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Das Vermächtnis der besonderen Kinder ist der fünfte Band der fesselnden Fantasy-Reihe von Bestseller-Autor Ransom Riggs. Ein zerbrechlicher Friede - Eine düstere Prophezeiung - Und das Chaos wartet im Herzen des Sturms … Jacob Portman wird mit einer unmöglichen Mission beauftragt: Er muss die Besondere Noor Pradesh zu einer geheimnisvollen Verbündeten namens V bringen. Noor steht im Zentrum einer düsteren Prophezeiung, die den Untergang aller Besonderen vorhersagt, und wird von mächtigen Gegnern gejagt. Gefangen zwischen alten Feinden und einer neuen Bedrohung, wird die Zeit knapp für Jacob und seine Freunde … Ransom Riggs erschafft eine mystisch-magische Welt, in die man dank der geheimnisvollen historischen Fotos wunderbar eintauchen kann. Das Vermächtnis der besonderen Kinder ist ein fesselndes historisches Fantasy-Abenteuer voller Spannung und Überraschungen. Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick: - Band 1 - Die Insel der besonderen Kinder - Band 2 - Die Stadt der besonderen Kinder - Band 3 - Die Bibliothek der besonderen Kinder - Band 4 - Der Atlas der besonderen Kinder - Band 5 - Das Vermächtnis der besonderen Kinder - Band 6 - Die Zukunft der besonderen KinderBonus - Die Legenden der besonderen Kinder Leitfaden: Miss Peregrines Museum der Wunder. Aus der Welt der besonderen Kinder
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Seitenzahl: 389
Ihr, die ihr in Städten oder auf friedliche Weise lebt, könnt nicht immer sagen, ob eure Freunde für euch durchs Feuer gehen würden.
Aber in der Weite der Prärie haben die Freunde Gelegenheit, sich zu beweisen.
William F. »Buffalo Bill« Cody
Tief in den grünlich schimmernden Gedärmen eines Fischmarktes in Chinatown befanden wir uns am Ende eines Flurs, der mit Krebsbecken gesäumt war. Wir hockten, belauert von Tausenden Alien-Augen, in einer von der Lichtesserin erzeugten Blase der Dunkelheit. Leos Männer waren ganz in der Nähe, und sie waren wütend. Wir hörten Geschrei und ein heftiges Krachen, als sie auf der Suche nach uns den Markt auseinandernahmen. »Bitte«, hörte ich eine alte Frau weinend sagen, »ich habe niemanden gesehen …«
Wir hatten zu spät erkannt, dass dieser Flur keinen Hinterausgang besaß, und waren nun neben dem Abflussrohr in dem schmalen Spalt zwischen Massen todgeweihter Krebstiere gefangen, deren Aquarien als schiefe Türme zu zehnt übereinander bis an die Decke gestapelt waren. Neben dem Krachen und Geschrei ertönte der unaufhörliche Rhythmus der leise gegen die Glaswände trommelnden Krebsscheren, wie ein Orchester kaputter Schreibmaschinen, das sich in meinen Schädel wühlte.
Wenigstens überdeckte es das Geräusch unseres panischen, abgehackten Atmens. Vielleicht genügte das – vorausgesetzt, Noors künstliche Dunkelheit hielt stand und die Männer, die sich mit schweren Schritten näherten, schauten nicht zu genau auf die wogende Leere mit den zuckenden Rändern; eine Auslassung in der Luft, eine unübersehbare Lücke, wenn man den Blick darauf ruhen ließ. Noor hatte die Dunkelheit geschaffen, indem sie mit der Hand durch die uns umgebende Luft fuhr, während sich an ihren Fingerspitzen das Licht sammelte wie leuchtende Glasur auf einem Kuchen. Sie stopfte es sich in den Mund und schluckte. Glühend rann es durch ihre Kehle hinab und verschwand.
Es war Noor, die sie wollten. Aber mich hätten sie auch zu gern mitgenommen, und wenn es nur war, um mich zu erschießen. Mittlerweile mussten sie H tot in seiner Wohnung gefunden haben, seine Augen aus den Höhlen gerissen von seinem eigenen Hollowgast. Früher an jenem Tag hatten H und sein Hollow Noor aus Leos Zeitschleife befreit. Dabei kamen ein paar von Leos Leuten zu Schaden. Das wäre vielleicht noch verzeihlich gewesen, aber etwas anderes nicht: Leo Burnham, Oberhaupt des Five-Boroughs-Clans, war gedemütigt worden. Eine Wildkatze – also Besondere, die noch keinem Clan angehören, sondern frei und schutzlos leben –, auf die Leo Anspruch erhob, war aus seinem eigenen Haus gestohlen worden, dem Machtzentrum des Herrschaftsbereichs eines Besonderen, das fast den gesamten östlichen Teil der Vereinigten Staaten umfasste. Wenn ich dabei entdeckt wurde, dass ich Noor zur Flucht verhalf, wäre mein Todesurteil endgültig besiegelt.
Leos Männer kamen immer näher, und ihre Stimmen wurden lauter. Noor kümmerte sich um die Dunkelheit, straffte die Ränder zwischen Finger und Daumen, wenn sie zu verschmieren begann, füllte das Zentrum, wenn es ausdünnte.
Ich wünschte, ich hätte ihr Gesicht sehen können. Den Ausdruck darin lesen. Ich wollte wissen, was sie dachte, wie sie sich hielt. Es war nur schwer vorstellbar, wie jemand, der noch so neu war in dieser Welt, all das ertrug, ohne zusammenzubrechen. In den vergangenen paar Tagen war sie von Normalen mit Betäubungspfeilen und in Hubschraubern gejagt worden, von einem Besonderen-Hypnotiseur entführt worden, um bei einer Auktion versteigert zu werden, konnte entkommen, nur um von Leo Burnhams Bande geschnappt zu werden. Sie hatte ein paar Tage in einer Zelle in Leos Hauptquartier verbracht, war dann bei ihrer Flucht mit H durch Schlafstaub in Tiefschlaf versetzt worden und erst in Hs Wohnung wieder aufgewacht, wo sie ihn tot auf dem Boden vorfand – der grauenvolle Anblick hatte aus ihrem Mund einen Feuerball konzentrierten Lichts schießen lassen (der mich beinahe meinen Kopf kostete).
Sobald sie sich von dem Schrecken erholt hatte, erzählte ich ihr, was H mir mit seinen letzten Atemzügen anvertraut hatte: dass es nur noch einen lebenden Hollow-Töter gebe, eine Frau namens V, und ich Noor ihrem Schutz überstellen solle. Die einzigen Hinweise auf ihren Aufenthaltsort waren eine zerfledderte Landkarte aus Hs Wandsafe sowie bruchstückhafte Anweisungen von Hs grausigem Ex-Hollowgast, Horatio.
Aber ich hatte Noor noch nicht erzählt, warum H so hart gekämpft hatte, ihr zu helfen, warum er meine Freunde und mich als Unterstützung gewonnen hatte und schließlich den Tod fand, als er sie aus Leos Zeitschleife befreite. Ich hatte ihr nichts von der Prophezeiung gesagt. Es war kaum Zeit gewesen – seit ich Leos Leute in dem Flur vor Hs Wohnung gehört hatte, rannten wir quasi um unser Leben. Und die ganze Zeit fragte ich mich, ob es nicht zu viel war, zu früh.
Eine der sieben, deren Kommen vorausgesagt war … die Befreier der Besonderenwelt … der Anbruch des gefährlichen Zeitalters … Es musste sich anhören wie das irre Gefasel des verrückten Anhängers irgendeines Kults. Nach all dem, was die Besonderenwelt bereits von Noors Gutgläubigkeit verlangt hatte – ganz zu schweigen von ihrer Zurechnungsfähigkeit –, fürchtete ich, dass sie schreiend davonlaufen würde. Jeder halbwegs normale Mensch hätte das schon längst getan.
