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Martin erfährt als Kind kaum Liebe und Geborgenheit und erlebt körperliche und seelische Gewalt. Als Erwachsener leidet er unter Depressionen und Angstzuständen, Therapien helfen ihm zwar, heilen ihn jedoch nicht. Er hat keinen Beruf, dafür aber eine Bewährungsstrafe. Durch seine Bekehrung ändert sich zwar vieles, die Lasten der Vergangenheit muss er dennoch weiter tragen. Als er sich mit Brigitte verlobt, belasten diese Probleme auch ihre Beziehung. Die beiden sagen trotzdem Ja zueinander und rechnen fest auf Gottes Hilfe. Wird Er dieses Vertrauen belohnen?
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Seitenzahl: 159
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Martin erfährt als Kind kaum Liebe und Geborgenheit und erlebt körperliche und seelische Gewalt. Als Erwachsener leidet er unter Depressionen und Angstzuständen, Therapien helfen ihm zwar, heilen ihn jedoch nicht. Er hat keinen Beruf, dafür aber eine Bewährungsstrafe. Durch seine Bekehrung ändert sich zwar vieles, die Lasten der Vergangenheit muss er dennoch weiter tragen. Als er sich mit Brigitte verlobt, belasten diese Probleme auch ihre Beziehung. Die beiden sagen trotzdem Ja zueinander und rechnen fest auf Gottes Hilfe. Wird Er dieses Vertrauen belohnen?
Brigitte Grill, Jahrgang 1959, wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und traf mit 24 Jahren eine eigene Entscheidung für Jesus Christus. Die gelernte Bürokauffrau entdeckte schon früh ihre Liebe zum geschriebenen Wort. Sie hat mehrere Erzählungen veröffentlicht, arbeitete eine Zeit lang als Journalistin und schrieb einige Artikel für die christliche Frauenzeitschrift Lydia.
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Die Bibelzitate sind der Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, entnommen.
Titelfotos:© Fotolia, 11934068, GaToR-GFX (Hände am Gitter)© Brigitte Grill, Privatfoto (Hochzeitsfoto)Foto Autorin:© Andrea Pelz, Pelz Foto LifeFotos im Textteil:© Brigitte Grill, PrivatfotosLektorat: Christiane Kathmann
Umschlaggestaltung und Satz: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger
eBook Erstellung: Stefan Böhringer, eWort
Paperback:
ISBN 978-3-942258-31-9
Art.-Nr. 176.831
eBook (ePub):
ISBN 978-3-942258-81-4
Art.-Nr. 176.881
Copyright © 2012 BOAS media e. V., Burbach
Alle Rechte vorbehalten
www.boas-media.de
„Die nächste Station ist Blaubeuren, da steigen wir aus“, verkündete Martin und griff nach seinem Rucksack. An dem kleinen Bahnhof warteten zwei vorbestellte Räder auf uns. Vor knapp zwei Stunden waren wir in Stuttgart in den Zug gestiegen, hatten über die Geißlinger Steige die Schwäbische Alb erreicht und waren dann in Ulm umgestiegen.
Nun tat es gut, wieder frische Luft schnuppern zu können. Kein Wölkchen trübte den herrlich blauen Himmel. Wie geschaffen schien uns dieser warme Junitag für eine Radtour über die südliche Schwäbische Alb, aber auch für ein besonderes Ereignis: Heute wollten wir uns verloben.
Durch die Straßen und kleinen Gassen der Stadt Blaubeuren radelten wir zum Blautopf, dieser tief gründenden, von Laubbäumen umgebenen Karstquelle. In der Nähe der Hammerschmiede mit dem moosbewachsenen Wasserrad stellten wir unsere Räder ab und genossen die Kühle, die hier herrschte.
„Wenn man dieses türkisblaue Wasser sieht, kann man sich gar nicht vorstellen, aus welcher Tiefe es hervorquillt“, sagte Martin. „Das unterirdische Höhlensystem ist bis zu einer Tiefe von 300 Metern erforscht.“
Enten schwammen im Wasser, die historische Hammerschmiede und die Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters spiegelten sich darin. Ich war schon einmal am Blautopf gewesen, aber heute war ein Tag, an dem ich alles bewusst erleben wollte, eben unser Verlobungstag.
