Wo, bitte, geht es nach Südindien? - Brigitte Grill - E-Book

Wo, bitte, geht es nach Südindien? E-Book

Brigitte Grill

4,9

Beschreibung

Die sonst so verwöhnte Sarida steht auf der Straße. Nachdem ihre Mutter Christin geworden und nach Südindien geflohen ist, hält auch sie es bei ihrem hinduistischen Vater nicht mehr aus. Er verachtet Christen. Sie will nun ihrer Mutter nachreisen. Auf der Straße trifft sie Ramesh. Er "wohnt" auf einem Asphaltflecken und schließt sich Sarida an. Doch der Weg ist weit und mühsam. Wie sollen sie nur die Stadt finden, deren Namen Sarida vergessen hat? Sie kennt nur den teuren Sariladen, in dem sie früher schon einmal gewesen ist. Und was wird aus Ramesh, dem Straßenjungen, der sich fest vorgenommen hat, die Christen mit ihrem gekreuzigten Gott zu meiden? ---- Brigitte Grill, Jahrgang 1959, wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und traf mit 24 Jahren eine eigene Entscheidung für Jesus Christus. Die gelernte Bürokauffrau entdeckte schon früh ihre Liebe zum geschriebenen Wort. Sie hat mehrere Erzählungen veröffentlicht, arbeitete eine Zeit lang als Journalistin und schrieb einige Artikel für die christliche Frauenzeitschrift Lydia.

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Wo, bitte, geht es nach Südindien?

Brigitte Grill

Impressum

© 2014 Folgen Verlag, Wensin

Autor: Brigitte Grill

Cover: Eduard Rempel, Düren

Lektorat: Markus Rempel, Düren

ISBN: 978-3-944187-19-8

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

Wo, bitte, geht es nach Südindien? ist früher als Buch im Christlichen Verlagshaus, Stuttgart, erschienen.

Inhalt

Indien

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Unsere Empfehlungen

Indien

Indien ist ein Land voller Überraschungen, ein Land, in dem folgendes passieren kann: Man speist in einem Lokal, an dessen Außenwand gerade gebaut wird, wodurch sich ein Guckloch zur Straße bildet. Durch die Bauarbeiten ist es etwas staubig im Raum, aber das stört niemand besonders. Wenn man dann allerdings von seinem Teller aufblickt und den Rüssel eines neugierigen Elefanten auf sich gerichtet sieht, muß man doch sehr aufpassen, dass man sich nicht an der Suppe verschluckt.

Das klingt wie im Märchen? Ja, manchmal meint man tatsächlich, in Indien den Gestalten aus »Tausendundeiner Nacht« zu begegnen. Dann wieder ist dieses Land ernüchternd und schockierend in seiner Armut, die es im Kontrast zu den zauberhaften Villen und Palästen überall gibt.

Indien hat eine Fläche von 3288000 km2. In den 28 Bundesstaaten und 7 bundesunmittelbare Gebieten leben über 1,2 Milliarden Menschen (2011). Rund 81 % der Bevölkerung sind Hindus, 13 % Muslime, 2,3 % Christen, 2 % Sikhs, der Rest Buddhisten und andere. Indien hat ein hohes Bevölkerungswachstum (jährliche Zuwachsrate etwa 15 Millionen Menschen). Viele Inder sind Analphabeten. Indien ist ein Bauernland. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft, deren Erträge allerdings zu den niedrigsten der Erde gehören.

In unserer Erzählung begegnen wir Vertretern aus beiden Schichten: einem Mädchen, das wie eine Prinzessin aufgewachsen ist, und einem Jungen, der schon lange nichts mehr von einem Zuhause weiß. Er ist einer von den vielen Straßenkindern, namenlos und auf sich gestellt, und die doch alle ihre eigene Lebensgeschichte haben.

Kapitel 1

»Geh weg da! Das ist mein Platz. Hier schlafe ich.«

Feindselig blinzelte Ramesh das Mädchen an, das sich auf seinem angestammten Platz vor einem Laden mit Messingartikeln breitgemacht hatte. Im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos konnte er sehen, dass das Mädchen die gepflegte Schulkleidung einer Privatschule trug: eine weiße Bluse mit dunkelblauem Schal und passendem blauen Rock. Die langen Haare, die von einer welk gewordenen weißen Blüte geziert waren, hatte sie zu einem Zopf geflochten. Dieses Kind reicher Eltern war eine Fremde hier auf der Straße, wo die Menschen so arm waren, dass sie nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten. Zusammengekauert verbrachten sie die Nächte auf ihren Reisstrohmatten oder auf einfachen Pappkartons auf den Gehwegen. Zu dieser Jahreszeit – es war März – war es schon recht warm, so dass sie, auch wenn sie keine Zudecke hatten, nicht frieren mussten. Aber in den Wintermonaten und in der Regenzeit...

»Weißt du, jeder hat hier seinen Platz, den er verteidigt, als ob es eine mit Palmblättern bedeckte Hütte wäre«, erklärte Ramesh nun dem fremden Mädchen, das zehn oder elf Jahre alt sein mochte.

»Wusste ich nicht!« entschuldigte sie sich, stand auf und nahm ihr mit rosa Blüten verziertes Blechköfferchen. Sie lächelte traurig und wollte weitergehen, wusste jedoch nicht, wohin.