Natürlich war Noor Pradesh alles andere als normal. Sie war besonders. Mehr noch, sie hatte Mut.
In dem Moment neigte sie mir den Kopf zu und flüsterte: »Also, wenn wir hier rauskommen … wie ist der Plan? Wohin gehen wir?«
»Raus aus New York«, antwortete ich.
Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wie?«
»Keine Ahnung. Mit dem Zug? Bus?« Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht.
»Oh«, erwiderte sie mit einem Anflug von Enttäuschung in der Stimme. »Du kannst uns nicht, irgendwie, von hier wegzaubern? Mit einem von deinen Zeit-Tor-Dingern?«
»So funktionieren die nicht. Na ja, ich denke, ein paar von denen schon« – ich dachte an Verbindungen zum Panloopticon –, »aber wir müssen erst einen Übergang finden.«
»Was ist mit deinen Freunden? Hast du keine … Leute?«
Ihre Frage machte mich mutlos. »Sie wissen nicht einmal, dass ich hier bin.«
Und selbst wenn sie es wüssten …, schoss mir durch den Kopf.
Ich spürte, dass Noor die Schultern hängen ließ.
»Keine Sorge«, versicherte ich. »Mir fällt schon etwas ein.«
Zu jeder anderen Zeit wäre mein Plan ganz einfach gewesen: Losziehen und meine Freunde finden. Ich wünschte verzweifelt, dass ich das könnte. Sie wüssten, was zu tun wäre. Seit ich in diese Welt eingetreten war, waren sie mein Fels in der Brandung, und ohne sie fühlte ich mich verloren. Aber H hatte mich ausdrücklich davor gewarnt, Noor zu den Ymbrynen zu bringen. Davon abgesehen wusste ich gar nicht, ob ich überhaupt noch Freunde hatte – so wie bisher bestimmt nicht. Was H getan hatte und was ich gerade tat, zerstörte vermutlich die Chance der Ymbrynen, zwischen den Clans Frieden zu stiften. Und es hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dem Vertrauen meiner Freunde in mich geschadet.
Wir waren also auf uns gestellt. Das machte den Plan einfach, aber suboptimal: möglichst schnell rennen. Angestrengt überlegen. Viel Glück haben.
Und wenn wir nicht schnell genug rannten? Oder kein Glück hatten? Dann würde ich vielleicht nie die Chance bekommen, Noor von der Prophezeiung zu erzählen, und sie würde den Rest ihres Lebens, wie lang oder kurz dieses auch sein mochte, nicht wissen, warum sie gejagt wurde.
Ganz in der Nähe krachte es wieder laut, gefolgt von Rufen und Geschrei der Männer. Nicht mehr lange und sie würden bei uns sein.
»Es gibt etwas, das ich dir sagen muss«, flüsterte ich.
»Kann das nicht warten?«
Es war der denkbar schlechteste Moment. Aber möglicherweise auch der einzige.
»Du musst etwas erfahren. Falls wir getrennt werden oder … irgendetwas anderes passiert.«
»Okay.« Sie seufzte. »Schieß los.«
»Das wird sich jetzt vermutlich ziemlich durchgeknallt anhören, und bevor ich es dir erzähle, sollst du wissen, dass mir das durchaus bewusst ist. Bevor H starb, sagte er etwas von einer Prophezeiung.«
Irgendwo ganz in der Nähe wechselte jemand lautstark ein paar Worte mit Leos Männern – er auf Kantonesisch, sie auf Englisch. Wir hörten ein lautes Klatschen, einen Schrei, eine gedämpfte Drohung. Noor und ich erstarrten.
»Dahinten!«, rief Leos Mann.
»Es hat mit dir zu tun«, fuhr ich fort, und meine Lippen berührten beinahe ihr Ohr.
Noor zitterte. Die Ränder der Dunkelheit um uns herum zitterten ebenfalls.
»Sag es mir«, stieß sie kaum hörbar hervor.
Leos Männer kamen um die Ecke in den Flur. Uns lief die Zeit davon.
Die Männer marschierten auf uns zu, zerrten einen armen Marktarbeiter hinter sich her. Die Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen tanzten über die Wände, wurden vom Glas der Krabbenbecken gebrochen. Ich wagte es nicht, den Kopf zu heben, aus Angst, er könnte die Grenzen von Noors Dunkelheit durchstoßen. Ich spannte mich an, bereitete mich seelisch auf einen sehr ungleichen Kampf vor.
Dann, in der Mitte des Flurs, blieben sie stehen.
»Hier ist nichts. Nur Fischbecken«, knurrte einer der Männer.
»Wer war bei ihr?«, fragte ein zweiter Mann.
»Irgendein Junge, keine Ahnung …«
Wieder dumpfes Klatschen, und der Mann, den sie festhielten, stöhnte vor Schmerz.
»Lass ihn gehen, Bowers. Er weiß nichts.«
Der Marktarbeiter wurde brutal weggestoßen. Er fiel zu Boden, rappelte sich wieder hoch und stolperte davon.
»Wir verschwenden hier zu viel Zeit«, sagte der erste Mann. »Das Mädchen ist vermutlich schon über alle Berge. Zusammen mit diesen Typen, die sie sich geholt haben.«
»Denkst du, sie könnten den Eingang zu Fung Wahs Zeitschleife gefunden haben?«, fragte ein Dritter.
»Möglich«, antwortete der Erste. »Ich nehme Melnitz und Jacobs mit und überprüfe das. Bowers, du räumst hier gründlich auf.«
Ich zählte ihre Stimmen: Sie waren nun zu viert, möglicherweise waren es auch fünf. Der mit dem Namen Bowers ging direkt an uns vorbei, sein Pistolenhalfter hing auf unserer Augenhöhe. Ohne den Kopf zu heben, schaute ich nach oben. Der Mann war stämmig und trug einen dunklen Anzug.
»Leo macht uns kalt, wenn wir sie nicht finden«, murmelte Bowers.
»Wir bringen ihm den toten Wight«, sagte der zweite Mann. »Ist doch was.«
Überrascht hielt ich die Luft an und spitzte die Ohren. Toter Wight?
»Der war doch schon tot, als wir ihn fanden«, knurrte Bowers.
»Das muss Leo ja nicht wissen«, erwiderte der erste Mann lachend.
»Was würde ich dafür geben, ihn selbst getötet zu haben«, murmelte Bowers.
Er erreichte das Ende des Flurs, drehte um und kam wieder in unsere Richtung. Der Lichtschein seiner Taschenlampe strich über uns hinweg und leuchtete dann in das Becken neben meinem Kopf.
»Du kannst der Leiche ja ein paar Tritte verpassen, wenn du dich dann besser fühlst«, sagte der dritte Mann.
»Lass mal stecken. Hätte aber nichts dagegen, diesem Mädchen einen Tritt zu verpassen«, grunzte Bowers. »Und nicht nur das.« Er ging wieder zu den anderen zurück. »Sie hat dem Wight geholfen?«
»Sie ist nur eine Wildkatze«, erwiderte der erste Mann. »Und hat keine Ahnung.«
»Nur eine Wildkatze – genau!«, mischte sich der zweite Mann ein. »Ich verstehe immer noch nicht, warum wir so viel Zeit mit ihr verschwenden. Nur um eine Besondere mehr in unseren Clan zu holen?«
»Weil Leo weder vergibt noch vergisst«, antwortete der erste Mann.