Martin kannte sich hier gut aus, schließlich war er in dieser Gegend aufgewachsen. Nun wollte er noch einmal die Wege seiner Kindheit und frühen Jugend mit mir gehen, mich teilhaben lassen an seinen Erinnerungen, auch den schmerzlichen, wie er sagte.
Schon häufiger hatte mich die Frage beschäftigt, was wohl die Gründe dafür gewesen waren, dass er in seinem Leben so manche Haken geschlagen hatte. Seine Vergangenheit stand immer noch unergründlich und geheimnisvoll vor mir wie der türkisfarbene Blautopf. So war ich gespannt darauf, was er mir erzählen würde, doch noch war es nicht so weit.
An einer Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor entdeckte ich eine Spruchtafel mit einem Psalm und Worten von Mutter Basileia Schlink.
„Die Werke des Herrn sind groß,
zum Staunen für alle. Psalm 92,6.
Gottes Macht zu helfen ist so groß,
dass Er immer einen Weg und eine Hilfe für dich hat.“
Das waren kraftvolle Worte, Worte, wie ein Fundament.
„Der Blautopf im Hintergrund und darunter diese Verse, das wäre doch ein tolles Motiv für unsere Verlobungskarte, was meinst du?“, fragte ich und holte meine Kamera aus dem Rucksack.
„Ja, komm wir legen noch was Farbiges drauf, diesen gelben Löwenzahn zum Beispiel“, schlug Martin vor.
So machte ich einige Aufnahmen von der Spruchtafel mit dem Löwenzahn und dem blauen Wasser des Blautopfs als Kulisse.
Nach dieser Pause ging unsere Radtour weiter über die Hochebene der Blaubeurer Alb nach Wippingen, vorbei an saftig grünen Wiesen mit gelben Butterblumen und Klee. Ein laues Lüftchen wehte, es machte Spaß zu radeln, jung und frei zu sein.
„Von hier aus kann man bei so klarem Wetter wie heute die Spitze des Ulmer Münsters erkennen. Schau, da ist sie“, sagte Martin und deutete in Richtung Ulm. Und wirklich, da war sie, wenn auch in weiter Ferne.
Wir näherten uns dem Wald, setzten uns auf einen Baumstamm und machten erst einmal Vesperpause.
„In dieser Gegend sind schon eigenartige Dinge geschehen. Einmal brannte ein Bahnwärterhäuschen, das dummerweise genau auf der Grenze zwischen den Ortschaften Arnegg und Oberherrlingen stand. Es entstand ein Streit darüber, wer für das Löschen zuständig sei. Man konnte sich nicht einigen und so brannte das Haus leider ab.“
Martin lachte, laut und frei, wie ich es an ihm liebte. Dabei zeigten sich seine Grübchen. Sein Humor hatte mir von Anfang an gefallen, genauso wie die blaugrauen Augen und das gut geschnittene Gesicht.
Durch den Wald führte eine schmale Straße, die Wippinger Steige, hinunter ins Kleine Lautertal, wo eingebettet der Ort Lautern liegt, unser eigentliches Ziel. Ich hatte Mühe, meine Geschwindigkeit diesem kurvenreichen Sträßchen anzupassen. In der Nähe des Quelltopfes der Kleinen Lauter endete die Fahrt.
Das war also das romantische, von Wäldern umgebene Lautern, von dem Martin mir schon so viel vorgeschwärmt hatte: an die zehn Fachwerkhäuser, darunter zwei Gasthöfe, eine kleine Kirche und eine Bushaltestelle mit gelegentlichem Linienverkehr. Schattig und frisch war es hier, sehr angenehm an diesem warmen Sommertag.
Um dem Strom der Besucher zu entgehen, die am Wochenende gerne hierher kamen, hatten wir unseren Ausflug auf einen Donnerstag gelegt. Martin führte mich zum Lautertopf, über den sich ein bewaldeter Felsvorsprung erhob. Mit dem frischen Wasser stillte er seinen Durst.
