnappschuss, in einer dunklen Kneipe aufgenommen. Stark angeblitzt blicken sie in die Kamera: Nina, Ronda und Arif selbst. Nina trägt die Haare extrem kurz, dazu ein hochgeschlossenes Männerhemd. Die Schminke um ihre Augen ist verwischt, etwas Fragendes geistert durch ihre rot spiegelnden Pupillen. Aber sie lächelt. Ronda sieht unglaublich schön aus. Sie hat das Kinn ein Stück angehoben, führt eine Zigarette zu ihren Lippen und blickt herausfordernd in die Kamera.

Arif steht zwischen Ronda und Nina. Er hat einen blau schimmernden Sahne-Cocktail in der Hand, blondierte Strähnchen in den Haaren und sieht in seinem türkisfarbenen Hemd zugleich sehr schwul und sehr siegessicher aus. Seine Augen haben einen dringlichen Glanz. Arif fällt es schwer, sich selbst in diesem jugendlichen Gesicht zu erkennen.

Er hat keine exakte Erinnerung an den Abend. Aber er weiß, dass er damals, vor fünfzehn Jahren, ganz zu Beginn ihres Studiums, süchtig nach diesen Nächten zu dritt war. Sie tranken, tanzten und gaben sich hemmungslos ihren Sehnsüchten hin, träumten davon, wie ihr Leben später einmal aussehen würde. Im ersten Tageslicht liefen sie gemeinsam nach Hause, kauften sich buttrige, ofenwarme Croissants und waren einfach glücklich darüber, dass sie einander kennengelernt hatten.

Arif geht zurück ins Wohnzimmer, greift nach dem Staubsauger und beginnt, die Couch abzusaugen. Sein Blick streift den Fernseher. Tanja liegt zum wiederholten Male im Koma. An ihrem Krankenbett plaudern Sebastian und Eva ein Geheimnis aus. Tanja blinzelt. Gleich wird sie erwachen.

Arif schüttelt den Kopf und wendet sich dem Teppichstück unter der Couch zu. Obwohl es ihn traurig macht zu sehen, wie wenig von dem früheren Esprit der Serie geblieben ist, schafft er es nicht, eine einzige Folge zu verpassen. Wie heute schaut er sich zwar oft erst die Wiederholung an, aber er muss sehen, wie es zu Ende geht. Das ist er den Figuren schuldig. Jahrelang haben sie ihn darin bestärkt, dass es sich lohnt, auf etwas wirklich Großes zu hoffen. Auch wenn es mittlerweile so aussieht, als sei ihm selbst der dramatische Saft ausgegangen.

Die Männer, mit denen er sich seit der Scheidung von Gordon trifft, befeuern seine erotische Fantasie kein bisschen. Er sitzt ihnen gegenüber, zählt ihre Nasenhaare und denkt sich lustige Spitznamen für sie aus: nuttiges Subjekt, Zander, Teigrolle, Meerschweinchenmann.

Der neu vertonte Song des Abspanns von Verbotene Liebe mischt sich unter das Donnern des Staubsaugers. Arif stellt den Fernseher aus und saugt noch einmal gründlich die Ecken des Zimmers. Dann zieht er den Stecker und lässt das Kabel zurück in die Trommel fahren.

Nach dem Lärm kommt Arif die morgendliche Stille in seiner Wohnung poetisch vor. Er hört den samtigen Klang seiner nackten Füße auf dem Teppich. Ein Kind in der Nachbarschaft schreit und beruhigt sich wieder. Weiter oben im Haus wird die Klospülung betätigt. Ein Kissen, das er beim Saugen auf die Sofalehne gelegt hat, rutscht ab und landet knisternd auf dem Teppich. Sein Herzschlag tönt wie ein weit entferntes Trommeln irgendwo in seinem Innern.

Arif stellt den Staubsauger in die Ecke neben den Kleiderschrank und streicht mit der rechten Hand über den Yves-Klein-blauen Anzug. Sauber und gestärkt hängt er auf einem Bügel an der Schranktür. Arif freut sich auf den Moment, wenn er gleich frisch geduscht, rasiert und eingecremt hineinschlüpfen wird. Er freut sich darauf, auf der Hochzeit neben Ronda zu sitzen, ihr vertrautes Profil zu betrachten und mit ihr über alles zu lachen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist. Und natürlich freut sich Arif auch darauf, in seinem neuen Anzug mit der Braut zu tanzen.