Da tat sie Ramesh leid, und er fragte sie: »Woher kommst du? Du hast ja nicht mal eine Matte dabei. Wie willst du denn schlafen? Etwa direkt auf dem Asphalt?«

»An so etwas habe ich gar nicht gedacht. Irgend etwas brauche ich wohl.«

»Du hast ja gar keine Ahnung, wie hart das Leben hier ist!«

»Woher auch? Ich bin noch nicht lange dabei, genauer gesagt – erst seit heute.«

»Das merkt man. Weißt du, hier kannst du dich nicht einfach irgendwo einnisten, wo es dir gefällt. Siehst du die Familie mit den drei Kindern da vorn? Wenn die Eltern Weggehen, passen die Kinder auf den Platz auf. Es ist ihr Zuhause, verstehst du? Sie haben einen Kochbereich mit dem Zinnkochtopf über der Feuerstelle und einen Schlafbereich. Von hier aus achten sie auf den dahinterliegenden Laden, damit nichts gestohlen wird. Der Besitzer des Ladens gibt ihnen dafür einmal am Tag etwas zu essen. Außerdem kommen in dieser Straße öfters Touristen vorbei, die einem manchmal was geben. So oder ähnlich läuft es auf der ganzen Straße ab«, erklärte Ramesh.

»Ach so«, antwortete das Mädchen leise, und Ramesh bemerkte, dass in ihren dunklen, mandelförmigen Augen Tränen aufblitzten.

»Gut, wir wollen mal eine Ausnahme machen. Aber nur heute, verstanden? Hast du schon etwas zu essen gehabt?« schwenkte er plötzlich um.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Iss trotzdem«, sagte er und hielt dem Mädchen einen Apfel hin, »solange ich was habe.« Lustlos kaute es daran herum.

»Wie heißt du eigentlich?« wollte Ramesh nun wissen. »Sarida.«

»Mein Name ist Ramesh.«

Sarida stellte ihr Köfferchen wieder ab. Große Lust hatte sie zwar nicht zu bleiben, aber – wo sollte sie sonst hin in der Nacht, die in Indien so schnell hereinbricht?

Unter den Kindern mit ihren zerbrechlich wirkenden, mageren Gliedern fühlte sich Sarida trotz ihrer Zierlichkeit unpassend wohlgenährt. Sie spürte die kritischen Blicke der Erwachsenen, die nebenan ihre Lager hatten. Jeder wusste hier über den anderen Bescheid, kannte seine Freuden und seine Kümmernisse. Einen vertraulichen Bereich gab es bei den Menschen der Straße nicht, und ein Eindringling – noch dazu, wenn er wie Sarida aus der unerreichbaren oberen Gesellschaftsschicht kam – weckte Neugier, ja Argwohn.

Ramesh, der Saridas Unbehagen nachempfinden konnte, tröstete sie: »Sie sind keine Unmenschen, im Gegenteil. Die Familie, von der ich gerade gesprochen habe, hat vorher ihr Linsengericht mit Chapati (ungesäuertes Brot, das auf heißen Metallplatten gebacken wird) mit mir geteilt. Wenn jemand etwas Besonderes hat, gibt er dem davon ab, der nichts hat.«

Das beeindruckte Sarida.

»Du findest wohl nicht mehr nach Hause oder?« wechselte er das Thema.

»Ich will nicht mehr nach Hause!« erwiderte Sarida trotzig.

»Das ist kein Leben für dich hier. Dazu bist du viel zu weich, zu verwöhnt. Da gehst du unter, glaub mir. Ich mach das schon drei Jahre mit. Wenn ich nicht so clever wäre, könnte ich gleich einpacken.«

»Und wieso bist du hier? Hast du keine Familie, die dich versorgt? Was machst du so den ganzen Tag?« drehte Sarida nun den Spieß um. Sie wollte mehr über Ramesh erfahren, denn noch nie hatte sie Kontakt mit Menschen von der Straße gehabt. Sicher, sie wusste, dass es in Indien viele gab. Sie hatte ihre oft so hoffnungslosen Gesichter und ihre zum Betteln ausgestreckten Hände gesehen, aber nur im Vorbeifahren. Doch heute, als sie das erste Mal in ihrem Leben allein durch die Straßen der Stadt Madras geschlendert war – sie wusste längst nicht mehr, wo sie überall gewesen war fiel ihr plötzlich auf, dass John, der Chauffeur ihrer Eltern, die Armutsgebiete immer gemieden hatte. Nie zuvor hatte sie sich Gedanken über die Not gemacht. Sie gehörte zu Indien. Es war einfach so. Man hatte ihr auch oft gesagt, dass die Armen an ihrer Lage selber schuld seien, weil sie Böses getan hätten oder zu faul zum Arbeiten wären.

»Wie ich dir schon sagte«, griff Ramesh ihre Frage auf, »passe ich nachts oder auch tagsüber, wenn der Besitzer nicht da ist, auf diesen Messingwarenladen auf. Oder ich gehe durch die Straßen und versuche, ein paar dieser Vasen, Kerzenleuchter und Götterfiguren zu verkaufen.«

»Wie alt bist du?«

»Zwölf oder dreizehn. Ich weiß es nicht genau.«

»Das ist doch nicht möglich. Warum weißt du das nicht?« Nun war bei Sarida die Neugierde geweckt.

»Interessiert es dich wirklich, warum ich das nicht weiß und wie ich hierher gekommen bin?« fragte Ramesh, der solch ein Interesse an seiner Geschichte selten erlebt hatte. Als Sarida eifrig nickte, begann er.