„Gewohnt habe ich ungefähr vier Kilometer entfernt, aber hier in Lautern war ich oft“, erzählte er, während wir an dem Bächlein entlangfuhren, dessen Gluckern sich mit fröhlichem Vogelgezwitscher vermischte. „Mit meinen Freunden habe ich manchmal noch im November in der Lauter gebadet. Da! Hast du die Forellen gesehen?“
Ein kleiner Schwarm Forellen tummelte sich im Wasser. Genauso fühlte sich mein Freund hier, wie ein Fisch im Wasser. Ich konnte ihn verstehen, es war wirklich ein herrliches Fleckchen Erde.
Nun lenkte Martin sein Rad auf ein weiß getünchtes Kirchlein zu, das von einer weißen Mauer und einem großen Garten mit vereinzelten Gräbern umgeben war.
Auf einem Grabstein las ich: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir“. Darunter hatte jemand eine rot blühende Geranie gestellt. In Jerusalem war ich schon einmal gewesen. Nun erinnerte ich mich, dass ich mir damals gewünscht hatte – falls ich einmal heiraten sollte – in Israel meine Flitterwochen zu verbringen. Ob sich dieser Traum erfüllen würde?
Martin ging auf ein schmuckes Fachwerkhaus zu und läutete. Eine alte, gebeugte Küsterin öffnete und übergab ihm den Schlüssel für die Kirche, die unter der Woche verschlossen war.
„Bevor wir in die Kirche gehen, möchte ich dir noch etwas anderes zeigen.“ Martin führte mich zu einem mit Efeu überwucherten, aber nicht ungepflegten Grab, hinter dem dunkle Tannen aufragten.
„Hier liegt mein Vater begraben“, sagte Martin ernst. „Als er beerdigt wurde, haben wir die Tannen gepflanzt. Wie lange ist das her! Er hat in dieser Kirche ab und zu als Laienprediger Gottesdienste abgehalten. Eigentlich war er ja Gutsverwalter. Da oben im Schlossgut Oberherrlingen.“ Martin deutete talauswärts. „Aber dazu erzähle ich dir gleich mehr. Komm, jetzt gehen wir in die Kirche.“
Er schloss die Türe auf. Uns empfing diese besondere Stille, wie man sie nur in alten Kirchen findet, dazu der etwas modrige Geruch, der von Holz und Feuchtigkeit herrührte. Die Wände waren weiß gekalkt und mit verblichenen Malereien biblischer Szenen verziert, ein Aufgang führte zu der niedrigen Empore. Über schmale Treppen ging es zum Glockenstuhl hinauf.
Wir setzten uns auf eine knarrende Holzbank. Martin stimmte das Lied „Dona nobis pacem“ an, das er gerne sang, wenn er sich in einer Kirche ungestört fühlte. Sein gewaltiges Stimmvolumen erfüllte den Raum.
Mir war feierlich zumute, denn ich dachte, nun sei es so weit und wir würden uns verloben. Doch Martin fasste meine Hand und sagte mit ungewohntem Ernst: „Ich werde dir nun einiges aus meinem Leben erzählen, angefangen bei meiner Kindheit. Ich denke, du solltest das wissen, bevor du Ja sagst.“
Martin begann zu erzählen, und ich merkte, welche Mühe es ihm bereitete, sich dazu durchzuringen, seine Vergangenheit vor mir auszubreiten. Es war der richtige Ort, der richtige Rahmen, aber trotzdem war es fast zu viel Dunkles für diesen sonnigen Tag.
„Mein Vater stammte aus einer Weberfamilie und hatte zwölf Brüder. Er sah ein wenig dem Feldmarschall Hindenburg ähnlich mit seinem eisgrauen Bart und dem kurzen, dichten Haar. Die erste Frau meines Vaters war jung und kinderlos gestorben. Auf dem Dachboden fand ich einmal seine Liebesbriefe, daher weiß ich, dass er sie sehr geliebt haben muss. Er sprach nie darüber.
