Die Zukunft der besonderen Kinder - Ransom Riggs - E-Book
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Die Zukunft der besonderen Kinder E-Book

Ransom Riggs

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Beschreibung

Ein hasserfüllter Feind – eine allerletzte Chance. Denn die Zukunft der Welt entscheidet sich in einem gnadenlosen Wettlauf. Endlich als Taschenbuch! »Die Zukunft der besonderen Kinder« ist der 6. und letzte Teil von Ransom Riggsʼ abenteuerlicher Fantasy-Reihe über Jacob Portman, die besonderen Kinder und die Ymbrynen, die sie beschützen. Das Letzte, was Jacob Portman sieht, bevor die Welt untergeht, ist ein schreckliches, vertrautes Gesicht. Dann erwachen er und Noor Pradesh an jenem Ort, an dem alles begann – im Haus von Jacobs Großvater Abe in Florida. Jacob weiß zwar weder, wie sie dort hingelangt sein können, noch, weshalb sie überhaupt noch leben. Aber eines weiß er mit tödlicher Sicherheit: Caul ist aus der Bibliothek der Seelen zurückgekehrt. Jetzt bleibt den besonderen Kindern nur noch eine letzte Hoffnung: Noor zum Treffpunkt der sieben Prophezeiten zu bringen. Falls sie die Hinweise auf dessen geheime Lage entschlüsseln können … Auch der 6. Teil der Fantasy-Reihe ist mit geheimnisvollen historischen Fotos ausgestattet, die die mystisch-magische Welt der besonderen Kinder zum Leben erwecken. Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick: - Band 1 - Die Insel der besonderen Kinder - Band 2 - Die Stadt der besonderen Kinder - Band 3 - Die Bibliothek der besonderen Kinder - Band 4 - Der Atlas der besonderen Kinder - Band 5 - Das Vermächtnis der besonderen Kinder - Band 6 - Die Zukunft der besonderen KinderBonus - Die Legenden der besonderen Kinder Leitfaden: Miss Peregrines Museum der Wunder. Aus der Welt der besonderen Kinder

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Seitenzahl: 608

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ransom Riggs

Die Zukunft der besonderen Kinder

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Kinkel

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Ein hasserfüllter Feind – eine allerletzte Chance.

Denn die Zukunft der Welt entscheidet sich in einem gnadenlosen Wettlauf.

 

»Die Zukunft der besonderen Kinder« ist der 6. und letzte Teil von Ransom Riggsʼ abenteuerlicher Fantasy-Reihe über Jacob Portman, die besonderen Kinder und die Ymbrynen, die sie beschützen.

 

Das Letzte, was Jacob Portman sieht, bevor die Welt untergeht, ist ein schreckliches, vertrautes Gesicht. Dann erwachen er und Noor Pradesh an jenem Ort, an dem alles begann – im Haus von Jacobs Großvater Abe in Florida.

Jacob weiß zwar weder, wie sie dort hingelangt sein können, noch, weshalb sie überhaupt noch leben. Aber eines weiß er mit tödlicher Sicherheit: Caul ist aus der Bibliothek der Seelen zurückgekehrt. Jetzt bleibt den besonderen Kindern nur noch eine letzte Hoffnung: Noor zum Treffpunkt der sieben Prophezeiten zu bringen. Falls sie die Hinweise auf dessen geheime Lage entschlüsseln können …

 

Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick:

• »Die Insel der besonderen Kinder«

• »Die Stadt der besonderen Kinder«

• »Die Bibliothek der besonderen Kinder«

• »Die Legenden der besonderen Kinder«

• »Der Atlas der besonderen Kinder«

• »Das Vermächtnis der besonderen Kinder«

• »Die Zukunft der besonderen Kinder«

Inhaltsübersicht

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Über die Fotos

Für Jodi Reamer, Monsterjäger

 

 

 

Manchmal erinnert einen ein altes Foto, eine alte Freundin, ein alter Brief daran, dass man nicht mehr der ist, der man einmal war, denn der Mensch, der damals lebte, der dies mochte, jenes wählte, solcherart schrieb, existiert nicht mehr. Ohne es zu merken, hat man eine große Distanz durchmessen, das Fremde ist einem vertraut geworden, und das Vertraute wenn nicht fremd, so doch zumindest unbehaglich oder unbequem.

 

Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren – Ein Wegweiser

Kapitel Eins

 

Lange Zeit ist um mich herum nur Dunkelheit, das Geräusch von entferntem Donner und das schemenhafte Gefühl, ich würde fallen. Darüber hinaus habe ich keine Existenz, keinen Namen. Keine Erinnerung. Ich bin mir bewusst, dass ich all das mal besessen habe, aber nun ist es fort, und ich bin nahezu nichts. Ein einzelnes Photon schwindenden Lichts, das um eine hungrige Leere kreist.

Jetzt dauert es nicht mehr lange.

Ich fürchte, ich habe meine Seele verloren, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie das geschah. Alles, was ich noch weiß, ist das langsame, reißende Krachen des Donners und mittendrin die Silben meines Namens, wie er auch immer lautete, bis zur Unkenntlichkeit gedehnt. Das und die Dunkelheit, sonst nichts, für sehr lange Zeit, bis sich ein weiteres Geräusch zu dem Donner gesellt: Wind. Und schließlich auch Regen. Da ist Wind, und Donner, und Regen, und Fallen.

Doch dann erwacht etwas zum Leben, eine Sinnesempfindung nach der anderen. Ich erhebe mich aus dem Graben, entfliehe der Leere. Mein einzelnes Photon wird zu einem blinkenden Energiebündel.

Ich spüre etwas Raues an meinem Gesicht, höre das Knarzen von Seilen. Etwas flattert im Wind. Vielleicht bin ich auf einem Boot. Gefangen im dunklen Bauch eines sturmgepeitschten Schiffes.

Blinzelnd öffne ich ein Auge. Über mir flatternde, unscharfe Konturen. Eine Reihe schwingender Pendel. Aus dem Takt geratende Uhren, überdreht, ächzend, Zahnräder, die jeden Moment brechen.

Ich blinzele, und die Pendel werden zu Körpern, die an Galgen hängen. Sie schlagen aus und winden sich. Mühsam drehe ich den Kopf. Verschwommene Formen beginnen sich aufzulösen. Grober grüner Stoff drückt gegen mein Gesicht. Die über mir tick-tackenden Körper sind jetzt sturmgebeutelte Pflanzen, die in knarrenden Weidenkörben am Dachsparren baumeln. Dahinter flattert und klappert eine Fliegengittertür.

Ich liege auf einer Veranda. Auf dem rauen grünen Boden einer Veranda.

ich kenne diese Veranda

ich kenne diesen Boden

Ein Stück entfernt endet ein regengepeitschter Rasen vor einer dunklen Wand aus geneigten Palmen.

ich kenne diesen Rasen

ich kenne diese Palmen

Wie lange bin ich schon hier? Wie viele Jahre?

  die Zeit spielt mir schon wieder Streiche

Ich versuche, meinen Körper zu bewegen, kann aber nur den Kopf drehen. Meine Augen huschen zu einem Kartentisch und zwei Klappstühlen. Plötzlich bin ich sicher, dass ich auf dem Tisch eine Lesebrille entdecken würde, wenn ich meinen Körper überreden könnte, sich aufzurichten. Eine halb beendete Partie Monopoly. Ein Becher mit dampfendem, immer noch heißem Kaffee.

Jemand war gerade noch hier. Wörter wurden vor wenigen Augenblicken gesprochen. Sie hängen in der Luft, kehren als Echo zu mir zurück.

»Was für eine Art von Vogel?«

Die Stimme eines Jungen. Meine Stimme.

»Ein großer Falke, der Pfeife rauchte.« Diese Stimme ist harsch, akzentuiert. Die Stimme eines alten Mannes.

»Du musst mich für ziemlich dämlich halten«, erwidert der Junge.

»Das würde ich nie tun.«

Wieder der Junge: »Aber warum wollten dich die Monster verletzen?«

Ein Scharren, als der alte Mann seinen Stuhl zurückschiebt und aufsteht. Er sagt, er wolle etwas holen, das er mir zeigen müsse. Ein paar Bilder.

wie lange ist das her

    eine Minute

   eine Stunde

Ich muss aufstehen, sonst macht er sich Sorgen. Er wird denken, ich spiele ihm einen Streich, und er mag keine Streiche. Einmal habe ich mich aus Spaß im Wald vor ihm versteckt, und als er mich nicht finden konnte, wurde er so wütend, dass er rot anlief und herumbrüllte. Später erzählte er mir, dass er sich vor Angst um mich so aufgeführt hätte, aber wovor er sich fürchtete, das wollte er mir nicht sagen.

Es gießt in Strömen. Dieser Sturm ist ein wütendes, lebendiges Wesen, das einen klaffenden Riss in der Fliegengittertür hinterlassen hat, sie flattert wie eine Flagge im Wind.

irgendetwas stimmt nicht mit mir

Ich stemme mich hoch auf meinen Ellenbogen, mehr schaffe ich nicht. Auf dem Boden entdecke ich eine seltsame, schwarze Markierung. Eine verkohlte Linie um mich herum, die exakt die Umrisse meines Körpers nachzeichnet.

Ich versuche, mich so weit hochzudrücken, dass ich sitze. Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen.

Dann ein lautes Krachen. Gleißendes, weißes Licht.

so hell  so dicht  so laut

Es klang wie eine Explosion, aber es war keine, es sind Blitze, so nah, dass Blitz und Donner fast zeitgleich erfolgen.

Jetzt sitze ich, mein Herz hämmert wie verrückt. Ich halte mir die zitternde Hand vor die Augen.

