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Die Fortsetzung von »Die Insel der besonderen Kinder« von Bestseller-Autor Ransom Riggs Mit Müh und Not konnten Jakob und die besonderen Kinder aus der Zeitschleife, der Insel Cairnholm, vor ihren Feinden fliehen. Nun sind sie im England der 1940er Jahre gestrandet, immer noch verfolgt und ohne Beistand von Miss Peregrine, die sich nicht mehr in ihre Menschengestalt verwandeln kann. Um Miss Peregrine zu retten, brauchen die Kinder eine andere Magierin. Gerüchteweise lebt eine in London, und so machen sie sich auf den gefährlichen Weg in die zerbombte Stadt. Dort angekommen, finden sie schließlich Miss Wren und glauben schon, gerettet zu sein. Doch ausgerechnet hier, in ihrer vermeintlichen Zuflucht, erwartet sie der größte Verrat. »Besticht durch seine packende, ans Zeitalter der Wunder erinnernde Atmosphäre, stilistische Brillanz, Erzählfreude und tolle Ideen.« Phantastik-News.de über »Die Stadt der besonderen Kinder« Der zweite Band der erfolgreichen historischen Fantasy-Reihe rund um Jacob Portman und die besonderen Kinder. Die komplette Fantasy-Reihe des amerikanischen Bestseller-Autors Ransom Riggs im Überblick: Band 1 - Die Insel der besonderen Kinder Band 2 - Die Stadt der besonderen Kinder Band 3 - Die Bibliothek der besonderen Kinder Band 4 - Der Atlas der besonderen Kinder Band 5 - Das Vermächtnis der besonderen Kinder Band 6 - Die Zukunft der besonderen Kinder Bonus - Die Legenden der besonderen Kinder
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Seitenzahl: 484
Ransom Riggs
Die Stadt der besonderen Kinder
Roman
Aus dem Englischen von Silvia Kinkel
Knaur e-books
Absolut phantastisch! Die Fortsetzung von Die Insel der besonderen Kinder
Mit Müh und Not konnten Jacob und die besonderen Kinder aus der Zeitschleife, der Insel Cairnholm, fliehen. Nun sind sie im kriegsgebeutelten England gestrandet, immer noch verfolgt und ohne Beistand von Miss Peregrine, die sich nicht mehr in ihre Menschengestalt verwandeln kann.Um Miss Peregrine zu retten, brauchen die Kinder eine andere Magierin. Gerüchteweise lebt eine in London, und so machen sie sich auf den gefährlichen Weg in die zerbombte Stadt, nicht ahnend, dass ihnen ausgerechnet dort die größte Gefahr droht.
Für Tahereh
Da schoß zu uns heran auf einem Boote
Ein Greis, dem Alter weiß das Haar gemacht,
Und rief uns zu: »Weh euch, verdorbene Tote;
Hofft nicht zu schauen je des Himmels Pracht:
Hinüber setz ich euch, auf daß euch quäle
Die Kälte, Hitze und die ewige Nacht.
Doch du, die du dort stehst, lebendige Seele,
Trenn dich von jenen, die den Tod schon sahn.«
Doch als er sah, daß ich zu bleiben wähle …
Dantes Hölle, III. Gesang
JACOB PORTMAN
Unser Held – er kann Hollows sehen und spürt ihre Anwesenheit.
EMMA BLOOM
Ein Mädchen, das mit den Händen Feuer entzündet – sie war früher mit Jacobs Großvater zusammen.
ABRAHAM PORTMAN (VERSTORBEN)
Jacobs Großvater, er wurde von einem Hollow getötet.
BRONWYN BRUNTLEY
Ein außergewöhnlich starkes Mädchen.
MILLARD NULLINGS
Ein unsichtbarer Junge, Gelehrter in Bezug auf alles Besondere.
OLIVE OBROHOLOS ELEPHANTA
Ein Mädchen, das leichter als Luft ist.
HORACE SOMNUSSON
Ein Junge, der von Visionen und Vorahnungen heimgesucht wird.
ENOCH O’CONNOR
Ein Junge, der Tote für kurze Zeit zum Leben erwecken kann.
HUGH APISTON
Ein Junge, der die vielen Bienen befehligt und beschützt, die in seinem Bauch leben.
CLAIRE DENSMORE
Ein Mädchen mit einem zweiten Mund am Hinterkopf – das jüngste von Miss Peregrines besonderen Kindern.
FIONA FRAUENFELD
Ein stilles Mädchen mit der besonderen Gabe, Pflanzen wachsen zu lassen.
ALMA LEFAY PEREGRINE
Ymbryne, die die Gestalt verändern und die Zeit manipulieren kann; Headmistress in der Zeitschleife von Cairnholm, in einer Vogelgestalt gefangen.
ESMERELDA AVOCET
Ymbryne, deren Zeitschleife von Abtrünnigen überfallen wurde. Sie fiel in die Hände von Wights.
FRANKLIN PORTMAN
Jacobs Vater, Hobby-Ornithologe, Möchtegernschriftsteller.
MARYANN PORTMAN
Jacobs Mutter, Erbin von Floridas zweitgrößter Drogeriemarktkette.
RICKY PICKERING
Jacobs einziger normaler Freund.
DR. GOLAN (VERSTORBEN)
Ein Wight, der als Psychiater auftrat, um Jacob und dessen Familie zu täuschen. Er wurde später von Jacob getötet.
RALPH WALDO EMERSON (VERSTORBEN)
Essayist, Philosoph, Dichter.
Wir ruderten aus dem Hafen, vorbei an Booten, die auf dem Wasser tanzten und rostige Tränen aus den Schweißnähten ihrer Rümpfe weinten. Vorbei an Seevögeln, die reglos auf den muschelbewachsenen Überresten gesunkener Docks hockten. Vorbei an Fischern, die ihre Netze sinken ließen und uns anstarrten, unsicher, ob wir echt waren oder eine Ausgeburt ihrer Fantasie, eine Prozession von Geistern auf dem Wasser. Und mehr würden wir bald vielleicht auch nicht mehr sein. Zehn Kinder und ein Vogel ruderten in drei schmalen, wackeligen Booten ruhig und kraftvoll aufs Meer hinaus, den einzigen sicheren Hafen im Umkreis vieler Meilen hinter sich lassend, felsig und verwunschen im blaugoldenen Licht der Dämmerung. Unser Ziel, die zerklüftete Küste von Wales, lag irgendwo vor uns, nur schemenhaft erkennbar, wie ein verlaufener Tintenfleck am fernen Horizont.
In einigem Abstand ragte der Leuchtturm auf, der erst am Abend zuvor zum Schauplatz schrecklicher Ereignisse geworden war. Dort wären wir beinahe ertrunken, während um uns herum Bomben explodierten und wir fast von Kugeln zerfetzt wurden. Dort hatte ich eine Waffe genommen, abgedrückt und einen Mann getötet, eine Tat, die mir immer noch unbegreiflich schien. Dort hatten wir Miss Peregrine verloren und zurückgeholt – den stählernen Klauen eines U-Boots entrissen. Allerdings war diese Miss Peregrine, die wir zu uns zurückgeholt hatten, angeschlagen und brauchte Hilfe, aber wir wussten nicht, wie wir ihr helfen konnten. Sie stand auf dem Heck unseres Bootes und sah zu, wie der von ihr geschaffene Zufluchtsort langsam verschwand, mit jedem Ruderschlag ein Stück weiter verlorenging.
Schließlich ruderten wir an der Mole vorbei hinaus in die leere Weite, und die glasklare Wasseroberfläche des Hafens wurde von kleinen Wellen abgelöst, die gegen die Seiten unserer Boote schlugen. Ich hörte ein Flugzeug, das hoch oben durch die Wolken glitt, ließ die Ruder schleifen und reckte den Hals, war gebannt von der Vorstellung, wie unsere kleine Armada wohl aus solcher Höhe aussehen mochte: die Welt, für die ich mich entschieden hatte, mit allem, was dazugehörte – unsere kostbaren besonderen Leben, die in drei Holzsplittern auf der unerschrockenen Weite des Meeres trieben.
Erbarmen.
Unsere Boote glitten mühelos durch die Wellen, Seite an Seite, ein wohlwollender Strom trug uns in Richtung Küste. Wir ruderten abwechselnd, um die Erschöpfung hinauszuzögern, dabei fühlte ich mich doch so stark, dass ich mich fast eine Stunde lang geweigert hatte, abgelöst zu werden. Ich verlor mich im Rhythmus der Ruderschläge, meine Arme zogen lange Ellipsen durch die Luft, als würde ich etwas an mich heranziehen wollen, das sich widersetzte. Hugh betätigte die Ruder mir gegenüber. Hinter ihm, im Bug, saß Emma, die Augen verborgen unter der Krempe ihres Sonnenhutes und den Kopf über eine Karte gesenkt, die auf ihren Knien ausgebreitet lag. Jedes Mal, wenn sie ihren Kopf hob, um einen prüfenden Blick zum Horizont zu werfen, verlieh mir ihr von der Sonne beschienenes Gesicht ungeahnte Kräfte.
