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Friedrich Schleyermacher ist froh, dass die Nacht bald vorüber ist. Er liegt schon lange Zeit wach. Zermürbende Gedanken, die immer wieder um dasselbe kreisen, haben ihm den Schlaf geraubt. Lisa dagegen, seine Frau, schläft tief. Im Halbdunkel des Raumes sieht sie mit ihrem langen, silberblonden Haar wie ein friedlich schlummernder Engel aus. Ihr Wesen hat aber nur wenig mit einem Engel gemein, abgesehen von ihrer Neigung zum Schweigen, die man bei einem Engel wohl finden würde. Streit gibt es zwischen Friedrich und Lisa schon lange nicht mehr. Es ist viel schlimmer: Eiseskälte und Distanz bestimmen den Ehealltag. In dieser Nacht ist Friedrich wie nie zuvor klar geworden, dass es so nicht weitergehen darf. ---- Brigitte Grill, Jahrgang 1959, wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und traf mit 24 Jahren eine eigene Entscheidung für Jesus Christus. Die gelernte Bürokauffrau entdeckte schon früh ihre Liebe zum geschriebenen Wort. Sie hat mehrere Erzählungen veröffentlicht, arbeitete eine Zeit lang als Journalistin und schrieb einige Artikel für die christliche Frauenzeitschrift Lydia.
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Seitenzahl: 47
Der kleine Brückenbauer
Erzählung
Brigitte Grill
© 2015 Folgen Verlag, Wensin
Autor: Brigitte Grill
Cover: Eduard Rempel, Düren
Lektorat: Mark Rehfuss, Schwäbisch Gmünd
ISBN: 978-3-944187-46-4
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Der kleine Brückenbauer ist früher als Buch im Christlichen Verlagshaus, Stuttgart, erschienen.
Lautstark begrüßen die Spatzen, die in den hohen Birken vor dem Haus von Herrn und Frau Schleyermacher nisten, den neuen Tag. Friedrich Schleyermacher ist froh, dass die Nacht bald vorüber ist. Er liegt schon lange Zeit wach. Zermürbende Gedanken, die immer wieder um dasselbe kreisen, haben ihm den Schlaf geraubt. Lisa dagegen, seine Frau, schläft tief. Im Halbdunkel des Raumes sieht sie mit ihrem langen, silberblonden Haar wie ein friedlich schlummernder Engel aus.
Ihr Wesen hat aber nur wenig mit einem Engel gemein, abgesehen von ihrer Neigung zum Schweigen, die man bei einem Engel wohl finden würde. Allerdings ist Lisas Schweigsamkeit kaum himmlischen Ursprungs. Sie liegt vielmehr darin begründet, dass sie vor Jahren von ihrer abgöttisch geliebten Tochter bitter enttäuscht worden war. Lisa hat diesen Groll über die Jahre hinweg gepflegt. Kein Wunder, dass er ihre Lebensfreude untergraben und die Ehe wie ein Geschwür vergiftet hat. Doch damit nicht genug. Der Groll hat auch einen Neubeginn in der Beziehung zu ihrer Tochter Verena unmöglich gemacht.
Nein, Streit gibt es zwischen Friedrich und Lisa schon lange nicht mehr. Es ist viel schlimmer: Eiseskälte und Isolierung bestimmen den Ehealltag. In dieser Nacht ist Friedrich wie nie zuvor klar geworden, dass es so nicht weitergehen darf.
Er hat wirklich alles versucht, um seiner Frau zu helfen, über die Enttäuschung hinwegzukommen und Verena vergeben zu können. Wie viel Mühe, vielleicht zu viel, hat er sich dabei in der ersten Zeit gegeben. Doch all seinen Bemühungen war nicht der geringste Erfolg beschieden. So hat er sich mehr und mehr mit dieser traurigen Situation abgefunden.
Seine ganze Liebe und Vitalität widmet er seinem Buchladen und seinen Freunden, die wie er Christen sind. Oft kommt der eine oder andere zu ihm und schüttet sein Herz bei ihm aus. Mit Rat und Tat versucht er stets weiterzuhelfen und Hoffnung zu vermitteln.
Nun muss er sich eingestehen, dass er selbst jahrelang so gelebt hat, als gebe es für seine Ehe keine Hoffnung mehr. Friedrich hat heute Nacht die erschreckende Feststellung machen müssen, dass er, bei allem beruflichen Erfolg und gesellschaftlichem Ansehen, in dem allernächsten Bereich, nämlich seiner Ehe, versagt hat. Verschiedene Situationen sind ihm wieder eingefallen, in denen seine Frau, wenn auch zaghaft, versucht hat, einen Weg zu ihm zu finden. In Resignation gefangen, war er überhaupt nicht darauf eingegangen. Traurig über sich selbst verlässt er das Bett und öffnet das Schlafzimmerfenster weit.