Meine Mutter hatte Ähnliches erlebt. Ihr Verlobter war nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen. Unter diesen Umständen und ohne eine besondere Liebe zueinander heirateten meine Eltern. Das waren natürlich nicht die besten Voraussetzungen für eine gute Ehe. Und die hatten sie auch nicht, eher lebten sie nebeneinander her.
Ich habe nie verstanden, wieso sie einander überhaupt geheiratet haben. Vermutlich suchte meine Mutter eine Art Vaterersatz, mein Vater war nämlich siebzehn Jahre älter als sie.
Dann kam auch noch ich, ein unerwünschtes Kind. Gleich nach meiner Geburt sagte eine Krankenschwester: ‚Mit diesem Kind werden Sie noch viel Schwierigkeiten bekommen.‘ Vielleicht machte sie diese negative Prophezeiung, weil ich nicht an der Brust meiner Mutter trinken wollte, doch leider hatte die Schwester mit ihrer Aussage auch nur allzu recht.
Am selben Tag wie ich kam auch Mohrle, meine kleine schwarze Katze, auf die Welt. Das war für mich etwas ganz Besonderes.
Meine Mutter war nach der Geburt psychisch so angeschlagen, dass sie nicht richtig für mich sorgen konnte. So sind meine frühesten Erinnerungen, dass ich nur eine Last für sie war und in verschiedenen Familien hin- und hergeschoben wurde. Meine Tanten waren dagegen ganz begeistert von mir. Sie küssten mich häufig und es hieß dann immer: ‚Ist der aber süß mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen, wie ein Engelchen.‘
Meine Mutter kümmerte sich wenig um das, was ich so machte. An einen Vorfall erinnere ich mich noch besonders gut. Ich war damals etwa sechs Jahre alt und sehr interessiert daran, wie die alte Taschenuhr meines Vaters von innen aussah. So beschäftigte ich mich eines Nachmittags sehr eingehend damit.
Als mein Vater am Abend nach Hause kam und seine wertvolle Uhr zerlegt vorfand, griff er voller Wut zum Schürhaken, der neben dem Ofen lag. Da kam meine Mutter dazu und stellte sich schützend vor mich. Ich hatte panische Angst. ‚Kannst du nicht aufpassen, was dein Sohn tagsüber macht?‘, schrie mein Vater sie an.
‚Es tut mir leid. Tue ihm nichts! Ich werde ihn bestrafen. Überlasse es mir! Bitte!‘, flehte sie ihn an. Daraufhin wandte sich mein Vater ab. Meine Mutter ergriff mich bei der Hand und führte mich zur Kellertreppe.
Dort schlug sie mich mit einem Bambusrohr und brachte mich anschließend in unseren in die Erde gehauenen Keller, einen schmalen Raum, in dem Eier, Eingemachtes und andere Vorräte aufbewahrt wurden. Sie schloss die Kellertür ab und machte am Schalter, der sich außerhalb des Kellerraumes befand, das Licht aus.
Nach einer Weile schlug meine Angst in diesem dunklen Vorratsraum in Wut und Hass um. Ich schmetterte die Eier, die Einmachgläser, einfach alles, was mir zwischen die Finger kam, zu Boden. Als meine Mutter das hörte und die Zerstörung sah, schlug sie mich wieder.
Ich könnte dir nicht einmal sagen, ob mein Vater wirklich mit dem Schürhaken auf mich losgegangen wäre oder nicht. Ich weiß bis heute nicht, wie er wirklich war. In all den Jahren lief es immer auf diese Weise ab: Meine Mutter stellte sich schützend zwischen mich und den maßlosen Zorn meines Vaters und bestrafte mich auf ihre Art.
Natürlich erlebte ich auch tolle Zeiten mit meinem Freund Manfred hier in diesen Wiesen und Wäldern. Dass wir Lausbuben dabei immer wieder mal die Hosen zerrissen, blieb nicht aus. Dann traute ich mich kaum nach Hause, weil ich wusste: Jetzt setzt es wieder eine Tracht Prügel. Nach so einer Abreibung war mir meine Katze Mohrle, die immer zu meinen Füßen schlief, ein großer Trost.
