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Die Kunstexpertin Anke Neuhaus hat genügend Probleme: eine heftig pubertierende Tochter, einen Exmann, der ihr Knüppel zwischen die Beine schmeißt, und einen wehleidigen, ausbeuterischen Boss. Für den soll die überzeugte Großstadtbewohnerin ins Nirgendwo ziehen, um sein Museum für moderne Kunst vor dem Ruin zu retten. Um Anke zu helfen, bietet der bekannte Maler Niels Sörensen ihr Bilder zum Verkauf an, deren Herkunft er selbst nicht genau zu kennen scheint. Als Anke die Porträts von weinenden Kindern tatsächlich ausstellt, beginnt der schlimmste Albtraum ihres Lebens: Offenbar hasst jemand die Gemälde und schreckt selbst vor dem Äußersten nicht zurück: Mord.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
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Liebe Leserin ...
Totsee
Leseprobe "Totsee"
Impressum
Das Bett der Wiltach war übervoll vom Regen der vergangenen Tage und eisiger Wind wehte von Osten das Flussufer entlang. Eine trübe Brühe, kaum Wasser zu nennen, wälzte sich Richtung Stadtmitte, dürftig beleuchtet von den wenigen gelben Laternen am Uferweg. Dort war um diese Uhrzeit keine Menschenseele mehr unterwegs.
Die Brücke über den Fluss war wegen Bauarbeiten abgesperrt. Dennoch wartete auf der mächtigen Stahlkonstruktion aus der Gründerzeit ein Mann ungeduldig auf die Person, mit der er sich verabredet hatte. Er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und fror.
Zu seinem Erstaunen hatte Yvonne von Laatz zugesagt, ihn zu treffen. Das war unvorsichtig von ihr, denn sein Trick war unbeholfen gewesen und fadenscheiniger als die Unterhosen seiner Mutter. Er hatte nur ein paar wolkige Andeutungen gemacht, von einem russischen Kunstwerk aus obskurer Herkunft, das er gerne an den Mann bringen wolle. Und da sie gerade hier vor Ort sei und außerdem eine Koryphäe auf dem Gebiet, hätte er gerne ihre Einschätzung gehört. Er würde sich auch nicht lumpen lassen, falls ein Verkauf zustande käme.
Sie hatte ihm das Ammenmärchen geglaubt, möglicherweise aus Geldgier, viel wahrscheinlicher aber, weil sie ihre professionelle Neugier nicht zähmen konnte und sehen wollte, welchen Schund er feilbot.
Statt einer russischen Ikone trug er allerdings eine nicht registrierte P229 unter seinem Mantel, eine kompakte, leicht zu versteckende Pistole der Firma Sig Sauer.
Und seinen Hass natürlich. Auf das gefühllose Monster, das sein Leben verwüstet hatte.
Die Hochschullehrerin ließ sich Zeit. Als sie zehn Minuten überfällig war, wollte er sich schon zurückziehen. Doch dann sah er, wie sich ein Schatten aus dem Dunkel des Brückenpfeilers bei den östlichen Wiesen löste und im Schein der Laterne Gestalt annahm.
Sie musste es sein, denn sie trug das Erkennungszeichen unter dem Arm, das er ihr vorgegeben hatte, eine Ausgabe des Wiltheimer Anzeigers.
Das herzlose Monster kam direkt auf ihn zu, eine kleine, zierliche Gestalt in Trenchcoat und Jeans. Die Professorin. Kuchen-Yvonne.
Viele Stunden hatte er versucht, sich einzureden, dass sie unschuldig war, dass jeder sein Schicksal selbst in der Hand hatte, und am Ende hatte er die selbstgestrickte Mär sogar beinahe geglaubt. Beinahe. Dann hatte sein zutiefst gekränktes Ich obsiegt. Frau Professor sollte büßen für das, was sie ihm angetan hatte, ihm und seiner Familie. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Er wollte Vergeltung.
You can’t have your cake and eat it, hatte sie gesagt. Du kannst deinen Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten. Triff eine Entscheidung. Das hatte sie mit ihrer beschissenen Metapher gemeint und ungerührt niedergemäht, was ihm sein Liebstes gewesen war.
Tausendmal verfluchte Kuchen-Yvonne.