Die Hand sieht merkwürdig aus. Sie ist zu groß. Die Finger sind zu lang. Schwarze Haare sprießen zwischen den Knöcheln hervor.

wo ist der Junge  bin ich nicht der Junge?  ich mag keine Streiche

Feine rote Striemen rund um das Handgelenk.

Handschellen  an das Geländer der Veranda gekettet  während eines Sturms

Ich kann den Kartentisch sehen. Er ist leer.

Kein Kaffeebecher. Keine Brille.

er kommt nicht zurück

Aber dann, wie ist das möglich, tut er es doch. Dort draußen steht er, am Waldrand. Mein Großvater. Spaziert durch das hohe Gras, den Rücken im Wind gebeugt, sein gelber Regenmantel hebt sich leuchtend von den dunklen Palmen ab. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen, um die Augen vor dem peitschenden Regen zu schützen.

was tut er da draußen  warum kommt er nicht rein

Er verharrt. Starrt hinunter auf etwas in dem viel zu hohen Gras.

Ich hebe die Hand. Rufe seinen Namen.

Er richtet sich auf, und erst dann erkenne ich es: Da stimmt etwas nicht. Seine Gestalt ist zu groß. Er geht zu geschmeidig für einen alten Mann mit arthritischen Hüften.

weil er es nicht ist

Er kommt auf mich zugelaufen, zum Haus.

das war nicht der Sturm

  welche Art Monster?

gekrümmt, sich windend, grausige Wesen mit faulender Haut und schwarzen Augen

Als er die Veranda fast erreicht hat, bin ich auf den Beinen.

»Wer bist du?«, fragt er.

Seine Stimme ist ohne Modulation, angespannt. Er schiebt die Kapuze seines Regenmantels zurück.

Er ist mittleren Alters, das kantige Kinn wird durch einen gestutzten, roten Bart betont, die Augen sind hinter einer Sonnenbrille verborgen.

Die Gegenwart einer anderen Person und dazu auf zwei Füßen zu stehen, fühlt sich befremdlich an. So sehr, dass mir kaum auffällt, wie seltsam es ist, bei diesem Unwetter eine Sonnenbrille zu tragen.

Ich antworte automatisch.

»Yacob«, sage ich, aber als ich es laut höre, klingt es falsch.

»Ich bin der Makler«, sagt er, doch ich weiß, dass er lügt. »Ich bin hergekommen, um wegen des Sturms die Fenster zuzunageln.«

»Dafür ist es ein bisschen spät«, erwidere ich.

Langsam tritt er näher, als würde er sich einem scheuen Tier nähern. Er starrt auf den Brandfleck am Boden, wendet seine eisige Miene wieder mir zu.

»Du bist er«, sagt er und streift mit den Fingern den Spieltisch, während er in schweren, schwarzen Stiefeln auf mich zu stampft. »Jacob Portman.«

Mein Name. Mein richtiger Name. Etwas brodelt hoch aus der Versenkung, aus der Dunkelheit.

ein entsetzlicher Mund, geformt aus wirbelnden Wolken, donnert meinen Namen

ein Mädchen mit rabenschwarzem Haar und wunderschön  neben mir  schreiend

»Ich glaube, du kanntest einen Freund von mir«, sagt der Mann. In seinem Lächeln schwingt Bosheit. »Er benutzte viele Namen, aber du kanntest ihn als Dr. Golan.«

der schreckliche Wolkenmund

eine Frau krümmt sich auf dem Rasen

Mit schonungsloser Wucht schießen die Bilder in meinen Kopf. Ich weiche zurück, bis ich gegen eine Glasschiebetür stoße. Während der Mann auf mich zukommt, holt er etwas aus seiner Tasche. Ein kleines, schwarzes Gerät mit Metallspitzen an einem Ende.

»Dreh dich um«, befiehlt er.

Mir wird plötzlich klar, wie viel auf dem Spiel steht und dass ich mich verteidigen muss. Also tue ich so, als würde ich gehorchen, hebe scheinbar kapitulierend die Hände, und als er nah genug ist, schlage ich ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht.

Er schreit auf, und seine Brille fliegt weg. Seine Augen sind weiß, ausdruckslose Kugeln, in denen Mordlust schimmert. Ein lautes Knistern, als blaue Lichtbögen zwischen den Metallspitzen seines schwarzen Gerätes flackern.

Er stürzt sich auf mich.

Ich spüre einen Schlag, ein schmerzhaftes Stechen, er tasert mich durch mein Shirt hindurch und ich stürze nach hinten gegen die Glastür. Wundersamerweise zerbricht sie nicht.

Er ist über mir. Ich höre das Knistern des Tasers, will den Mann wegstoßen, aber ich bin noch zu schwach. Ein Schmerz rast durch meine Schulter, durch meinen Kopf.

Und dann zuckt er zusammen, schreit auf und erschlafft. Etwas Warmes rinnt meinen Nacken hinunter.

Ich blute. (Blute ich?)

Der Mann greift nach etwas und rutscht von mir herunter. Das Etwas hat einen Bronzegriff und ragt gut 15 Zentimeter aus seinem Hals heraus.

Und hinter ihm ist plötzlich eine seltsame Dunkelheit, ein lebender Schatten, aus dem eine Hand hervorschnellt, sich den schweren Aschenbecher meines Großvaters schnappt und dem Mann damit auf den Schädel schlägt.

Er stöhnt und bricht endgültig zusammen. Ein Mädchen tritt aus dem Schatten heraus.

Das Mädchen – die von dem Vorher – langes, schwarzes Haar, verheddert und nass vom Regen, der lange, schwarze Mantel schlammverschmiert, große, dunkle Augen voller Angst, die forschend mein Gesicht absuchen und dann aufleuchten, als sie mich offenbar wiedererkennen. Und obwohl noch nicht alle Erinnerungsstücke wieder aufgetaucht sind, sich in meinem Kopf alles dreht, so weiß ich doch, dass das, was geschehen ist, einem Wunder gleichkommt: Wir leben und sind hier und nicht an dem anderen Ort.

mein Gott

dieses Grauen, das ich kaum in Worte fassen kann

Das Mädchen kniet jetzt neben mir, umarmt mich. Ich klammere mich an sie wie an einen Rettungsring. Ihr Körper ist so kalt, und ich spüre, wie sie zittert, während wir uns aneinander festhalten.

Ohne loszulassen, sagt sie meinen Namen. Wiederholt ihn wieder und wieder, und mit jeder Wiederholung gewinnt das Jetzt eine Unze mehr Gewicht, wird solider.

»Jacob, Jacob! Kannst du dich an mich erinnern?«

Der Mann auf dem Boden stöhnt. Die Aluminiumstäbe der Fliegengittertür ächzen, und der Sturm, dieses wütende Wetter, das wir anscheinend von einem anderen Ort mit uns hergebracht haben, stöhnt ebenfalls.

Und dann erinnere ich mich.

»Noor«, sage ich. »Noor. Du bist Noor.«

◊ ◊ ◊

Plötzlich ist alles wieder da. Wir hatten überlebt. Waren aus Vs einstürzender Zeitschleife entkommen. Und nun befanden wir uns in Florida, auf dem grünen Kunstrasen der Veranda meines Großvaters, in der Gegenwart.

Schock. Ich glaube, ich stand immer noch unter Schock.

Wir kauerten auf dem Boden, umklammerten einander, bis das Zittern unserer Körper langsam nachließ, während der Sturm unablässig tobte. Der Mann in dem gelben Regenmantel lag da, reglos, abgesehen von dem zunehmend schwindenden Heben und Senken seines Brustkorbs. Blut tränkte den Kunstrasen um ihn herum, bildete eine klebrige Lache. Der Bronzegriff der Waffe, mit der Noor auf ihn eingestochen hatte, ragte aus seinem Hals.

»Das war der Brieföffner meines Großvaters«, sagte ich. »Und das hier war sein Haus.«

»Dein Großvater.« Sie löste sich von mir, gerade weit genug, um mich ansehen zu können. »Der in Florida gelebt hat?«

Ich nickte. Ein Donnerschlag, so laut, dass die Wände vibrierten. Noor schaute sich um, schüttelte ungläubig den Kopf. Das kann nicht real sein. Ich wusste genau, wie sie sich jetzt fühlte.

»Wie?«, fragte sie.

Ich zeigte auf die verbrannten Umrisse im Boden. »Hier bin ich aufgewacht. Keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war. Oder welchen Tag wir haben.«

Noor rieb sich die Augen. »In meinem Kopf herrscht Chaos. Alles ist durcheinander.«

»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«

Sie runzelte die Stirn, konzentrierte sich. »Wir sind in meiner früheren Wohnung gewesen. Und dann fuhren wir irgendwohin …« Sie redete langsam, als würde sie die Einzelteile eines Traums zusammensetzen. »Wir waren in einer Zeitschleife … wir haben Vs Zeitschleife gefunden! Und wir flohen vor einem Sturm. Nein, einem Tornado.«

»Zwei Tornados, oder?«

»Und dann fanden wir sie! Stimmt doch? Wir fanden sie!« Sie umklammerte meine Hände und drückte sie fest. »Und dann …«

Ihre Hände erschlafften, ihre Miene wurde ausdruckslos. Sie öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Das Entsetzen kehrte zurück, brach über sie herein.

Und über mich.

Murnau. Mit einem Messer in der Hand auf dem Rasen über V gebeugt. Seinen Arm triumphierend emporgestreckt, als er schließlich auf den wirbelnden Strudel zulief.