Ich glaubte, für immer so weiterrudern zu können. Horace rief von einem der anderen beiden Boote fragend herüber, wie viel Ozean noch zwischen uns und dem Festland läge. Emma blinzelte zurück in Richtung Insel, schaute dann auf ihre Karte und maß die Entfernung mit gespreizten Fingern. »Sieben Kilometer?«, mutmaßte sie mit zweifelnder Stimme. Millard, der ebenfalls in unserem Boot saß, beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie runzelte die Stirn, drehte die Karte, runzelte wieder die Stirn und rief dann: »Ich meinte, achteinhalb!« Als die Worte ihren Mund verließen, sank mein Mut, und ich konnte sehen, dass es den anderen genauso ging.
Achteinhalb Kilometer. Die Fahrt mit der Fähre, die mich vor Wochen nach Cairnholm gebracht hatte, dauerte eine ganze Stunde und war mir auf den Magen geschlagen. Eine Entfernung, die mit einem Motorboot jeder Größe leicht überwunden werden konnte. Anderthalb Kilometer weniger, als meine unsportlichen Onkel an manchen Wochenenden für wohltätige Zwecke liefen, und nur ein paar mehr, als meine Mutter angeblich in ihrem Fitnessclub an dem Rudergerät schaffte. Aber zwischen der Insel und dem Festland würde erst in dreißig Jahren eine Fähre verkehren, und Rudergeräte waren nicht mit Passagieren und Gepäck beladen, auch bedurften sie nicht ständiger Kurskorrekturen, um nicht von der Richtung abzukommen. Schlimmer noch, diese Wasserrinne, die wir überquerten, war heimtückisch und zog immer wieder Schiffe in die Tiefe: achteinhalb Kilometer launischer, unbeständiger See, deren Grund übersät war mit grünlich verfärbten Wracks und den Knochen toter Seefahrer. Und irgendwo in der unergründlichen, schwarzen Tiefe lauerten unsere Feinde.
Jene von uns, die das beunruhigte, nahmen an, dass die Wights irgendwo in der Nähe wären. Falls sie unsere Flucht von der Insel noch nicht entdeckt hatten, so konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie dahinterkamen. Sie hatten sicher nicht solche Mühen in Kauf genommen, Miss Peregrine zu kidnappen, um nach dem ersten Fehlversuch aufzugeben. Die Kriegsschiffe, die in der Ferne wie Tausendfüßler dahinkrochen, und die britischen Flugzeuge, die von oben die Gegend überwachten, machten es für das U-Boot zu gefährlich, bei Tageslicht aufzutauchen. Aber sobald es dunkel wurde, würden wir eine leichte Beute sein. Sie würden kommen, sich Miss Peregrine schnappen und uns mitsamt den Booten versenken. Also ruderten wir mit all unserer Kraft, getrieben von der Hoffnung, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit das Festland erreichten.
Wir ruderten, bis unsere Arme schmerzten und sich die Schultern verkrampften. Wir ruderten, bis sich die kühle Morgenbrise gelegt hatte und die Sonne wie durch ein Vergrößerungsglas auf uns herabbrannte. Schweiß lief uns in die Kragen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass keiner von uns daran gedacht hatte, Trinkwasser mitzunehmen. Und Sonnenschutz im Jahr 1940 bedeutete, sich im Schatten aufzuhalten. Wir ruderten, bis unsere Handflächen aufgescheuert und wir davon überzeugt waren, auch nicht mehr einen einzigen Schlag tun zu können, aber dann taten wir doch noch einen, und noch einen, und noch einen.
»Du schwitzt wie ein Tier«, sagte Emma. »Lass mich mal ein Stück rudern, bevor du noch wegschmilzt.«
Ihre Stimme riss mich aus meiner Benommenheit. Ich nickte dankbar und überließ ihr meinen Platz. Aber zwanzig Minuten später bat ich sie, mich wieder übernehmen zu lassen. Ich mochte die Gedanken nicht, die mich beschlichen, während mein Körper sich ausruhen konnte: Vorstellungen, wie mein Vater aufwachte und feststellte, dass ich aus unserem Zimmer in Cairnholm verschwunden war, wie er statt meiner nur Emmas rätselhaften Brief vorfand und ihn daraufhin die Panik überkam.
Bilder der fürchterlichen Ereignisse, die ich in letzter Zeit erlebt hatte, kamen ebenfalls aus der Erinnerung hoch: ein Monster, das mich zerfleischen wollte, mein ehemaliger Psychiater, der in den Tod stürzte, ein Mann in einem Sarg aus Eis, für einen Moment aus dem Jenseits zurückgeholt, um mir aus zerfetzter Kehle etwas ins Ohr zu flüstern. Deshalb ruderte ich, trotz meiner Erschöpfung und einer Wirbelsäule, die sich anfühlte, als würde ich mich nie wieder aufrichten können, und trotz Händen, die aufgescheuert waren bis aufs rohe Fleisch. Ich versuchte, an nichts zu denken – diese bleischweren Ruder waren meine Strafe und meine Rettungsinsel zugleich.
Bronwyn, der nie die Kraft auszugehen schien, ruderte eines der Boote ganz allein. Olive saß ihr gegenüber, war jedoch keine Hilfe. Das winzige Mädchen hätte nicht die Ruder durchziehen können, ohne sich dadurch selbst in die Luft zu stoßen, wo eine Windböe sie erfassen und wie einen Drachen davontragen würde. Also rief sie Bronwyn Aufmunterungen zu, während die für zwei arbeitete – oder drei oder vier, wenn man all die Koffer und Kisten berücksichtigte, die ihr Boot ins Wasser drückten, vollgestopft mit Kleidung, Landkarten, Büchern und einer Menge weniger praktischer Dinge, wie Gläser mit eingelegten Reptilienherzen, die in Enochs Seesack vor sich hin schwappten, oder der abgesprengte Türknauf vom Eingang zu Miss Peregines Haus, ein Erinnerungsstück, das Hugh auf dem Weg zu den Booten im Gras gefunden hatte und ohne das er von dem Moment an meinte nicht leben zu können. Oder das dicke Kissen, das Horace aus dem brennenden Haus gerettet hatte. Es sei sein Glückskissen, hatte er gesagt, und das Einzige, was seine schrecklichen Alpträume in Schach hielt.
Andere Dinge waren so kostbar, dass die Kinder sie sogar im Boot an sich pressten. Fiona hielt einen Topf mit wurmreicher Gartenerde zwischen die Knie geklemmt. Millard wiederum hatte sich aus dem Pulver zerbombter Ziegelsteine Streifen ins Gesicht gemalt. Eine eigenartige Geste, die anscheinend zu einem Trauerritual gehörte. Es waren seltsame Dinge, an die sie sich klammerten, aber ich konnte die Kinder verstehen: Mehr war ihnen von ihrem Zuhause nicht geblieben. Zu wissen, dass sie es verloren hatten, hieß noch lange nicht, dass sie auch wussten, wie sie loslassen konnten.
Nachdem wir drei Stunden wie Galeerensklaven gerudert hatten, war die Insel in der Ferne zur Größe einer offenen Hand geschrumpft. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der unheilverkündenden, von Klippen umgebenen Festung, die ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal erblickt hatte: Jetzt wirkte sie zerbrechlich, ein Felssplitter, der Gefahr lief, von den Wellen weggespült zu werden.
»Seht nur!«, rief Enoch und stellte sich hin. »Sie verschwindet!« Ein gespenstischer Nebel umhüllte die Insel und wurde immer dichter. Wir hörten auf zu rudern und sahen zu, wie sie verschwand.
»Verabschiedet euch von unserer Insel«, sagte Emma, stand ebenfalls auf und nahm ihren großen Hut ab. »Wir werden sie vielleicht nie wiedersehen.«
»Lebe wohl, Insel«, sagte Hugh. »Du warst so gut zu uns.«
Horace legte das Ruder aus der Hand und winkte. »Auf Wiedersehen, Haus. Ich werde alle deine Zimmer und den Garten vermissen. Aber vor allem werde ich mein Bett vermissen.«
»Mach’s gut, Zeitschleife«, schniefte Olive. »Danke, dass du uns in all den Jahren beschützt hast.«
»Gute Jahre«, sagte Bronwyn. »Die besten, die ich hatte.«
Ich verabschiedete mich schweigend, von einem Ort, der mich völlig verändert hatte – und dem Ort, der für immer die Erinnerung und das Rätsel um meinen Großvater bergen würde. Er und diese Insel waren untrennbar miteinander verbunden, und jetzt, nachdem beide fort waren, fragte ich mich, ob ich jemals völlig verstehen würde, was mit mir geschehen war: zu was ich geworden war, ja, immer noch wurde. Ich war auf die Insel gefahren, um das Geheimnis meines Großvaters zu lüften, stattdessen hatte ich mein eigenes entdeckt. Zuzusehen, wie Cairnholm verschwand, war so, als müsse ich mit ansehen, wie der einzige verbliebene Schlüssel zu diesem Geheimnis in den schwarzen Wellen versank.
Und dann war die Insel verschwunden, geschluckt von einem Berg aus Nebel.
Als hätte sie nie existiert.