»Eines Tages kam ein dicker Mann in unser Dorf. Er hatte dunkle Haut, wie sie die Inder aus dem südlichen Teil Indiens haben. Er stieg aus einem vornehmen, dunkelblauen Auto aus, das für uns eine echte Sensation war. Ich war damals sechs Jahre alt. Meine Familie gehörte zu den Reisbauern. Es war gerade eine ganz schlechte Zeit. Der Monsunregen ließ wieder einmal lange auf sich warten, und unsere Vorräte an Reis wurden immer knapper. Der Mann zeigte sich sehr verständnisvoll und bot meinen Eltern an, ihnen aus der Misere zu helfen. Er sagte, er könnte ihnen auf der Stelle 1.700 Rupies (2014 waren das ca. 20,- EUR) geben, eine Menge Geld für arme Leute, wie wir es waren. Außerdem biete er ihnen an, ihren ältesten Sohn, also mich, mitzunehmen und zu versorgen. Er könne mir sogar ein Handwerk beibringen. Ich würde etwas verdienen, was ihnen dann wiederum zugute käme. Ich wäre auch nicht allein. Andere Jungen, die so arm dran waren wie ich, hätten dort endlich die besten Zukunftsaussichten gefunden.

›Das ist doch sicher Ihr größter Wunsch, Ihrem Ältesten eine Zukunft geben zu können‹, wandte er sich voller Anteilnahme an meine Eltern. ›Ich helfe Ihnen dabei.‹ Sie glaubten, dass er es gut meinte und ließen mich ziehen, begleitet von ihren Tränen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, weil ich weiß, dass ihnen das Wasser, besser gesagt die Dürre bis an den Hals stand.

Was dann kam, war furchtbar für mich. Unsere Familie war arm gewesen, das ist wahr, aber wir hatten stets einen sehr liebevollen Umgang miteinander. Wenn meine jüngeren Geschwister nachts vor Hunger schrien und Mutter ihnen nichts zu essen geben konnte, dann drückte sie sie an sich und sang ihnen Lieder vor, bis sie sich selbst vergaßen und wieder einschliefen. Damit war es nun vorbei.

Der Mann, den ich übrigens nie wiedersah, brachte mich zu einer Weberei in einem Vorort von Madras. Hier musste ich mit elf anderen Jungen in meinem Alter zehn bis zwölf Stunden Teppiche knüpfen. Wenn wir manchmal vor Erschöpfung weinten oder bei der Arbeit einschliefen, wurden wir geschlagen und wieder angetrieben. Ich durfte nicht mehr in der Sonne spielen, und nachts schliefen wir zusammengepfercht wie Gefangene in einem muffigen Kellerraum. Nur in einem kleinen Innenhof konnten wir abends etwas Luft schnappen. Zu essen gab es etwas mehr als zu Hause, aber wohl nur, damit wir bei Kräften blieben.«

Das konnte Sarida nicht glauben. »Aber das gibt es doch nicht! Kinderarbeit ist doch in Indien verboten«, empörte sie sich.

»Du hast recht, der Staat verbietet es. Aber wer prüft schon nach, wie es in Wirklichkeit aussieht? Die Striemen auf meinem Rücken sprechen für sich...«

Seine Augen schwammen in Tränen. »Was mich dabei einigermaßen aufrecht hielt, war allein der Gedanke, dass mein Tageslohn von 15 Rupies meinen Eltern und meinen kleineren Geschwistern helfen würde, ein erträglicheres Leben zu führen.«

»Seid mal endlich ruhig, ihr zwei. Hier an der Straße ist es laut genug«, rief ein alter Mann aufgebracht herüber. Er hatte den ganzen Tag seine Rikscha durch die engen Basarstraßen und belebten Verkehrsstraßen gezogen, abwechselnd beladen mit Fahrgästen und schweren Ladungen wie Stoffballen oder Getränkekisten.

»Leise können wir schon weiterreden«, flüsterte Ramesh. Es wunderte Sarida, dass er so rücksichtsvoll war.

»Und wie ging es weiter?« wollte sie wissen.

»Eines Abends kam ein neuer Aufseher, ein Sikh mit einem würdevollen Turban, der sich noch nicht so recht auskannte. Vielleicht ließ er auch absichtlich die Tür auf, vor der ich so oft gestanden hatte, die sonst stets verriegelte Tür in die Freiheit. Er schaute sich an, was wir an diesem Tag gewebt hatten und lobte uns. Mit Gesten machte ich meinen Freund Shankar auf die offen stehende Tür aufmerksam. Während uns der Aufseher den Rücken zuwandte, stahlen wir uns hinaus. Ich meine, der Aufseher müsste es eigentlich bemerkt haben.

Shankar und ich trennten uns voneinander. Jeder hatte nur den einen Wunsch, sich zu seiner Familie durchzuschlagen. Trotz allem, was ich mitgemacht hatte, belastete mich der Gedanke, dass meine Familie mit mir nun wieder einen Esser mehr durchzubringen haben würde. Ich nahm mir deshalb vor, nur eine kurze Zeit zu bleiben und dann in die Stadt zu gehen, um mir irgendwo Arbeit zu suchen. Mir kam es vor, als sei ich drei Jahre fort gewesen, vielleicht auch wesentlich weniger. Ich kann es nicht mehr sagen, weil mir in dieser dunklen Behausung jedes Zeitgefühl verlorengegangen war. Ich fragte aber auch nicht nach, denn es interessierte mich nicht besonders. Dies ist der Grund, weshalb ich meine Lebensjahre nicht mehr genau zählen konnte. Und in welchem Jahr ich geboren war, konnte mir mein Vater sowieso nicht sagen.«

»So etwas habe ich noch nicht gehört!« Sarida war verblüfft.