Er sieht sich Nina gegenüberstehen, am Ende dieses Tages. Ninas Kleid ist verschmutzt, über ihrem Gesicht liegt ein blasser Schleier. Sie macht einen Schritt auf ihn zu und legt ihr Kinn schwer auf seiner Schulter ab. Ganz dicht an seinem Ohr flüstert sie mit heiserer Stimme: »Ich hatte einfach ein bisschen Pech!«

Als hätte ihn jemand gerufen, dreht Arif sich um. Er blickt in seinem Wohnzimmer umher, dann läuft er wieder zu dem Foto über der Spüle. Er beugt sich so weit nach vorne, dass seine Nase fast das Papier berührt. Und erst jetzt bemerkt er die Unschärfe von Ninas Gesicht. Ronda und er selbst stechen scharf umrissen aus dem Bild hervor. Ninas Konturen hingegen scheinen sich im dunklen Hintergrund der Kneipe aufzulösen.

*

Als der Zug sich in Bewegung setzt, schnalzt Charlie mit der Zunge, so dass ihm ein scharfer Knall entfährt. Ronda schlingt die Arme ein wenig fester um den kleinen Körper auf ihrem Schoß, sie beugt den Kopf runter und schaut Charlie von der Seite an. Sein Mund ist leicht geöffnet, aber nicht kindlich staunend, eher sinnlich wie bei einer hübschen Frau, die um ihre Wirkung weiß. Ronda drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Charlie schaut sie an. Er lächelt, und in Rondas Gesicht breitet sich ein warmer Ausdruck aus. Charlie blinzelt. Er zieht die Augenbrauen hoch, dann wendet er den Blick wieder von Ronda ab, um den Mann zu beobachten, der auf der anderen Seite des Ganges leise fluchend mit seiner Zeitung ringt. Ob Charlie will oder nicht, Ronda muss ihm einfach noch einen Kuss geben. Dann richtet sie sich wieder auf – und ihr Gesicht wird ernst.

Die ältere Dame ihnen gegenüber versucht mit aller Kraft, Charlies Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie lächelt, legt den Kopf schräg und spitzt die Lippen.

»Fahren Sie auch nach Hannover?«, fragt sie vorsichtig.

Ronda nickt und streicht sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Sie genießt den kurzen Moment, in dem sie hinter ihrer Handfläche verschwindet.

»Eine ganz tolle Stadt, wirklich«, fährt die Frau fort. »Da kann man super shoppen! Und … ich weiß ja nicht, ob Sie das interessiert, aber das Theater ist sehr gut. Das wissen die meisten gar nicht. Die haben da neulich einen Ibsen gezeigt. Klassischer Stil. Aber mit Masken!«

Ronda ist müde. Sie reibt sich die Augen und erwidert nichts. Senkt die Nase hinab zu Charlies Kopf und atmet den Geruch seiner Haare. Sie wünscht sich, dass sie und Charlie sich schon auf dem Heimweg befänden und nicht geradewegs hineinrauschten in dieses soziale Großevent. Noch könnten sie beim nächsten Halt einfach aussteigen, den Zug zurück nach Leipzig nehmen und eine Ausrede erfinden. Das Kind hatte Fieber. Aber so gerne Ronda sich vor der Hochzeit drücken möchte, sie weiß doch, dass sie es Nina schuldig ist, dabei zu sein.

»Und wenn Sie schon mal in der Gegend sind, sollten Sie einen Ausflug in den Deister machen. Das ist das nördlichste Gebirge Deutschlands. Ein schöner Wald, man könnte sich richtig darin verlaufen. Es gibt da auch diese seltenen Bäume … wie heißen die noch gleich?«

Der ICE fährt an einer Kleingartenanlage vorbei. Eine Frau in einem rosafarbenen Kittel bückt sich in einer der quadratischen Gartenparzellen über ihr Beet, sie schiebt ihre Fingerspitzen ein Stück in die lockere Erde. Der Lärm des vorbeirasenden Zuges packt sie im Genick und reißt ihr Gesicht hoch. In ihrem Blick liegt Entsetzen.

»Also, diese Augen sind ja wirklich irre! Wie Terence Hill!«, sagt die Frau und reicht Charlie einen Keks.