Als ich eingeschult wurde, hatte ich Angst vor allem Möglichen. Meine Leistungen waren miserabel und im ersten Zeugnis stand: „Versetzung gefährdet.“
Für meine Eltern war ich eine Enttäuschung auf der ganzen Linie. Eigentlich hätte ich gemäß der Familientradition meiner Mutter Pfarrer werden sollen, bei so schlechten Noten war das jedoch ausgeschlossen.
Aber meine Eltern investierten auch nicht gerade viel in mich. Das meiste musste ich mir irgendwie mühsam erarbeiten. Ich habe mir beispielsweise selbst beigebracht, meine Schuhe zu binden.“
Martin machte eine kleine Pause, vielleicht um festzustellen, wie ich das Ganze aufnahm. Ich versuchte, mich in ihn hineinzuversetzen und ihn zu verstehen. Das fiel mir jedoch nicht leicht, da ich im Großen und Ganzen eine problemlose Kindheit gehabt hatte.
Nach meinem älteren Bruder hatten meine Eltern fünf Jahre auf ein zweites Kind gewartet und den Tag meiner Geburt herbeigesehnt. Dass es Eltern geben sollte, die ihre Kinder nicht liebten oder es sie zumindest nicht spüren ließen, konnte ich mir nur schwer vorstellen. Ich dachte immer, das sei doch das Mindeste, so eine Art Grundausstattung für jedes Kind. Auch die spürbare Liebe meiner Eltern untereinander war für mich das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Meine Lage muss wohl zum Gotterbarmen gewesen sein“, fuhr Martin fort, „denn eines Tages schickte er mir einen besonderen Menschen. Heute weiß ich sicher: Es war eine Fügung Gottes, damit mein Leben nicht ganz danebenging.
Onkel Gustav war nicht mein richtiger Onkel, aber ich durfte ihn so nennen. Er hatte einen weißen Haarkranz und gütige, blaue Augen. Mit seiner Frau war er Ende der Vierzigerjahre aus dem Osten geflohen. Am Anfang hatten die beiden in unserem Haus gewohnt, sehr beengt und ohne Küche. Nach ein paar Jahren zogen sie in die Dorfmitte um.
Als pensionierter Lehrer übernahm Onkel Gustav nun meinen Nachhilfeunterricht. Zwei-, dreimal in der Woche ging ich zu ihm, übte Lesen, Schreiben und Rechnen, und eine Lücke nach der anderen schloss sich.
Ich erinnere mich noch genau, wie es war, wenn ich zu ihm zur Nachhilfe kam. Sein Arbeitszimmer, einen kleinen, länglichen Raum, hatte er unter dem Dachboden eingerichtet. Meist saß er an einem Sekretär mit vielen Fächern, der am Fenster stand, und schrieb. Dann drehte er sich zu mir um und begrüßte mich freundlich, so als ob ich sein Sohn wäre. Ich merkte, er hatte sich auf mich gefreut. Das hatte ich bis dahin noch nicht erlebt.
Onkel Gustav hatte meine Not erkannt, nicht nur die äußerliche, die in den schlechten Leistungen sichtbar wurde, sondern auch den Mangel an Liebe und Geborgenheit. Nie wurde er böse oder auch nur ungeduldig. Am Ende meines Nachhilfeunterrichts bekam ich oft etwas Süßes als Belohnung geschenkt. Meine Schulnoten besserten sich merklich.
Es war für mich eine besondere Freude, in den Sommermonaten mit „meinem Onkel“ in dessen Schrebergarten zu sitzen. Ich weiß noch, wie stolz er auf seine Karotten war, die wir dann gemeinsam ernteten.
Gerne hörte ich ihm zu, wenn er Geschichten erzählte oder mir wichtige Dinge über das Leben mitteilte. ‚Martin, Gott hat all das geschaffen, und er wollte, dass wir es bewahren‘, sagte er mir, während er auf die Obstbäume deutete, an denen rote Äpfel reiften. Onkel Gustav liebte die Tiere und Pflanzen und legte eine gute Saat in mich, die aber erst Jahre später aufgehen sollte.