Ich spürte, wie sich Noor neben mir wand und einen tiefen, zitternden Atemzug tat.
»Lasst mich mit ihr allein in einem Raum«, brummte Bowers, »und ich zeige euch, wie besonders sie ist.«
Er stand jetzt direkt neben uns, ließ den Schein der Taschenlampe langsam in einem Halbkreis über die Wände und den Boden wandern. Mein Blick klebte an seinem Halfter. Der Lichtstrahl schwenkte über das Becken zu unserer Linken, verharrte dann direkt auf uns. Das Licht endete nur Zentimeter von unseren Nasen entfernt, konnte Noors Dunkelheit jedoch nicht durchdringen.
Ich hielt den Atem an, betete, dass jeder Teil von uns, sogar unsere Haare, verborgen war. Bowers’ Miene verzog sich, als versuche er, sich auf irgendetwas einen Reim zu machen.
»Bowers!«, brüllte jemand vom Ende des Flurs.
Er wandte den Kopf, hielt den Lichtstrahl jedoch auf uns gerichtet.
»Wir treffen uns draußen, wenn du hier fertig bist. Hinter Fungs sperren wir im Umkreis von drei Blocks alles ab.«
»Such ein paar fette Krebse aus!«, rief der erste Mann. »Wir bringen Abendessen mit. Vielleicht hebt das Leos Laune.«
Der Lichtstrahl fuhr zurück zum Becken. »Begreife nicht, wie man diese Viecher essen kann«, murmelte Bowers. »Spinnen des Meeres.«
Die anderen entfernten sich. Wir waren allein mit diesem Erfüllungsgehilfen. Er stand anderthalb Meter von uns entfernt, betrachtete angewidert das Krabbenbecken. Dann zog er sein Jackett aus und rollte die Hemdsärmel hoch. Wir mussten nur warten, und in ein paar Minuten …
Noors Hand krampfte sich um meinen Arm. Sie zitterte.
Erst dachte ich, ihr würde wegen des Stresses die Kraft ausgehen, aber dann atmete sie rasch dreimal hintereinander kurz ein, und mir wurde klar, dass sie versuchte, nicht zu niesen.
Bitte, formte ich tonlos mit den Lippen, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte. Bitte nicht.
Der Mann langte sichtlich widerwillig in das Becken, das ihm am nächsten war. Mit seiner fleischigen Hand tastete er nach Krebsen und würgte erstickt.
Noor erstarrte. Ich konnte förmlich hören, wie sie die Zähne zusammenpresste, um nicht zu niesen.
Der Mann schrie auf und riss die Hand aus dem Becken. Er fluchte und fuchtelte mit der Hand durch die Luft. An einem seiner Finger baumelte ein fetter Krebs.
Und dann stand Noor auf.
»Hey«, sagte sie. »Arschloch.«
Der Mann wirbelte herum. Bevor er auch nur ein Wort herausbekam, nieste Noor.
Es war eine erschütternde Druckwelle: All das Licht, das sie geschluckt hatte, schoss aus ihr hinaus, bespritzte die gegenüberliegende Wand und den Boden und das Gesicht des Mannes mit leuchtend grünem Sprühnebel, hüllte ihn in einen Ball gleißenden Lichts. Er war nicht grell genug, um ihn zu verletzen – und auch nicht annähernd heiß genug, um ihn zu verbrennen –, aber ausreichend, um ihn vor Schreck erstarren zu lassen, während sein Mund ein perfektes, eiförmiges O formte.
Die dunkle Leere, die uns umgeben hatte, war auf einen Schlag verschwunden. Der Mann schrie, und für einen Moment lähmte uns das, als stünden wir unter einem Bann: ich auf dem Boden hockend, Noor neben mir stehend, die Hand über Mund und Nase gelegt. Der Mann hielt seine Hand hoch, der zappelnde Krebs hing immer noch daran. Und dann rappelte ich mich auf, und der Bann war gebrochen. Der Mann machte einen Schritt, um uns den Weg zu versperren, und langte mit der freien Hand nach seiner Waffe.
Bevor er sie einsetzen konnte, rammte ich meinen Körper gegen ihn. Er fiel nach hinten, und ich stürzte auf ihn. Wir rangen um seine Pistole. Sein Ellenbogen schlug gegen meine Stirn, und mich durchfuhr ein heftiger Schmerz. Noor kam von hinten und schlug mit einer Metallstange auf seinen Arm. Der Mann zuckte kaum. Er drückte beide Hände gegen meine Brust und stieß mich fort.
Ich rannte zu Noor, um sie von ihm wegzuschieben. Als ich sie erreichte, feuerte der Mann zweimal. Das Geräusch war unglaublich, weniger ein Peng als vielmehr eine Schallwelle. Der erste Schuss prallte von der Wand ab. Der zweite ließ das Becken neben dem Mann zerspringen. In ersten Moment war es noch unversehrt und im nächsten zerbarst es in tausend Stücke, Krebse, Wasser und Scherben verteilten sich auf dem Boden. Und dann kippten die vielen darauf gestapelten Becken in den Flur. Das oberste zerplatzte, als es gegen den Stapel an der gegenüberliegenden Wand stieß, die übrigen gingen auf Bowers nieder. Jedes musste an die 400 Liter Wasser enthalten und zusammen betrug ihr Gewicht bestimmt eine Tonne. In wenigen Sekunden wurde er halb zerquetscht und war gleichzeitig dem Ertrinken nah. In einer Art Kettenreaktion stürzten nun sämtliche Becken im Flur um. Begleitet von lautem Krachen und splitterndem Glas wurden die Krustentiere mit einer Flutwelle stinkenden Wassers fortgespült, die an der Wand entlangschoss und uns von den Füßen riss.
Wir husteten und spuckten. Das Wasser schmeckte ekelhaft. Ich blickte zu Bowers und zuckte zusammen. Sein Gesicht war in Fetzen geschnitten und leuchtete grünlich. Auf seinem Körper krabbelten unzählige Krebse herum. Das war allerdings das Einzige an ihm, was noch lebte. Rasch wandte ich mich ab und arbeitete mich durch den Schutt zu Noor, die von dem Wasser weiter nach hinten gerissen worden war.
»Alles okay?«, fragte ich, half ihr auf und untersuchte sie nach Schnittwunden.
Sie begutachtete sich in dem dämmerigen Licht ebenfalls. »Meine Gliedmaßen sind noch alle dran. Und bei dir?«
»Genauso«, antwortete ich. »Wir sollten verschwinden. Die anderen Typen kommen bestimmt zurück.«
»Ja, der Lärm war garantiert bis New Jersey zu hören.«
Wir hakten uns unter, um uns gegenseitig mehr Halt zu geben, und stapften so schnell wie möglich Richtung Eingang des Flurs, wo ein Neonlicht in Form eines Krebses surrte und flackerte.
Wir hatten kaum zehn Schritte gemacht, als wir lautes Stampfen hörten, das sich in unsere Richtung bewegte. Und wir steckten immer noch in dieser Sackgasse fest.
Wie erstarrt blieben wir stehen. Zwei Leute, vielleicht mehr, näherten sich. Sie hatten den Lärm also gehört.
»Komm schon!«, sagte Noor und wollte mich weiterziehen.
»Nein.« Ich stemmte meine Füße in den Boden. »Sie sind zu nah.« Sie würden jede Sekunde hier sein, und der Flur vor uns war lang und mit zerbrochenen Becken übersät, wir würden es niemals rechtzeitig schaffen. »Wir müssen uns wieder verstecken.«
»Wir müssen kämpfen«, erwiderte sie und sammelte, was an Licht vorhanden war, in ihren Händen, aber es war nicht viel.