»Ich glaube, du solltest dich jetzt zum Schlafen hinlegen. Weißt du, auf der Straße muss man die ruhigeren Zeiten nutzen. Ausschlafen gibt es hier nicht.«

»Nein, ich bin noch nicht so richtig müde. Ich habe hier auch viel zu viel Angst, um zu schlafen, zum Beispiel vor diesen schwarzen Vögeln, die überall herumschwirren.«

Sie meinte die Fledermäuse, die plötzlich auftauchten, vorbeihuschten und wieder im Dunkel verschwanden. Selbst die Geräusche, die sie tagsüber gar nicht beachtete, wirkten auf Sarida in der Nacht bedrohlich.

»Vor den Fledermäusen brauchst du dich wirklich nicht zu fürchten. Sie sehen zwar gespenstisch aus, aber sie tun nichts.«

»Erzähl trotzdem weiter, vielleicht werde ich dann ganz müde«, forderte ihn Sarida unter Gähnen auf. Es beruhigte sie und lenkte sie gleichzeitig ab, seine Stimme zu hören.

»Ich schlug mich also zu meiner Familie durch. Voller Vorfreude war ich, als ich vor unserer Lehmhütte stand. Was ich da allerdings vorfand, war schlimm.

Mein Vater kam mir schwankend entgegen. Er war betrunken. Ich hatte meinen Vater immer sehr geliebt und geachtet, und es war entsetzlich für mich, zu sehen, wie der Alkohol sein Wesen verändert hatte. Ich wurde wütend, als mir bewusst wurde, wohin das Geld geflossen war, das ich wie ein Sklave am Webstuhl verdient hatte. Als ich ihn anschrie, weinte er wie ein Kind. Aber es bedurfte keiner Anklagen, die Schuldgefühle zerrissen ihn. Immer wieder aufs neue bat er mich um Vergebung. Bis zu diesem Tag hatte er geglaubt, wenigstens sein ältester Sohn sei gut versorgt. Armer Vater. Nun tat er mir wieder schrecklich leid, und wir lagen uns in den Armen und weinten beide.

»Wo ist Mutter?« fragte ich ihn. Er deutete auf das Baby, ein kleines Mädchen, das auf einer Matte in der Ecke schlief, und sagte, dass Mutter bei der Geburt der Kleinen gestorben sei.

Als eine der reicheren Familien im Dorf davon hörten, was mit mir geschehen war, ergriff sie Mitleid, und sie fragten mich, ob sie etwas für mich tun könnten. Ich dachte gleich an meine beiden älteren Schwestern. Tatsächlich nahmen sie die beiden auf. dass sie sogar als Haushaltshilfen angestellt wurden, war für mich wie ein Wunder. Dort konnten sie nun arbeiten, essen und wohnen. Meiner übrigen Familie stellten sie jeden Monat etwas Reis zur Verfügung, was wegen der Alkoholgefährdung meines Vaters auch klug war.

Nun konnte ich einigermaßen beruhigt das tun, was ich vorgehabt hatte, nämlich nach Madras gehen, Geld verdienen und später dann als wohlhabender Mann zu meiner Familie zurückkehren. Mit diesem Wunsch sind die meisten hierher gekommen, die du auf der Straße siehst. Ich sah wohl sehr ausgezehrt aus. – Woran soll es sonst gelegen haben, dass ich zunächst keine Arbeit bekam?«

»Was machtest du dann in so einer großen Stadt ohne Arbeit?« fragte Sarida.

»Es dauerte nicht lange und ich lernte eine Bande kennen, der ich mich anschloss. Auf dem Markt und in den Basarstraßen stahlen wir Lebensmittel, manchmal auch Geld. In der Situation, in der ich war, findet man schnell solche »Freunde«. Anfangs schämte ich mich für jeden noch so kleinen Diebstahl. Aber ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte tun sollen, um zu überleben. Ich muss zugeben, dass ich mich nach kurzer Zeit an dieses organisierte Stehlen gewöhnte. Auch der Zusammenhalt in dieser Bande bedeutete mir viel. Und doch versuchte ich immer wieder, Arbeit zu finden. Eines Tages hatte ich Glück, und Herr Sawasi bot mir diesen Platz an. Meine Freunde hatte ich natürlich auf einen Schlag verloren.«

»Ja, aber du konntest doch endlich etwas sparen, um dann zu deiner Familie zurückzukehren, wie du es vorgehabt hattest«, warf Sarida ein, die sich nicht vorstellen konnte, wie hart die Wirklichkeit war.

»Das habe ich auch gedacht«, antwortete Ramesh. »Aber so sehr ich mich auch bemühe – mein Verdienst reicht gerade dazu, meinen eigenen Hunger zu stillen. Für meine Familie bleibt nichts übrig. In letzter Zeit denke ich immer häufiger , dass ich nie mehr schaffen werde, was ich mir vorgenommen habe. Ich konnte die Hoffnungen nicht erfüllen, die mein Vater in mich gesetzt hatte, als ich in die Stadt ging. Er hat ja nie eine Stadt kennengelernt. Sicher stellt er sich jetzt vor, wie so viele Leute in den Dörfern, dass ich das schöne Leben genieße und meine Geschwister vergessen habe.«

Damit schwieg Ramesh, traurig und mutlos. Sarida war erschüttert über diese Lebensgeschichte, die ihr zeigte, wie es »mit den faulen Leuten« wirklich war. Auch sie hatte in letzter Zeit Einbrüche in ihrem jungen Leben erlitten, sah aber hoffnungsvoll in die Zukunft. Ramesh war doch noch so jung! Seine Worte klangen wie die eines alten, resignierten Mannes. Ramesh hatte, was selten vorkam, einem anderen Menschen einen Blick in seine Seele gewährt. Doch als er Saridas Bestürzung bemerkte, war es, als verschließe er sich wieder.