»Der Ruin, vor dem Lisa und ich stehen, ist genauso meine Schuld«, flüstert Friedrich und betet: »Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«
Tief atmet er die wohltuende Morgenluft ein, als wolle er sich vollsaugen mit frischer, neuer Kraft. Das fröhliche Vogelgezwitscher erinnert ihn daran, dass Jesus seinen Zuhörern gesagt hat, dass sie sich, gleich den Vögeln des Himmels, nicht um ihr Leben sorgen sollten. Ja, diese lustigen Gesellen kümmert es nicht, dass die Uhr vor einigen Wochen umgestellt wurde und aus vier Uhr nun fünf Uhr geworden ist. Was geht sie die Sommerzeit an? Wenn die Sonne ihre ersten Strahlen schickt, fangen sie wie eh und je an zu zwitschern.
Auf einer Anhöhe bemerkt Friedrich zwischen den schlanken Kiefern einen rätselhaften, hellen Punkt, der mehr und mehr an Stärke zunimmt. Einen Augenblick lang glaubt er, es sei ein Feuer. Doch es ist die alles überstrahlende Sonne, der die Nacht weichen muss. Der Sieg über das Dunkel, dieses uralte Schauspiel, ist für Friedrich nach dieser Nacht, die ihm alle Illusionen über sich selbst geraubt hat, ein Bild neuer Hoffnung. In dem Augenblick, als die Sonne in ihrer vollen Pracht erstrahlt, beschließt er in seinem Herzen: »Ich werde für das Glück meiner Ehe kämpfen. Jesus kämpft mit mir. Er kann einen Neubeginn schenken.«
Wieder blüht im Garten der Flieder. Ich werde welchen schneiden und ihn auf Lisas Nachttisch stellen, wie vor über 30 Jahren, schießt es Friedrich durch den Kopf. Doch sofort melden sich in ihm auch andere Stimmen. Nein, auf keinen Fall! Misstrauisch, wie sie ist, wird sie denken, ich verfolge damit irgendeine Absicht. Unsere Fliederzeit ist vorbei.
Und doch lässt ihm dieser Gedanke keine Ruhe mehr. Es könnte ein erster Anfang sein, den soeben gefassten Vorsatz, für meine Ehe zu kämpfen, in die Tat umzusetzen, sagt er sich. Er beschließt, es zu wagen. Vorsichtig steigt er die alten Holztreppen hinunter, damit Lisa nicht durch das Knarren erwacht.
Morgenstille liegt über der kleinen Stadt mit der berühmten Klosterkirche, die von hohen Lindenbäumen umgeben ist. Die Häuschen in der schmalen Straße scheinen noch vor sich hinzuschlummern.
»Lisa kann es einfach nicht vergessen haben, was uns das früher bedeutete!«, flüstert er, als er die abgeschnittenen Fliederzweige behutsam in eine Vase stellt. Aufgeregt, wie er es damals als junger Ehemann war, steigt er die Treppe hinauf. Wieder überfällt ihn lähmende Unsicherheit. Vielleicht freut sich Lisa gar nicht über diese Überraschung. Doch schließlich sagt er sich: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, und drückt die Türklinke zum Schlafzimmer herunter. Auf Zehenspitzen schleicht er sich an Lisas Bett und stellt den zarten Strauß auf den Nachttisch.
Auch das Frühstück bereitet er in besonderer Liebe vor. Als der Tisch mit dem teuren Kaffeeservice, das Lisa von ihrer Mutter geerbt hat, gedeckt ist, nimmt er sich Zeit, in der Bibel zu lesen. Er dankt Gott für die neue Hoffnung, ja, die Gewissheit, die ihn erfüllt. Für den kommenden Tag stehen die Weichen seines Herzens auf Zuversicht.
Es ist Friedrich zur Gewohnheit geworden, am Samstagmorgen frische Brötchen zu holen. Er nimmt den Einkaufskorb und wirft im Gehen noch einen Blick in den Garderobenspiegel. Dabei fällt ihm ein, dass sein Enkel neulich gesagt hat, dass er oft so traurig aussehen würde. Ja, Friedrich muss zugeben, dass seine Vitalität und Lebensfreude der Sorge gewichen sind. Die blauen Augen, die früher so strahlend waren, wirken stumpf und müde. Die Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen. Sein Gesicht offenbart einem Menschen, der sich nicht mit oberflächlichen Antworten begnügt, die Jahre des Leidens.
