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In sechs Kurzgeschichten spürt Brigitte Grill Gottes Reden in Menschenleben nach. Sie schildert Situationen, in denen Menschen zum Teil auf ungewöhnliche Weise aus dem Alltagstrott gerissen und mit dem Ruf in die Nachfolge konfrontiert werden. ---- Brigitte Grill, Jahrgang 1959, wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und traf mit 24 Jahren eine eigene Entscheidung für Jesus Christus. Die gelernte Bürokauffrau entdeckte schon früh ihre Liebe zum geschriebenen Wort. Sie hat mehrere Erzählungen veröffentlicht, arbeitete eine Zeit lang als Journalistin und schrieb einige Artikel für die christliche Frauenzeitschrift Lydia.
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Seitenzahl: 40
Das Wegkreuz
Kurzgeschichten
Brigitte Grill
© 2014 Folgen Verlag, Wensin
Autor: Brigitte Grill
Cover: Eduard Rempel, Düren
Lektorat: Julia Balachowski
ISBN: 978-3-944187-40-2
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
Das Wegkreuz ist früher als Buch im Christlichen Verlagshaus, Stuttgart, erschienen.
Zwischen Himmel und Erde
Montagmorgen mit Hindernissen
Wie die Kinder
Gib mir eine Antwort
Josef kennt keine Flaute
Das Wegkreuz
Noch kurz ein Blick in den Spiegel, das Make-up erneuert, die Nase gepudert. Das enge dunkle Kostüm sitzt gut. Barbara Neumeier weiß, dass sie mit sich zufrieden sein kann. Gleich darauf geht es wieder los – ihr Einsatz während des Abendflugs von Paris nach München.
Die Fluggäste steigen aus dem Zubringerbus und erklimmen die Gangway. Barbara und die anderen Stewardessen begrüßen sie höflich und helfen ihnen, den Platz zu finden und das Handgepäck in den Fächern zu verstauen. Bei allem, was sie tut, ist Barbara freundlich und gelassen. Wer sie jedoch näher kennt, weiß, dass manches Lächeln nur eine Fassade der großen inneren Anspannung ist.
Kurz darauf ertönt ihre geschulte Stimme über Mikrofon: »Verehrte Fluggäste, wir begrüßen sie an Bord und wünschen Ihnen einen guten Flug.« In drei Sprachen erklärt sie die Route und die Sicherheitsvorkehrungen. Dann legt die Maschine an Geschwindigkeit zu und erhebt sich mit großem Getöse in die Luft.
Bis die Duty-free-Artikel angeboten werden, bleibt eine kurze Verschnaufpause und damit ein letzter Blick auf Paris, das in warmes Abendrot getaucht ist. Diese Stadt ist Barbara ans Herz gewachsen. Sie denkt an ihren freien Tag gestern, an den Besuch des Louvre. Auch an Pierre, dessen Bekanntschaft sie in einem kleinen Straßencafé im Quartier Latin gemacht hat. Sie fragt sich, ob sie heute Abend noch ausgehen soll, wenn sie wieder in ihrer Heimatstadt München ist. Soll sie sich mit Bernd treffen? Lust hat sie eigentlich keine. Ihre Beziehung zueinander ist in letzter Zeit sehr problematisch geworden. Barbara ist klar, dass sie im Grunde nur noch die Angst vor dem Alleinsein zusammenhält.
Da kommt Andrea, die jüngste des Teams, und ruft: »Der Nonne ist schlecht. Komm mal schnell.«
Obwohl sie selbst noch nicht lange bei der Fluggesellschaft beschäftigt ist, wurde Barbara die Leitung und damit die Verantwortung des Einsatzteams übertragen. Sie holt eine Tasche mit Medikamenten und geht zu der Nonne, deren blasse Gesichtsfarbe ihr schon beim Einsteigen aufgefallen war.
Die beiden Geschäftsreisenden, die neben der Nonne saßen, haben sich in der nicht voll besetzten Maschine neue Plätze gesucht, so dass die Nonne die Beine hochlegen kann. Mit geschlossenen Augen sitzt sie da und hält sich den Kopf. Ihr Gesicht ist weiß wie eine Wand.