Hitze strömte in meine Brust, blockierte für einen Moment meine Atmung. Noor barg das Gesicht zwischen den Knien und schaukelte vor und zurück. »O mein Gott«, stöhnte sie. »O Gott, o Gott, o Gott.« Ich fürchtete, sie würde sich vor meinen Augen auflösen oder in Flammen aufgehen oder das Licht aus dem Raum saugen.

Aber nach einem kurzen Moment hob sie ruckartig den Kopf. »Warum sind wir nicht tot?«

Unwillkürlich durchfuhr mich ein Schauer.

Vielleicht sind wir das.

Nach allem, was ich wusste, stürzte Vs Zeitschleife über uns zusammen, so wie Caul es gewollt hatte. Noor schien der einzige konkrete Beweis dafür zu sein, dass das, was ich gerade erlebte, mehr war als das letzte Aufblitzen eines sterbenden Gehirns.

Nein – ich verscheuchte diesen Gedanken –, wir waren hier und wir lebten.

»Irgendwie hat sie uns da rausgeschafft«, sagte ich. »Hierhergebracht.«

»Durch eine Art Notausgang. Einen Schleudersitz.« Noor nickte und knetete ihre Hände. »Das ist die einzige Erklärung.«

Ins Haus meines Großvaters – das Zuhause ihres Mentors, ihres Chefs. Er hatte sie ausgebildet, Seite an Seite mit ihr gearbeitet. Das ergab genügend Sinn. Was jedoch keinen Sinn ergab, war, dass hier keine Zeitschleife existierte. Wie also hatte sie es angestellt?

»Falls sie uns rausgebracht hat«, sagte Noor, »dann hat sie selbst es vielleicht auch geschafft.« Hoffnung schwang in ihrer Stimme, aber sie klang irgendwie schrill, drohte jeden Moment zu kippen. »Sie könnte hier sein. Und sie könnte noch …«

Noor brachte das Wort nicht über die Lippen. Leben.

»Er hat ihr das Herz herausgeschnitten«, sagte ich leise.

»Man kann ohne Herz leben. Für einen kurzen Moment, aber …« Noor winkte ab. Ihre Hand zitterte.

Gerade erst hatten wir angefangen, in die Realität zurückzufinden, da entglitt sie ihr schon wieder.

»Na los, komm schon, wir müssen nachsehen«, drängte sie mich mit hektischer Stimme und war bereits auf den Füßen. »Falls überhaupt eine Chance besteht, müssen wir –«

»Moment mal, wir wissen doch gar nicht, was –«

Da drinnen ist, wollte ich sagen. Auf uns wartet.

Aber Noor war bereits in das abgedunkelte Haus gestürmt.

◊ ◊ ◊

Ich presste die Hand gegen die Hauswand und kam wackelig zum Stehen. Noor jagte mir Angst ein, aber ich durfte sie auf keinen Fall aus den Augen lassen. Sie hegte diese wilde Hoffnung, V könnte noch am Leben sein, um dadurch die Verzweiflung abzuwehren, die sie zu zerschmettern drohte. Ich fürchtete jedoch, dass die unweigerliche Enttäuschung noch niederschmetternder sein würde. Und ich konnte nicht zulassen, dass Noor Pradesh zusammenbrach.

Falls Murnaus widerliches Vorhaben geglückt war, wenn das, was vor meinen Augen in dem Tornado Gestalt angenommen hatte, real war – Cauls Gesicht inmitten der Wolkenwirbel, seine durch die Luft schneidende Stimme –, dann war er tatsächlich zurückgekehrt, dann gingen die schlimmsten Drohungen der Prophezeiung in Erfüllung. Was wiederum bedeutete, dass die gesamte Besonderenwelt im Begriff war, unterzugehen. Gott allein wusste, wozu Caul fähig war, nachdem er sich in der Bibliothek der Seelen die Gefäße mit den mächtigsten Seelen einverleibt hatte, beim Einsturz der Zeitschleife begraben wurde und anschließend wieder auferstand.

Wiedergeboren.

Ich bin der Tod, der Zerstörer der Welten.

Wie schlimm das auch immer war oder noch sein würde, eines wusste ich mit Sicherheit: Die Welt brauchte Noor Pradesh. Sie war eine der sieben. Eine der Besonderen, deren Kommen prophezeit war, die das Volk der Besonderen befreien konnte – von Caul? –, die die Tür versiegeln konnte – die Tür zu was? Zur Hölle? Und so bizarr, wie das alles klang, es war nicht bizarrer als die Teile aus der Prophezeiung des Offenbarers, die sich bereits erfüllt hatten. Ich jedenfalls hatte aufgehört, irgendetwas davon anzuzweifeln. Und auch, meinen eigenen Augen nicht zu trauen.

Das hier war kein Traum und auch nicht das letzte Fantasieren eines sterbenden Verstandes. Und dessen noch sicherer war ich, als ich über die Laufrille der Schiebetür hinweg ins Wohnzimmer trat. Das Haus war in exakt dem Zustand, wie meine Freunde und ich es verlassen hatten, als wir vor ein paar Wochen zum letzten Mal hier gewesen waren: hastig aufgeräumt und fast leer. Die Bücher, die mein Vater nicht weggeworfen hatte, standen wieder in den Regalen, der Müll war zusammengekehrt und in schwarze Plastiksäcke gefüllt. Die Luft war abgestanden und drückend.

Noor schoss in jede Ecke und suchte nach V. Sie riss das Laken fort, mit dem das Sofa abgedeckt war, beugte sich über die Rückenlehne, um dahinter zu schauen. Am Fenster fing ich sie ab, wollte sie aufhalten – »Noor, warte« –, als ein lautes Donnern mich unterbrach und uns beide zusammenzucken ließ. Wir schauten durch die regenverschmierte Scheibe nach draußen. Überall lag Schutt. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Sackgasse waren verrammelt und dunkel. Eine tote Gegend.

Und ruhig.

»Dieser Wight hatte vermutlich Freunde«, sagte ich. »Jede Minute könnten weitere hier sein.«

»Lass sie nur kommen.« Ihre Augen waren wie Eisscherben. »Ich gehe nicht, bevor ich alle Zimmer durchsucht habe. Jede Abstellkammer.«

Ich nickte. »Ich auch nicht.«

Im Schlafzimmer war niemand. Unter dem Bett auch nicht. Es fühlte sich albern an, auf die Knie zu gehen und darunter zu schauen, so wie Kinder sich vergewissern, dass dort kein Ungeheuer lauert. Aber ich tat es trotzdem. Im Teppich war ein rechteckiger Abdruck, dort, wo mein Großvater seine alte Zigarrenkiste aufbewahrt hatte, diejenige, die ich nach seinem Tod fand, voller Schnappschüsse, die den Verlauf meines Lebens für immer verändern sollten. Aber keine V, weder tot noch lebendig. Auch nicht im Schrank. Nicht im Bad, wo Noor den Duschvorhang herunterriss, hinter dem sich aber nur ein Stück vertrocknete Seife verbarg.

Im Gästeschlafzimmer befand sich nichts als ein Stapel unbenutzter Umzugskisten und schwarze Schimmelflecken auf dem Teppich. Ich spürte, wie Noors Verzweiflung wuchs. Als wir uns bis zur Garage vorgearbeitet hatten, rief sie laut Vs Namen. Das brachte mich fast um, zerriss mir das Herz. Ich schaltete das Licht ein.

Unsere Blicke wanderten über einen Wust von ausrangiertem Zeug und Reparaturprojekten, die mein Großvater nie beendet hatte: zwei Leitern, bei denen jeweils eine Sprosse fehlte. Ein alter Kastenfernseher mit zerbrochenem Bildschirm. Aufgewickelte Draht- und Seilrollen. Der Arbeitstisch, auf dem sich Werkzeuge und Handwerkerzeitschriften stapelten. Ich sah Großvaters und meinen Geist hier drin, wie wir Schulter an Schulter unter dem Lichtkegel einer Schwanenhalslampe arbeiteten, rotes Garn über eine Landkarte mit Reißzwecken spannten. Und der Junge hatte die ganze Zeit gedacht, es sei nur ein Spiel, eine Geschichte.

Der Sturm rüttelte am Garagentor, holte mich ruckartig zurück in die Gegenwart. Ich sah zu dem Waffenschrank meines Großvaters, der einzige Gegenstand in der Garage, der groß genug war, dass sich ein Mensch darin verbergen konnte. Noor bewegte sich als Erste, erreichte ihn vor mir und riss an den Griffen. Die Türen öffneten sich einen Spalt, und dann spannte sich eine Kette. Irgendjemand, vermutlich mein Dad, hatte ein Vorhängeschloss angebracht. Durch den Spalt konnten wir eine Reihe geölter Gewehrläufe erkennen. Die Waffen, die möglicherweise die Rettung meines Großvaters gewesen wären, hätte ich nicht den Schlüssel mitgenommen.

Noor zog überrascht den Kopf zurück, dann machte sie wortlos kehrt und rannte ins Haus. Ich folgte ihr ins Arbeitszimmer meines Großvaters, dem einzigen Raum, den wir noch nicht durchsucht hatten. Der Raum, in dem Olive auf den Boden gestampft und dabei die hohl klingende Stelle entdeckt, den Teppich zurückgerollt und die Klappe im Boden mit dem darunter verborgenen Bunker gefunden hatte. Ein Bunker, von dem V möglicherweise gewusst hatte – und vielleicht kannte sie sogar den Code zum Öffnen der Klappe.

Ich versuchte, es Noor zu sagen, versuchte, das Brüllen des Sturms und Noors Schreien – Bist du hier? Mama, wo bist du? – zu übertönen. Aber sie konnte mich nicht hören, schob Abes leeren Schreibtisch beiseite und riss die Türen des winzigen Schranks auf. Schließlich gab ich auf und zerrte den schweren Teppich allein zur Seite, versuchte, mich zu erinnern, wo genau in dem Holzboden sich die Klappe befand, war jedoch so hektisch, dass ich sie nicht fand.