Kämpfen war auch mein erster Instinkt gewesen – aber ich wusste, dass es falsch war.
»Wenn wir kämpfen, werden sie schießen, und ich kann nicht zulassen, dass du erschossen wirst. Ich werde mich ergeben und sagen, dass du geflohen bist.«
Energisch schüttelte sie den Kopf. »Auf gar keinen Fall.« Ich konnte ihre Augen blitzen sehen. Sie ließ den kleinen Lichtball, den sie zusammengeharkt hatte, wieder auseinanderfließen und hob zwei lange Glasscherben vom Boden auf. »Wir kämpfen gemeinsam oder gar nicht.«
Ich seufzte frustriert. »Dann kämpfen wir.« Wir duckten uns, hielten die Glasscherben wie Messer. Die Schritte waren laut und so nah, dass wir schweres Atmen hören konnten.
Und dann waren sie da.
Am Eingang des Flurs tauchte eine Gestalt auf, hob sich als Silhouette gegen das Neonlicht ab. Stämmig, mit breiten Schultern … und irgendwie vertraut, wenn ich sie auch nicht sofort zuordnen konnte.
»Mr Jacob?«, sagte eine mir bekannte Stimme. »Bist du das?«
Ein Lichtschimmer fiel auf das Gesicht. Ein kräftiges, ausgeprägtes Kinn, freundliche Augen. Für einen Moment glaubte ich zu träumen.
»Bronwyn?«, sagte, nein schrie ich beinahe.
»Du bist es!«, rief sie und ihr Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Sie kam auf mich zugelaufen, wich unterwegs dem herumschwimmenden Glas aus, und ich ließ meine Scherbe gerade noch rechtzeitig fallen, bevor mich Bronwyn so fest umarmte, dass mir fast die Luft wegblieb. »Ist das Miss Noor?«, fragte sie über meine Schulter hinweg.
»Hi«, sagte Noor und es klang mehr als nur ein bisschen erstaunt.
»Dann hast du es also geschafft!«, rief Bronwyn. »Ich bin so froh!«
»Was machst du eigentlich hier?«, presste ich piepsig hervor.
»Dasselbe könnten wir dich fragen!«, antwortete eine weitere vertraute Stimme – und als Bronwyn mich losließ, sah ich Hugh auf uns zukommen. »Potz Blitz! Was ist denn hier passiert?«
Erst Bronwyn, nun Hugh. In meinem Kopf drehte sich alles.
Bronwyn setzte mich ab. »Denk nicht weiter drüber nach. Es geht ihm gut, Hugh! Und das hier ist Miss Noor.«
»Hi«, sagte Noor noch einmal und fügte dann rasch hinzu: »Also, da sind gerade mindestens vier bewaffnete Typen auf dem Weg zu uns –«
»Zwei von denen habe ich eins über den Schädel gezogen«, sagte Bronwyn und hielt zwei Finger hoch.
»Einen weiteren habe ich mit meinen Bienen davongejagt«, sagt Hugh.
»Es werden mehr kommen«, gab ich zu bedenken.
Bronwyn hob eine schwer aussehende Metallstange vom Boden hoch. »Dann trödeln wir besser nicht hier herum, oder?«
Der unterirdische Meeresfrüchtemarkt war ein verwirrendes Labyrinth, aber wir navigierten uns so gut wir konnten durch die schmalen, verwinkelten Gänge, versuchten uns angestrengt zu erinnern, wie wir hierhergekommen waren und welches der Schilder mit chinesischen Schriftzeichen Ausgang bedeutete. Dieser Ort war sowohl eng als auch weitläufig, vollgestellt mit Kisten und Tischen, abgetrennt durch herunterhängende Planen und bestückt mit gefährlich aussehenden, über uns baumelnden Nestern aus Stromkabeln und nackten Glühbirnen. Noch vor Kurzem mussten hier viele Menschen gewesen sein, aber Leos Leute hatten gründlich aufgeräumt.
»Immer schön dicht hinter mir bleiben!«, rief Bronwyn über ihre Schulter hinweg. Wir krabbelten hinter ihr her unter einem Tisch durch, auf dem es von lebenden Tintenfischen wimmelte, folgten ihr einen Gang entlang, der gesäumt war von Fischen in Kisten mit dampfendem Trockeneis. Als wir an einer Gabelung links abbogen, sahen wir zwei von Leos Männern – einer lag ausgestreckt auf dem Boden. Der andere kauerte neben ihm, versuchte seinen Kumpel mit Schlägen auf die Wangen aufzuwecken. Bronwyn verlangsamte ihr Tempo kein bisschen. Der Mann schaute just in dem Moment überrascht hoch, als sie ihn mit einem Schlag auf den Kopf neben seinen Kumpel zu Boden schickte.
»’tschuldigung!«, rief sie im Weiterlaufen, und als Antwort ertönten Rufe von der anderen Seite des Marktes – zwei weitere von Leos Männern hatten uns entdeckt und eilten in unsere Richtung. Wir bogen scharf ab und rannten eine schmale Treppe hinauf, stürmten oben durch eine Tür und standen plötzlich im grellen Tageslicht. Nach der Düsternis da unten waren wir für einen Moment wie geblendet. Plötzlich befanden wir uns während der Rushhour in der Gegenwart auf einem belebten Bürgersteig. Überall drängten sich Fußgänger, Autos und Straßenhändler, bewegten sich in einem schwindelerregenden Gewirr um uns herum.
Lässig zu fliehen ist eine Kunst. Es ist nicht einfach, vor etwas davonzulaufen, das dich töten könnte, ohne Blicke auf dich zu ziehen. So zu tun, als wärest du mit nichts Aufregenderem beschäftigt, als ein bisschen zu joggen, vor allem wenn zwei der Beteiligten pitschnass sind, und die anderen beiden Klamotten aus dem 19. Jahrhundert tragen. Offenbar hatten wir den Dreh nicht raus, denn wir fielen stärker auf, als zwei kostümierte und zwei nasse Teenager das in New York rechtfertigten, wo seltsame Menschen fast überall die Bürgersteige bevölkerten.
Wir überquerten verkehrswidrig Straßen, ignorierten rote Fußgängerampeln, drängten uns zwischen stehenden Autos durch oder rannten einfach los, obwohl sie gerade anfuhren, und hinterließen ein Hupkonzert ausweichender Fahrzeuge. Aber überfahren zu werden war immer noch besser, als in Leos Zeitschleife zurückgeschleppt zu werden. Seine Schlägertypen saßen uns im Nacken wie eine üble Erkältung, verfolgten uns durch die Gassen von Chinatown und die Straßen hinauf durch eine touristische italienische Gegend, holten uns fast ein, als wir auf dem Mittelstreifen der stark befahrenen Houston Street feststeckten. In ihren altmodischen Anzügen waren sie leicht zu erkennen. Schließlich, als ich mich langsam fragte, wie lange ich wohl noch laufen konnte, legte Noor einen Zahn zu, um zu Bronwyn aufzuschließen, und zog sie um eine Ecke. Hugh und ich folgten den beiden, und kurz darauf zog Noor Bronwyn erneut zur Seite, dieses Mal durch eine Tür in einen scheinbar beliebigen Laden. Es war eine enge, kleine Weinhandlung.
Während der Inhaber uns etwas zurief, sahen wir zwei von Leos Männern an der Eingangstür vorbeilaufen. Noor schob uns einen engen Gang entlang, durch eine Tür in ein Lager, an einem verdutzten Angestellten bei seiner Zigarettenpause vorbei und durch eine metallene Pendeltür hinaus in eine mit Müllcontainern gesäumte Gasse.