»Vielleicht wird es im nächsten Leben besser, wenn ich jetzt schon so viel abtrage von all dem Schlechten, das ich in meinem vorigen Leben getan habe«, sprach er seine vage Hoffnung aus.

Sarida kannte diese Sätze, mit denen sie als Hindumädchen auch aufgewachsen war. Doch sie gehörte einer hohen Kaste an. Zum ersten Mal wurde ihr nun bewusst, wie ausweglos die Lage der Kastenlosen war. Wieviel erduldeten sie aus Angst, in ihrem nächsten Leben, wie diese Religion lehrte, nicht wieder als Kastenlose oder gar als Frau auf die Welt zu kommen, sondern ein Stück mehr in ein menschenwürdigeres Dasein aufzusteigen!

»Manchmal glaube ich an gar nichts mehr«, fügte Ramesh hinzu. »Kann es denn sein, dass die Götter so unbarmherzig sind – ein Leben lang? Wie lange ist doch ein Leben! Wie lange ein Tag am Webstuhl! Ich glaube nur noch an die Notwendigkeit, jeden Tag zu überleben.«

Sarida schwieg. Sie spürte, dass es nicht an der Zeit war, ihm zu erzählen, wie sie darüber dachte und dass sie durch ihre Mutter die Wahrheit in der Bibel entdeckt hatte, in der es hieß, dass der Mensch ein Leben habe.

»Jetzt erzähl mal von dir. Ich bin neugierig, wie du dich hierher verirrt hast.« Doch Sarida wehrte ab.

»Ist ja auch egal. Es ist schon spät, du solltest dich jetzt wirklich schlafen legen. Ich nehme an, du hast morgen einiges vor«, sagte Ramesh und gab ihr seine Reismatte. Er selbst schlief auf einem seiner wenigen Besitztümer, einem großen Popeline-Mantel, den ihm ein Tourist einmal geschenkt hatte. »Schlaf gut und hab keine Angst. Ich werde sofort wach, wenn irgend etwas nicht stimmt. Ich habe einen guten Instinkt entwickelt«, versuchte er Sarida zu beruhigen.

Das Mädchen nickte und streckte sich auf dem unbequemen Nachtlager aus. »Schlaf gut«, klang es in ihr nach. »Der hat gut reden«, dachte sie noch. Und während sie über all die Geschehnisse dieses aufregenden Tages nachdachte, überkam auch sie der Schlaf.

Kapitel 2

Bremsenquietschen, lautes Hupen in verschiedenen Tonlagen, Stimmengewirr vorbeihastender Menschen – das Leben in der Millionenstadt Madras, der Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu, hatte begonnen.

Sarida erwachte und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Sie sah die Reismatte auf dem Boden und spürte Rückenschmerzen durch das ungewohnte, harte Liegen. Langsam dämmerte ihr, wie sie hierher gekommen war, und auch an das Gespräch mit Ramesh erinnerte sie sich wieder. Der Mantel, auf dem er gelegen hatte, war zusammengerollt. Wo steckte er? Er könnte ihr sicher helfen, aus diesem Gewirr von Straßen und Bazaren herauszufinden.

Die meisten, die die Nacht in ihrer Umgebung verbracht hatten, waren unterwegs, um zu betteln, Arbeit zu suchen oder um eine dieser schlecht bezahlten Arbeiten zu verrichten. Da und dort wachten Kinder und Frauen mit ihren Säuglingen auf dem Arm über die wenigen Habseligkeiten und die drei, vier Quadratmeter Asphalt, auf denen sie sich »häuslich« niedergelassen hatten. Viele dieser Familien waren erst vor kurzem aus dem Dorf in die Stadt gezogen. Sie wollten hier eine bessere Zukunft finden. Es gelang auch immer wieder einer Familie, in einem Hüttchen oder einem Slum unterzukommen, wenn der Ernährer und die etwas älteren Kinder erst einmal Arbeit gefunden hatten.

Auch der Alte saß noch da und schaute immer wieder neugierig zu Sarida herüber, die unentschlossen das bunte Treiben beobachtete. Auf der Straßenseite gegenüber wuschen sich Kinder an einer Pumpe, als ob sie unter einer Dusche ständen: Sie füllten ihre bunten Plastikbehälter mit Wasser und gossen sie über sich aus. Aus Spaß bespritzten sie sich gegenseitig, bis ein Erwachsener hinzukam und mit ihnen schimpfte. Eine magere, weiße Kuh mit rot bemalten Hörnern – diese Bemalung dient als Erkennungszeichen des Besitzers – zog ein schweres Gespann durch die Straße. Rikschafahrer zogen einen Karren hinter sich her und bahnten sich ihren Weg durch Autos, Motorräder, Radfahrer und Lastwagen.

Die Stadt in ihrer Geschäftigkeit war fremd und bedrohlich für Sarida, die immer nur in Begleitung ihrer Eltern oder des Chauffeurs unterwegs gewesen war.