V war nicht in diesem Zimmer. Ich kam zu dem Schluss, dass sie gewiss auch nicht in dem Bunker war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie dort Zuflucht gesucht und uns ausgesperrt hatte. Als Noor aus dem Zimmer rannte, richtete ich mich wieder auf und folgte ihr.

Sie stand reglos wie eine Statue mitten im Wohnzimmer, atmete schwer, aber kontrolliert. Sie winkte mich zu sich.

»Was, wenn wir alle zusammen herausgekommen wären?«, fragte sie leise, den Blick auf eine leere Stelle in der Zimmerecke gerichtet. »Und genauso weit voneinander entfernt lagen wie auf Vs Veranda.« Sie hob den Arm. »Da. Dort bin ich aufgewacht.« Sie zeigte in die Ecke mit dem abgewetzten Lehnstuhl meines Großvaters. Auf dem Boden daneben sah ich verkohlte Umrisse, die in etwa Noors Gestalt entsprachen. »Und du bist dort aufgewacht.« Sie zeigte durch die Tür auf die mit Fliegengittern abgeschirmte Veranda, wo meine verkohlten Umrisse unter der sich ausbreitenden Blutlache des Wights verschwanden. »Exakt so weit lagen wir auch auf Vs Veranda voneinander entfernt. Du warst mit Handschellen an das Geländer gekettet, und ich lag dort drüben.«

Mir dämmerte etwas, und mein Herz schlug plötzlich schneller. »Und V lag hinten auf dem Rasen.«

Wir hoben gleichzeitig den Kopf, wandten die Blicke zu der klappernden Verandatür, dem zugewucherten Garten, dem hohen Gras am Waldrand, dort, wo der Mann im gelben Regenmantel stehen geblieben war und auf den Boden gestarrt hatte.

»Genau dort«, flüsterte ich.

Unsere Körper erwachten aus der Starre. Gemeinsam stürzten wir hinaus in den Sturm.

Kapitel Zwei

 

Vs Körper sah aus, als wäre er vom Erdboden verschluckt und wieder ausgespuckt worden. Verdreht wie eine weggeworfene Puppe lag sie im Gras, die Arme grotesk abgespreizt und die Beine unter ihr verknäuelt. Ihr graues Haar war verfilzt und schlammbespritzt, ihre rote Strickjacke und das schwarze Kleid durchnässt von Blut und Regen. Sie hatte einen Stiefel verloren, und die gestopfte Socke an dem unbeschuhten Fuß ließ mich unpassenderweise an die böse Hexe im »Zauberer von Oz« denken, die unter Dorothys Haus plattgedrückt wurde wie ein Pfannkuchen.

Ich konzentrierte meine Gedanken auf den fadenscheinigen Zeh von Vs gestreifter Socke, damit sie nicht weiter hoch wanderten …

wie oft hatte sie diese Socke wohl gestopft

… zu dem dunklen Loch in Vs Brust …

ein Gegenstand

sie ist jetzt nur noch ein Gegenstand

… zu dem offenen Mund, in dem sich Regen sammelte …

zu Hause ist es doch am schönsten

Noor weinte. Ihr Kopf war vorgeneigt, und Haare bedeckten ihr Gesicht, aber ich konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb zitternd hob und senkte. Ich wollte die Arme um sie legen, aber sie entzog sich mir ruckartig.

»Das war ich«, flüsterte sie, »es ist meine Schuld, es ist meine Schuld, es ist meine Schuld.«

»Ist es nicht«, erwiderte ich. Abermals versuchte ich, sie in die Arme zu nehmen, und dieses Mal ließ sie es zu. »Ist es nicht.«

»Doch, doch, ist es«, flüsterte sie. Ich drückte sie fest, ganz fest. Sie zitterte am ganzen Körper. »In dieser Zeitschleife ist sie so viele Jahre sicher gewesen. Und dann habe ich diesen Mann zu ihr geführt. Ihn hineingeführt und an all ihren Schutzvorrichtungen vorbeigebracht.«

»Das wusstest du nicht. Das hättest du unmöglich wissen können.«

»Und jetzt ist sie tot. Wegen mir ist sie tot.«

Wegen uns, dachte ich, aber das hätte ich nie ausgesprochen. Ich musste diese giftige Idee vernichten, bevor sie Wurzeln fasste, oder sie würde Noor zerstören. Das wusste ich aus Erfahrung; mich hatte ein ähnliches Gift infiziert.

»So darfst du nicht denken. Es ist einfach nicht wahr.« Ich versuchte, ruhig zu klingen, vernünftig. Ein schwieriges Unterfangen, wenn Vs Leiche nur wenige Meter entfernt im Gras lag.

»Ich habe sie doch gerade erst gefunden! Gott. Ich habe sie gerade erst wiedergefunden.« Ihre Stimme brach.

»Es war nicht deine Schuld!«

»HÖR AUF, DAS ZU SAGEN!« Ruckartig stieß sie mich weg, hielt mich eine Armlänge auf Abstand. Dann fügte sie etwas sanfter hinzu: »Sonst möchte ich am liebsten sterben.«

Plötzlich meiner Worte beraubt, nickte ich nur. Okay.

Regen fiel uns ins Gesicht, tropfte vom Kinn. Das Haus ächzte.

»Ich brauche eine Minute«, sagte sie.

»Wir sollten sie reintragen.«

»Ich brauche eine Minute«, wiederholte sie.

Ich ließ ihr die Zeit, ging bis zur Baumgrenze, stemmte mich gegen den Sturm, versuchte, nicht daran zu denken, wie dumm es war, während eines Hurrikans draußen herumzustehen. Dachte stattdessen an meinen Großvater, wie er gestorben war und wo – in dem Wald direkt hinter diesem Garten. Die seltsame Spiegelung seiner Leiche und der seines Schützlings. Ich hatte meinen Großvater nur ein einziges Mal weinen sehen, aber ich wusste, dass ihn das hier zum Weinen gebracht hätte. Hitze strömte durch meine Brust, meine Knochen. Ich konnte seinen Geist jetzt beinahe sehen, durch die schwarzen, windgepeitschten Bäume schimmern sehen, hörte ihn beinahe wehklagen, Velya, Velya, nicht du auch noch.

Ich drehte mich um, schaute zu Noor. Sie kniete neben dem Leichnam, strich Schlammreste aus Vs Gesicht, brachte ihre verdrehten Gliedmaßen in eine natürliche Position. Noor, die V gefunden hatte, nur um sie direkt wieder zu verlieren. Die sich zeitlebens die Schuld daran geben würde, da konnte ich ihr noch so gut zureden. Aber wenn es ihre Schuld war, dann genauso auch meine. Wir waren hereingelegt worden, ließen uns austricksen. V hatte ihre adoptierte Tochter sicher vermisst, aber nie, niemals versucht, sie wiederzusehen – um Noors Sicherheit nicht zu gefährden. Ich erinnerte mich noch an ihre Worte, als wir plötzlich vor ihr standen: »Was zum Teufel tust du hier?«, hatte sie Noor angeschrien.

Unser Fehler kostete V das Leben. Und ich fürchtete, dass es einen Dämon auferstehen ließ. Wir hatten viel wiedergutzumachen und wenig Zeit zum Trauern.

Eine Windböe riss mich beinahe um. Vom angrenzenden Grundstück ertönte ein Ächzen, gefolgt von einem scharfen Krachen. Ich riss den Kopf herum und sah, wie ein Teil des Daches vom Nachbarhaus abriss.

Als ich zu Noor zurücksah, kniete sie immer noch mit gesenktem Kopf, als würde sie beten.

Nur eine Minute, sagte ich mir, gib ihr nur noch eine Minute. Möglicherweise ist das ihre einzige Gelegenheit, sich zu verabschieden. Oder zu sagen: Es tut mir leid. Ich wusste nicht, was die Zukunft bereithielt. Ob wir die Chance bekämen, V zu beerdigen. Nur noch eine Minute, vielleicht konnte Noor dann zumindest ein gewisses Maß an Frieden damit schließen, oder sich zumindest davor bewahren, in zerstörerischen Gedanken zu ertrinken. Und anschließend wären wir in der Lage – wozu? Die Ängste und Tragödien der Gegenwart fraßen mich derartig auf, dass ich noch gar nicht darüber hinaus gedacht hatte. Wir mussten Vs Leiche abdecken. Sie ins Haus schaffen. Unsere Freunde und Verbündeten warnen, zu ihnen gelangen – falls Caul nicht bereits da war. Tausende Ängste griffen nach meinem Verstand, aber ich konnte es mir nicht leisten, sie hereinzulassen.

Der Sturm drehte auf. Ich konnte keinen Moment länger warten.

Ich hatte nur wenige Schritte auf Noor zugemacht, da schlug mir etwas in den Magen. Ich taumelte und stürzte auf die Knie. Um Atem ringend suchte ich den Rasen nach dem Gegenstand ab, der mich getroffen hatte, aber da war nichts. Und dann sog ich erschrocken die Luft ein, als sich ein frischer Schmerz in meinen Eingeweiden ausbreitete und meine Beine hinunterraste.

Ich kenne diesen Schmerz.

»Was ist passiert? Bist du verletzt?« Noor beugte sich über mich. Ich hob den Kopf, versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Murmeln über die Lippen. Mein Verstand konzentrierte sich auf das Ding, das mich umgehauen hatte, was überhaupt kein Ding war, wie ich erkannte, sondern ein Gefühl. Und jetzt begann dieser Dynamo in meinem Unterleib, der länger ruhig gewesen war, sich wieder zu drehen, zwang mich, den Kopf zu wenden und zum Wald zu schauen.