Sie kam näher und sah sich suchend um.
Er trat aus dem Zwielicht des Portalturms und hob die Hand.
Yvonne von Laatz kam langsam auf ihn zu und erwiderte den stummen Gruß. Sie trug ein Kopftuch und hatte einen Schal um den Hals geschlungen, den sie sich über den Mund bis zur Nase hochgezogen hatte, um sich vor dem grimmigen Wind zu schützen, der böig anschwellend über den Fluss fegte.
»Frau von Laatz?«
Sie blieb fünf, sechs Schritte entfernt von ihm stehen und nickte. Legte den Kopf zur Seite und musterte ihn.
»Wo haben Sie das Bild?«
»Ich habe es nicht«, sagte er. Der Ostwind riss die Worte mit sich fort.
»Weshalb sind wir dann hier?«, fragte sie.
Ihre Stimme klang rau und unattraktiv durch den Schal. Anders als er sie sich vorgestellt hatte. Wenn sie Angst verspürte, dann verbarg sie diese gut. Leute aus ihrer Schicht wurden mit der Gewissheit geboren, dass man jedes Problem lösen kann. Notfalls mit Geld, alles nur eine Frage des Preises, nicht wahr?
Er zog die Pistole hervor.
»You can’t have your cake and eat it«, sagte er langsam und richtete den kurzen Lauf der Waffe auf sie.
Sie zeigte keine Regung. Ein Windstoß pfiff durch die Stahlpfeiler und ließ ihren Mantel flattern.
»Eine Englischlektion mit Pistole? Das ist mal was Neues. Wollen Sie Geld?«
Sie griff in die Tasche und warf ihm ihre Geldbörse vor die Füße.
»Falls es um das Museum in Dürrweiding geht: Ich bin die falsche Ansprechpartnerin. Ich berate Herrn Wohlstedt nur. Wenden Sie sich an ihn.«
»Dein albernes Museum ist mir egal. Ich will, dass du bezahlst, für das, was du uns angetan hast.«
»Ich kenne Sie gar nicht!«
»You can’t have your cake and eat it, nicht wahr?«, sagte er. »Das bedeutet, dass man sich entscheiden muss, und ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich werde dich töten.«
Er machte vier schnelle Schritte auf sie zu und riss ihr den Schal vom Gesicht.
Ihr überraschter Aufschrei verflog im Heulen des Windes.
Er zuckte zurück.
»Wer bist du, verdammt nochmal?«, schrie er.
Ein kantiges, fast männlich wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen war unter dem Schal hervorgekommen und sah ihn ausdruckslos an.
»Yvonne von Laatz, wer sonst?«
Das konnte nicht sein. Kuchen-Yvonne sah anders aus!
Er packte sie mit der Linken an der Gurgel und drückte zu, seine ganze Frustration in fünf Finger legend.
»Lüg mich nicht an! Wer bist du, verdammt nochmal?«
Ein dumpfer Schmerz in der Leiste ließ ihn zusammenfahren. Sie hatte ihm ihr Knie ins Gemächt gerammt.
Während er sich zusammenkrümmte, taumelte sie rückwärts - bloß weg von ihm - für einen fatalen Moment orientierungslos. Zwei Schritte. Drei. Dorthin, wo sich wegen der Bauarbeiten lediglich eine behelfsmäßige Brüstung befand. Ihr letzter Schritt fand keinen Halt mehr, ihre verzweifelt nach oben greifenden Arme erfassten nur Luft.
Sie verschwand lautlos in der Tiefe.
Seine Knie krachten, als er auf den Asphalt sackte. Wie konnte das sein? So einschneidend konnte das Alter doch ihr Gesicht nicht verändert haben!
In seinen Ohren begann es zu sausen.
Sie war es nicht. Sie ist es nicht gewesen!
Verzweifelt durchwühlte er ihre Geldbörse, fand den Ausweis. Da stand der Name, Yvonne von Laatz, neben dem Bild der Frau, die soeben in den Tod gestürzt war. Aber sie war es nicht gewesen, trotzdem nicht! Sie war nicht das Monster.
Friss oder stirb, brüllte der Ostwind ihn an und bleckte die Zähne.
Er hatte einen unschuldigen Menschen in die Fluten der Wiltach getrieben.