»Geh nach Hause, Püppchen« rief zu allem Überfluß auch noch der Alte von nebenan herüber, der ahnte, was in ihr vorging. Ja, am liebsten wäre sie nach Hause gerannt, zurück in die vertraute Umgebung. Doch ohne ihre Mutter war es auch nicht mehr ihr Zuhause.

»Wo soll ich denn hingehen?« jammerte sie den Tränen nahe. Da trat Ramesh hinter einem Baum hervor. Er hatte Sarida schon eine Weile beobachtet.

»Weine nicht, iss lieber was«, sagte er und hielt ihr einen Reisfladen hin. Sie nahm ihn und aß hastig, denn sie hatte Hunger wie selten zuvor. Plötzlich hielt sie im Kauen inne, schaute Ramesh an, dann den Reisfladen und sagte: »Den hast du aber nicht geklaut, oder?«

»Ach, nimm das nicht so genau.«

»Ich habe Geld dabei, das mir gehört. Geh hin und bezahle die Reisfladen. Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man nicht stehlen soll, weil Gott das nicht gefällt.«

»Gott?« Ramesh tat, als habe er schlecht gehört. »Welchen von unseren 330 Millionen Göttern meinst du denn?«

Es brachte ihn noch mehr auf, dass Sarida nichts antwortete und fuhr sie an: »Ich gehe da nicht hin. Wie komme ich dazu? Gib her, ich esse ihn selbst!« Ärgerlich nahm er Sarida den angebissenen Reisfladen aus der Hand.

»Weißt du, in welcher Richtung Süden liegt?« wollte Sarida nun wissen. Sie wollte so schnell wie möglich von hier weg.

»In den Süden willst du? Das stellst du dir aber einfach vor!«

»Ich wollte natürlich wissen, wo es eine Bushaltestelle oder einen Bahnhof in Richtung Süden gibt«, erklärte Sarida.

»So genau weiß ich das nicht. Ich musste noch nie in den Süden. Fragen wir einfach jemand.« Schon war Rameshs Ärger verflogen, und er war wieder bereit, ihr zu helfen. Während er die Reismatte zusammenrollte und sie mit seinen anderen Sachen bei dem Messing und -warenladen verwahrte, beschäftigte es ihn stark, woher Sarida kam und was sie eigentlich vorhatte. »Was willst du denn im Süden? Bist du dort etwa abgehauen und willst wieder nach Hause?«

»Nein, ich wohne in Madras. Aber meine Mutter lebt seit einiger Zeit im südlichsten Teil Indiens. Sie betreut Waisenkinder. Ich reise ihr nach. Das ist alles«, lautete die knappe Antwort.

»Hast du keinen Vater mehr?«

»Ja und nein«, antwortete Sarida etwas rätselhaft, was soviel heißen sollte wie: »Mehr sage ich nicht.«

»Und in welcher Stadt arbeitet deine Mutter?«

»Das ist eben das Problem. Mir ist dummerweise der

Name dieser Stadt entfallen. Aber ich habe ein paar Anhaltspunkte, und wenn ich erst mal im Süden von Tamil Nadu bin, werde ich mich durchfragen. Ich finde meine Mutter, davon bin ich überzeugt.«

»Das ist ja eine merkwürdige Sache. Du willst dich allein in den Süden durchschlagen und weißt nicht einmal genau, wo du hin willst? Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das ist?«

Ramesh konnte es nicht fassen, wie einfach sich dieses Mädchen, das erst seit gestern auf der Welt zu sein schien, alles vorstellte.

»Ich werde es schaffen«, erwiderte Sarida beinahe trotzig.

»Was ist das für ein Heim? Für Babys?«

»Nein, gar nicht. Da nehmen sie auch größere Kinder auf, auch welche, die noch Eltern haben, die sie aber nicht ernähren können. Sie werden dort versorgt, gehen zur Schule...«

»Zur Schule?« unterbrach Ramesh überrascht. »Ich wäre so gern zur Schule gegangen, um etwas zu lernen. Aber woher sollte ich das Schulgeld nehmen?« Es klang wehmütig.

»In dem Heim lernen die Kinder auch Nähen, Matten weben und Taue herstellen. Ich habe gehört, sie seien sehr dankbar, dort leben zu können«, erzählte Sarida weiter.

»Bist du sicher? Ist das nicht so etwas wie die Weberei, in der ich war? Oder sogar so eine Art Besserungsanstalt?«

»Bestimmt nicht. Ich habe nur Gutes davon gehört.«

Ramesh dachte angestrengt nach. Nach einer Weile

sagte er: »Du, ich begleite dich in den Süden. Und dann schaue ich mir dieses Waisenhaus einmal an. Ich liebe zwar meine Freiheit, aber wenn ich dort endlich etwas lernen könnte, würde ich alles andere aufgeben. Es ist so wichtig, lesen und schreiben zu können, wenn man nicht ewig hier hocken will. Und das will ich gewiss nicht!«

»Du willst mich begleiten?« Sarida konnte es nicht glauben.

»Ja, ich begleite dich. Ich verspreche es dir. Ich könnte dich sowieso nicht allein reisen lassen! In welche Gefahr du kommen könntest – nicht auszudenken.« Es klang, als sei er ihr großer Bruder.

»Danke«, antwortete Sarida gerührt.

»Es freute Ramesh zu sehen, wie in Saridas dunklen Augen ein Licht aufstrahlte. Ja, Sarida war erleichtert, dass Ramesh mit ihr diese Reise unternehmen wollte, die doch mehr Risiken in sich barg, als sie sich zunächst vorgestellt hatte. Nach dem Vorfall mit dem gestohlenen Reisfladen war ihr allerdings klar, dass dies nicht einfach werden würde.