Es sah so aus, als hätten wir sie abgeschüttelt – für den Moment jedenfalls –, und wir erlaubten uns, kurz stehen zu bleiben und zu verschnaufen. Bronwyn war nicht einmal ins Schwitzen geraten, aber Noor, Hugh und ich keuchten.
»Das war geistesgegenwärtig«, sagte Bronwyn beeindruckt.
»Ja«, stimmte Hugh atemlos zu. »Gut gemacht!«
»Danke«, antwortete Noor. »Nicht mein erstes Rodeo.«
»Für den Augenblick sollten wir hier sicher sein«, ächzte Hugh zwischen zwei Atemzügen. »Geben wir ihnen ein bisschen Zeit, damit sie denken, wir seien längst über alle Berge, und dann verschwinden wir.«
»Ich sollte vermutlich fragen, wohin ihr uns bringt«, sagte ich.
»Das würde ich auch gern wissen«, versicherte Noor und zog fragend eine Braue hoch.
»Zurück zum Acre«, sagte Hugh. »Der nächste Zeitschleifeneingang ist zwar nicht gerade einladend, aber dafür ganz in der Nähe …«
Ich konnte den Blick nicht von meinen Freunden wenden. Ein Teil von mir hatte befürchtet, sie vielleicht nie wieder zu sehen. Oder wenn doch, dass sie mich dann wie einen Fremden behandeln würden.
In dem Moment holte Hugh aus und boxte gegen meinen Arm.
»Au! Wofür war das denn?«
»Wieso hast du uns nicht gesagt, dass du eine völlig beknackte Rettungsaktion durchziehen willst?«
Noor starrte uns an.
»Ich habe es versucht«, erwiderte ich.
»Sonderlich angestrengt hast du dich dabei aber nicht!«, schimpfte nun auch Bronwyn.
»Na ja, ich habe ein paar ziemlich klare Andeutungen gemacht«, verteidigte ich mich. »Aber es war offensichtlich, dass mir niemand helfen wollte.«
Hugh sah aus, als würde er mir jeden Moment noch eine verpassen. »Möglich, aber wir hätten es trotzdem getan!«
»So etwas wie das hier hätten wir dich nie allein durchziehen lassen«, pflichtete Bronwyn bei und klang zum ersten Mal wütend auf mich. »Wir waren krank vor Sorge, als wir merkten, dass du fort warst!« Sie wandte sich Noor zu und schüttelte den Kopf. »Gestern lag er noch verletzt im Bett, verrückter Kerl. Ich dachte, jemand hätte ihn nachts entführt!«
»Ehrlich gesagt war ich nicht sicher, ob es dich überhaupt kümmern würde, wenn ich verschwinde.«
»Jacob!« Bronwyn riss die Augen auf. »Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben? Das tut echt weh.«
»Hab dir doch gesagt, dass er schnell eingeschnappt ist.« Hugh schüttelte den Kopf. »Ein bisschen mehr solltest du deinen alten Kameraden schon zutrauen.«
»Sorry«, erwiderte ich kleinlaut.
Noor beugte sich zu mir und flüsterte: »Keine Freunde also?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Herz war plötzlich so voll, dass es die Wörter aus meinem Hirn zu verdrängen schien. »Ich bin echt froh, euch zu sehen, Leute.«
»Und wir dich«, sagte Bronwyn. Sie drückte mich erneut, und dieses Mal tat Hugh es auch.
In dem Moment ertönte ein Schuss am Ende der Gasse. Wir schraken alle vier zusammen, ließen uns los und sahen zwei Männer in Anzügen auf uns zurennen.
So viel dazu, sie abgehängt zu haben.
»Folgt mir«, sagte Noor. »In der U-Bahn können wir sie abschütteln.«
Drei Stufen auf einmal nehmend rannte ich die Treppe zur U-Bahn hinab. Hugh rutschte auf dem Metallgeländer runter. In dem überfüllten Vorraum schoben wir uns durch die Massen der Pendler. Noor rief »Hierher!« über ihre Schulter und sprang über ein Drehkreuz – wir taten es ihr gleich.
Wir erreichten den Bahnsteig und liefen darauf entlang. Ich schaute zurück und entdeckte Leos Männer, weiter entfernt, aber immer noch hinter uns her. Noor blieb stehen, stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab und sprang hinunter auf die Gleise, rief uns zu, ihr zu folgen. Sie rief auch irgendetwas von einer dritten Schiene, aber ihre Stimme wurde verschluckt von einer plötzlichen Ansage.
Uns blieb keine Wahl, als ihr zu folgen.
»Ihr bringt euch um!«, schrie uns jemand zu, und ich war geneigt, zuzustimmen – aber im Augenblick schien das die bessere Alternative zu sein.
Rennend überquerten wir Gleise, stolperten über dunkle Schienen und durch Löcher, als mir plötzlich klar wurde, dass Noor diesen Weg nicht zum ersten Mal nahm, dass sie diese Stadt kannte wie ihre Westentasche und dass jemand, der so schwer zu fangen war, eine Menge Erfahrung im Fliehen haben musste. Ich fragte mich, warum und vor wem sie geflohen war. Dann sah ich den herannahenden Zug und konnte nur hoffen, noch die Chance auf eine Antwort zu bekommen.
Als Hugh und ich das letzte Gleis überquerten, war der Zug bereits bedrohlich nah, der von ihm verursachte Lärm steigerte sich mit jeder Sekunde. Im letzten Moment, bevor er an uns vorbeifuhr und sich das Quietschen der Bremsen anhörte wie eine Kreatur aus der Hölle, zogen Bronwyn und Noor uns hinauf auf den Bahnsteig.
Nur Augenblicke später spie der Zug seine Passagiere aus. Plötzlich schienen Hunderte von Menschen auf dem Bahnsteig zu sein, aber wir schafften es schließlich, uns den Weg in einen Waggon zu erkämpfen. Drinnen hockten wir uns auf den Boden, um nicht gesehen zu werden – der Waggon war fast leer –, und dann schlossen sich die Türen.
»Meine Güte!«, stieß Bronwyn hervor und wirkte plötzlich besorgt. »Ich hoffe, dieser Zug fährt in die richtige Richtung …«
Noor fragte, wohin wir denn wollten, und Bronwyn erklärte es ihr. Noor zog die Brauen hoch. »Das nenne ich Glück«, sagte sie. »Wir sind nur eine Station entfernt.«
Es war erstaunlich: Von uns vieren wusste sie am wenigsten, was gerade vor sich ging, aber ihre Bestimmtheit und Ruhe waren bereits zu einer treibenden Kraft geworden.
Eine Ansage ertönte über den Lautsprecher, und der Zug setzte sich in Bewegung.
»Wie habt ihr mich gefunden?«, wandte ich mich an Bronwyn und Hugh.
»Emma ahnte, was du vorhast, nach all deinem Gerede über sie.« Hugh deutete mit dem Kopf zu Noor und fuhr fort: »Übrigens schön, dich nun auch persönlich kennenzulernen, ich bin Hugh …« Er schüttelte Noor die Hand.
»Von da an war es ziemlich simpel, dich zu finden«, sagte Bronwyn. »Ach, und wir hatten ein bisschen Hilfe von einem Hund. Erinnerst du dich an Addison?«
Ich nickte.
»Sharons Speichellecker aus dem Panloopticon haben dich bis New York verfolgt, und Addisons Nase konnte deine Spur bis zu diesem Markt wittern«, erzählte Hugh. »Aber weiter wollte er nicht gehen.«
Gesegnet sei dieser kleine Hund, dachte ich. Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft er sein Leben für uns riskiert hatte.