Es dauerte nicht lange, und der Nebel holte uns ein. Schrittweise wurde er dichter und nahm uns die Sicht. Das Festland war nur noch schemenhaft zu erkennen, und die Sonne verblasste zu einer mattweißen Scheibe. Wir drehten uns in der Gezeitenströmung im Kreis, bis wir jegliche Orientierung verloren hatten. Schließlich hielten wir an, legten die Ruder aus der Hand und warteten in der lautlosen Windstille, hofften, der Nebel würde sich verziehen. Vorher machte es keinen Sinn, sich von der Stelle zu bewegen.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Bronwyn. »Wenn wir zu lange warten, bricht die Nacht herein, und dann haben wir mit Schlimmerem zu kämpfen als mit schlechtem Wetter.«
Als hätte das Wetter Bronwyns Worte gehört und wollte uns unbedingt hier festhalten, wurde es richtig unangenehm. Starker Wind setzte ein, und innerhalb von Sekunden veränderte sich die Welt um uns herum. Das Meer verwandelte sich in hohe Wellen mit weißen Schaumkronen, die gegen die Rümpfe schlugen und in die Boote schwappten, unsere Füße in eiskaltes Wasser tauchten. Dann setzte der Regen ein, prasselte wie kleine Pistolenkugeln auf unsere Haut. Es dauerte nicht lange, und unsere Boote wurden herumgewirbelt wie Gummienten in der Badewanne.
»Haltet den Bug in die Wellen!«, schrie Bronwyn und tauchte die Ruder ein. »Wenn sie uns breitseits erwischen, kentern wir!« Aber die meisten von uns hatten sich schon beim Rudern auf ruhiger See verausgabt, und die Übrigen hatten zu viel Angst, die Ruder auch nur in die Hand zu nehmen. Stattdessen klammerten wir uns an die Dollbords. Eine Wand aus Wasser raste auf uns zu. Wir stiegen auf der Monsterwelle empor, das Boot stand fast senkrecht. Emma klammerte sich an mich, und ich klammerte mich an die Ruderdolle. Hinter uns umschlang Hugh mit beiden Armen die Sitzbank. Wir erklommen die Welle wie auf einer Achterbahn, mein Magen sackte nach unten, und als wir auf der anderen Seite hinunterrasten, wurde alles, was nicht festgenagelt war – Emmas Landkarte, Hughs Tasche, der rote Rollenkoffer, den ich seit Florida mit mir herumschleppte –, aus dem Boot geschleudert.
Es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn wir konnten die anderen Boote nicht mehr sehen. Sobald wir wieder gerade auf dem Wasser lagen, blinzelten wir in dieses undurchdringliche Weiß und riefen die Namen unserer Freunde. Es folgte ein schrecklicher Moment der Stille. Dann hörten wir ihre Stimmen. Sie antworteten, und Enochs Boot tauchte aus dem Nebel auf. Alle vier Passagiere waren noch an Bord und machten hektische Bewegungen mit den Armen.
»Seid ihr unverletzt?«, rief ich.
»Da drüben!«, schrien sie zurück. »Seht! Da drüben!«
Jetzt erst erkannte ich, dass sie uns nicht zur Begrüßung zuwinkten, sondern uns auf etwas aufmerksam machen wollten. Knapp dreißig Meter entfernt entdeckte ich den Rumpf eines gekenterten Bootes.
»Das ist das Boot von Bronwyn und Olive!«, sagte Emma.
Die rostige Unterseite war gen Himmel gerichtet, und von den beiden Mädchen gab es weit und breit keine Spur.
»Wir müssen näher ran!«, rief Hugh. Wir vergaßen unsere Erschöpfung, packten die Ruder und paddelten darauf zu, während wir die Namen der beiden Vermissten in den Wind schrien.
Wir ruderten durch eine Flut von Kleidungsstücken, die aus aufgeplatzten Koffern katapultiert worden waren. Jedes in der Strömung wirbelnde Kleid sah aus wie ein ertrinkendes Mädchen. Mein Herz hämmerte wie verrückt, und obwohl ich durchnässt war und zitterte, spürte ich die Kälte kaum. Wir kamen gleichzeitig mit Enochs Boot an dem gekenterten Rumpf an und suchten gemeinsam das Wasser ab.
»Wo sind die beiden?«, jammerte Horace. »Wenn wir sie verloren haben …«
»Unter dem Boot!«, rief Emma und zeigte auf den Rumpf. »Vielleicht sind sie darunter gefangen!«
Ich zog eines meiner Ruder aus der Befestigung und schlug mit dem Blatt gegen den Rumpf. »Falls ihr da drin seid, dann schwimmt raus!«, brüllte ich. »Wir fischen euch aus dem Wasser!«
Keine Reaktion. Meine Hoffnung schwand. Aber dann drang aus dem Inneren des gekenterten Bootes ein Klopfen – und eine Faust durchstieß den Rumpf. Holzsplitter flogen, und wir alle schraken zusammen.
»Das ist Bronwyn!«, schrie Emma. »Sie leben!«
Nach ein paar weiteren Hieben hatte Bronwyn ein mannsgroßes Loch in den Rumpf geschlagen. Ich hielt ihr mein Ruder hin, und sie packte es. Mit vereinten Kräften gelang es Hugh, Emma und mir, Bronwyn durch das aufgewühlte Meer in unser Boot zu ziehen. Genau in dem Moment verschwand Bronwyns gekenterte Nussschale in den Tiefen des Wassers. Panisch schrie sie Olives Namen, obwohl sie kaum Luft bekam. Olive war nicht mit ihr unter dem Boot gewesen und blieb verschwunden.
»Olive … ich muss zu Olive«, japste sie zitternd und hustete Meerwasser. Sie stellte sich aufrecht in das wankende Boot und zeigte in den Sturm. »Da!«, rief sie. »Seht ihr das?«
Ich schirmte die Augen gegen den peitschenden Regen ab und folgte ihrem Blick. Aber ich sah nur Wellen und Nebel. »Was denn?«, fragte ich.
»Sie ist da!«, beharrte Bronwyn. »Das Seil!«
Und dann entdeckte ich, worauf sie zeigte: nicht etwa auf ein im Wasser strampelndes Mädchen, sondern auf ein geflochtenes Hanfseil, in dem Chaos kaum zu erkennen, das vom Wasser in die Luft führte und im Nebel verschwand. Olive musste am anderen Ende hängen!
Wir ruderten zu dem Seil, und Bronwyn zog es herunter. Nach etwa einer Minute tauchte Olive aus dem Nebel über unseren Köpfen auf. Das eine Ende des Seils war um ihre Taille gebunden. Als das Boot kenterte, verlor sie ihre Schuhe, aber Bronwyn hatte sie bereits vorher am Anker festgebunden, der nun auf dem Meeresgrund ruhte. Andernfalls wäre Olive ganz sicher irgendwo in den Wolken verschwunden.
Olive schlang die Arme um Bronwyns Nacken und krähte: »Du hast mich gerettet, du hast mich gerettet!«
Sie umarmten einander. Beim Anblick der beiden spürte ich plötzlich einen Kloß im Hals.
»Noch sind wir nicht außer Gefahr«, erwiderte Bronwyn. »Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit die Küste erreichen, sonst bekommen wir noch viel größere Probleme.«
Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, und der Wellengang beruhigte sich. Aber die Vorstellung, auch nur einen weiteren Ruderschlag zu tun, und sei es bei ruhiger See, war unvorstellbar. Wir hatten noch nicht einmal den halben Weg bis zum Festland geschafft, und ich war bereits hoffnungslos erschöpft. Meine Hände pochten, und meine Arme waren schwer wie Baumstämme. Darüber hinaus übte das ständige Schaukeln des Bootes eine nicht zu leugnende Wirkung auf meinen Magen aus – und den grünen Gesichtern um mich herum nach zu urteilen, ging es nicht nur mir so.
»Wir ruhen uns für einen Moment aus«, sagte Emma und versuchte, aufmunternd zu klingen. »Wir ruhen uns aus und schöpfen das Wasser aus den Booten, bis sich der Nebel verzogen hat …«
»Ein Nebel wie dieser hat seinen eigenen Kopf«, sagte Enoch. »Er kann über Tage anhalten, ohne schwächer zu werden. In ein paar Stunden ist es dunkel, und dann bleibt uns bis zum Morgen nur die Hoffnung, dass die Wights uns nicht finden. Hier draußen sind wir schutzlos.«
»Und wir haben kein Trinkwasser«, fügte Hugh hinzu.
»Und nichts zu essen«, ergänzte Millard.
Olive hob die Hände und sagte: »Ich weiß, wo es ist!«
»Wo was ist?«, fragte Emma.
»Land. Ich habe es gesehen, als ich oben an dem Seil hing.« Olive erklärte uns, dass sie bis über den Nebel aufgestiegen war und für einen kurzen Moment klare Sicht zum Festland gehabt hatte.
»Das nutzt nichts«, brummte Enoch. »Seit du da oben warst, haben wir uns schon mehrmals um die eigene Achse gedreht.«
»Dann lasst mich noch einmal hoch.«
»Bist du sicher?«, fragte Emma. »Das ist gefährlich. Was, wenn du vom Wind erfasst wirst oder das Seil reißt?«
Olives Miene wurde unbeugsam. »Lasst mich da hoch«, wiederholte sie.