»Was ist?«, fragte Noor.

Es durchfuhr mich wie ein Blitz: verfaulendes Fleisch, schwarze Augen, gebaut wie eine monströse Spinne, kam es durch das Farndickicht auf uns zugestürzt.

»Der Mann in Gelb«, krächzte ich mich pochendem Herzen, während meine Augen den Waldrand absuchten.

»Was ist mit ihm?«

Es hatte gespürt, dass er ging. Gespürt, dass sein Herr starb.

»Er war nicht allein.«

◊ ◊ ◊

Meine Gedanken wanderten zu dem Waffenschrank in der Garage, aber der war verriegelt, fest verschlossen, für uns genauso nutzlos wie für meinen Großvater in der Nacht seines Todes. Abgesehen von Flucht, was zwecklos war, oder Kampf, was ohne Waffen idiotisch war, blieb jetzt nur noch eine Möglichkeit.

»Mein Großvater hatte einen Bunker«, sagte ich, war bereits auf den Füßen und zog Noor hinter mir her in Richtung Veranda. »In seinem Arbeitszimmer, unter den Dielen.«

Auf halbem Weg zum Haus stemmte sie die Füße gegen den Boden und zwang mich, stehen zu bleiben.

»Nicht ohne sie.«

Sie meinte V.

»Im Wald ist ein Hollowgast!« Mir wurde klar, dass ich das Wort bisher nicht ausgesprochen, die Bedrohung nicht beim Namen genannt hatte. Ich wollte Noor weiterziehen, aber sie ließ sich nicht von der Stelle bewegen.

»Ich habe gesehen, was sie mit Leuten wie uns tun, vor allem mit den Toten. Sie haben schon ihr Herz genommen. Ich lasse nicht zu, dass sie sich auch noch ihre Augen holen.«

Noor zitterte nicht, sprach ruhig und entschlossen. Sie würde sich nicht davon abbringen lassen.

Sie schnappte sich Vs Arme, und ich nahm die Beine. V war keine große Frau gewesen, aber ihr durchnässter Leichnam war wie mit Steinen beschwert. Wir kämpften uns bis zur Veranda vor und hievten sie an dem reglosen Wight vorbei ins Haus, hinterließen eine Tropfspur aus Schlamm. Neben dem zurückgerollten Teppich im Arbeitszimmer legten wir sie ab. Meine innere Kompassnadel schwang hin und her, versuchte angestrengt, den Hollow zu orten, den ich bisher nicht mit meinen Augen gesehen hatte. Sicher wusste ich nur, dass er näher kam und dass er wütend war. Ich spürte seine Wut wie Stiche mit einem glühenden Messer.

Ich fiel auf die Knie, klopfte auf die Dielenbretter, bis es unter meinen Fäusten hohl klang, und bat Noor, mir irgendetwas zu geben, womit ich die Klappe hochziehen konnte. Mit den Handflächen fuhr ich über die Bretter und fand die versteckte Öffnung in dem Moment, als Noor mit dem blutverschmierten Brieföffner mit dem Bronzegriff zurückkam, der nur Augenblicke zuvor im Hals des toten Wights gesteckt hatte. Ich konnte Miss Peregrines Stimme förmlich hören, die sagte: Was für ein unendlich nützliches kleines Dingsbums, als ich es in den schmalen Spalt schob und eine knapp einen Quadratmeter große Holzklappe hochzog. Darunter lag die schwere Stahlluke.

Noor zuckte mit keiner Wimper. V hatte eine eigene geheime Zeitschleife gehabt; verglichen damit musste ein unterirdischer Bunker wie das Natürlichste auf der Welt anmuten.

Die Luke war mit einer alphanumerischen Tastatur gesichert. Ich wollte den Code eingeben, aber plötzlich herrschte in meinem Kopf nur noch Leere.

»Du tippst nicht«, stellte Noor überflüssigerweise fest.

Ich starrte auf die Tastatur. »Es ist kein Geburtstag. Es ist ein Wort …«

Noor fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Schläfe, als würde sie sich kratzen.

Ich schloss die Augen, tippte mir an die Stirn. »Es ist ein Wort. Ein Wort, das ich kenne.«

Die Kompassnadel schwankte hin und her, blieb plötzlich stehen. Ich spürte, wie der Hollow durch den Wald stürmte, ihn fast hinter sich gebracht hatte. Ich starrte auf die Tastatur, bis sie vor meinen Augen verschwamm. Das Wort war auf Polnisch. Ein Kosewort.

»Bitte, um Himmels willen, beeil dich!«, stieß Noor mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich bin gleich wieder da.«

Sie ging und kam nur einen Moment später mit der dunkelbraunen Steppdecke vom Bett meines Großvaters zurück, die sie über Vs Leiche ausbreitete.

Tiger! Kleiner Tiger. So hatte er mich genannt. Aber wie lautet das auf Polnisch?

Noor drehte V herum, wickelte sie in die Decke. Eine Mumie in einem Leichentuch aus Mikrofaser. Und dann fiel es mir ein, drückten meine Finger die Tasten.

T-y-g-r-y-s-k-u

Das Schloss sprang auf. Ich konnte wieder atmen und zog die Bunkerluke hoch.

»Gott sei Dank.« Noor seufzte.

Eine Leiter führte hinab in die Dunkelheit. Wir schoben Vs eingewickelten Leichnam an den Rand. Ich stieg drei Sprossen hinab, einen Arm um ihre Waden geschlungen, aber sie war viel zu schwer, als dass ich sie allein tragen konnte. Uns blieb aber nicht genug Zeit, um sie gemeinsam vorsichtig in den Tunnel hinabzutragen, Sprosse für Sprosse.

Von der Veranda ertönte ein metallisches Ächzen, möglicherweise der Wind, der an den Fliegengittern riss – oder ein Hollow.

»Wir müssen sie runterfallen lassen«, sagte ich. »Tut mir leid.«

Noor antwortete nicht, nickte nur. Sie holte tief Luft. Wortlos entschuldigte ich mich bei V für das, was jetzt kam, dann ließ ich sie aus meinen Armen in die Tiefe fallen. Als sie aufschlug, hörten wir das dumpfe Brechen von Knochen. Noor zuckte zusammen, und ich unterdrückte ein Schaudern, dann kletterten wir hinab.

Noor schloss hinter uns die Luke. Sie fiel mit einem hallenden Klang zu und verriegelte sich automatisch. Wir waren umhüllt von Dunkelheit. Über uns war ein Krachen zu hören und dann ein Heulen, das definitiv nicht vom Wind stammte. Ich stieg das restliche Stück die Leiter hinab, stolperte über Vs Leiche und fuhr mit den Händen über die raue Betonwand des Tunnels, bis ich den Lichtschalter fand.

Grün fluoreszierend flackerte eine Leuchtstoffröhre auf. Zum Glück hatten wir trotz des Sturms noch Strom. Wie ich meinen Großvater kannte, verfügte der Bunker über einen Notstromgenerator.

Ein Krachen aus dem Hausinneren hallte von den Tunnelwänden zurück.

»Und dieser Ort ist hollow-sicher?«, fragte Noor und spähte hoch zu der Klappe.

»Sollte er eigentlich.«

»Wurde das je getestet?«

Der Hollow hämmerte auf die Stahlklappe, es klang wie eine dumpfe Glocke.

»Bestimmt.«

Eine glatte Lüge. Wenn die Wights je herausgefunden hätten – also, nicht erst vor einem Jahr –, wo Grandpa Portman lebte, hätte er mit seiner Familie für immer untertauchen müssen. Was bedeutete, dass die Zuverlässigkeit dieses vierzig Jahre alten Bunkers zum ersten Mal auf die Probe gestellt wurde. In genau diesem Moment.

»Aber lass uns von der Klappe weggehen«, sagte ich. »Nur für den Fall.«

◊ ◊ ◊

Die Kommandozentrale im Herzen des Bunkers war so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sechs Meter von einem Ende zum anderen. Stockbetten an einer Wand, ein Schrank mit nützlichem Gerät und Proviant für ein paar Wochen an der anderen. Eine chemische Toilette. Ein wuchtiger alter Schnelltelegraf auf einem großen Holztisch. Das auffälligste Gebilde in diesem Raum war das von der Decke herabführende Periskop, identisch mit dem in Vs Haus.

Selbst durch die Stahlluke und den langen Betontunnel bis zu diesem unterirdischen Raum waren die Geräusche der Zerstörung oben deutlich zu hören. Der Hollow tobte vor Wut. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was er mit dem Haus anstellte – oder mit uns, wenn er dazu Gelegenheit bekäme. Momentan hatte ich kein großes Vertrauen in meine Künste des Hollow-Zähmens. Unsere größte Überlebenschance bestand darin, uns von ihm fernzuhalten. Irgendwie war ich in diesem Punkt auch seltsam abergläubisch, an just dem Ort gegen einen Hollow den Kampf aufzunehmen, an dem mein Großvater von einem getötet wurde. Als würde ich dadurch das Schicksal herausfordern.

»Ich sehe nur hohes Gras.« Noor presste ihr Gesicht an den Zylinder und drehte das Sehrohr langsam im Kreis. »Das Überlebenssystem deines Großvaters funktioniert nicht, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, den Rasen zu mähen.« Sie löste ihr Gesicht vom Periskop und sah zu mir. »Hier unten können wir nicht bleiben.«

»Nach oben können wir aber auch nicht«, erwiderte ich. »Dieser Hollow würde unser Innerstes nach außen kehren.«

»Nicht, wenn wir etwas finden, womit es uns gelingt, ihn zu töten.« Sie ging zu dem Vorratsschrank und öffnete die Tür. Ordentlich gestapelte Überlebensutensilien: Lebensmittel, Verbandszeug, Medikamente. Nichts Tödliches.