»Von dort aus warst du nicht schwer zu finden«, sagte Bronwyn. »Wir folgten dem Geschrei.«
»Hat Miss Peregrine euch geschickt?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte Hugh. »Sie weiß nichts davon.«
»Mittlerweile vermutlich schon«, korrigierte Bronwyn ihn. »Sie ist verdammt gut darin, Dinge zu erfahren.«
»Wir dachten, wenn sich mehr als zwei von uns auf den Weg machen, erregt das zu viel Aufmerksamkeit.«
»Wir haben Streichhölzer gezogen«, fuhr Bronwyn fort, »und Hugh und ich haben gewonnen.« Sie blickte zu Hugh. »Denkst du, Miss Peregrine wird sauer auf uns sein, weil wir abgehauen sind?«
Hugh nickte energisch. »Sie wird vor Wut kochen. Aber auch stolz sein. Vorausgesetzt, dass wir ihn in einem Stück wieder zurück nach Hause bringen.«
»Nach Hause?«, fragte Noor. »Wo ist das?«
»Eine Zeitschleife namens Devil’s Acre Ende des 19. Jahrhunderts in London«, antwortete Hugh. »Das kommt dem, was wir momentan als unser Zuhause bezeichnen, noch am nächsten.«
Noor runzelte die Stirn. »Klingt … herrlich.«
»Es ist ein bisschen einfach, hat aber einen gewissen Charme. Ist jedenfalls besser, als aus dem Koffer zu leben.«
Noor sah ihn zweifelnd an. »Und es ist ein Ort für Menschen wie dich?«
»Für Menschen wie uns«, korrigierte ich.
Sie verzog keine Miene, aber ich sah ein kurzes Flackern in ihren Augen. Möglicherweise hatte ich mit dem uns doch etwas in ihr angesprochen.
»Du bist dort sicher«, sagte Bronwyn. »Keine bewaffneten Männer, die dich verfolgen … keine Hubschrauber …«
Ich wollte dem gerade beipflichten, da fiel mir Hs Warnung bezüglich der Ymbrynen ein, und Miss Peregrines Worte, dass die Sicherheit eines Einzelnen nicht wichtiger sein könne als die Sicherheit von Tausenden. Eine dieser Einzelnen war Noor.
»Was ist mit all den Dingen, die H uns aufgetragen hat?«, wandte sich Noor an mich.
Sie hatte ihre Stimme ein wenig gesenkt, war offenbar unsicher, ob Bronwyn und Hugh Bescheid wussten.
»Welche Dinge?«, fragte Hugh.
»Bevor H starb, informierte er mich über Noor und die Leute, die sie jagen«, antwortete ich. »Er sagte, wir müssten eine Frau namens V finden. Dass es in diesem Zusammenhang sehr wichtige Informationen gebe, die nur sie kenne.«
»V? Ist das nicht die Hollow-Jägerin, die dein Großvater ausgebildet hat?«, fragte Bronwyn.
Bronwyn war in der Zeitschleife der Rutengänger dabei gewesen, als Vs Name zum ersten Mal fiel. Natürlich erinnerte sie sich.
»Genau die«, antwortete ich. »Und H – also, sein Hollowgast – hat uns eine Karte gezeigt und ein paar Instruktionen gegeben, wo wir sie finden können –«
»Sein Hollowgast?«, entfuhr es Bronwyn.
Ich zog die zerfledderte Karte aus meiner Tasche und zeigte sie den beiden. »Er war kein Hollowgast mehr. Er war dabei, sich in etwas anderes zu verwandeln.«
»Du meinst in einen Wight?«, fragte Hugh. »Das ist das Einzige, in das sich Hollows verwandeln können.«
Noor schaute mich verwirrt an. »Du sagtest doch, die Wights seien unsere Feinde?«
»Das sind sie auch«, bestätigte ich. »Aber H und dieser bestimmte Hollow sind Freunde geworden …«
»Das wird immer unwirklicher«, murmelte Noor.
»Ich weiß. Und deshalb bin ich auch der Meinung, dass wir mit den beiden zu Devil’s Acre gehen sollten«, sagte ich. »Wir brauchen Hilfe, und alle Besonderen, die ich kenne und denen ich vertraue, sind dort.«
Ob sie mir jemals wieder vertrauen würden oder bereit wären, mir zu helfen, nach allem, was ich sie durchmachen ließ, war eine andere Geschichte. Aber ich musste es versuchen. Ich brauchte meine Freunde, zum Teufel mit Hs Warnung!
Falls Miss Peregrine wirklich fähig sein sollte, dieses Mädchen, an dessen Rettung wir gerade mitgewirkt hatten, aus irgendwelchen politischen – oder anderen – Gründen zurückzuschicken in die Hände seiner Kidnapper, war sie nicht die Miss Peregrine, die ich zu kennen glaubte. Und falls ich Noor in einer Zeitschleife voller Freunde nicht vor Schaden bewahren konnte, wie sollte ich ihr dann helfen, sich in dem Wirrwarr der Besonderenwelt Amerikas zurechtzufinden?
»Millard ist Kartografie-Experte«, sagte Bronwyn.
»Und Horace ist Weissager«, fügte ich hinzu. »Zumindest in Teilzeit.«
»Ach ja«, sagte Noor, und ihr Blick wanderte zu mir. »Du hast mir das noch gar nicht zu Ende erzählt.«
Die Prophezeiung. Ich wollte es ihr unter vier Augen erklären, nicht in Anwesenheit anderer. Und so wie es aussah, befanden wir uns nicht mehr unmittelbar in Gefahr.
»Das kann warten«, sagte ich.
Hugh und Bronwyn sahen mich neugierig an.
»Wenn du meinst«, sagte Noor, aber in ihrer Stimme schwang zum ersten Mal Ungeduld.
Der Zug verlangsamte sein Tempo. Wir erreichten die nächste Haltestelle.
Wir eilten aus der U-Bahn-Station hinaus ins helle Tageslicht der Straßen. Noor half Bronwyn, sich zu orientieren.
»Es ist nicht weit«, versprach Bronwyn daraufhin und führte uns über vier Fahrspuren durch den Autoverkehr, was erneut mit Hupen quittiert wurde.
Wir überquerten ein Basketballfeld, auf dem gerade ein Spiel ausgetragen wurde, und gingen durch eine trostlose Grünanlage, die von zwei alten Wohnblocks überragt wurde. Mit jedem Block wirkte die Gegend ungemütlicher, heruntergekommener, bis wir schließlich im Schatten eines riesigen Backsteingebäudes stehen blieben, das eingerüstet und von einem mit grünen Planen überzogenen Maschendrahtzaun umgeben war. Bronwyn schob ein Stück Plane beiseite und enthüllte ein Loch im Zaun. Noor und ich wechselten einen kurzen, zögernden Blick.
Bronwyn und Hugh bedeuteten uns, ihnen zu folgen, und verschwanden dann durch das Loch.
Kurz darauf steckte Hugh noch einmal den Kopf hindurch. »Kommt ihr?«
Noor kniff für einen Moment die Augen zu – zweifellos kämpfte sie gegen irgendeine Version von Was zur Hölle tue ich hier eigentlich? in ihrem Kopf an – und kletterte dann hindurch. Obwohl sie mir das vermutlich nicht abgekauft hätte, kämpfte auch ich diesen Kampf ziemlich oft. Eine Stimme in meinem Innern schrie beinahe täglich: Was zur Hölle tust du nur?, seit ich aus einer Ahnung heraus nach Wales gereist war, um die Geister alter Fotos zu jagen. Mittlerweile konnte ich die Stimme ganz gut abschalten, und sie war auch viel leiser geworden. Aber sie war immer noch da.
