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Beim vorletzten Abendmahl trifft Jesus seine jahrelangen Freunde, eine Abschiedsfeier, bevor er zu seiner großen Mission aufbricht, um der Menschheit seine "Frohe Botschaft" zu bringen. Auf der Suche nach seinem Gott hat er sieben Jahre in einem indischen Kloster verbracht, um Yoga und Meditation zu lernen. Doch diese Art der "Erleuchtung" ist nicht sein Weg. Er kommt zurück in die Heimat, lässt sich von Johannes taufen und nach einem 40 tägigen Fasten- und Meditations-Retreat in der Wüste fühlt er sich nun bereit, seine Lehre zu verbreiten. Seine Freunde nehmen seine revolutionären Gedanken nicht kritiklos hin, versuchen seine Ideen zu beeinflussen und warnen vor den Gefahren seiner Mission. Es kommt zu philosophischen, tiefgruündigen und teilweise humorvollen Gesprächen mit vielen Anspielungen auf die heutige Zeit.
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Seitenzahl: 155
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Für Leonard, Jonas, Zoé und Paul
Vorwort
Ein Freund
Zwei Tage vorher
Ein Tag vorher
90 Tage vorher
Sehnsucht und Fernweh
Reisevorbereitungen
80 Tage vorher – die Versuchung
Also sprach Zarathustra
Sonnengötter
Leben nach dem Tod
Leben im Hier und Jetzt
Ankunft im Orient
Seelenwanderung
Der Erleuchtete
Im Ashram
Spirituelle Übungen
Yoga und Meditation
Unglaubliche Fähigkeiten
79 Tage vorher – Mondlicht
Heilung
Kraft der Gedanken
Rückzug oder Lebenserfahrung
Körperliches
Sinnlichkeit
Das tägliche Brot
Fasten
Askese und Fortpflanzung
Das gute Recht
Das schwache Geschlecht
Der freie Wille
Fremdenergien
Rückkehr
Reisen und pilgern
Die Frohe Botschaft
Römische Besatzung
Die Essener
Der Täufer
40 Tage in der Wüste
79 Tage vorher – Monduntergang
In der Wüste
Das Gebet der Gebete
Der Sinn des Bösen
Himmlische Helfer
Jesus Christ – Superstar
Glaube
Zukunft
Das Testament
Abschied
Literaturverzeichnis
Der Autor
Danksagung
Es gibt tausende Bücher über Jesus. Warum noch eins?
Die historische Figur des Jesus von Nazareth erregt seit über 2.000 Jahren die Gemüter. Wir kennen ihn nur über die Berichte der Evangelien, geschrieben lange nach seinem Tod und von Menschen, die ihn gar nicht persönlich kannten. Es gibt ausführliche Berichte über seine Geburt. Danach taucht er als Zwölfjähriger im Jerusalemer Tempel auf und dann tritt er erst wieder mit etwa 30 Jahren in Erscheinung, lässt sich taufen und bringt die Frohe Botschaft Gottes in einer mehrwöchigen Missionsreise unters Volk, begleitet von allerlei Wundertaten.
Und was machte Jesus zwischen seinem 13. und 30. Lebensjahr? Lebte, studierte und arbeitete er in seiner Heimatstadt, schloss er sich einer Sekte an? Die Evangelien schweigen und so bleibt hier viel Platz für Spekulationen und Theorien.
Während einer neuntägigen Schweigemeditation hatte ich die »Inspiration«, dass auch Jesus nur durch tiefe Meditationen und die Verfeinerung seiner Intuition seine »göttliche Inspiration« bekommen haben kann. Warum nicht sogar in einem Kloster im damals spirituell fortgeschrittenen Indien? Auch die fantastisch anmutenden, ungewöhnlichen Fähigkeiten der Yogis könnte er hier erlernt haben, da viele seiner Wundertaten an sehr ähnliche Beschreibungen der Yogis erinnern.
Ich bin auch nicht der erste Autor, der die These vertritt. Aber je mehr ich mich in diese Gedankenwelt hineinversetzte, je größer wurde meine Überzeugung, dass es sich tatsächlich so zugetragen haben könnte. Letztendlich ist es aber nichts anderes als eine persönliche Interpretation meines Glaubens.