»Wenn sie so guckt, lässt sie nicht mit sich reden«, sagte Emma. »Schnapp dir das Seil, Bronwyn.«
»Du bist das tapferste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe«, sagte Bronwyn und machte sich an die Arbeit. Sie zog den Anker aus dem Wasser und in unser Boot. Mit der zusätzlichen Länge des Seils, die wir dadurch gewannen, banden wir die beiden Boote zusammen, damit wir nicht wieder getrennt werden konnten. Dann ließen wir Olive durch den Nebel in den Himmel steigen.
Es war ein seltsamer, geräuschloser Moment, als wir alle mit zurückgelegten Köpfen auf das in den Wolken verschwindende Seil starrten – und auf ein Zeichen des Himmels warteten.
Enoch beendete die Stille. »Nun?«, rief er ungeduldig.
»Ich kann es sehen!«, lautete die Antwort. Olives Stimme war kaum mehr als ein Piepsen über dem Rauschen des Meeres. »Direkt vor uns!«
»Das reicht mir als Information!«, sagte Bronwyn, und während wir Übrigen bleich und nutzlos auf den Sitzen hingen, kletterte Bronwyn in das vordere Boot, ergriff die Ruder und legte los, einzig geführt von Olives zarter Stimme, ein unsichtbarer Engel am Himmel.
»Nach links … noch mehr nach links … nicht so weit!«
Und so bewegten wir uns langsam auf das Festland zu, ständig verfolgt vom Nebel, dessen lange, graue Tentakel wie die gespenstischen Finger einer Geisterhand versuchten, uns zurückzuziehen.
Als könne uns die Insel nicht loslassen.
An einer seichten, felsigen Stelle liefen unsere Zwillingsboote auf Grund. Wir drehten bei und landeten am Ufer, als die Sonne gerade langsam hinter Bergen grauer Wolken unterging. In etwa einer Stunde würde es dunkel sein. Der Strand war eine steinige Landzunge, und bei Ebbe ragte Seegras aus dem schlammigen Wasser. Aber für mich war er wunderschön, schöner als jeder touristische weiße Sandstrand bei mir zu Hause. Er bedeutete, dass wir es geschafft hatten. Was er für die anderen bedeutete, konnte ich nur ahnen. Die meisten von ihnen hatten Cairnholm nie verlassen. Jetzt schauten sie sich staunend um, verwundert, dass sie noch lebten, und fragten sich vermutlich, was sie mit diesem Geschenk anfangen sollten.
Mit gummiweichen Beinen kletterten wir aus den Booten. Fiona schob sich eine Handvoll schleimiger Kieselsteine in den Mund und rollte sie mit der Zunge herum, als müsse sie sich mit allen Sinnen davon überzeugen, dass sie nicht träumte – genauso hatte auch ich mich anfangs in Miss Peregrines Zeitschleife gefühlt. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich meinen Augen derart misstraut. Bronwyn stöhnte und ließ sich auf den Boden fallen, sie war erschöpft. Die anderen umringten sie aufgeregt und überschütteten sie mit Dank für alles, was sie getan hatte. Aber es war seltsam – unsere Schuld war zu groß und das Wort danke zu gering. Bronwyn wollte abwinken, war jedoch so schwach, dass sie kaum die Hand zu heben vermochte. Währenddessen holten Emma und die Jungs Olive aus den Wolken herunter.
»Du bist ja ganz blau!«, rief Emma, als Olive aus dem Nebel auftauchte. Emma reckte sich, um das kleine Mädchen in die Arme zu schließen. Olive war durchnässt und fror so sehr, dass ihre Zähne klapperten. Wir hatten keine Decke oder auch nur ein trockenes Kleidungsstück, das wir ihr hätten geben können. Also fuhr Emma mit ihren wärmespendenden Händen über Olives Körper, bis sie nicht mehr ganz so stark zitterte, und schickte dann Fiona und Horace los, Treibholz für ein Feuer zu sammeln. Während wir auf deren Rückkehr warteten, suchten wir die Boote ab, um eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was wir auf See verloren hatten. Es war eine trostlose Bilanz. Fast alles, was wir von der Insel mitgenommen hatten, lag nun auf dem Meeresboden.
Geblieben war nur die Kleidung, die wir am Körper trugen, ein bisschen Essen in rostigen Blechdosen und Bronwyns riesiger Überseekoffer, unzerstörbar und offenbar auch unsinkbar – und so schwer, dass nur Bronwyn ihn tragen konnte. Wir klappten die Metallverschlüsse hoch und hofften, in dem Koffer etwas Nützliches, besser noch, etwas Essbares zu finden. Er enthielt jedoch eine dreibändige Ausgabe mit dem Titel Erzählungen von Besonderen, deren Seiten aufgeweicht waren vom Meerwasser, sowie einen hübschen Badvorleger, bestickt mit den Buchstaben »ALP«, Miss Peregrines Initialen.
»Na, Gott sei Dank!«, witzelte Enoch, ohne zu lachen. »Jemand hat an den Badvorleger gedacht. Wir sind gerettet.«
Alles andere war weg, einschließlich unserer beiden Karten – der kleinen Landkarte, mit der Emma uns über den Kanal gelotst hatte, und auch des schweren, in Leder gebundenen Zeitschleifen-Atlas, der Millards wertvoller Besitz gewesen war, die detaillierten Aufzeichnungen über die Ereignisse eines Tages. Als Millard erkannte, dass der Atlas verlorengegangen war, drehte er fast durch. »Das war eines von nur fünf Exemplaren!«, stöhnte er. »Er war von unschätzbarem Wert! Ganz zu schweigen davon, dass er meine persönlichen Notizen und Anmerkungen vieler Jahre enthielt!«
»Wenigstens haben wir noch die Erzählungen von Besonderen«, sagte Claire und wrang Meerwasser aus ihren blonden Locken. »Ich kann abends nur einschlafen, nachdem mir daraus vorgelesen wurde.«
»Was sollen wir mit Märchen, wenn wir den Weg nicht finden?«, schimpfte Millard.
Den Weg finden? Wohin denn?, fragte ich mich verwundert. Mir fiel auf, dass ich die Kinder bei unserer überstürzten Flucht von der Insel nur hatte sagen hören, dass wir aufs Festland mussten. Aber es wurde nie darüber gesprochen, wie es dort weitergehen sollte – als sei die Vorstellung, die Reise in diesen winzigen Booten zu überleben, so weit hergeholt, so absurd optimistisch, dass jegliche Planung reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Wie so oft suchte ich mit einem Blick zu Emma Bestätigung. Doch sie starrte mit düsterer Miene den Strand entlang. Der steinige Sand stieg nach hinten zu niedrigen Dünen an, auf denen sich Seegras im Wind wiegte. Dahinter lag Wald: eine undurchdringlich wirkende grüne Wand, die sich in beide Richtungen erstreckte, so weit das Auge reichte. Emma hatte mit Hilfe ihrer nun verlorenen Karte versucht, eine Hafenstadt anzusteuern, aber nachdem der Sturm einsetzte, bestand unser einziges Ziel darin, lebend das rettende Ufer zu erreichen. Schwer zu sagen, wie weit wir vom Kurs abgekommen waren. Wie ich sah, gab es weder Straßen noch Schilder oder wenigstens Fußpfade. Nichts als Wildnis.
Natürlich brauchten wir weder Landkarten noch Schilder oder sonst etwas. Wir brauchten Miss Peregrine – eine voll und ganz wiederhergestellte Miss Peregrine, eine, die wissen würde, wohin wir mussten und wie wir sicher dorthin kämen. Doch diejenige, die jetzt vor uns auf einem Felsblock hockte und versuchte, ihr Gefieder trocken zu fächeln, war genauso gebrochen wie ihr verletzter Flügel, der besorgniserregend abgeknickt war und aussah wie ein umgedrehtes V. Ich wusste, wie sehr es die Kinder schmerzte, Miss Peregrine in diesem Zustand zu sehen. Sie war quasi ihre Mutter, ihre Beschützerin. Sie war die Königin ihrer kleinen Inselwelt gewesen, aber jetzt konnte sie nicht sprechen, nicht dafür sorgen, dass sich die Zeit als immerwährende Schleife wiederholte, sie konnte nicht einmal fliegen. Jedes Mal, wenn der Blick der Kinder auf sie fiel, zuckten sie zusammen und schauten fort.
Miss Peregrine hielt den Blick fest auf das schiefergraue Meer gerichtet. Ihre schwarzen Augen waren ernst und kummervoll.
Sie schienen zu sagen: Ich habe euch im Stich gelassen.
Horace und Fiona kamen in einem Bogen über den steinigen Strand auf uns zu. Der Wind bauschte Fionas wilde Mähne zu einer Gewitterwolke auf, und Horace hüpfte, mit beiden Händen seinen Hut auf dem Kopf festhaltend. Irgendwie hatte er es geschafft, den Hut während unserer Beinahe-Katastrophe auf See nicht zu verlieren, aber die Krempe war an einer Seite abgerissen und hing herunter wie ein abgeknicktes Auspuffrohr. Dennoch mochte sich Horace nicht von dem Hut trennen, nur er passe zu seinem schmutzigen, triefend nassen, aber maßgeschneiderten Anzug.