Charlie nimmt vorsichtig den Keks entgegen und schaut die Frau an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Er sieht Ihnen aber wirklich sehr ähnlich.«

Ronda mustert von oben Charlies Nase, seine langen, goldschimmernden Wimpern, seine kleinen, wohlgeformten Lippen.

»Alle sagen, er sieht aus wie sein Vater!«

»Also, ich weiß ja nicht, wie der Vater aussieht, aber den Mund hat er von Ihnen«, sagt die Frau und schaut Ronda an.

Ronda sieht schon die Frage nach dem Vater auf sich zurollen, aber im letzten Moment presst die Frau ihre Lippen aufeinander, senkt den Blick und fragt sanft:

»Möchten Sie vielleicht auch einen Keks?«

»Gerne«, antwortet Ronda leise. Die Frau hält ihr lächelnd die grüne Tupperbox entgegen. Der Butterkringel zerschmilzt süß und tröstend auf Rondas Zunge.

Die Frau kramt eine Lesebrille aus ihrer Handtasche hervor und vertieft sich in ihr Landlust-Magazin.

Im Abteil kehrt Ruhe ein. Die meisten Fahrgäste sind in einen intimen Dialog mit ihren Smartphones versunken. Die Schaffnerin läuft schwankend durch den Gang und fragt nicht nach den Tickets.

Da wendet Charlie sein Gesicht nach oben. Seine blauen Augen strahlen Ronda wie zwei kleine Flammen entgegen. Ronda merkt, wie sich ihre Kehle zuschnürt, als Charlie den Mund öffnet und sein Blick bei seiner Aufforderung »Riii!« eine Dringlichkeit bekommt, die keine Kompromisse duldet. Ronda hält ihm einen Becher hin. Charlie trinkt mit lauten Schlucken. Die Dame lächelt, ohne den Vorgang zu kommentieren. Charlie gibt ein erfrischtes »Ahh!« von sich, dann zieht der Mann mit der Zeitung, der leise zu schnarchen begonnen hat, seine Blicke auf sich. Vor Verwunderung erstarrt Charlie.

Auch wenn Charlie Rondas Bauch längst verlassen hat, fühlt sich Ronda noch so eng mit ihm verbunden, dass sie ihn manchmal als eine Verlängerung ihrer selbst wahrnimmt. Sie weiß, auch ohne ihn anzusehen, in was für einem Zustand er sich gerade befindet. Ob er abenteuerlustig ist oder ihre Nähe braucht, ob eine falsche Geste von ihr ihn zum Weinen bringen kann oder er in der Stimmung ist für Albernheiten.

In den ersten Lebenswochen war Charlie über alles empört gewesen. Alles, was Babys normalerweise lieben, lehnte er ab. Er lag nicht gerne auf weichen Kissen, wie man das von einem Neugeborenen erwartet. Er schlief nicht die meiste Zeit des Tages. Charlie war wach, von Anfang an. Und er begegnete allem, was ihn umgab, mit großer Skepsis. Nichts nahm er als gegeben hin, alles galt es zu prüfen: Milch, Wärme, Luft, Stimmen, Licht und vor allem: die Menschen. Er vertraute niemandem. Auch Ronda nicht. Er schrie sogar an ihrer Brust, und wenn er dann irgendwann vor Erschöpfung mitten im größten Protest einschlief, dann kräuselte er im Schlaf die Stirn, weil er so heftig träumte.

Erst seit ein paar Wochen kann Ronda dabei zusehen, wie Charlie allmählich Vertrauen fasst. Er regt sich nicht mehr über alles auf, sondern betrachtet die Dinge mit Ruhe und dem sichtbaren Willen, sich für sie zu interessieren. Es ist jetzt viel leichter mit ihm. Aber es versetzt Ronda auch einen Stich, zu sehen, wie Charlie sich ergibt.

Schon kurz nach seiner Geburt traf sie zum ersten Mal der Gedanke, dass auch Charlie irgendwann sterben muss. Als Ronda ihn gestern von Ivan abholte, der ihn auf seine nachlässige Art neu eingekleidet hatte, mit pinkfarbenen Socken in grünen Sandalen, und Charlie Ronda so glücklich anlächelte, als sie in die Tür trat, da überfiel Ronda ein heißer Schwindel. Nicht weil Ivan und Charlie ein so schönes Bild abgaben und so wenig dazu gefehlt hatte, dass sie zu dritt in diesem Bild stehen würden, sondern weil Charlie so verloren wirkte in diesen Socken und Sandalen. Wie ein kleiner alter Mann.