Dieses Buch hat auch einen großen autobiographischen Anteil. Deshalb schlüpfe ich in die Rolle des Mediziners Simon und schreibe überwiegend in der »Ich-Form«. Ich fühle mich nicht nur als »Beobachter« des Geschehens, sondern gebe auch meine Erfahrungen zum Besten, Erfahrungen, die ich in meinem eigenen Berufsleben als Arzt gesammelt habe.
Ich habe meine eigenen Gedanken und Interpretationen Jesus in den Mund gelegt. Deshalb benutze ich für Jesus und seine Freunde die heutige Umgangssprache. Es soll keine aramäische Übersetzung sein und auch bei der Beschreibung der damaligen Traditionen möge man mir so manche »unwissenschaftliche« Beschreibung als »künstlerische Freiheit« verzeihen.
Es ist eine fiktive Geschichte und erhebt keinen Anspruch auf die Wahrheit. Vielleicht regt es einige Leser an, ihre eigene subjektive Vorstellung über die christliche Religion und die Figur des Jesus von Nazareth zu überdenken.
Die ethischen Grundprinzipien fast aller großen Religionen sind sehr ähnlich. Es geht um eine humanitäre Lebensphilosophie, die das Zusammenleben der Menschen erleichtern und jedes Individuum zu einem glücklichen und erfüllten Leben führen soll. Hier gebe ich meine ganz persönlichen Gedanken für ein aktualisiertes, auf die heutige Zeit angepasstes »Christentum« weiter. Meiner Meinung nach muss jede Tradition und jede Religion für die aktuelle Zeit neu interpretiert werden. Nur so kann sie dauerhaft überleben.
Wie hätte Jesus wohl gesprochen, wenn er in der heutigen Zeit wiederauferstanden wäre? Vielleicht wie in diesem Buch …
– Liebe! Liebe ist der Atem Gottes! Liebe ist der Schlüssel zum Paradies! Ist das denn so schwer zu verstehen?
Sah ich da einen Anflug von Zorn in dem sonst ewig milde lächelnden Gesicht von Jesus?
– Schwer zu verstehen ist es nicht, aber sehr schwer umzusetzen … in der Realität, entgegnete ich, während fast alle im Raum zustimmend nickten.
Aber fangen wir doch von vorne an!
Darf ich mich kurz vorstellen? Simon, 30 Jahre alt, Arzt für Allgemeinmedizin in Nazareth, niedergelassen in eigener, hausärztlich orientierter Praxis mit Interesse an alternativen Heilverfahren, treuer Ehemann und liebevoller Vater. Mit von der Partie war meine Frau Sarah. Wir kannten uns seit ihrem 17. Lebensjahr. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, war es wie ein Wiedersehen, als wenn sich zwei alte Seelen für dieses Leben vor langer Zeit verabredet hätten. Sie ist eine wunderschöne Frau mit kleinen, aber glänzenden Augen, schlank mit weiblichen Formen und immer geschmackvoll und vorteilhaft gekleidet. Ich habe sie kennengelernt als aufmerksame Partnerin, mitfühlende Mutter und eine hervorragende Köchin. In der Praxis half sie mir, weniger mit wissenschaftlich-medizinischen als mehr mit psychologisch-therapeutischen Gesprächen und Ritualen, wobei ihre große Intuition und ihr offenes, wertschätzendes Wesen den Patienten Vertrauen einflößten.
Heute Abend waren wir beide Gastgeber eines ungewöhnlichen Abendmahls: Jesu Abschiedsessen von seinen besten Freunden vor seiner nicht ganz ungefährlichen Missionsreise. Jesus kannte ich seit meiner Kindheit. Wir waren Nachbarn und gingen zusammen in die Tempelschule.