Sie kamen mit leeren Händen. »Es gibt nirgendwo Holz!«, sagte Horace, als sie uns erreichten.
»Habt ihr auch im Wald nachgesehen?«, fragte Emma und zeigte auf die dunkle Baumreihe hinter den Dünen.
»Zu viel Angst«, erwiderte Horace. »Wir haben eine Eule gehört.«
»Seit wann fürchtest du dich vor Vögeln?«
Horace zuckte mit den Schultern und starrte auf den Sand. Fiona stieß ihn mit dem Ellbogen an. Das schien ihn an etwas zu erinnern, denn er sagte: »Wir haben aber etwas anderes gefunden.«
»Einen Unterschlupf?«, fragte Emma.
»Eine Straße?«, fragte Millard.
»Eine Gans, die wir zum Abendessen zubereiten können?«, fragte Claire.
»Nein«, erwiderte Horace. »Ballons.«
Es folgte ein kurzes, verdutztes Schweigen.
»Was meinst du mit ›Ballons‹?«, fragte Emma.
»Große am Himmel, mit Männern darin.«
Emmas Gesicht verdüsterte sich. »Zeig sie uns.«
Wir folgten den beiden den Weg zurück, den sie gekommen waren, und kletterten hinter der Strandbiegung eine kleine Böschung hinauf. Ich fragte mich, wie wir etwas so Offensichtliches wie Heißluftballons hatten übersehen können. Aber dann kamen wir oben an, und ich sah sie – es waren nicht diese großen, bunten, tränenförmigen Dinger, die man in Wandkalendern und auf Motivationspostern sieht (»Es gibt keine Grenzen!«), sondern Minizeppeline: schwarze, eiförmige, mit Gas gefüllte Säcke, unter denen skelettartige Käfige hingen, mit jeweils einem Piloten. Sie flogen tief und bewegten sich in trägem Zickzack vor und zurück. Das Rauschen der Brandung hatte das leise Surren ihrer Propeller überdeckt. Emma trieb uns in das hohe Seegras, und wir duckten uns, um nicht gesehen zu werden.
»Das sind U-Boot-Jäger«, sagte Enoch und beantwortete damit die Frage, noch bevor jemand sie gestellt hatte. Millard mochte ja die Autorität sein, wenn es um Landkarten und Bücher ging, aber in militärischen Dingen war Enoch der Experte. »Feindliche U-Boote spürt man am besten aus der Luft auf«, erklärte er.
»Und warum fliegen sie dann so tief über dem Boden?«, fragte ich. »Und warum sind sie nicht weiter draußen über dem Meer?«
»Das weiß ich nicht.«
»Denkst du, dass sie vielleicht auf der Suche nach … uns sind?«, fragte Horace zögernd.
»Du meinst, es sind Wights?«, antwortete Hugh. »Mach dich nicht lächerlich. Die Wights sind mit den Deutschen zusammen. Sie sind auf diesem deutschen U-Boot.«
»Die Wights verbünden sich mit jedem, der ihnen nützlich sein kann«, widersprach Millard. »Wieso sollten sie nicht die Kriegsgegner auf beiden Seiten unterwandert haben?«
Ich konnte den Blick nicht von den seltsamen Apparaten am Himmel lösen. Sie wirkten so unnatürlich, wie mechanische Insekten, aufgebläht mit tumorhaften Eiern.
»Es gefällt mir nicht, wie sie fliegen«, sagte Enoch und berechnete hinter seinen scharfen Augen etwas. »Sie suchen die Küste ab und nicht das Meer.«
»Und wonach suchen sie?«, fragte Bronwyn. Aber die Antwort lag auf der Hand und war so furchterregend, dass niemand sie laut aussprechen wollte.
Sie suchten nach uns.
Wir quetschten uns alle nebeneinander in das Gras, und ich spürte, wie sich Emmas Körper neben meinem anspannte.
»Wenn ich es sage, rennt ihr los«, zischte sie. »Wir verstecken erst die Boote und dann uns.«
Wir warteten ab, bis sich die Zeppeline entfernt hatten, taumelten dann aus dem Gras und beteten, dass sie zu weit weg waren, um uns zu entdecken. Während wir zurückrannten, ertappte ich mich bei der Hoffnung, der Nebel, der uns auf See so geplagt hatte, würde zurückkommen und uns verbergen. Vermutlich hatte er uns bereits einmal gerettet, denn ohne den Nebel hätten die Zeppeline uns schon vor Stunden in unseren Booten aufgespürt. So gesehen war es die letzte Amtshandlung der Insel gewesen, ihre besonderen Kinder zu schützen.
Wir zogen die Boote quer über den Strand zu einer Höhle, zu der man durch einen schwarzen Riss im Gestein gelangte. Bronwyn hatte sich völlig verausgabt und konnte sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn die Boote ziehen. Also sprangen wir für sie ein, schoben und zerrten die Rümpfe, die beharrlich versuchten, ihre Nasen in den feuchten Sand zu bohren. Als wir den Strand zur Hälfte überquert hatten, stieß Miss Peregrine einen Warnschrei aus. Die beiden Zeppeline tauchten über den Dünen auf. Von Adrenalin befeuert, legten wir einen Sprint hin und schafften die beiden Boote in die Höhle, als liefen sie auf Schienen, während Miss Peregrine kraftlos neben uns herhüpfte und den verletzten Flügel durch den Sand schleifte.
Als wir endlich außer Sichtweite waren, ließen wir die Boote los und sanken erschöpft auf die nach oben gerichteten Kiele. Unser Keuchen hallte in der feuchten, tropfenden Dunkelheit wider. »Bitte, bitte, mach, dass sie uns nicht gesehen haben«, betete Emma laut.
»Oh, Vögel! Unsere Spuren!«, schrie Millard, streifte seinen Mantel ab und kroch aus der Höhle, um die Schleifspuren der Boote im Sand zu verwischen. Aus der Luft mussten sie aussehen wie Pfeile, die direkt in unser Versteck führten. Wir sahen nur seine sich entfernenden Fußstapfen. Wäre jemand anderer als Millard hinausgegangen, hätte man ihn mit Sicherheit entdeckt.
Eine Minute später kam er zurück, zitternd, sandverkrustet und mit einem roten Fleck vorn unter der Schulter. »Sie kommen jetzt näher«, keuchte er. »Ich habe getan, was ich konnte.«
»Du blutest wieder!«, sagte Bronwyn besorgt. Während des Handgemenges am Leuchtturm war Millard von einer Kugel gestreift worden, und obwohl er sich bemerkenswert schnell erholte, war er längst noch nicht völlig wiederhergestellt. »Was hast du mit dem Verband gemacht?«
»Ich habe ihn weggeworfen. Er war so eng, dass ich mich damit nicht schnell bewegen konnte. Ein Unsichtbarer muss sich jederzeit blitzschnell ausziehen können, sonst ist seine Gabe nutzlos!«
»Tot nutzt er noch viel weniger, du sturer Esel«, erwiderte Emma. »Und jetzt halte still und beiß dir nicht die Zunge ab. Es wird wehtun.« Sie presste zwei Finger in die Fläche ihrer anderen Hand und konzentrierte sich einen Moment lang. Als sie die Finger wieder wegnahm, glühten sie rot.
Millard schreckte zurück. »Also, Emma, mir wäre lieber, du würdest nicht …«
Emma presste die Finger auf die verwundete Schulter. Millard sog hörbar die Luft ein. Man vernahm das Geräusch von versengendem Fleisch, und eine feine Rauchwolke stieg über der Wunde auf. Das Bluten hörte sofort auf.
»Es wird eine Narbe geben!«, jammerte Millard.
»Ja. Und wer soll die sehen können?«
Er schmollte und schwieg.
Die Motorengeräusche der Zeppeline wurden immer lauter, noch verstärkt von den steinernen Wänden der Höhle. Ich stellte mir vor, wie die Männer über uns kreisten, unsere Fußabdrücke entdeckten und sich darauf vorbereiteten, uns zu überfallen. Emma lehnte ihre Schulter gegen meine. Die Kleineren liefen zu Bronwyn und bargen ihre Köpfe in ihrem Schoß. Sie legte schützend die Arme um die Kinder. Trotz unserer besonderen Fähigkeiten fühlten wir uns machtlos: Wir konnten nicht mehr tun, als hier zu hocken, einander in dem Dämmerlicht blinzelnd anzusehen, während unsere Nasen wegen der Kälte liefen, und zu hoffen, dass der Feind vorbeizog.
Schließlich verebbte das Heulen der Motoren, und sobald wir unsere eigenen Stimmen wieder hören konnten, murmelte Claire in Bronwyns Schoß: »Erzähl uns eine Geschichte, Wyn. Ich habe Angst und ich mag das alles gar nicht, und ich möchte lieber eine Geschichte hören.«
»Ja, könntest du bitte eine erzählen?«, flehte auch Olive. »Eine Geschichte aus den Erzählungen, bitte. Die höre ich am liebsten.« Bronwyn hatte eine so liebevolle Art, dass sie von den Jüngeren als ihre Mutter angesehen wurde – mehr noch als Miss Peregrine. Es war Bronwyn, die die Kleinen abends ins Bett brachte, ihnen Geschichten vorlas und sie zudeckte. Ihre starken Arme schienen wie geschaffen, sie tröstend zu umfangen, und ihre breiten Schultern wie gemacht, um sie zu tragen. Aber jetzt war nicht der Moment zum Geschichtenerzählen – und das sagte sie auch.