Zweimal im Jahr fuhr ich mit meinen Eltern in den Urlaub, im Sommer nach Scheidegg und im Winter nach Rohrmoos, einem abgelegenen Gebirgstal in den Allgäuer Alpen. Das einzige Gasthaus mit Fremdenzimmern, das es dort gab, gehörte Freunden meines Vaters. Gleichzeitig war es ein Treffpunkt für Holzfäller, Jäger und gelegentlich auch Wilderer.
Unser Zimmer lag genau über dem Gastraum. Durch die dünnen Holzwände bekam ich mit, was sich da unten abspielte, auch so manche Schlägerei dieser oft recht rauen Burschen. Krachend fiel die Wirtshaustür ins Schloss, wenn wieder mal einer in den tiefen Schnee hinausgeworfen worden war.
Im Winter 1959, als ich acht Jahre alt war, geschah etwas ganz Besonderes. Damals bekam ich starkes Fieber. Die einzige Straße und Verbindung zum nächstgrößeren Ort war stark zugeschneit.
‚Ich kann nicht zu Ihnen kommen, das ist zu gefährlich‘, teilte der Arzt meiner Mutter am Telefon mit. ‚Da komme ich nicht durch. Das kann ich wirklich nicht riskieren!‘
Meine Mutter versuchte es mit Wadenwickeln, dennoch stieg das Fieber auf über 40° C an. Mir war heiß, ich merkte, wie ich innerlich glühte. Langsam verlor ich das Bewusstsein und hatte einen Traum, den ich nie mehr vergessen werde. Ein Licht hüllte mich ein und ich sah eine Gestalt, von der Liebe und Geborgenheit ausgingen. Frag mich nicht, warum, aber ich wusste einfach, dass es Jesus war.
Dann sank das Fieber langsam wieder – leider, konnte ich damals eigentlich nur sagen – und widerwillig kehrte ich ins Leben zurück, zurück nach Oberherrlingen und damit zurück in das Elend.
Mit meinem Vater ging es zunehmend abwärts. Ich denke, er war sehr verzweifelt über seine Ehe und darüber, dass er nicht die Kraft hatte, das zu leben, was er als Laienprediger verkündigte. Immer häufiger kam er am Abend betrunken nach Hause. Aus Angst verlangte meine Mutter, dass ich bei ihr im Schlafzimmer blieb, und schloss dann die Tür ab.
Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als im Wohnzimmer zu schlafen. ‚Du bist keine Frau und dein Sohn kann mir gestohlen bleiben!‘ Solche und ähnliche Worte schrie er dann durch das ganze Haus und wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte. Es war wirklich zum Fürchten.
Im Oktober 1960 läutete es gegen 21 Uhr an unserer Haustür. Im Schein der Außenbeleuchtung erkannten meine Mutter und ich zwei junge Burschen, die meinen Vater stützten. Der hatte die Augen geschlossen und war ganz weiß im Gesicht.
Mit zitternder Stimme sagte einer der jungen Männer: ‚Es tut uns sehr leid, es ist ein Unfall passiert. Wir haben Ihren Mann ein Stück mit dem Motorrad mitgeschleift.‘
Sie trugen ihn ins Haus und legten ihn vorsichtig aufs Sofa. Auf dem Kopf meines Vaters sah ich durch sein gelichtetes graues Haar einen kleinen roten Punkt. Meine Mutter schickte die jungen Burschen los, um schnell unseren Hausarzt zu holen.
‚Ich rate Ihnen dringend, ins Krankenhaus zu gehen. Damit ist nicht zu spaßen’, warnte der Doktor. Doch mein Vater weigerte sich entschieden und niemand konnte ihn umstimmen.
In den folgenden Wintermonaten hörten wir ihn nachts oft stöhnen und mit dem Kopf gegen die Wand schlagen vor Schmerzen. Dieser immer wiederkehrende Ton ging einem durch Mark und Bein.