Der heutige Abend begann nach Sonnenuntergang, ein ungewöhnlich farbenfroher Sonnenuntergang. Fast alle waren schon versammelt, als Jesus eintrat. Fast zehn lange Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Er hatte sich kaum verändert. Sein markantes, leicht gebräuntes Gesicht mit den dunklen strahlenden Augen, die wohlgeformte spitze Nase, der ausdrucksvolle Mund, umrandet vom kurzen, frisch rasierten Vollbart und die schulterlangen, schwarzen, leicht gelockten Haare. Der schlanke, muskulöse Körper steckte in einer hellen, sauberen, jüdischen Tunika. Es gibt wenige Menschen, die eine derartige Präsenz ausstrahlen, dass sie schon beim Eintreten den ganzen Raum mit ihrer Energie ausfüllen. Jesus war ein solcher Mensch. Früher schon, aber jetzt vielleicht noch mehr …
Echte Freunde muss man nicht dauernd treffen. Ja, manchmal sieht man sie eher selten. Aber wenn man sich – auch nach langer Zeit – wiedersieht, dann entsteht das Gefühl, als habe man sich erst gestern zuletzt getroffen. Jesus war ein solcher Freund. Wir fielen uns in die Arme.
– Sei gegrüßt, Maria Magdalena!
Ich trat in den Vorhof des Hauses ein und die junge Frau erwiderte meinen Gruß mit einem aufrichtigen Lächeln. Sie sieht ja schon verdammt gut aus, dachte ich einen kurzen Moment.
– Fast so gut wie meine Frau Sarah, entschuldigte ich meine eigenen Gedanken.
– Sarah und ich geben eine Abschiedsparty für Jesus, bevor er zu seiner großen Mission aufbricht …
– … um die Welt zu retten!, unterbrach mich Maria Magdalena mit ihrem – wie immer – bezaubernden Lächeln.
– Kommen seine Eltern Maria und Josef auch?
– Nein, die Familienfeier mit seinen Eltern, Geschwistern, Onkel, Tanten und Cousins wird einen Abend später in seinem Elternhaus und nur im Familienkreis stattfinden. Wir laden nur seine besten Freunde und Freundinnen ein.
– Du weißt doch, dass Frauen in einer Männerrunde nicht gern gesehen werden!, entgegnete das hübsche Gesicht mit den mandelförmigen Augen und den fleischigen Lippen.
– Aber du weißt doch, dass sich Jesus wenig um Sitten und Traditionen schert. Und die meisten seiner Freunde kennst du sowieso, entgegnete ich und schlug vor:
– Dann bring doch deine Freundin Deborah mit! Und etwas mehr weibliche Präsenz könnte den Abend noch interessanter gestalten!
Maria Magdalena ließ sich nicht lange überreden. Da sie alleine lebte, war es sicherlich eine willkommene Abwechslung. Außerdem mochte sie Jesus. Wie weit dieses »Mögen« ging, war Gegenstand vieler Tuscheleien, und ehrlich gesagt, war ich auch etwas neugierig. Seit seiner Rückkehr aus Indien hatten sich die beiden schon mehrfach getroffen. Zum Diskutieren hieß es – rein platonisch. Nie würden wir mehr darüber erfahren! Aber einen kleinen Hintergedanken hatte ich bei der Einladung schon. Vielleicht erhasche ich ja einen verräterischen Blick oder vielleicht verplappert sich die eine oder der andere nach ein paar Becherchen Wein. Ich erschrak über meine eigene ungesunde Neugier.
Ich trat durch die unverschlossene Tür in die kleine Stube ein, nachdem niemand auf mein Anklopfen reagiert hatte. Es war nicht sehr aufgeräumt in Judas’ Haus und allerlei Krempel lag auf dem Tisch und den Stühlen. Junggesellenwohnung! Ihm fehlt eine Frau, war mein erster Gedanke.
– Hallo, Judas, ich war so frei und bin schon reingekommen …
– Kein Problem, ich war im Garten.
Judas trat durch die Hintertür in den kleinen Raum. Seine schwarzen Haare bedeckten Ohren und Nacken, der wuselige Bart war schon länger nicht mehr rasiert, aber die braunen Augen strahlten mich an.