»Und ob er das ist!«, widersprach Enoch mit sarkastischem Singsang. »Aber vergiss das Buch und erzähl uns lieber, wie sich Miss Peregrines Schützlinge in Sicherheit bringen, ohne eine Landkarte, ohne etwas zu essen und ohne unterwegs von Hollowgasts gefressen zu werden. Ich bin ja so gespannt auf das Ende dieser Geschichte!«
»Wenn Miss Peregrine es uns doch nur verraten könnte«, schniefte Claire. Sie löste sich aus Bronwyns Armen und ging zu dem Vogel, der uns vom höchsten Punkt auf einem der umgekehrten Boote aus zugesehen hatte.
»Was sollen wir tun, Headmistress?«, fragte Claire. »Verwandeln Sie sich bitte wieder in einen Menschen. Bitte wachen Sie auf!«
Miss Peregrine gurrte und streichelte mit ihrem Flügel über Claires Haar. Mit tränenverschmiertem Gesicht sagte jetzt auch Olive: »Wir brauchen Sie, Miss Peregrine! Wir sind verloren und in Gefahr und hungrig, und wir haben kein Zuhause mehr und niemanden außer uns, wir brauchen Sie!«
Miss Peregrines schwarze Augen schimmerten. Sie wandte sich ab, unerreichbar.
Bronwyn kniete sich neben die beiden Mädchen. »Sie kann sich im Moment nicht zurückverwandeln. Aber wir werden dafür sorgen, dass sie wieder in Ordnung kommt, das verspreche ich euch.«
»Aber wie?«, fragte Olive. Ihre Worte hallten von den Steinwänden zurück, jedes Echo war eine weitere Frage.
Emma stand auf. »Ich sage euch, wie«, antwortete sie, und alle Augen richteten sich auf sie. »Wir werden gehen.« Sie sagte das mit solcher Überzeugung, dass ich eine Gänsehaut bekam. »Wir werden immer weiterlaufen, bis wir eine Stadt erreichen.«
»Und wenn es im Umkreis von fünfzig Kilometern keine Stadt gibt?«, fragte Enoch.
»Dann marschieren wir eben einundfünfzig Kilometer. Aber ich weiß, dass wir nicht so weit vom Kurs abgekommen sind.«
»Und wenn die Wights uns aus der Luft entdecken?«, fragte Hugh.
»Werden sie nicht. Wir passen auf.«
»Und wenn sie in der Stadt auf uns warten?«, fragte Horace.
»Dann tun wir so, als seien wir normale Menschen. Wir werden damit durchkommen.«
»Darin war ich noch nie sehr gut«, erwiderte Millard lachend.
»Dich wird man gar nicht sehen, Mill. Du wirst unser Kundschafter sein, die Vorhut bilden und uns heimlich alles besorgen, was wir brauchen.«
»Ich bin ein ziemlich geschickter Dieb«, versicherte er mit einem Anflug von Stolz. »Ein echter Meister des Taschendiebstahls.«
»Und dann?«, murmelte Enoch säuerlich. »Vielleicht haben wir dann etwas Essen im Bauch und einen warmen Platz zum Schlafen, aber wir sind immer noch außerhalb einer Zeitschleife, ungeschützt, angreifbar … und Miss Peregrine ist … ist immer noch …«
»Wir werden irgendwo eine Zeitschleife finden«, entgegnete Emma. »Es gibt Erkennungszeichen und Wegweiser für alle, die wissen, wonach sie suchen müssen. Und falls nicht, dann werden wir jemanden wie uns finden, einen anderen Besonderen, der uns zeigen kann, wo sich die nächste Zeitschleife befindet. Und in dieser Zeitschleife wird es eine Ymbryne geben, und diese Ymbryne wird Miss Peregrine helfen können.«
Nie zuvor war mir jemand begegnet, der so unverbrüchliche Zuversicht an den Tag legte wie Emma. Alles an ihr strahlte Tatkraft aus: die Art, wie sie sich bewegte, mit zurückgeworfenen Schultern, wie sie den Kiefer vorschob, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte, wie sie alle Sätze mit einem Ausrufezeichen und nie mit einem Fragezeichen beendete. Das war ansteckend, und ich liebte es. Ich musste gegen den plötzlichen Drang ankämpfen, sie auf der Stelle und vor allen anderen zu küssen.
Hugh hustete. Bienen purzelten aus seinem Mund und formten in der Luft ein Fragezeichen. »Wie kannst du dir nur so verdammt sicher sein?«, fragte er.
»Weil ich es bin, das ist alles.« Und dann rieb sich Emma die Hände, als sei die Sache damit erledigt.
»Eine mitreißende Rede«, sagte Millard, »und ich verderbe die Stimmung ja nur ungern, aber nach allem, was wir wissen, ist Miss Peregrine die einzige noch nicht gefangengenommene Ymbryne. Erinnert ihr euch, was Miss Avocet gesagt hat: Die Wights überfallen schon seit Wochen Zeitschleifen und verschleppen Ymbrynes. Selbst wenn wir also eine Zeitschleife finden sollten, können wir unmöglich wissen, ob dort immer noch eine Ymbryne wohnt oder ob die Zeitschleife von unseren Feinden besetzt ist. Wir können ja schlecht an Zeitschleifentüren klopfen und hoffen, dass sie nicht voller Wights sind.«
»Oder umgeben von halbverhungerten Hollows«, fügte Enoch hinzu.
»Wir brauchen nicht zu hoffen«, widersprach Emma und lächelte in meine Richtung. »Jacob wird es uns sagen.«
Mich fröstelte. »Ich?«
»Du kannst Hollows schon aus der Ferne spüren, nicht wahr?«, sagte Emma. »Noch bevor du sie siehst.«
»Wenn sie sich nähern, habe ich das Gefühl, ich müsse mich übergeben«, gestand ich.
»Wie nahe müssen sie dafür sein?«, fragte Millard. »Wenn es nur ein paar Meter sind, wären wir immer noch in Fressreichweite. Wir brauchen dich, damit du sie in sehr viel weiterer Entfernung spürst.«
»So genau habe ich das noch nicht ausprobiert«, sagte ich. »Das ist alles neu für mich.«
Bisher war ich nur Dr. Golans Hollow ausgesetzt gewesen, Malthus – dieser Kreatur, die meinen Großvater getötet und mich beinahe in Cairnholms Sumpf ertränkt hätte. Wie weit war er entfernt gewesen, als ich zum ersten Mal spürte, dass er sich an mich heranpirschte, dass er draußen vor meinem Haus in Englewood lauerte? Es war unmöglich einzuschätzen.
»Egal, deine Gabe kann entwickelt werden«, sagte Millard. »Besondere Begabungen sind ein bisschen wie Muskeln – je mehr du sie trainierst, desto stärker werden sie.«
»Das ist doch irre!«, rief Enoch. »Seid ihr alle wirklich so verzweifelt, dass ihr nur noch auf ihn setzt? Er ist ein Junge – ein verwundbarer Normalo, der so gut wie gar nichts über unsere Welt weiß!«
»Er ist kein Normalo«, widersprach Emma und verzog das Gesicht, als sei das die übelste Beleidigung. »Er ist einer von uns.«
»Quatsch mit Soße!«, brüllte Enoch. »Nur weil er einen Spritzer Besonderen-Blut in den Adern hat, macht ihn das noch lange nicht zu meinem Bruder. Und schon gar nicht zu meinem Beschützer! Wir wissen nicht, was er kann – vermutlich würde er nicht einmal auf fünfzig Meter Entfernung den Unterschied zwischen einem Hollow und Blähungen erkennen!«
»Er hat einen von ihnen getötet, oder etwa nicht?«, betonte Bronwyn. »Ihm eine Schafschere in die Augen gebohrt. Wann hast du das letzte Mal gehört, dass ein so junger Besonderer etwas Derartiges getan hat?«
»Nicht seit Abe«, sagte Hugh, und bei der Erwähnung dieses Namens legte sich ein ehrfürchtiges Schweigen über die Kinder.
»Einmal soll er einen Hollow mit bloßen Händen getötet haben«, sagte Bronwyn.
»Und ich habe gehört, dass er einen mit einer Stricknadel und einem Stück Schnur getötet hat«, sagte Horace. »Genau genommen habe ich es geträumt, also muss es wirklich passiert sein.«
»Die Hälfte dieser Geschichten ist erlogen, und sie werden mit jedem Jahr größer und länger«, sagte Enoch. »Der Abraham Portman, den ich kannte, hat uns nicht ein einziges Mal geholfen.«
»Er war ein großartiger Besonderer!«, sagte Bronwyn. »Er hat tapfer gekämpft und jede Menge Hollows getötet.«
»Und dann ist er abgehauen und hat uns in dem Haus zurückgelassen, wo wir uns wie Flüchtlinge verstecken mussten, während er durch Amerika stolzierte und den Helden spielte.«
»Du weißt ja nicht, wovon du redest«, sagte Emma und lief vor Wut rot an. »Dahinter steckte sehr viel mehr.«
Enoch zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei, das gehört nicht zur Sache«, sagte er. »Was auch immer ihr von Abe gehalten habt, dieser Junge ist nicht Abe.«
In dem Moment hasste ich Enoch, und dennoch vermochte ich ihm wegen seiner Zweifel keine Vorwürfe zu machen. Wie konnten die anderen, die so sicher und erfahren waren in ihren Begabungen, solches Vertrauen in mich setzen – in etwas, das ich gerade erst zu verstehen begann und von dessen Existenz ich erst seit wenigen Tagen wusste? Wessen Enkel ich war, schien irrelevant zu sein. Im Grunde wusste ich doch gar nicht, was ich tat.