»Da!« Charlie zeigt auf Rondas Tasche, in der ihr Handy vibriert. Arifs Name ist auf dem Display zu sehen. Ronda zögert, sie nimmt nicht ab.

Ihre Telefonate in den letzten Wochen waren schrecklich verkrampft. Sie hätten sich bloß gegenüberstehen müssen, dann wäre alles wieder da gewesen: das Vertrauen, die Kraft ihrer Verbindung. Aber Ronda hatte Arif nicht gebeten zu kommen, und Arif hatte das Thema ausgespart, als gäbe es die Möglichkeit eines Besuches nicht. Mit jedem Telefonat fiel es Ronda schwerer, seine höfliche Aufbauarbeit zu ertragen. Arif gab sich große Mühe, aber sein Optimismus klang falsch in ihren Ohren. Als würde er ihre Geschichte in eine Ordnung zwängen wollen, die ihr nicht zusteht.

Dass es jetzt kaum auszuhalten sei, aber dass Grenzen beweglich seien. Dass sie irgendwann an diese Zeit zurückdenken werde, vielleicht nicht amüsiert, aber ganz sicher geheilt. Die Zeit ist mächtiger als dein Spatzenhirn, du wirst schon sehen. Ronda stellt sich Charlie als jungen Mann vor, wie er zu ihr sagt: »Mama, warum weinst du denn immer, wenn wir zusammen Zug fahren?«

»Weißt du, kurz vor deinem ersten Geburtstag saßen wir beide in einem Zug. Wir waren auf dem Weg zu einer Hochzeit. Dein Vater hatte mich gerade verlassen, und ich war so benommen, dass ich nicht einmal weinen konnte. Das hole ich seitdem bei jeder Zugfahrt nach.«

»Ach, Mama! Du weinst doch jeden Tag!«

»Damals war es anders.«

Ronda greift nach ihrem Handy und beginnt zu tippen: Sind auf dem Weg. So müde. Bald bin ich reif für die Müllhalde!

Arif antwortet sofort.

Bin schon im Hotel. Sie haben hier sogar einen Pool. Und: Es gibt nette Hotelboys! Habe schon einen für dich ausgesucht. Er kommt aus Finnland, spielt Schlagzeug und ist sehr schüchtern. Vielleicht heiratet ihr nächsten Monat.

Ronda lacht. Dieser verspielte SMS-Austausch entspricht uns tausendmal besser als diese ganzen hilflosen Telefonate, denkt sie.

Plötzlich werden ihre Hände warm. Sie lächelt, weil sie einer einzigen Sache an diesem Tag doch mit Vorfreude entgegenblickt: dem Wiedersehen mit Arif.

Charlie rutscht von Rondas Schoß und greift nach ihrer Hand. Er hat lange genug stillgesessen. Jetzt will er den Gang abklappern. Ohne Scheu bleibt er an jeder Sitzreihe stehen. Er schaut prüfend in jedes Gesicht. Ronda geht hinter ihm, die Hände nah an seinem Körper, für den Fall, dass er fällt. In ihrer Kehle hält sie tröstende Laute bereit. Sie ist darauf gefasst, dass ihn jeden Moment etwas erschreckt: ein Geräusch, ein Luftzug, eine Stimme. Da bleibt Charlie abrupt stehen.

Ein junger Mann, der schweigend aus dem Fenster schaut, hat ihn in seinen Bann gezogen. Der Mann hat einen blonden Bürstenschnitt, um den Mund herum versprengte Leberflecken, seine Hände ruhen wie zwei Werkzeuge auf seinen Oberschenkeln. Es dauert eine Weile, bis er bemerkt, dass ihn jemand beobachtet.

»Hey!«, sagt er und beugt sich ein Stück runter zu Charlie. Dann hebt er den Blick und lächelt Ronda auf eine so unverstellt einladende Art und Weise an, dass sie zum ersten Mal seit Wochen errötet.

*

Der Herbst hat mit viel Regen begonnen, denkt Nina und lehnt sich in den Fensterrahmen. Ihre weiche Gestalt wird vom matten Licht des Tages umhüllt. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Blick geht in die Ferne. Über die Felder hinweg schaut sie zum Wald hinauf. Obwohl es schon Mittag ist, liegt er noch ganz verschlafen da, zeigt nur manchmal sein Farbenspiel im sekundenweise wechselnden Licht unter den schnell ziehenden Wolken.