Beim Hereinkommen warf er beiläufig ein kleines Tuch auf den Tisch und verdeckte ein römisches Schwert. Ich tat so, als habe ich es nicht gesehen, und besann mich auf meine Schweigepflicht, die ich in diesen Zeiten nicht nur im medizinischen Bereich anwendete. Hätte ich den Römern einen Tipp gegeben, hätte es Judas’ Kopf und Kragen kosten können. Waffenbesitz war den Juden streng verboten. Zu groß war die Angst vor den Zeloten, einer Widerstandsgruppe, die im Untergrund gegen die römische Besatzung kämpfte und mit ihrer Guerilla-Taktik den Römern und ihren jüdischen Kollaborateuren schon viel Schaden zugefügt hatte. Es gab Gerüchte, dass sich Judas mit Mitgliedern dieser Gruppe getroffen haben soll. Judas unterbrach meine Gedanken.
– Was führt dich zu mir? Jesus?
– Ja, ich weiß, du hast ihn schon getroffen nach seiner Rückkehr aus Indien. Bevor er wieder aufbricht auf seine Missionsreise, wollen Sarah und ich seine besten Freunde noch für ein letztes Abendmahl einladen. Hast du morgen Abend Zeit?
Judas und Jesus kannten sich schon seit der Schulzeit. Judas’ Augen schienen sich in der Ferne zu verlieren.
– Wir hatten uns schon einige Male zusammengesetzt und über unsere gemeinsamen Ideen gesprochen. Leider sind wir nicht bei jedem Thema auf der gleichen Wellenlänge …
– Ich habe gehört, du willst ihn begleiten auf seiner Mission?
Judas nickte und antwortete:
– Jesus war immer schon ein besonderer Mensch. Aber seit seiner Rückkehr aus Indien hat er sich noch mal verändert, er hat eine unglaubliche Ausstrahlung, eine Präsenz, die ganze Räume füllt. Er strahlt eine natürliche Autorität aus. Wenn er redet, kleben die Menschen an seinen Lippen. Sie glauben ihm, sie folgen ihm. Gottes Worte strömen aus seinem Mund.
Judas ergriff meine Hand, als wolle er mich mitreißen in seinem Enthusiasmus.
– Ich bin überzeugt: Er ist der Messias, der Retter, den Gott uns versprochen hat. Er wird uns befreien aus dem Joch der Römer. Nur ein Wort von ihm und alle unterdrückten Völker werden sich erheben!
Vorsichtig löste ich meinen Arm aus seiner Umklammerung.
– Befreiung ja, aber ich glaube, über die Methode, die Vorgehensweise, habt ihr sehr unterschiedliche Vorstellungen.
Judas’ Wortschwall ließ sich nicht unterbrechen.
– Deshalb werde ich ihn begleiten! Ich werde dafür sorgen, dass er die richtigen Leute trifft. Er wird sich seinem Einfluss, seiner Macht bewusst werden. Die Menschen haben hohe Erwartungen an den Messias. Sie sind der vielen umherreisenden Gurus mit ihren falschen Versprechungen überdrüssig geworden. Sie warten auf ein Wort Gottes, auf die Einlösung eines göttlichen Versprechens. Und Jesus wird seine Aufgabe erkennen müssen. Er war nicht umsonst in Indien, um all seine Fähigkeiten zu erwerben. Gott hat ihm den Weg gezeigt und jetzt muss er sich seiner Aufgabe stellen.
– Hoffentlich wirst du nicht enttäuscht, bremste ich ihn.
Judas lächelte, danach wurde seine Miene sehr ernst.
– Ich glaube an Jesus. Er ist ein ganz besonderer Mensch. Einer der ganz großen Propheten. Er wird sehr erfolgreich sein. Das wird ihm auch viel Feindschaft entgegenbringen. Ich werde darauf aufpassen, dass ihm der Erfolg nicht zu Kopfe steigt. Auch wenn ihn die Menschen für einen Gott halten, er soll sich immer darüber im Klaren sein, dass er zwar ein Prophet, aber ein sterblicher Mensch ist und dass er nur die Worte Gottes wiedergibt. Das Einzige, was ich von ihm verlange, ist, dass er sich vehement davon abgrenzt, wenn die Menschen ihn für einen Sohn Gottes halten.
Wir sahen uns lange an und schwiegen.