»Wollen wir gleich los?« fragte Sarida, die nicht länger bleiben wollte als unbedingt nötig.

»So schnell geht das nicht. Ich will heute noch ein paar Waren verkaufen, damit ich ein bisschen Geld für unterwegs habe«, antwortete Ramesh und holte ein kleines Holzkistchen aus dem Laden, an dem ein Gurt befestigt war. Diesen Bauchladen, der mit Souvenirs, kleinen Vasen, Kerzenhaltern und Götterfiguren für den Hausaltar gefüllt war, hängte er sich um und mischte sich mit Sarida unter die morgendlichen Menschenmassen.

»Fragen wir einfach jemand, wie wir in den Süden kommen«, schlug Ramesh vor, als er endlich soweit war und sie die Reise beginnen konnten. Seine wenigen Habseligkeiten, darunter auch ein Messingkerzenleuchter – das Abschiedsgeschenk von Herrn Sawasi rollte er zu einem Bündel zusammen und verschnürte es. Im Fortgehen warf er einen Blick zurück auf seine »Wohn- und Arbeitsstätte«. Er konnte nicht sagen, ob er sie jemals Wiedersehen würde. Er war sich dessen bewußt, dass es nicht lange dauern wird, bis ein anderer seinen Platz eingenommen haben würde.

Schweigsam gingen Sarida und Ramesh zur nächsten Bushaltestelle. Sie fragten die Leute, die dort warteten, ob sie hier richtig wären nach Madras-Süd. Man schickte sie zu der Bushaltestelle auf der Straßenseite gegenüber. Nicht lange und der Bus kam herangefahren. Der Busfahrer erklärte ihnen, dass sie nach Madras- Süd noch einmal umsteigen müssten.

Dann fuhr der Bus an, und Ramesh winkte ein letztes Mal den Kindern und Frauen am Straßenrand zu, die wie eine große, verlässliche Familie für ihn gewesen waren. Als der Bus an dem chinesischen Restaurant »Blue Diamond« vorbeifuhr, in dem Sarida des öfteren mit ihren Eltern zum Abendessen war, stiegen auch in ihr wehmütige Gedanken auf. Kurz darauf hielt der Bus an der Kreuzung, an der eine Abzweigung zum Strand des Bengalischen Ozeans führte. Dort war der Vergnügungspark »Golden Beach«, den Sarida ebenfalls gut kannte. Sie versuchte die Gedanken an die schönen Erlebnisse zu verdrängen, die sie dort mit ihren Eltern und befreundeten Familien gehabt

hatte. Sie wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab.

»An der nächsten Bushaltestelle müssen wir umsteigen. Wenn wir erstmal mit dem Bus aus der Stadt heraus sind, fahren wir mit einem Auto oder einem Lastwagen mit, sonst sind wir unser Geld gleich los«, schlug Ramesh vor.

»Können wir nicht die ganze Strecke mit dem Zug fahren? Da wären wir viel schneller am Ziel«, warf Sarida ein.

»Ich habe nicht soviel Geld, und von einem Mädchen lasse ich mir das nicht bezahlen.«

»Wieso nicht? Ich habe viel Geld, 5.000 Rupies.«

»Oh, zum Verreisen ist das gar nicht viel! Das musst du dir gut einteilen, weil du nicht weißt, wie lange wir unterwegs sind. Das langt nicht mal für eine längere Bahnfahrt. Du bist eine Träumerin.«

An der Endstation in Madras-Süd angekommen, fragte Sarida: »Und was jetzt? Sollen wir tatsächlich ein Auto anhalten?« Dieser Gedanke machte ihr Angst.

»Was hast du denn, heute morgen warst du noch so mutig!«

»Wir wissen ja gar nicht, zu wem wir einsteigen. Das könnte ja der größte Verbrecher sein. Ich möchte doch lieber mit dem Zug fahren«, flehte Sarida.

»Ich habe dir gesagt, dass dein Geld nicht langt. Glaub mir das.« Als sich ihr kläglicher Gesichtsausdruck nicht änderte, fügte er etwas sanfter hinzu: »Ich habe eine Idee! Siehst du da drüben die Tankstelle ›Indian Oil‹? Da gehen wir hin und fragen die, die tanken, ob sie uns ein Stück mitnehmen können. Glaub mir, ich kenne in der Zwischenzeit die Leute. Ich suche schon jemand aus, bei dem wir sicher sind.«

Sarida wiegte den Kopf hin und her, nach indischer Sitte ein Zeichen der Zustimmung.

Aus einiger Entfernung beobachteten sie die Leute an der Tankstelle, und als Sarida mit der Auswahl des Fahrers einverstanden war, machte Ramesh einen ersten Versuch. Mutig ging er auf einen freundlich dreinblickenden Lastwagenfahrer zu.

»Fahren Sie in den Süden?«

Es tat dem Mann leid, doch er verstand Ramesh nicht, weil er, aus dem Bundesstaat Kerala stammend, das hier übliche Tamil nicht sprach. Englisch, die Sprache, mit der sich die Inder aus verschiedenen Bundesstaaten untereinander verständigten, konnten nur die, die es in der Schule gelernt hatten.

»Wo wollt ihr denn hin?« mischte sich ein anderer Mann ein, der das Gespräch mitbekommen hatte.