»Kann ich Ihnen helfen?«, spricht Barbara sie vorsichtig an.
»Danke, junge Frau. Es geht schon besser. Ich denke, ich komme wieder einmal um die berühmte weiße Tüte herum.«
»Haben Sie etwas gegessen, was Sie nicht vertragen?«
»Nein, es ist nur …«, die Nonne lächelt verlegen und fügt leise hinzu: »Ich habe schreckliche Angst vor dem Fliegen. Auf den letzten Heimatflug habe ich aus diesem Grund verzichtet.«
»Sie können sich ganz sicher fühlen«, beruhigt sie Barbara, die spontan Zuneigung zu dieser mütterlichen Frau gefasst hat.
»Ich verstehe es selbst nicht. Ich habe, Gott weiß es, vor nichts Angst, nicht einmal vor dem Sterben. Aber vor diesem Hängen zwischen Himmel und Erde habe ich größten Respekt.«
Barbara muss über die lebendige Ausdrucksweise, der in einen weißen Sari gekleideten Frau, lächeln.
»Mögen Sie vielleicht eine Tasse Pfefferminztee?«
»Ja, das wäre gut. Danke! Ich heiße Veronika. Und Sie?«
»Barbara.«
Als Barbara durch den schmalen Gang zur Bordküche geht, ruft ihr ein Mann beschämend laut zu: »Hey, Stewardess, kümmern Sie sich doch auch ein bisschen um mich!«
Barbara glaubt, ihren Ohren nicht trauen zu können. Sie fühlt sich bloßgestellt durch die Respektlosigkeit dieses Mannes. Schmerzlich wird ihr der große Kontrast bewusst: Da die Nonne, eine Frau, die Reinheit ausströmt, und dort der Ausspruch dieses plumpen Mannes, der sie auf die Wirkung angesprochen hat, die sie auf Männer ausübt. Wut steigt in ihr hoch, und sie hat größte Lust, diesen Job an den Nagel zu hängen, wie sie schon vieles an den Nagel gehängt hat. Stets blieb sie eine Suchende, die es zu immer neuen Ufern trieb, um dann wieder feststellen zu müssen, dass das Neue genauso wenig die gesuchte Befriedigung geben kann, wie das eben Zurückgelassene.
Als sie mit der dampfenden Tasse Tee wieder an dem Mann vorbeigeht, wirft sie ihm einen strafenden Blick zu, der ihn für den Rest der Reise verstummen lässt.
»Lieb von Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben«, bedankt sich Schwester Veronika.
Barbara setzt sich neben sie und klappt den Tisch herunter, um die Plastiktasse mit Tee darauf abzustellen.
Währenddessen ist der Rest der Mannschaft vollauf damit beschäftigt, den Gästen Imbiss und Getränke zu reichen.
»Wenn ich nicht zur Behandlung müsste, würde ich gar nicht nach Hause fliegen«, knüpft die Nonne an das Gespräch von vorher an.
Barbara bemerkt die blauen Streifen an dem weißen Sari. »Gehören Sie etwa zu den Missionarinnen der Nächstenliebe, dem Orden von Mutter Theresa?«, fragt sie neugierig.
Als die Nonne nickt, sagt sie bewundernd: »Eine wirklich sinnvolle Aufgabe. Trotzdem kann ich nicht verstehen, wie Sie freiwillig unter den Armen leben und sich so hingeben können. Ich könnte das nie.«
»Sie werden lachen, ich auch nicht. Das geht auch nicht mit Idealismus oder gutem Vorsatz. Da wäre ich längst ausgepumpt. Es ist die Kraft und Liebe, die Christus mir für diesen Dienst gibt. Sie allein macht mich dazu fähig.«
Dann schweigt sie und schaut zu der Fensterluke hinaus auf die Städte und Dörfer, in denen die ersten Lichter angehen.
Plötzlich – Barbara weiß selbst nicht, wieso – bricht es aus ihr heraus: »Ich will nicht so weitermachen. Ich habe Geld, und wo ich hinlange, habe ich Erfolg. Ich habe so viel kennengelernt, heute London, morgen Wien … Es macht mir Spaß, aber es genügt nicht. Das kann doch nicht alles sein!« Sie blickt der Nonne geradewegs ins Gesicht und spürt, dass diese Frau um den großen Durst ihres Lebens weiß.