»Du hast recht, ich bin nicht mein Großvater«, sagte ich. »Ich bin nur ein Kind aus Florida. Vermutlich war es reines Glück, dass ich den Hollow getötet habe.«
»Unsinn«, widersprach Emma. »Eines Tages wirst du ein berühmter Hollow-Töter sein, wie Abe es gewesen ist.«
»Hoffentlich eines Tages in naher Zukunft«, sagte Hugh.
»Es ist dein Schicksal«, sagte Horace, und die Art und Weise, wie er das sagte, vermittelte mir den Eindruck, er wisse etwas, von dem ich nichts ahnte.
»Und auch wenn nicht«, sagte Hugh und schlug mir mit der flachen Hand auf den Rücken, »du bist alles, was wir haben, Kumpel.«
»Wenn es so ist, möge der Vogel uns beistehen«, sagte Enoch.
In meinem Kopf drehte sich alles. Die Last ihrer Erwartungen drohte mich zu zerquetschen. Ich stand auf und ging mit wackeligen Beinen zum Ausgang der Höhle. »Ich brauche ein bisschen frische Luft«, sagte ich und drängte mich an Enoch vorbei.
»Jacob, warte!«, rief Emma. »Die Zeppeline!«
Aber die waren längst verschwunden.
»Lass ihn gehen«, knurrte Enoch. »Wenn wir Glück haben, schwimmt er zurück nach Amerika.«
Während ich zum Ufer hinunterging, versuchte ich, mich so zu sehen, wie meine Freunde es taten. Nicht als den Jungen, der sich den Knöchel brach, als er hinter dem Eiswagen herlief, oder der zögernd und nur auf Drängen seines Vaters drei Mal erfolglos versucht hatte, in die Leichtathletikmannschaft der Schule aufgenommen zu werden. Sondern als Jacob, Beobachter der Schatten, Deuter ekliger Bauchgefühle, Seher und Mörder echter Monster – genau das konnte für unsere lustige Truppe der Besonderen den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.
Wie sollte ich je dem Erbe meines Großvaters gerecht werden?
Ich kletterte einen Steinhaufen am Ufer hinauf, stellte mich in den Wind und hoffte, die Brise würde meine feuchte Kleidung trocknen. In dem schwindenden Licht betrachtete ich das Meer, ein Tuch wechselnder Grautöne, ineinander verschmelzend und immer dunkler werdend. In der Ferne flackerte ein Licht. Es war der Leuchtturm von Cairnholm, der einen Gruß und ein letztes Goodbye aussandte. Meine Gedanken schweiften ab. Ich verfiel in einen Wachtraum.
Ich sehe einen Mann. Er ist im mittleren Alter. Mit Tierexkrementen bedeckt, kriecht er langsam über die Spitze einer Klippe. Sein schütteres Haar ist ungekämmt und hängt ihm nass ins Gesicht. Der Wind bläht seine dünne Jacke auf wie ein Segel. Er hält inne, lässt sich auf die Ellbogen fallen, schiebt sie in Löcher, die er Wochen zuvor angelegt hat, als er diese Stelle auf Seeschwalbenpaare und Sturmtauchernester auskundschaftete. Er hebt ein Fernglas an die Augen, richtet es jedoch nach unten, unterhalb der Nester auf einen schmalen, halbmondförmigen Strand, wo die ansteigende Flut alles Mögliche anspült: Treibholz, Seegras, Stücke zertrümmerter Boote – und manchmal, so sagen die Einheimischen, auch Leichen.
Dieser Mann ist mein Vater. Er sucht nach etwas, das er auf keinen Fall finden will.
Er sucht nach der Leiche seines Sohnes.
Etwas stieß gegen meinen Schuh. Ich schrak aus meinem Wachtraum auf und öffnete die Augen. Es war fast dunkel, und ich saß auf dem Felsen, die Knie an die Brust gezogen. Plötzlich war Emma da, sie stand unter mir im Sand, und der Wind zerzauste ihr Haar.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
Um diese Frage zu beantworten, bedurfte es höherer Mathematik und etwa einer Stunde tiefschürfender Diskussionen. Ich spürte einhundert widersprüchliche Dinge, wovon sich der größte Teil gegenseitig aufhob, bis Frieren und Müdigkeit übrig blieben, worüber sich nicht zu reden lohnte. Deshalb sagte ich: »Es geht mir gut, ich versuche nur, meine Klamotten zu trocknen.« Zur Bestätigung schlug ich auf mein feuchtes Sweatshirt.
»Dabei kann ich dir behilflich sein.« Sie kletterte auf den Felsen und setzte sich neben mich. »Gib mir einen Arm.«
Ich hielt ihr den Arm hin, und Emma legte ihn über ihre Knie. Sie wölbte die Hände vor dem Mund und beugte sich über mein Handgelenk. Dann holte sie tief Luft und atmetete langsam in ihre Handflächen aus. Eine unvorstellbare, beruhigende Wärme breitete sich auf meinem Unterarm aus, es war so warm, dass es fast schon schmerzte.
»Ist es zu stark?«, fragte sie.
Ein Schauer durchfuhr mich, und ich zuckte zusammen. Dann schüttelte ich den Kopf.
»Gut.« Sie wanderte mit dem Atem meinen Arm hinauf. Ein weiterer Schwall süßer Wärme. Zwischen zwei Atemzügen sagte sie: »Ich hoffe, du ärgerst dich nicht über das, was Enoch gesagt hat. Wir anderen glauben an dich, Jacob. Enoch kann ein giftiges kleines Biest sein, vor allem, wenn er eifersüchtig ist.«
»Ich denke, er hat recht«, erwiderte ich.
»Das glaubst du nicht wirklich, oder?«
Und dann strömte alles aus mir hinaus. »Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich tue!«, sagte ich. »Wie könnt ihr euch da auf mich verlassen? Falls ich wirklich besonders bin, dann wohl nur ein kleines bisschen. Als wäre ich zu einem Viertel besonders, und ihr seid alle Vollblüter.«
»So funktioniert das nicht«, antwortete sie lachend.
»Aber mein Großvater war besonders – mehr als ich. Er muss es gewesen sein. Er war so stark …«
»Nein, Jacob«, widersprach sie und sah mich unter halbgeschlossenen Lidern an. »Es ist erstaunlich, wie sehr du ihm ähnelst. Du bist natürlich auch anders – du bist sanftmütiger und netter –, aber sobald du etwas sagst … klingst du wie Abe, als er damals zu uns kam.«
»Ehrlich?«
»Ja. Er war auch verwirrt, war nie zuvor einem anderen Besonderen begegnet. Er verstand weder seine Fähigkeit noch, wie sie funktionierte oder was er damit ausrichten konnte. Und wir ehrlich gesagt auch nicht. Deine Fähigkeit ist selten. Sehr selten. Aber dein Großvater hat sie erlernt.«
»Wie?«, fragte ich. »Und wo?«
»Im Krieg. Er gehörte zur geheimen Einheit Besonderer bei der britischen Armee. Er kämpfte gleichzeitig gegen die Hollowgasts und die Deutschen. Er tat die Dinge, für die man keine Medaillen bekommt – aber für uns waren diese Männer Helden, und niemand war ein größerer Held als dein Großvater. Die Opfer, die sie brachten, warfen die Abtrünnigen um Jahrzehnte zurück und retteten die Leben unzähliger Besonderer.«
Und trotzdem, dachte ich, konnte er seine eigenen Eltern nicht retten. Eine sonderbare Tragik.
»Und eines kann ich dir sagen«, fuhr Emma fort. »Du bist mindestens genauso besonders, wie er es war – und genauso mutig.«
»Ha! Du willst doch nur, dass ich mich besser fühle.«
»Nein«, widersprach sie und sah mir in die Augen. »Du wirst lernen, Jacob. Eines Tages wirst du ein noch größerer Hollow-Töter sein als dein Großvater.«
»Ja, das sagen alle ständig. Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Weil ich es tief in mir spüre«, antwortete sie. »Du bist dazu bestimmt. Genauso wie es dir vorherbestimmt war, nach Cairnholm zu kommen.«
»Ich glaube nicht an solches Zeug. Vorherbestimmung. Die Sterne. Schicksal.«
»Von Schicksal habe ich nichts gesagt.«
»Vorherbestimmung ist dasselbe«, sagte ich. »Über ›Schicksal‹ liest du in Büchern, in denen es um Zauberschwerter geht. Das ist alles Müll. Ich bin hier, weil mein Großvater in den zehn Sekunden vor seinem Tod etwas über eure Insel gemurmelt hat – das ist alles. Es war Zufall. Ich bin froh, dass er es getan hat, aber er war schon im Delirium und hat fantasiert. Genauso gut hätte er eine Einkaufsliste herunterrattern können.«
»Hat er aber nicht«, betonte sie.