Sie beugt sich nach vorne und legt die Stirn an das kühle Fensterglas. Dabei knistert ihr Kleid, als wäre es elektrisch. Nervöse Geschäftigkeit dringt von unten herauf. Die Stimme ihres Bruders. Die Kommandos ihrer Mutter. »Rita, wo hast du den Autoschlüssel hingelegt?« Das ist Ninas Vater. Ihre eiligen Schritte, wie sie hin und her rennen, vor dem Spiegel innehalten, sich selbst fremd in der feierlichen Garderobe. Nina hört ihre Mutter in der Küche hantieren. Sie wird bis zum letzten Moment versuchen, ein bisschen Ordnung in das Chaos da unten zu bringen, damit sie und Philipp sich wohlfühlen, wenn sie heute Nacht zurück in ihr Haus kommen.

Ninas Blick fällt auf die Paletten mit den Backsteinen unten im Garten, auf die Stahlträger, die prall gefüllten Säcke mit Zement. Die Überreste von einst gesunden Blüten ragen blass zwischen aussortiertem Gerät hervor. Eine Kühltruhe, ein Elektroherd, ein verrosteter Pflug, ein zerbeulter Kohleofen, am Gartenzaun kauern dicht gedrängt blaue Müllsäcke, ihre Plastikhaut zerrissen vom Schutt. Das Gras steht hoch wie in Ninas Kindheit, als in diesem Garten noch Heu gemacht wurde. Doch damals hatte es eine andere Farbe als heute, wo es von Disteln durchzogen ist.

Seit sie mit Philipp in das Haus ihrer Großmutter gezogen ist, vor vier Monaten, die ihr manchmal wie vier Wochen vorkommen, dann wieder wie vier Jahre, haben die Tage eine schale Gleichförmigkeit angenommen. Obwohl jeden Tag so viel passiert.

Nina sieht, wie das Haus seine Gestalt verändert. Jeden Tag verschwindet ein weiteres altes Möbelstück, der Teppich wird von den Böden gerissen, Teppichkleber unter Flüchen abgekratzt, die Wände werden genässt, in großen, fügsamen Bahnen lösen sich die Tapeten von der Wand. Philipp ist begeistert über den nackten Putz, der darunter zum Vorschein kommt.

Den ganzen Sommer über standen Türen und Fenster offen, so dass auch der Geruch, der das Wesen des Hauses beharrlich bestimmt hatte, einfach verschwand. Seit die Farbe an den Wänden getrocknet ist, riecht Nina Philipp in jedem Zimmer; seinen süßen, unbeschwerten Duft.

Sie geht morgens mit ihm laufen und lacht, wenn sie danach gemeinsam unter der Dusche stehen. Abends, wenn er aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, kocht sie aufwendige Gerichte: frischen Fisch gefüllt mit Rosmarinzweigen, Sardellen, Äpfeln und Zitronen. Sie hört sich seine neuesten Ideen an: »Wir brauchen luftige Zimmer, die sich zum Wald hin öffnen.« Sie trinken Pernod, während sie spät in der Nacht gemeinsam das nächste Loch in die Wand schlagen.

Und während sie arbeiten, lässt Philipp plötzlich den Hammer sinken, nähert sich ihr mit staubigem Gesicht, drückt ihr lächelnd einen Kuss auf die Lippen und fragt: »Dir geht es gut, oder? Dir geht es richtig gut!« Nina nickt dann nur und lächelt zurück.

Wenn er ihr dann später im Bett ernst und hingebungsvoll den Slip auszieht und sich bemüht, den Akt nach ihren Vorlieben zu gestalten, wenn er ihren Hals küsst, ihre Brüste, denkt Nina an ihre gemeinsame Zeit in Berlin zurück, als sie sich noch offen bekämpften.

Die Nächte, in denen Philipp feiern ging und Nina auf ihn wartete. Mit jeder Stunde, die er wegblieb, wuchs in ihr der Drang, irgendetwas zu zerstören. Sie schnitt die Saiten seiner Gitarre durch, spuckte in seine Schuhe, füllte seine Hosentaschen mit Zucker und brannte mit der Zigarette Löcher in seine Kaschmirpullover. Sie stand im Schlafanzug auf dem Balkon und starrte auf die Straße hinunter wie eine Hexe.