»Hier unten gibt es keine Waffen. Ich habe schon überall gesucht.«

Dennoch leerte sie den Schrank, schob Konservendosen aus dem Regal, die scheppernd auf dem Boden landeten. »In der Garage gab es genug Waffen für eine Tagung der National Rifle Association. Wie kann es sein, dass sich im Schutzbunker deines Großvaters keine einzige findet?«

»Keine Ahnung, aber hier sind keine.«

Ich half ihr, obwohl ich wusste, dass es zwecklos war. Ich schob ein paar Ordner mit Einsatzberichten, Handbücher mit Vorgehensregeln und andere Bücher beiseite, um dahinter nachzusehen.

»Verdammt.« Nachdem sie jeden Winkel des Schranks durchsucht hatte, drehte sie ihm den Rücken zu und schmetterte eine Dose Bohnen auf den Boden. »Hier unten können wir trotzdem nicht bleiben.« Seit wir aus dem Garten ins Haus zurückgekehrt waren, verhielt sich Noor erstaunlich gefasst, aber nun schlich sich erneut dieser panische Unterton in ihre Stimme.

»Gib mir einen Moment«, bat ich sie. »Ich muss nachdenken.«

Ich ließ mich auf den Drehstuhl fallen. Es gab noch den anderen Ausgang: durch den zweiten Tunnel, hoch in das leer stehende Haus auf der anderen Straßenseite der Sackgasse, wo der weiße Chevrolet Caprice meines Großvaters in der Garage wartete. Andererseits würde der Hollow vielleicht sofort nach draußen rennen, wenn er den Motor des Caprice hörte, und uns ermorden, bevor wir es auch nur aus der Einfahrt geschafft hatten. Darüber hinaus fühlte ich mich noch nicht bereit, loszustürmen und gleichzeitig den für eine solche Flucht erforderlichen kühlen Kopf zu bewahren.

Es hörte sich jetzt an, als würde über uns jemand mit einem Presslufthammer arbeiten.

»Vielleicht fängt er irgendwann an, sich zu langweilen, und verschwindet«, sagte ich angestrengt scherzhaft.

»Der geht nirgendwohin, außer um Verstärkung zu holen.« Noor marschierte im Zimmer auf und ab. »Vermutlich ruft er gerade in diesem Moment Unterstützung herbei.«

»Ich glaube nicht, dass Hollows Handys benutzen. Oder Verstärkung brauchen.«

»Was will er hier? Warum sind ein Wight und ein Hollow im Haus deines Großvaters?«

»Sie haben uns erwartet«, sagte ich. »Oder jemanden.«

Noor lehnte sich gegen ein Stockbett, stirnrunzelnd und frustriert. »Ich dachte, Murnau sei der letzte Wight auf freiem Fuß. Und fast alle Hollows wären tot.«

»Die Ymbrynen meinten, dass sich immer noch ein paar irgendwo verstecken. Vielleicht sind es mehr, als sie dachten.«

»Tja, sie sind nicht länger in ihrem Versteck. Zumindest die beiden da oben nicht. Was bedeutet, dass sie jemand beauftragt hat. Was wiederum bedeutet –«

»Das wissen wir nicht«, fiel ich ihr ins Wort, mochte diesem Gedankengang nicht folgen. »Wir wissen gar nichts.«

Sie sah mich durchdringend an. »Caul ist zurück, nicht wahr? Murnau war erfolgreich. Hat ihn zurückgeholt von … wo auch immer.«

Ich schüttelte den Kopf, konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Keine Ahnung. Vielleicht.«

Sie rutschte mit dem Rücken am Bettpfosten hinunter, bis sie auf dem Boden saß, schlang die Arme um ihre Beine und zog die Knie fest an die Brust. »Ich habe ihn gefühlt«, sagte sie. »Kurz bevor ich ohnmächtig wurde. Es war wie … als würde sich eine Decke aus Eis über mich legen.«

Und ich habe ihn gesehen. Sah sein Gesicht im Zentrum des Sturms. Trotzdem erwiderte ich: »Wir wissen es nicht.« Ich konnte nicht sicher sein, weil ich dann hätte zugeben müssen, dass etwas so Furchtbares existierte, man sich dieser Wahrheit nicht mehr entziehen konnte.

Sie neigte den Kopf zur Seite, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, dann sprang sie auf und suchte in ihrer Hosentasche. »Das hier fand ich in Vs Hand, als ich sie in die Decke wickelte. Sie muss es festgehalten haben, während sie starb.«

Ich stand auf, und Noor öffnete die Finger. Auf ihrer Handfläche lag etwas, das aussah wie eine kaputte Stoppuhr. Es gab weder Zeiger noch Zahlen. Rund um das Ziffernblatt standen seltsame Symbole und Zeichen, die an Runen erinnerten. Das Glas war gesprungen und teilweise mit Ruß überzogen, als wäre die Uhr ins Feuer gefallen. Ich nahm sie und war überrascht von ihrem Gewicht. Auf der Rückseite stand auf Englisch eingraviert:

Zur einmaligen Anwendung, 5 Min Countdown.

Hergestellt in Ostdeutschland.

 

»Eine Auswurftaste«, murmelte ich ehrfürchtig.

»Sie muss sie in ihrer Tasche gehabt haben, als wir auftauchten«, sagte Noor. »Vielleicht wusste sie, dass etwas passieren wird.«

Ich nickte. »Oder sie trug dieses Ding immer bei sich. Damit sie jederzeit sofort fliehen konnte.«

Immer auf der Flucht, dachte ich traurig.

»Aber es hat nicht schnell genug funktioniert. Hier steht etwas von einem fünfminütigen Countdown. Selbst wenn sie den Knopf in der Sekunde gedrückt hätte, als Murnau hereinkam …«

Noor sah an mir vorbei auf die Wand, ins Leere.

»Schnell genug, um uns zu retten«, sagte ich. »Aber zu langsam, um auch sie zu retten.« Ich reichte Noor die Stoppuhr zurück. »Es tut mir leid.«

Sie holte zitternd Luft, fasste sich und schüttelte dann den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie war eine Planerin. Immer vorbereitet. Und sie hatte jahrelang Zeit, sich auf einen Überfall vorzubereiten. Sie hatte diese Schleudersitzuhr. Ein Haus voller Waffen. Ja, sie wurde überrascht – dank mir –, aber ich wette, dass sie auch für diesen Fall einen Plan hatte.«

»Noor, Murnau schoss ihr in die Brust! Wie willst du dafür planen?«

»Und ich sage dir, sie ließ es passieren. Wenn sie zum Beispiel aus einem der Fenster gesprungen wäre, hätte er einen von uns getötet und den anderen als Geisel benutzt. Also ließ sie sich stattdessen erschießen.«

»Aber ihr Herz stand auf Benthams Wiederbelebungs-Einkaufsliste. Sie muss das gewusst haben. Vermutlich hat sie sich genau deshalb in dieser Zeitschleife versteckt – damit die Wights nicht an ihr Herz herankamen. Zuzulassen, dass Murnau sie tötet, um uns zu retten, würde alle in Gefahr bringen.«

»Es war unsere Aufgabe, ihn aufzuhalten.« Mit dem Daumen rieb sie einen Schmutzfleck von der Stoppuhr. »Aber wir haben versagt.«

Ich wollte widersprechen, aber sie ließ es nicht zu. »Das ist zwecklos. Jetzt können wir die anderen nur noch warnen. Wir müssen zurück zu Devil’s Acre und ihnen erzählen, was passiert ist. Und zwar schnell.«

Endlich. Etwas, worauf wir uns einigen konnten.

»Ich denke, ich weiß wie«, sagte ich. »Im Garten meines Elternhauses gibt es eine Miniatur-Zeitschleife. Sie führt direkt ins Panloopticon auf dem Acre. Wir müssen auf die andere Seite der Stadt.«

»Dann aber los.«

»Falls sie überhaupt noch funktioniert«, fügte ich hinzu.

»Das werden wir schon merken.«

Aus Richtung des Periskops gab es ein lautes, metallisches Krachen. Es drehte sich um die eigene Achse, schoss nach oben und knallte gegen die Decke. Glas verteilte sich überall auf dem Boden, und wir duckten uns schnell.

»So viel zu unserem Überwachungssystem«, sagte Noor.