Er bummelt die Marktstraße entlang, die zum Zentrum Blaubeurens gehört. Vor dem Gasthof »Löwe« erinnert ein Maibaum an die verschiedenen Zünfte. Auch das Wappen Blaubeurens, das Blaumännle, ist darauf zu sehen. In beiden Händen ein Geweih haltend, eilt es in blauem Gewand vorwärts. Auf dem Haupt des sitzenden Löwen, der einen blauen Brunnen ziert, hat eine blaugraue Taube Platz genommen. Was hier etwas auf sich hält, ist eben blau, denkt Friedrich, dem wieder bewusst wird, wie sehr er mit Blaubeuren verwurzelt ist.
Der Duft von frischgebackenem Brot kündigt die beste Bäckerei des Ortes an, zumindest findet Friedrich das. Freundlich begrüßt ihn die Bäckerin. Obwohl es erst kurz nach sieben ist, herrscht hier reger Andrang. Geduldig wartet Friedrich darauf, bedient zu werden. Plötzlich glaubt er jedoch, seinen Ohren nicht trauen zu können.
Zwei Frauen, die im Gehen begriffen sind, flüstern sich hinter vorgehaltener Hand zu: »Das ist der Mann von Frau Schleyermacher. Die ist sich inzwischen zu fein, mich zu grüßen. Geht einfach stur an mir vorbei. Da stimmt was nicht!«
Diese Worte treffen Friedrich wie Messerstiche. Zum Erschrecken der beiden Frauen dreht sich das ergraute Haupt um, und zornig blickt Friedrich die beiden an. Sie hatten nicht gedacht, dass er so gute Ohren hat. Eine scharfe Antwort liegt ihm auf der Zunge. Doch noch bevor er etwas erwidern kann, schiebt die Frau mit dem geblümten Kopftuch die andere hastig zur Tür hinaus. Ist wohl auch besser so, dass die beiden gegangen sind, denkt Friedrich, als er mit einer Tüte Brötchen den Laden verlässt. So hat Gott mir erspart, vor anderen Leuten von dieser Sache viel Aufhebens zu machen.
Den Gang zum Bäcker verbindet er immer mit einem Abstecher in die Buchhandlung, die er sein Eigen nennt. Sein Weg führt ihn durch das Klostergängle, einen engen Laubengang, der sich durch gepflegte Gärten schlängelt. Sein Blick fällt auf einen hübsch angelegten Teich, umrahmt von Schilfrohr und Wasserlilien. Diese Pflanzen mit ihrem königlich aufrechten Wuchs haben unter dem Sturm des vergangenen Tages sehr gelitten und sind nun stark geknickt. Dieser traurige Anblick spiegelt Friedrichs inneren Zustand wider.
Es sind noch keine zwei Stunden vergangen, als er die frohe Gewissheit bekommen hat, dass sich seine Lebenslage zum Guten verändern wird. Gestärkt und aufgerichtet war er in den Tag gegangen. Doch diese kleine Begegnung im Bäckerladen hat genügt, um seine Freude zu zerbrechen und die alte Resignation heraufzubeschwören. Ja, des Menschen Herz ist ein verzagtes Ding! Es ist jedem Windhauch unterworfen. Friedrich seufzt tief und wiederholt, als wolle er sich selbst ermutigen: »Es gibt Hoffnung. Jesus kämpft mit mir.«
Noch wenige Schritte, und er ist bei der Buchhandlung angelangt. Das kleine Haus, das bis unter das Dach mit Bildung, Unterhaltung und Erbaulichem vollgestopft ist, wurde erst kürzlich renoviert. Nun erstrahlt es in sonnigem Gelb, für Friedrich noch ganz ungewohnt. Lange konnte er sich nicht dazu durchringen, diese notwendige Renovierung in die Wege zu leiten. Als er auf die Buchhandlung zugeht, wird ihm plötzlich klar, dass er es deshalb vor sich hergeschoben hat, weil er fürchtete, er würde damit den letzten Rest von Vergangenheit auslöschen: das zartrosa Haus, das die Erfüllung seiner und Lisas Träume gewesen war. Heute hat er es wieder gewagt, an diese Vergangenheit zu denken, ja, davon zu träumen, dass es wieder so werden könnte.
Vor langen Jahren hatten Friedrich und Lisa dieses in der Nähe ihres Wohnhauses gelegene Häuschen angemietet und später gekauft. Die untere Etage dient als Verkaufsraum mit einem kleinen Büro, die oberen Räumlichkeiten bieten Lagermöglichkeiten für Bücher.
Ihre große Leidenschaft für Bücher und das Gespräch mit interessierten Kunden ersetzten den beiden die eher freudlosen Stunden der Buchhaltung, des Bestellens und Auspackens. In der ersten Zeit war der Verdienst knapp. Das lag sicher auch daran, dass sie nicht auf jeder Modewelle mitschwammen und keine Bücher anboten, die gegen ihre christliche Überzeugung waren.
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