Auf der anderen Seite des Zauns befand sich eine andere Welt – zumindest wirkte sie noch trostloser und düsterer. Hier durchzugehen war so, als würde man das Leichentuch von einem Körper wegziehen. Das Gebäude war vor langer Zeit errichtet und dann dem Verfall überlassen worden. Ich stand in dem wuchernden Gras und gestattete mir einen langen Atemzug, um das Gebäude zu betrachten – zehn Stockwerke hoch und so weitläufig wie ein ganzer Straßenblock, die Bleiglasfenster alle zerbrochen, mit Moos und abgestorbenen Kletterpflanzen überwucherte Ziegelsteine. Breite Stufen führten zu einem Eingang hinauf, der von kunstvollen schmiedeeisernen Schnörkeln umrahmt war. Darüber, in eine schwere Marmorplatte eingraviert, standen die Wörter: PSYCHIATRISCHE KLINIK.
»Wie passend«, murmelte Noor. »Offenbar verliere ich den Verstand.«
»Tust du nicht.« Mir war klar gewesen, dass es so kommen würde, wenn alles erst einmal anfing, sich zu setzen. »Ich weiß, dass es sich für dich so anfühlt, aber ich versichere dir, dass das nicht der Fall ist.«
Bronwyn und Hugh waren etwa sechs Meter vor uns und winkten hektisch, dass wir uns beeilen sollten.
Noor sah mich nicht an. »Ich wurde unter Drogen gesetzt. Ich habe giftige Pilze gegessen. Ich liege vermutlich im Koma. Das ist alles nur ein Traum.« Sie rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. »Alles ergibt mehr Sinn als –«
»Ich kann dir nicht beweisen, dass du nicht träumst«, unterbrach ich sie. »Aber ich weiß, was du durchmachst.«
Bronwyn kam zu uns zurückgelaufen und formte mit den Lippen die Wörter: Kommt endlich! Hinter uns wurde am Zaun gerüttelt, und jemand fluchte. »Ich weiß genau, dass es hier irgendwo einen Durchgang gibt«, knurrte jemand als Antwort.
Es waren offenbar ein paar von Leos Männern, die uns bis hierhin verfolgt hatten.
Falls Noor über einen Alternativplan nachgedacht haben sollte, so vertrieben die Stimmen der Männer diese Gedanken aus ihrem Kopf.
Wir rannten mit Bronwyn und Hugh durch das hohe Gras, an Schildern vorbei, die in meiner Wahrnehmung verschwammen – auf denen aber so etwas stand wie ABBRUCHGELÄNDE und BETRETEN VERBOTEN –, zu einem Eingang, der mit Brettern zugenagelt und wieder aufgebrochen worden war. Zersplittertes Holz und verbogene Nägel nagten an uns wie Zähne, als wir uns durch die Lücke quetschten, um ein weiteres Mal in eine Art Grab zu kriechen, das wir vielleicht nie mehr verlassen würden.
In dem Gebäude war es so dunkel, und es war so vollgestellt mit Gerümpel, dass wir nicht rennen konnten, ohne uns an irgendwelchen scharfen Gegenständen aufzuspießen oder in ein Loch im Boden zu treten und womöglich zu stürzen. Also bewegten wir uns seitwärts wie Krebse, mit tastenden Schritten und ausgestreckten Armen folgten wir Hugh und Bronwyn. Sie kannten diesen Ort. Im Hof konnten wir Leos Männer hören, sie kamen durch den Zaun, polterten die Treppe herauf. Bronwyn hatte den Eingang, durch den wir hereingekommen waren, blockiert, indem sie einen alten Kühlschrank davorschob – er schien nur für diesen Zweck ganz in der Nähe stehen gelassen worden zu sein –, aber wir wussten, dass das Leos Männer nicht lange aufhalten würde.
Wir stolperten in einen großen Raum, in den durch schmutzige, zum Teil mit Brettern vernagelte Fenster Licht fiel. Endlich konnten wir etwas sehen. Wir wichen rostigen Rollstühlen und gespenstischen Ruinen medizinischer Geräte aus, wateten durch eine giftig aussehende Lache, die sich von Wand zu Wand erstreckte.
Noor summte leise vor sich hin. Ich schaute zu ihr und sie verstummte.
»Nervöse Angewohnheit«, sagte sie.
An einer Stelle war der Boden eingestürzt. Ich sprang über den Spalt und reichte ihr die Hand, um ihr hinüberzuhelfen. »Gibt es einen Grund, nervös zu sein?«, erwiderte ich und setzte ein freudloses Grinsen auf.
Sie nahm meine Hand und sprang. Sie lachte nicht. »Bitte sag mir, dass es hier einen Hinterausgang gibt.«
»Etwas Besseres«, antwortete Hugh über seine Schulter hinweg. »Eine Tür des Panloopticons.«
Bevor Noor etwas erwidern konnte, ertönte ein schauriges Geräusch, das so gar nicht hierherpasste, und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken: ein schiefer, missklingender Akkord. Als wir um einen Stapel durchnässter gelblicher Matratzen bogen, sahen wir, woher das Geräusch kam: ein ausgeweidetes Klavier. Es war umgestürzt und blockierte den einzigen Ausgang, der zu einem mit Türen gesäumten Flur führte. Die Gedärme des Klaviers waren herausgerissen und rund um den Ausgang festgenagelt worden. Die dicken Saiten erhoben sich wie ein Wald aus zu Berge stehenden Metallhaaren. Um aus diesem Zimmer hinauszukommen, mussten wir über das Klavier klettern und uns durch die Saiten quetschen. Jemand hatte das bereits getan – das erklärte vermutlich den schrecklichen Akkord, den wir gehört hatten. Und das wiederum bedeutete, dass jemand diesen Raum soeben verlassen hatte oder sich mit uns hier drin befand.
Schon erhob sich hinter einem umgekippten Brutkasten ganz in der Nähe eine Gestalt.
»Ah. Ihr seid das.«
Sein Gesicht war derart behaart, dass man es nur als Fell bezeichnen konnte, und er schenkte uns ein schiefes Grinsen.
Es war Dogface.
»So schnell zurück?«, wandte er sich an Bronwyn und Hugh.
»Ja, aber wir können nicht bleiben«, sagte Bronwyn.
»Wir müssen sofort hier raus«, fügte Hugh hinzu.
Dogface schlenderte zum Klavier und lehnte sich dagegen. »Der Austritt kostet 200.«
»Du hast gesagt, es sei hin und zurück«, schimpfte Hugh wütend.
»Du musst mich missverstanden haben. Als ich euch meine Preise erklärte, hattet ihr es wohl sehr eilig …«
In der Ferne hörten wir ein Rufen, dann das Kratzen von Metall auf Stein. Sie schoben den Kühlschrank weg.
Dogface deutete mit dem Kopf in Richtung der Geräusche. »Was ist denn das? Habt ihr euch etwa in Schwierigkeiten gebracht?«
»Ja«, knurrte ich verärgert. »Jemand verfolgt uns.«
»O nein!«, antwortete er und schnalzte mit der Zunge. »Das kostet euch aber ein bisschen extra. Wir müssen die Verfolger täuschen, euch decken … und sind das etwa Leos Lakaien? Sie klingen wütend.«
»Na schön. Was auch immer es kostet«, zischte Bronwyn.
Zu gern hätten wir Dogface einfach mit einem Kinnhaken aus dem Weg befördert, aber wir wussten, dass er uns jede Menge Ärger bereiten konnte.
»500«, sagte er.
Noch ein Kratzgeräusch, länger als das vorhergehende. Sie machten Fortschritte.
»Ich habe nur 400«, sagte Hugh und wühlte in seiner Tasche.
»So ein Pech!« Dogface wandte sich zum Gehen.