»Er ist sauer. Und er geht nirgendwohin.«

»Wir müssen es riskieren.«

»Mein Leben können wir riskieren«, sagte ich. »Aber falls Caul wirklich zurück ist, dürfen wir kein Risiko mit deinem eingehen.«

»Ach, jetzt komm schon –«

»Nein, lass mich ausreden. Falls an dieser Prophezeiung etwas dran ist – und davon müssen wir mittlerweile ausgehen –, dann bist du unsere größte Hoffnung. Vielleicht die einzige.«

»Du meinst diese Sache mit den sieben.« Sie runzelte die Stirn. »Ich und sechs andere. Wer weiß, ob die überhaupt noch –«

»Du bist jetzt in Sicherheit, und ich muss dafür sorgen, dass es so bleibt. V hat sich nicht geopfert, damit du im Magen eines Hollowgasts endest. Keine Ahnung, wie lange wir bewusstlos waren. Mindestens ein paar Stunden – vielleicht länger. Also bitte, warte noch ein paar Minuten mehr und lass uns schauen, ob dieses Arschloch es leid wird, an Rasen herumzukauen. Und dann legen wir los.«

Sie verschränkte die Arme. »Na schön. Aber während wir warten, muss es doch einen Weg geben, die anderen zu warnen. Gibt es hier ein Telefon? Ein Funkgerät?« Sie ließ ihren Blick suchend durch den Raum wandern. »Was ist das hinter dir für ein Gerät?«

Sie meinte den Schnelltelegrafen. »Völlig veraltet. Der gehört ins Museum.«

»Kann man damit Nachrichten übermitteln?«

»Ich glaube nicht, dass er noch funktioniert. Diese Dinger wurden für die Kommunikation mit anderen Zeitschleifen benutzt, aber sie waren nicht sicher genug.«

»Es ist einen Versuch wert.« Noor setzte sich auf den Drehstuhl und rollte zu der Tastatur, die aussah, als wäre es von einem alten Faxgerät abgetrennt worden. »Wie schalte ich das ein?«

»Keine Ahnung.«

Sie pustete den Staub von der Tastatur, drückte dann wahllos auf eine Taste. Der Monitor blieb dunkel. Sie langte hinter das Gerät, tastete blind herum und legte einen Schalter um. Der Monitor gab ein statisches Knistern von sich, und kurz darauf erwachte ein bernsteinfarbener Cursor blinkend zum Leben.

»Ich werd nich’ mehr!«, entfuhr es mir. »Er funktioniert.«

Ein Wort tauchte auf. Ein einzelnes Wort mit einer kurzen Linie dahinter auf dem ansonsten dunklen Bildschirm.

Eingabe:

Noor stieß einen leisen Pfiff aus. »Dieses Teil ist alt.«

»Hab ich dir doch gesagt.«

»Wo ist die Maus?«

»Ich glaube, die war damals noch nicht erfunden. Das Gerät will, dass du etwas eintippst.«

Noor tippte Warnung.

Das Gerät piepte unglücklich.

Eingabe nicht erkannt.

Noor runzelte die Stirn, tippte Senden.

Eingabe nicht erkannt.

»Versuch mal ›Verzeichnis‹«, schlug ich vor.

Tat sie. »Nichts.« Dann probierte sie Nachricht, Stammverzeichnis, Hilfe und Zeitschleife. Auch davon funktionierte nichts.

Noor lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Dein Großvater hat nicht zufällig die Bedienungsanleitung aufbewahrt?«

Ich ging zum Vorratsschrank und stöberte durch die Bücher. Die meisten waren spiralgebunden, Softcover, wirkten selbst gemacht. Daneben ein paar alte Einsatzberichte, die meinem Großvater gehörten, die ich eines Tages alle lesen wollte, das hatte ich mir fest vorgenommen. Zwischen einer verschlissenen Broschüre mit dem Titel »Wie man einen Hollowgast-Schutzraum baut« und Spionageromanen, die mein Großvater so gern las, steckte ein laminierter Band mit einem kleinen Vogelemblem auf dem Cover und vier roten Buchstaben: FPEO.

Dieselben Buchstaben hatte ich in einigen Ausgaben der »Legenden« gesehen. For Peculiars Eyes only: Nur für die Augen von Besonderen bestimmt. Ich schlug das Buch auf. Auf der Haupttitelseite stand:

Syndrisoft pneumatischer Fernschreiber OS1.5 Bedienungsanleitung

»Noor! Ich hab’s!«, rief ich so laut, dass ich sie erschreckte, obwohl ich schon im nächsten Moment gar nicht mehr wusste, weswegen ich eigentlich so begeistert war. Dieses Gerät war mit ziemlicher Sicherheit abgekoppelt von jedwedem Netzwerk, zu dem es einst gehört hatte.

Wir schoben die schwere Tastatur beiseite, um auf dem Tisch Platz zu schaffen für die Bedienungsanleitung. Über unseren Köpfen ertönte Brüllen und ein weiteres Krachen, das Geräusch wurde von den sechs Metern Erde und dem Stahlbeton nur schwach gedämpft. Ich fragte mich, was von dem Haus wohl noch stehen würde, nachdem der Hollow damit fertig war.

Wir versuchten, die apokalyptischen Geräusche zu ignorieren, und blätterten durch die Bedienungsanleitung. Im Inhaltsverzeichnis wurde ein Kapitel mit dem Titel »Kommunikation und Verbindungen« aufgeführt. Ich blätterte dort hin, las laut vor, während Noor tippte.

»Versuch Folgendes«, sagte ich. »›Sendeverbindung aufbauen‹.«

Tat sie. Der Cursor tippte eine Antwort: Sendeverbindung nicht möglich.

Ich las weitere Steuerbefehle vor. Sie probierte Status Sendeverbindung. Der Cursor blinkte ein paar Sekunden lang sehr schnell. Kehrte dann zurück mit Verbindung unterbrochen.

»Verdammt«, fluchte sie.

»Es war sowieso nur ein Schuss ins Blaue.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dieses Teil wurde vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt.«

Noor schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf. »Wir können nicht noch sehr viel länger hier unten warten. Freiwillig verzieht sich der Hollow bestimmt nicht.«

Allmählich glaubte ich, dass sie recht hatte. Diese Bestie würde nie verschwinden; und früher oder später kam derjenige, der den Mann im gelben Regenmantel geschickt hatte, ihn suchen. Jede Minute, die wir hier unten hockten, stahlen wir unseren Verbündeten auf dem Acre, die stattdessen Fluchtpläne schmieden oder ihre Verteidigung gegen jedweden Angriff hätten planen können, den Caul zweifellos vorbereitete. Wenn ich Noor schützte, dafür aber meine Freunde bei einem Überraschungsangriff abschlachten ließ – war dann irgendetwas gewonnen?

Vielleicht. Vielleicht in der gefühllosesten aller Berechnungen, denn Caul war nicht nur eine Bedrohung für die Besonderen, die mir am Herzen lagen, sondern für alle Besonderen. Ja, für die ganze Welt.

Andererseits waren meine Freunde meine Welt.

Ich wollte gerade sagen: Scheiß drauf, lass uns gehen, als ich Noor murmeln hörte: »Heiliges Kanonenrohr.«

Sie war an den Tisch zurückgekehrt und starrte auf den vorsintflutlichen Monitor. Der Cursor hatte aus eigenem Antrieb etwas geschrieben. Zwei Zeilen bernsteinfarbenen Textes.

Bedrohung erkannt.

Aktiviere Hausverteidigung: J/N____

Noor wartete nicht, fragte mich nicht nach meiner Meinung. Ihr Zeigefinger drückte auf die J-Taste.

Der Bildschirm wurde dunkel. Für einen Moment glaubte ich, er wäre ausgegangen – hätte uns nur zum Narren gehalten –, aber dann tauchte der Cursor wieder auf und zeichnete ein Bild.

Es war der Grundriss dieses Hauses, grob skizziert mit Tastaturzeichen. Der Grundriss war in zwölf Zonen unterteilt, gekennzeichnet als F1 – F12, acht Zonen für das Haus und vier für den Garten. Auf der Tastatur gab es zwölf Funktionstasten. Der Cursor blinkte, wartete am unteren Bildschirmrand.

»Was, denkst du, wird dadurch aktiviert?«, fragte Noor. »Schüsse mit Feuerbällen? Öffnen sich Falltüren?«

»In einer spießigen Rentnersiedlung?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Lass es uns herausfinden.« Ihr Finger schwebte über den Funktionstasten. »Ist er wohl immer noch über uns?«

Ich spürte die Nähe des Hollows, konnte aber nicht fühlen, wo genau er sich aufhielt. Ich ging zum Periskop – dem, was davon übrig war – und zog es wieder herunter. Durch die gesprungene Linse sah ich ein verzerrtes Bild des Gartens. Der Hollow hatte genügend Gras plattgetrampelt, dass ich einen Blick auf das Haus und die dahinterliegende Straße erhaschen konnte. Von ihm selbst jedoch keine Spur. Ich fuhr einmal im Kreis herum. Mein Sichtfenster wanderte über den Garten, an einem umgestürzten Baum und einer herunterhängenden Stromleitung vorbei, die auf dem Bürgersteig Funken sprühte, bis zum dachlosen Nachbarhaus. Und dann spürte ich meine innere Kompassnadel flackern und hörte die Bestie heulen, scharf und laut, als das Periskop brutal nach oben gerissen wurde und mich zu Boden schlug, bevor es wieder gegen die Decke knallte. Noor sprang vom Stuhl hoch und kam zu mir geeilt. »O mein Gott, ist dir was passiert?«

»Er ist direkt über uns!«, brüllte ich.

Sie half mir auf, und wir taumelten gemeinsam zum Computer.

»Welcher Teil des Gartens ist das?«, fragte sie und starrte auf den Monitor.

Ich tippte auf den Bildschirm. »Ich denke … es ist diese Seite.«

Noor verharrte mit dem Finger über der entsprechenden Taste. F10. »Was dagegen, wenn ich das mache?«

»Ja! Ich meine, nein! Drück einfach!«

Sie betätigte die Taste.

Im ersten Moment passierte nichts. Doch dann begannen die Wände um uns herum zu wackeln, und es gab ein Geräusch wie das Knarren einer riesigen, alten Heizung, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall, der den Raum erzittern ließ. Eines der Stockbetten kippte um, und alles, was wir nicht aus dem Vorratsschrank genommen hatten, flog auf den Boden.

Meine innere Kompassnadel rotierte. Ich konnte nicht sagen, wie schwer der Hollowgast verletzt war, aber in jedem Fall hatte ihn das, was auch immer gerade da oben passiert war, weit weggeschleudert. Was bedeutete –

»Wir haben’s geschafft!«, rief ich.