Ich seufzte verzweifelt. »Und wenn wir uns auf die Suche nach Zeitschleifen machen, wenn ihr auf mich angewiesen seid, damit ich euch vor Monstern rette, und ihr stattdessen alle getötet werdet, ist das dann auch Schicksal?«
Sie runzelte die Stirn und legte meinen Arm wieder auf meinen Schoß. »Von Schicksal habe ich nichts gesagt«, wiederholte sie. »Wenn es um die wichtigsten Dinge im Leben geht, gibt es meiner Meinung nach keine Zufälle. Alles passiert aus einem bestimmten Grund. Du bist aus einem bestimmten Grund hier – und der besteht nicht darin, dass du scheiterst und stirbst.«
Ich brachte es nicht übers Herz, weiter mit ihr zu streiten. »Okay«, lenkte ich ein. »Ich glaube zwar nicht, dass du recht hast – aber ich hoffe es.« Ich fühlte mich schlecht, weil ich sie angeblafft hatte, aber mir war kalt, ich hatte Angst und fühlte mich in die Enge getrieben. Ich hatte gute Momente und schlechte, hatte ängstliche Gedanken und zuversichtliche – obwohl das Verhältnis zwischen Panik und Selbstvertrauen in diesem Augenblick ziemlich trübe aussah, so etwa drei zu eins. Und in den panischen Momenten fühlte es sich an, als würde ich in eine Rolle gesteckt, um die ich nicht gebeten hatte. Als hätte ich mich für den Dienst an vorderster Front in einem Krieg melden müssen, dessen Ausmaß wir noch gar nicht abschätzen konnten. »Vorherbestimmung« klang so verpflichtend, und wenn ich in einen Krieg gegen eine Legion von Horrorgestalten gedrängt werden sollte, so musste ich mich entscheiden.
Aber irgendwie hatte ich das bereits, als ich zustimmte, mit diesen besonderen Kindern ins Ungewisse zu rudern. Und wenn ich in den dunkelsten Ecken meiner Seele grub, dann stimmte es nicht, dass ich nicht darum gebeten hatte. In Wahrheit hatte ich schon als kleiner Junge von solchen Abenteuern geträumt. Damals hatte ich an das Schicksal geglaubt, aus tiefster Seele und mit jeder Faser meines kindlichen Herzens. Wenn ich den außergewöhnlichen Geschichten meines Großvaters lauschte, spürte ich eine Art Stechen in der Brust. Eines Tages werde ich das sein. Was sich nun wie eine Verpflichtung anfühlte, war damals eine Verheißung gewesen – dass ich eines Tages meinem kleinen Heimatort entfliehen und ein so aufregendes Leben führen würde wie er. Und dass ich eines Tages, genauso wie Grandpa Portman, etwas Bedeutsames tun würde. Er pflegte immer zu mir zu sagen: »Du wirst ein bedeutender Mann sein, Yakob. Ein sehr bedeutender Mann.«
»So wie du?«, fragte ich ihn dann.
»Mehr noch«, hatte er geantwortet.
Damals hatte ich ihm geglaubt, und das wollte ich immer noch tun. Aber je mehr ich über ihn erfuhr, desto länger wurde sein Schatten und desto unmöglicher schien es, dass ich je auf eine Weise etwas würde bewegen können, wie er es getan hatte. Allein der Versuch schien einem Selbstmord gleichzukommen. Und wenn ich es mir nur vorstellte, wurde ich sofort von Gedanken an meinen Vater heimgesucht. Und noch bevor ich diese Gedanken verdrängen konnte, fragte ich mich, wie ein bedeutender Mann jemandem, den er liebte, etwas so Schreckliches antun konnte.
Ich begann zu zittern. »Du frierst«, sagte Emma. »Lass mich weitermachen.« Sie ergriff meinen anderen Arm und küsste ihn von unten bis oben mit ihrem warmen Atem. Es war beinahe mehr, als ich ertragen konnte. Als sie meine Schulter erreicht hatte, legte sie den Arm nicht zurück auf meinen Schoß, sondern um ihre Schultern. Ich legte auch den anderen Arm um sie. Emma umarmte mich ebenfalls, und unsere Stirnen berührten sich.
Leise sagte sie: »Ich hoffe, du bedauerst deine Entscheidung nicht. Ich bin so froh, dass du bei uns bist. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn du uns verlässt. Damit käme ich niemals zurecht.«
Und wenn ich sie verließ? Einen Moment lang spielte ich im Kopf durch, wie es wäre, wenn ich in einem der Boote allein zur Insel ruderte und nach Hause zurückkehrte.
Aber das ging nicht. Es war mir unvorstellbar.
Ich flüsterte: »Wie könnte ich?«
»Wenn sich Miss Peregrine wieder in einen Menschen verwandelt hat, ist sie in der Lage, dich zurückzuschicken. Wenn du gehen willst.«
Meine Frage hatte sich nicht auf die Logistik bezogen. Ich hatte gemeint: Wie könnte ich dich verlassen? Aber diese Worte waren unaussprechlich, fanden nicht ihren Weg über meine Lippen. Also behielt ich sie für mich und küsste Emma stattdessen.
Dieses Mal war es Emma, der die Luft wegblieb. Ihre Hände fuhren zu meinen Wangen, verharrten jedoch, kurz bevor sie mich berührten. In Wellen wurde die Hitze von ihnen ausgestrahlt.
»Berühr mich«, sagte ich.
»Ich will dich nicht verbrennen«, sagte sie, aber ein plötzlicher Funkensturm in meiner Brust signalisierte: Das ist mir egal, also nahm ich ihre Finger und strich damit über meine Wange. Es war heiß, aber ich wich nicht zurück. Das wagte ich nicht, aus Angst, sie würde mich dann nicht mehr berühren. Und dann trafen sich unsere Lippen wieder, und wir küssten uns noch einmal, und Emmas unbeschreibliche Wärme durchflutete mich.
Mir fielen die Augen zu. Die Welt verschwand.
Falls ich in dem nächtlichen Nebel fror, so spürte ich es nicht mehr. Falls die tosende See in meinen Ohren widerhallte, so hörte ich es nicht. Falls der Fels, auf dem ich saß, spitz und hart war, so merkte ich es nicht. Es gab nur noch uns beide.
Und dann hallte ein lautes Krachen durch die Dunkelheit. Ich dachte mir nichts dabei – konnte mich nicht von Emma lösen –, bis sich das Geräusch verzweifachte, von dem fürchterlichen Kreischen von Metall begleitet wurde und blendendes Licht über uns hinwegfuhr. Da konnte ich es nicht länger ignorieren.
Der Leuchtturm, dachte ich. Der Leuchtturm stürzt ins Meer. Aber der Leuchtturm war ein winziger Punkt in der Ferne und kein gleißend heller Lichtkegel. Außerdem bewegte sich dieses Licht nicht im Kreis, sondern hin und her.
Es war nicht der Leuchtturm. Es war ein Suchscheinwerfer – und er kam vom Wasser nahe der Küste.
Es war der Suchscheinwerfer eines U-Boots.
Eine Schrecksekunde lang gab es keine Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinen Beinen. Meine Augen und Ohren registrierten, dass sich das U-Boot unweit der Küste befand: Das Metallungeheuer erhob sich aus den Fluten, Wasser strömte an den Seiten hinab, aus offenen Luken stürmten Männer an Deck, schrien, richteten Scheinwerfer auf uns. Und dann erreichte der Impuls meine Beine, und wir glitten, fielen, rutschten den Felsen hinunter und rannten wie der Teufel.
Der Scheinwerfer warf unsere langen Schatten über den Strand, drei Meter lang und gespenstisch. Kugeln sausten durch die Luft und bohrten sich in den Sand.
Aus einem Lautsprecher dröhnte eine Stimme: »Stopp! Stehen bleiben!«
Wir stürmten in die Höhle – Sie kommen, sie kommen, schnell, beeilt euch! –, aber die Kinder hatten den Lärm bereits gehört und waren auf den Beinen, alle außer Bronwyn, die sich auf See so verausgabt hatte, dass sie gegen die Höhlenwand gelehnt eingeschlafen war und einfach nicht aufwachen wollte. Wir schüttelten sie, schrien sie an, aber sie stöhnte nur und schob uns mit dem Arm weg. Schließlich zogen wir sie an der Taille hoch, was dem Stemmen eines Stapels Ziegelsteine gleichkam, und sobald ihre Füße den Boden berührten, öffnete sie die geröteten Lider und stand von allein.
Wir schnappten unsere Sachen, plötzlich dankbar, dass es nur so wenig war. Emma nahm Miss Peregrine auf den Arm. Wir stürmten hinaus. Als wir durch die Dünen rannten, sah ich hinter uns schemenhaft einen Trupp Männer, die das letzte Stück zum Strand durch das Wasser wateten. Hoch über den Kopf erhoben, damit sie nicht nass wurden, trugen sie Waffen.