»Wir bezahlen dich morgen!«, rief Bronwyn.
Dogface drehte wieder um. »Morgen sind es 700.«
Es gab ein lautes, splitterndes Krachen. Sie waren durchgebrochen.
»Okay! Einverstanden«, fluchte Hugh, und eine aufgeregte Biene entwich aus seinem Mund.
»Und verspätet euch damit nur ja nicht. Ich möchte ihnen nur ungern eure kleine Geheimtür zeigen müssen.«
Hugh und Bronwyn gaben ihm alles Geld, das sie dabeihatten. Dogface zählte qualvoll langsam nach und stopfte sich die Scheine dann in die Tasche. Er kletterte auf das Klavier, zog an einem darin verborgenen Hebel und schlüpfte dann geräuschlos durch die Saiten. Wir folgten ihm, und sobald alle drüben waren, schob er den Hebel zurück in die ursprüngliche Position.
Mir wurde klar, dass dieses Klavier als Alarm diente.
Dogface zeigte uns den Weg. Wir eilten ihm nach durch einen Flur – nachdem er uns erst in aller Ruhe erpresst hatte, legte er nun einen Zahn zu –, aber der Flur schien unendlich lang zu sein.
Unterwegs trat eine Schar Besondere aus einer der Türen und schloss sich uns an. Selbst nach Besonderen-Standards sahen sie ungewöhnlich aus, und als Noor sie erblickte, sog sie hörbar die Luft ein. Eine Frau, die entweder keine Beine hatte oder deren Beine unsichtbar waren, schwebte auf einem Kissen aus Luft hinter uns her. Der Saum ihres langen Mantels flatterte im Leeren. »Ach Schätzchen, wir tun dir nichts«, säuselte sie mit sanfter, melodischer Stimme. »Wir sind Freunde.«
»Übertreib mal nicht«, schnaubte ein Mädchen, das mindestens zur Hälfte ein Warzenschwein war. Zwei Fangzähne und ein Schweinerüssel ragten aus seinem Gesicht. »Aber wenn du gut zahlst, sind wir zumindest keine Feinde.«
Dann kam eine weitere beinlose Dame – diese war jedoch offenkundig nicht in der Lage, zu schweben, denn sie bewegte sich voran, indem sie auf ihren Händen in großen Sätzen vorwärtssprang. Und dann landete sie mit der Geschmeidigkeit einer Katze in den wartenden Armen des kräftigen Warzenschwein-Mädchens. Jetzt konnte ich sie ganz sehen: Ihr fehlten nicht nur die Beine, sondern auch Hüfte, Taille und die Hälfte des Rumpfes. Ihr Körper und die schwarze Satinbluse waren in einer sauberen Linie in Höhe des Bauchnabels abgeschnitten.
»Hattie die Halbsie«, stellte sie sich vor und deutete eine Verneigung an. »Wer von euch ist die berühmte Wildkatze?«
»Nenn sie nicht so«, blaffte ein Junge im Teenager-Alter und mit einer riesigen, pulsierenden Beule am Hals sie an. »Das ist diskriminierend.«
»Na schön, dann also die Schutzlose.«
»Das ist sie auch nicht mehr«, mischte sich Dogface ein. »Sie musste schnell lernen.«
Das Warzenschwein-Mädchen stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Nicht schnell genug, so wie sie guckt!«
Noors Kiefer war angespannt, und es wirkte, als würde sie sich durch reine Willenskraft vorantreiben.
»Diese neugierigen Seelen sind die Unberührbaren«, sagte Dogface, drehte sich um und ging für einen Moment rückwärts – wie ein Touristenführer. »Diejenigen, die kein Clan haben wollte.«
»Zu besonders, um jemals als normal durchzugehen«, fügte Hattie hinzu.
»Die abstoßendsten, unsäglichsten, widerlichsten Besonderen überhaupt!«, verkündete der Junge mit der Beule stolz.
»Ich finde euch nicht widerlich«, sagte Bronwyn.
»Nimm das sofort zurück«, knurrte das Warzenschwein-Mädchen.
Dogface wirbelte herum wie ein Tänzer und schlüpfte durch eine offene Tür. »Und das ist unser Allerheiligstes. Nun ja, zumindest die Eingangstür.«
Wir folgten ihm in den Raum, und dann blieben Noor und ich wie angewurzelt stehen. Mitten im Zimmer befand sich ein Operationstisch, und wabenförmig in die rückwärtige Wand eingelassen waren ein Dutzend kleiner Kühlschranktüren. Dieser Raum war nicht nur eine Sackgasse, er war auch die Leichenhalle eines Krankenhauses.
»Alles gut«, sagte Bronwyn in behutsamem, aber eindringlichem Ton zu Noor. »Das bringt uns nicht um.«
»Zur Hölle, nein!« Noor wich kopfschüttelnd zurück. »Auf gar keinen Fall werde ich mich in einem von diesen Dingern verstecken.«
»Nicht verstecken«, entgegnete Hugh. »Reisen.«
»Das gefällt ihr nicht«, trällerte das Warzenschwein-Mädchen. »Sie hat Angst!«
Die Unberührbaren kicherten hinter uns im Türrahmen.
Noor war bereits wieder draußen auf dem Flur, öffnete eine gegenüberliegende Tür, die letzte Möglichkeit, ansonsten blieb nur umkehren.
Bronwyn und Hugh wollten ihr folgen, aber ich hielt sie zurück. »Lasst mich mit ihr reden«, sagte ich.
In eines der Kühlfächer einer Leichenhalle zu klettern war für jeden harter Tobak, Besonderer oder nicht, aber vor allem für jemanden, der noch so neu war in dieser Welt. Ich war selbst nicht besonders scharf darauf.
Ich lief über den Flur und folgte Noor in den anderen Raum. Durch ein vergittertes Fenster fiel Sonnenlicht auf ein Bett, ebenfalls vergittert. In den Zimmerecken stapelten sich persönliche Gegenstände, die vermutlich Menschen gehört hatten, die in diesem Krankenhaus gestorben waren. Koffer. Schuhe.
Noor ging aufgeregt hin und her. »Ich hätte schwören können, dass ich hier drin eine Tür gesehen habe, als wir vorbeiliefen …«
»Es gibt keinen anderen Weg nach draußen«, sagte ich. Dann sah ich es und verstand plötzlich.
»Du meinst das?«
Sie wandte den Blick, und als ihr klar wurde, was es war, dachte ich, sie würde in Tränen ausbrechen. Es war ein Wandgemälde. Ein Trompe-l’œil; eine aufgemalte Tür.
Im nächsten Augenblick hörten wir schiefe Klaviertöne – einmal, zweimal, dreimal. Leos Männer waren durch die Öffnung geklettert.
»Wir haben die Wahl«, sagte ich. »Wir können entweder …«
Noor hörte nicht zu. Sie fokussierte sich auf das vergitterte Fenster, durch das die Sonne hereinschien.
Ich setzte noch einmal an. »Wir können entweder hierbleiben und darauf warten, dass sie uns definitiv finden …«
Sie fuhr mit beiden Händen durch die Luft, aber mehr als dunkle Fingerspuren, die sich sofort wieder mit Licht füllten, bewirkte sie nicht. Ich hatte so etwas schon einmal gesehen: Die Fähigkeiten mancher Besonderer funktionieren wie Muskeln, sie können überstrapaziert und erschöpft sein. Andere Fähigkeiten ziehen sich zurück, wenn die Betreffenden unter Druck stehen.
Noor wandte sich mir zu. »Oder ich vertraue dir.«
»Genau«, sagte ich und versuchte sie mit jeder Faser meines Willens zu überzeugen. »Mir und einem Haufen Sonderlingen.«