Vorsichtig nahm Noor die Hände vom Kopf, die sie schützend darübergelegt hatte. »Ist er tot?«

»Vermutlich nur verletzt. Aber wir sollten nicht hierbleiben, nur um das herauszufinden.«

Ich rannte zu der Wand mit den zwei Metallregalen. In dem dunklen Spalt dazwischen verbarg sich ein Türknauf. Als ich ihn drehte, klappte eine Tür samt einem der Regale auf. »Ein anderer Ausgang«, erklärte ich Noor. »Er führt zu einem anderen Haus und einem Wagen, den wir benutzen können.«

»Was ist mit V?«, fragte sie.

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie wir ihre Leiche durch den Tunnel und die Leiter hinaufschleppten, während uns ein wütender Hollowgast verfolgte. Noor schien meine Gedanken lesen zu können, denn sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Ist schon gut.«

»Wir kommen zurück«, versicherte ich.

Sie erwiderte nichts darauf, sondern folgte mir in den Tunnel.

Kapitel Drei

 

Wir sprinteten durch den niedrigen Tunnel, der unter der Sackgasse her zur gegenüberliegenden Straßenseite verlief, und stiegen eine schmale Betontreppe hinauf zu einer schweren Metalltür, die sich zur Seite schieben ließ. Dahinter befand sich ein Einbauschrank, durch den wir in das Schlafzimmer des unbewohnten Hauses traten. Uns blieb nicht einmal Zeit, durch das Fenster einen Blick auf Großvaters Haus zu werfen. Ich rannte und zog Noor hinter mir her. Zum Glück entsprach der Grundriss dieses Hauses exakt dem von Abes Haus, sodass ich, ohne nachzudenken, sofort den Weg durch den Flur ins Wohnzimmer fand. Gazeartige Gardinen flatterten vor dem zerbrochenen Erkerfenster. Wind pfiff durch den Raum, und es war feucht. Der abgebrochene Ast einer Eiche ragte ins Zimmer wie die Hand eines Monsters.

Aus den Augenwinkeln sah ich auf der anderen Straßenseite Flammen lodern.

Keine Spur von dem Hollowgast. Vielleicht war er doch tot?

Wir stürmten in die Garage. Der Caprice, eine echte Familienkutsche, stand noch am selben Fleck, der Platz daneben war leer. (Den Aston, ein schneidiges Coupé, mussten wir ein paar Wochen zuvor in Brooklyn zurücklassen. Vermutlich befand er sich mittlerweile in den Händen der Wights oder war gestohlen und in Einzelteile zerlegt.) Wir rissen die wuchtigen Türen des Caprice auf und sanken in die Sitze. Die Schlüssel lagen im Getränkehalter, der Garagenöffner hing an der Sonnenblende. Ich langte nach oben, aber Noor war schneller und schnappte sich den Öffner.

»Eine Sache noch«, sagte sie. Mein Blick verharrte zum ersten Mal, seit wir losgerannt waren, auf einem Ziel. Sogar in dem unvorteilhaft grellen Deckenlicht des Caprice, tropfnass bis auf die Haut, mit zerzaustem Haar, keuchend, war Noor wunderschön.

»Du bleibst nicht stehen«, sagte sie. »Was auch passiert, du musst zurück zum Acre. Selbst wenn ich in Schwierigkeiten stecke.«

Ich brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten. »Ich lasse dich nicht zurück.«

»Hör mir zu.« Ihr Körper war angespannt wie eine Feder. Sie nahm meine Hände, verschränkte ihre Finger mit meinen, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen. »Jemand muss die anderen warnen, und außer uns gibt es niemanden, der das tun könnte. Niemand sonst weiß, was passiert ist.«

Mein ganzer Verstand wehrte sich gegen diese Idee, schreckte vor dem Gedanken zurück, Noor aus irgendeinem Grund zurückzulassen. Aber alles, was ich in diesem Moment an Gegenargumenten heraufbeschwören konnte, war: »Nein.«

Ihre Hand stahl sich auf mein Bein. »Ich habe bereits V das Leben gekostet.« Ihre Finger gruben sich in meine Haut. »Lass mich nicht auch noch der Grund dafür sein, dass deine Freunde sterben.«

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Du musst aber dasselbe versprechen«, erwiderte ich. »Nicht stehen bleiben.«

Sie senkte den Blick und nickte. »Okay.«

»Okay«, sagte ich.

Es war gelogen. Ich würde sie nie zurücklassen.

Sie reichte mir den Toröffner, und ich drückte auf den Knopf. Mit einem Klicken wurde der Antrieb des Garagentors aktiviert, und es schob sich jammernd nach oben. Mein Großvater hatte den Caprice rückwärts eingeparkt, sodass wir auf die Straße schauten.

Grandpas Haus stand in Flammen. Der Garten an der einen Seite war verkohlt. Ein Loch qualmte im Rasen, ein weiteres in der Hauswand, gab den Blick auf die rosa Badezimmerfliesen frei.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich »Heilige Scheiße« murmelte und Noor mich aufforderte, endlich den Motor zu starten, aber ein stechender Schmerz in meinen Eingeweiden verlangte plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit und befahl meinen Augen, wohin sie schauen sollten: zu dem Loch im Garten, wo aus einem sich bewegenden Stapel Schutt eine schwarze Zunge in den Regen kroch.

Noor war meinem Blick gefolgt und starrte ebenfalls auf den Schutthaufen.

»Jacob?«, sagte sie leise. »Ich glaube, er hat überlebt.«

Der Hollowgast erhob sich aus den Trümmern. Trotz seines gebeugten Rückens war er riesig, streckte und dehnte seinen Hals, als würde er nach einem Mittagsschläfchen erwachen, statt aus den Überresten einer Explosion hervorzukriechen. Mit Betonstaub überzogen war er wie ein weißes Gespenst – und für Noor sichtbar.

»Fahr los!« Noor beugte sich zu mir, schüttelte mich. »Der Motor, Jacob!«

Ich drehte den Schlüssel, schob den Gangwahlhebel auf D und trat aufs Gaspedal. Wir schossen hinaus auf die Einfahrt, setzten mit einem beeindruckenden Scharren an der Bordsteinkante auf und schlingerten auf die Straße.

»Ich kann ihn sehen, ich kann ihn sehen, fahr!«, schrie Noor, den Kopf nach hinten zu Großvaters Haus gerichtet.

Ich trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Motor heulte mit einer Heftigkeit auf, zu der ein alter, schwerer Chevy Caprice gar nicht in der Lage sein durfte. Das war zu viel Kraft; die Hinterräder drehten auf dem nassen Asphalt durch, und das Heck scherte aus.

Mit Riesensätzen galoppierte der Hollow durch den Garten, war schon fast an der Straße. Er war noch größer als der, mit dem ich in der Zeitschleife der Totenerwecker in Hopewell gekämpft hatte, und mit impressionistischen Tupfen aus Betonstaub und schwarzem Blut befleckt.

»Los, Los, Los!«, schrie Noor. »Vorwärts, nicht zur Seite!«

Ich ging vom Gas, bis die Hinterräder nicht mehr durchdrehten, riss das Lenkrad in die andere Richtung und trat wieder aufs Pedal.

»Direkt hinter dir – DIREKThinter dir!«

Wir schossen in dem Moment los, als die Zunge des Hollows sich wie ein Lasso um unsere hintere Stoßstange knoten wollte, aber mit einem lauten Thwang abprallte. Einen Moment später schlug eine weitere seiner Zungen gegen die Heckscheibe. Klirren, Glas regnete auf den Rücksitz. Wir rasten die Straße entlang, und er verfolgte uns, humpelnd und verletzt, aber immer noch schnell.

Noor öffnete das Handschuhfach, um nach einer Waffe zu suchen – oder einem verborgenen Schaltpult im James-Bond-Stil. Es fanden sich jedoch nur die Fahrzeugpapiere und eine alte Lesebrille. Wir fuhren so schnell, wie ich mich auf dem nassen Asphalt traute. Herabgestürzte Äste und entwurzelte Pflanzen verwandelten die Straßen in einen Hindernis-Parcours – dazu kamen zahllose Kreisverkehre, die dem Namen »Circle Village« alle Ehre machten. Im Grunde bestand diese ganze Wohnanlage aus nichts als Kurven, Schnörkeln und Sackgassen, in denen unser schneller, aber schwerer Wagen fast in Regenwasser-Auffangbecken und gegen Häuserwände schleuderte. Bremsen, drehen, bremsen im ständigen Wechsel, dabei wollte ich nur noch Vollgas geben. Immerhin vergrößerten wir unseren Abstand zu dem Hollow, aber nur, weil er verletzt und gezwungen war, eine Zunge als Krücke zu benutzen.

Plötzlich spürte ich, dass meine innere Kompassnadel ruckartig umschwenkte. Im Rückspiegel sah ich, dass der Hollow von der Straße bog und hinter einem Haus verschwand.

»Er will uns den Weg abschneiden«, sagte ich, und wir legten uns beide nach rechts in die Kurve, weil ich einem umgestürzten Golfwagen ausweichen musste.

»Dann nimm einen anderen Weg!«, rief Noor.

»Kann ich nicht. Es gibt nur einen Weg aus diesem Labyrinth heraus …«

Während der nächsten paar Kurven tauchte er nicht auf, aber ich wusste, dass er nah war, uns verfolgte, so schnell rannte, wie es sein verletzter Körper zuließ. Dann, ein Stück vor uns, das Häuschen des Sicherheitsdienstes. Die Ausfahrt. Dahinter die Hauptstraße, schön gerade, sodass ich endlich unerreichbar schnell würde fahren können.