Ich wusste nicht, ob es eine gute Idee war, mit dieser Einstellung Jesus auf seiner Mission zu begleiten … dachte ich bei mir.
– Danke für die Einladung, ich komme gerne!, unterbrach Judas unser Schweigen.
Ich nickte freundlich und trat hinaus. Aber irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl bei der Sache.
Jesus ließ den Blick über die unendliche Weite der Landschaft schweifen. Von dem Felsen, auf dem er stand, blickte er zur untergehenden Sonne. Felsen, Steine, Geröll und Sand, so weit das Auge reichte. Aber auch eine eigenartige Faszination strahlte die Wüste aus. Eintönigkeit und Vielfalt zugleich. Die Wüste betäubt die Sinne und befreit die Seele. Der Horizont verblasst im sandigen Dunst und die gelbrote Sonne umspült die Felsen in unwirklichem Licht.
– Willst du dich finden, dann geh allein in die Wüste, hatte ihm der Täufer gesagt.
Jesus hatte sich entschlossen, eine 40-tägige Auszeit zu nehmen. Er suchte eine Höhle am Rande der Wüste auf, ein Ort, den Johannes ihm gezeigt hatte, nicht weit von der Stelle am Jordan, wo dieser seine berühmten Taufen durchführte. Eine eigenartige Energie lag über diesem Ort. Rundherum war alles trocken, nur Sand und Steine. Die Höhle lag an einem ausgetrockneten Flussbett, es gab eine Quelle, die aus dem Boden austrat und einen kleinen Teich bildete. Rundherum eine Mini-Oase: Gras, Sträucher, ja sogar zwei Dattelpalmen. Das einzige Kleidungsstück von Jesus war ein einfacher Umhang aus Leinen. Er hatte einen kleinen Rucksack mit einem Messer und einem Becher mitgenommen. Die ersten Tage ernährte er sich noch von Datteln, Blättern, Larven, Heuschrecken, aber dann ging er nach und nach zu komplettem Fasten über. Wasser gab es aus der Quelle im Überfluss.
Den größten Teil des Tages meditierte er in der Eintönigkeit der Felsenlandschaft, nachts unter dem Sternenhimmel. Schlaf brauchte er kaum.
Den ganzen Tag hatte er im Lotussitz und im Halbschatten vor einem Felsendom gesessen. Irgendwann hatte er diesen nur noch verschwommen wahrgenommen und das Ziel der Meditation verschmolz mit dem Meditierenden. Meditierender und Meditationsobjekt wurden zu einer einzigen Wahrnehmung. Subjekt und Objekt waren nicht mehr getrennt. Sie waren eine Einheit.
Jesus spürte, dass heute der Zeitpunkt für eine der wichtigsten und gleichzeitig schwierigsten Übungen gekommen war: die Levitation. Er hatte sie nie mit eigenen Augen gesehen, aber er hatte darüber in zahlreichen glaubhaften Berichten gehört. Der Geist beherrscht die Materie. Der Yogi kann durch seine Geisteskraft, die er in der Kombination von tiefer Meditation mit speziellen rituellen Übungen erreichte, selbst die Naturgesetze vorübergehend aufheben. Er war bereit für diese ultimative, spirituelle Erfahrung: das yogische Fliegen.
Die Sonne stand nun tief am Horizont. Jesus ging einen Schritt nach vorne und blickte über den Felsenrand in die Tiefe. Der Boden war im Schatten des Bergmassivs verschwunden.
– Spring!, hörte er seine eigene innere Stimme flüstern. Spring!
Machen wir einen Sprung zurück in mein bescheidenes Haus und zu diesem Abend des vorläufig letzten Abendmahls. Jesus war als Letzter eingetreten und hatte alle seine alten Freunde herzlich begrüßt und in die Arme genommen. Manche hatte er seit seiner Rückkehr schon besucht, andere sah er nach über zehn Jahren zum ersten Mal wieder.