»In den Süden, zu ihrer Mutter«, antwortete Ramesh.

»Ach so«, murmelte der Fahrer, »weit fahre ich nicht, nur bis zur nächstgrößeren Stadt, aber wenn ihr trotzdem mitkommen wollt, dann steigt ein.«

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen, denn jeder zurückgelegte Kilometer zählte.

Während Sarida ihre Ängstlichkeit nicht ablegen konnte, genoss Ramesh die rasante Fahrt. Er hätte es an einer Hand abzählen können, wie oft er in einem Auto gesessen hatte. Aus dem Radio, das der Fahrer trotz der vielen Zwischengeräusche auf volle Lautstärke gestellt hatte, erklangen rhythmische Lieder, die er mit seiner voluminösen Stimme begleitete. So kam er in jeder

Beziehung in Fahrt, und wenn nur irgend möglich, überholte er. Er hatte es scheinbar besonders eilig, nach Hause zu kommen. Zur Warnung für die anderen Verkehrsteilnehmer hupte er vor dem Überholen laut. Als er an einem Ochsengespann vorbeizog, fehlte nicht viel und er hätte den Karren gestreift.

Eine Familie auf einem Motorrad konnte gerade noch geschickt ausweichen. Krampfhaft hielt die Frau auf dem Rücksitz ihren Buben fest. Ihr bunter Sari wehte im Wind, leuchtend orangefarbene Blüten schmückten ihr schwarzes hochgestecktes Haar. Sarida musste wieder an ihre Mutter denken, die dieser Frau sehr ähnlich sah. Die Zweifel, die sie beschlichen hatten, ob es richtig gewesen war, sich dem Staub der Straße und all dem Ungewohnten auszusetzen, wichen der Vorfreude auf ihre Mutter.

Wie der Mann angekündigt hatte, fuhr er wirklich nicht weit, nur ungefähr 15 Kilometer. Wieder standen die beiden auf der Straße, mitten in einer staubigen Kleinstadt. Unzählige Menschen, die von der Arbeit oder vom Einkäufen kamen, drängten sich an Ramesh und Sarida vorbei. Ein Radfahrer hatte auf dem Gepäckträger eine Unmenge bunter Plastikschüsseln befestigt.

»Erklär mir mal, wie du herausbekommen willst, in welcher Stadt du deine Mutter findest?« Diese Frage hatte Ramesh schon während der ganzen Fahrt beschäftigt.

»Ich war mit ihr einmal in einem vornehmen Sariladen in einer großen Stadt im Süden. Ich weiß noch genau, wie es da aussah. Aber wie die Stadt hieß, habe ich vergessen. Mutti sagte später, in dieser Stadt sei das Waisenheim.«

»Du erinnerst dich nur noch an einen dieser Läden, die es zu tausenden gibt?!« Ramesh konnte es nicht fassen. »Überhaupt eine komische Geschichte, dass du nicht genau weißt, wo deine Mutter ist.«

»An die Stadt selbst erinnere ich mich auch noch!« warf Sarida ein. »Ich muss zugeben, dass ich mir alles etwas einfacher vorgestellt hatte. Das war ein bisschen dumm von mir. Aber dennoch glaube ich fest daran, dass unsere Reise gelingen wird.«

»Wieso bist du dir da so sicher!« entgegnete Ramesh beinahe vorwurfsvoll.

»Wenn wir erst einmal im Süden von Tamil Nadu sind, frage ich einfach jemand, ob er diesen Laden kennt und mir den Namen der Stadt nennen kann. Weißt du, das ist wirklich kein Laden wie einer von vielen. Der Besitzer ist Millionär geworden. Es ist der Sariladen überhaupt.«

Auch das überzeugte Ramesh nicht besonders. Der Tag war beinahe vorbei, ohne dass sie viel erreicht hätten. Er hatte seine Lagerstätte und damit seine Versorgungsmöglichkeit aufgegeben, und nicht mal das Ziel war ihm bekannt. Nein, er sah das Ganze gar nicht so rosig.

Sarida dachte nicht mehr länger darüber nach und beobachtete eine Bettlerin, die ein paar Schritte von ihnen entfernt am Straßenrand saß.

»Berühre sie bloß nicht, wenn du ihr etwas gibst! Es ist ansteckend!« warnte Ramesh, als er sah, dass Sarida in ihrem Blechköfferchen nach Geld suchte.

»Lepra?« fragte sie leise und schreckte zurück.

»Ja«, bestätigte Ramesh.

Sarida wußte natürlich, dass sich diese Krankheit, die einen Menschen völlig entstellen konnte, durch Berührung übertrug. Deshalb leben Aussätzige auch völlig isoliert und kommen nur in die Städte, um ihren Lebensunterhalt zu erbetteln.

»Mein Vater sagte, Lepra sei heute heilbar«, erklärte Sarida.

»Das stimmt, aber die Medikamente sind teuer. Die Armen können sich das nicht leisten«, erwiderte Ramesh.

Sarida hatte noch nie einen Menschen aus der Nähe gesehen, der von Lepra befallen war. Es war ihr unangenehm, als die Frau, die nun eine Gabe erwartete, ihre Hand ausstreckte. Es kostete Sarida einige Überwindung, den Rupien-Schein zu Füßen der Frau auf den Boden zu legen. Diese bedankte sich überschwenglich, was auch schon wieder peinlich war. Sarida musste unwillkürlich an eine Geschichte in der Bibel denken, in der Jesus zehn aussätzige Männer in Liebe angenommen und sie geheilt hatte.

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