»All das sind klägliche Versuche, die Dunkelheit zu vertreiben. Doch genauso wenig wie diese Lichterkleckse die hereinbrechende Nacht vertreiben können, können Sie damit die Dunkelheit Ihres Lebens hell machen.«
»Sehr geehrte Fluggäste, wenn Sie aus dem Fenster sehen, werden Sie feststellen, dass wir gerade den Rhein überqueren.«, meldet sich der Pilot zu Wort.
Die Nonne achtet nicht darauf und fährt fort: »Sie haben keinen Frieden in Ihrem Herzen, keinen Frieden mit Gott.«
»Ja, den habe ich nicht.«, gesteht Barbara. In ihren Augen blitzen Tränen auf. Sie hat alles um sich herum vergessen. Ihren Dienst, die Fluggäste. Das ist jetzt nicht mehr wichtig.
»Ich habe keinen Frieden. Wie sollte ich auch? Wissen Sie, ich habe eine Ehe auseinandergebracht und dann den Mann fallenlassen. Und das war nicht das einzige.«
Die Nonne ist keineswegs entsetzt, wie Barbara angenommen hatte. Sie schweigt, und es scheint Barbara, als würde sie beten.
»Hier«, sagt sie dann und deutet auf das Kreuz, das an dem Sari befestigt ist, »am Kreuz hat Jesus alle Ihre Schuld ausgelöscht. Keine Schuld ist so groß, dass er sie nicht bezahlen könnte. Er liebt auch Sie. Nur bei Jesus finden Sie Frieden. Er ist die Brücke zu Gott und damit zu einem Leben in Erfüllung und Frieden.«
Die Worte dieser Frau lassen Barbara aufhorchen.
»Ich hätte nicht auf eine Familie und ein geregeltes Leben verzichtet, wenn mich diese Liebe eines Tages nicht überwältigt hätte und mir das Leben an der Seite eines erfolgreichen Geschäftsmannes, mit dem ich verlobt war, im Vergleich zu dem Leben mit Jesus wie kalter Kaffee erschienen wäre.«
Wieder muss Barbara über die unerwartet farbige Sprache der Nonne und ihre erfrischende Art lachen.
Der Tee scheint ihr gut zu tun, und die Farbe ist auch wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt. Wie von ferne hört Barbara über den Lautsprecher: »Barbara, bitte kommen Sie ins Cockpit.«
»Ich muss gehen. Wir sind bald da«, sagt Barbara und erhebt sich.
»Wie schön«, freut sich Schwester Veronika.
Kurz darauf ist wieder Barbaras Stimme über Lautsprecher zu hören. Sie gibt den Fluggästen Anweisungen für die Landung. Den Piloten, der für seine Extrarundflüge bekannt ist, bittet sie aus Rücksicht für Schwester Veronika um eine sanfte Landung.
Wohlbehalten auf bayerischem Boden gelandet, drängen sich die Gäste an Barbara vorbei, nicken ihr zu und verabschieden sich. Namenlos sind sie für Barbara geblieben. Ihre Gesichter werden bald vergessen sein, auch das Gesicht des Mannes, der sie geärgert hat. Doch das liebe Gesicht von Schwester Veronika wird sie nicht vergessen. Dieses junge, frische Strahlen in den alternden Augen, die Ruhe und Festigkeit zeigen.
»Kann ich Sie zum Bus begleiten?«, fragt Barbara die Nonne.
»Danke, jetzt geht es mir wieder sehr gut.« Sie nimmt Barbaras Hand und sagt: »Sie sind jung und haben noch viel vor sich. Gehen Sie Ihren Weg mit Ihm.«
In Barbaras Blick liegt die Hoffnung, endlich die Spur gefunden zu haben für ein Leben ganz anderer Qualität, als sie es bisher gekannt hat.
»Danke«, sagt sie schlicht.
»Danke für den Tee und Ihr Vertrauen«, erwidert die Nonne. Barbara blickt Schwester Veronika nach, wie ihr Gewand im Wind flattert, als sie die Gangway hinuntersteigt und würdevoll zum Bus schreitet.
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