Meine Frau Sarah hatte zusammen mit meinen Töchtern ein köstliches Abendmahl zubereitet, vielleicht das letzte gemeinsame mit ihm? Der Aperitif stand schon auf dem Tisch. Kleine Schälchen mit grünen und schwarzen Oliven, eingelegte Gurken, Sesamkerne und Pistazien. Das duftende, noch warme Fladenbrot aus Gerstenmehl wurde in unserem Holzkohleofen hinter dem Haus frisch gebacken. Dazu einen leicht perlenden, jungen Wein aus dem Libanon. Wir saßen um den großen viereckigen Tisch im Wohnzimmer. Entgegen den traditionellen Gewohnheiten saßen auch drei Frauen mit am Tisch: Maria Magdalena, die Händlerin, ihre Freundin Deborah, die Nonne, und meine Frau Sarah, die Heilerin. Auf der anderen Seite saßen mit mir seine alten Jugendfreunde: Judas, der ewige Student, Thomas, der Wissenschaftler, Nathan, der Kaufmann, Aaron, der Tempelpriester, und Jakob, der Kneipenwirt.
Jesus saß mir gegenüber und wir schienen gegenseitig unsere Gedanken zu erraten. Was für eine bunte Mischung der unterschiedlichsten Menschen!
Nach den üblichen Begrüßungsritualen und dem der Höflichkeit dienenden uninteressanten »kleinem Gerede« (neudeutsch »Small Talk«) wurde es ruhiger im Raum. Alle waren neugierig und blickten auf Jesus.
Zehn Jahre war er unterwegs gewesen, zehn Jahre weit weg von der Heimat, von Familie und Freunden, zehn Jahre Entbehrung und Strapazen. Welchen Sinn, welche Motivation hatte diese Reise? Warum hat er all diese Strapazen auf sich genommen? Was hat er gesucht? Was hat er gefunden? Jesus nahm einen Becher Wein, prostete allen zu und ergriff das Wort:
– Es hat mich immer schon interessiert: die existentiellen Fragen unseres Daseins. Was ist der Sinn des Lebens? Wer oder was ist Gott? Was ist unsere Aufgabe auf der Erde? Was kommt danach?
– Ich erinnere mich, bestätigte ich und fuhr fort:
– Du musst etwa zwölf gewesen sein, als du beim Passahfest im Tempel von Jerusalem mit den Priestern diskutiertest, unser kleiner, frühreifer Philosoph!
Jesus lächelte und fuhr fort:
– Mir hat es nie gereicht, nur die Schriften zu lesen, den Interpretationen der Priester zu folgen. Vielleicht enthalten sie die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Geschrieben wurden sie von Menschen. Möglicherweise von Gott inspiriert. Aber wer weiß das schon?
– Und ich dachte schon, nur ich wäre der Ungläubige, rief Thomas. Ich kannte Thomas vom Studium. Er interessierte sich für alle Bereiche der Wissenschaft, für Astronomie, Astrologie, Anatomie sowie Tier- und Pflanzenkunde. Die Anwendung der Medizin war nie seine Berufung gewesen und er wechselte schnell in eine praktische Ausbildung. Er wollte alles rational erklären und stellte manchmal sogar unsere Religion infrage. Er hatte immer ein herausforderndes Lächeln auf den spitzen Lippen, die von einem spärlichen Bart eingerahmt waren. Seine durchdringenden braunen Augen wurden überragt von einer hohen Denkerstirn mit dem Ansatz einer Glatze.
Jesus mochte seine kritischen Kommentare und fuhr fort:
– Die Fragen nach unserer wahren Existenz ließen mich nicht los. Es musste doch mehr geben. Wenige Jahre später, auch wieder beim Passahfest, traf ich auf eine Gruppe Reisender. Sie waren mit einer Karawane aus dem fernen Orient gekommen, aus einem Land, das sie »Indien« nannten. Sie erzählten von exotischen Pflanzen und Tieren, von Völkern mit eigenartigen Kulturen, von Schlössern und Tempeln, von tiefer Religiosität und Spiritualität.
Jakob, der Witzbold, lachte, während er eine schwarze Olive in die Luft warf und mit dem Mund aufschnappte. Er schluckte sie runter und ergänzte:
– Und sie erzählten von Fakiren, die zaubern und fliegen können!
Jesus ließ sich nicht unterbrechen.