Seine verkrampften Finger lösten sich von der Pistole, die mit einem leisen Klacken auf die Teerdecke plumpste. Statt Vergeltung zu üben, hatte er Schuld auf sich geladen. Furchtbare Schuld. Und seine Gier nach Rache war noch immer ungestillt.
Mühsam erhob er sich. Setzte sich in Bewegung, weg von diesem schrecklichen Ort.
Er begann zu rennen, den stechenden Schmerz in den Knien ausblendend, hetzte von der Brücke wie ein angeschossenes Wild, hinaus in die Dunkelheit, wo das Maul der Nacht ihn verschluckte.
Der Flugbegleiter eilte ein letztes Mal durch den Airbus und kontrollierte, ob alle Passagiere ihre Gurte angelegt hatten. Anke Neuhaus beachtete ihn gar nicht, so sehr war sie in ihre verworrenen Gedanken versunken. Seit dem Telefonat mit Remigius Wohlstedt grübelte sie darüber nach, was er ihr hatte sagen wollen.
Sie solle sich nach ihrer Ankunft bei ihm im Geschäft melden, hatte er gesagt, unbedingt sofort! Es gehe um Leben und Tod. Anke kannte ihn lange genug und wusste, dass Remigius jede Mücke zum Mammut aufblies. Diesmal allerdings hatte sie einen Unterton herausgehört, der diesem Mann fremd war. Verzweiflung. Und dann, kurz bevor der Steward Anke wegen des noch immer nicht abgeschalteten Telefons ansprach, hatte Remigius noch Yvonne erwähnt.
Sie sei tot, hatte er gesagt. Ob Anke das mitbekommen habe? Vermutlich bei einem Überfall in einen Fluss gestürzt und ertrunken. Furchtbar nicht wahr? Und das sei alles seine Schuld.
Draußen zog das wolkenverhangene Erdinger Moos vorbei, als die Maschine beschleunigte und die Schwerkraft überwand.
Anke hatte den Kontakt zu Yvonne vor langer Zeit abgebrochen. War immer nur stumm an ihr vorbei gehuscht, wenn Yvonne bei Remigius in der Kunstgalerie erschien, alle Jubeljahre. Und vor wenigen Tagen, gut sechzehn Jahre nach dem Zerwürfnis wegen Niels und dem abrupten Ende ihrer Freundschaft, hatte Yvonne sie angerufen und komisches Zeug gestammelt. Und jetzt sollte sie Opfer eines Verbrechens geworden sein?
Die trübgraue Landschaft verschwand unter der Wolkendecke. Anke kuschelte ihr Gesicht in das Reisekissen, aber an ein Nickerchen war nicht zu denken.
Yvonne.
War da einem gekränkten Künstler der Kragen geplatzt und er hatte Rache genommen für einen ihrer famosen Verrisse? So musste es gewesen sein. Es grenzte an ein Wunder, dass das nicht schon viel früher geschehen war.
*
Die Zeit, die es dauerte, bis ihr Koffer auf dem Gepäckband des Kölner Flughafens erschien, nutzte Anke für einen Gang zur Toilette. Sie hatte das Bedürfnis ihr Aussehen zu überprüfen. Vielleicht deshalb, weil Holger kam, um sie abzuholen, und sie ihm zeigen wollte, was für ein Prachtstück sie immer noch war? Nein, das war natürlich Unsinn.
Dafür, dass sie sich ziemlich erschöpft fühlte, fand Anke ihr Spiegelbild durchaus in Ordnung. Die große, schlanke Frau mit den halblangen, blonden Haaren, die ihr müde entgegenlächelte, konnte noch ein wenig Lippenstift vertragen, etwas Rouge für den blassen Teint und Puder für die Augenringe, welche die randlose Brille kaum kaschierte. Für Anfang vierzig dennoch recht annehmbar.
Sie entdeckte ihren Trolley sofort, ein knallbuntes Plastikbonbon in einem Heer von grauen und schwarzen Koffern, zog ihn vom Band und ging den wohlbekannten Weg zur Ankunftshalle. Dort entdeckte sie die drei Wartenden, noch bevor sich die gläserne Schiebetüre öffnete. Sie standen in einem Pulk und erspähten Anke in der Flut der ankommenden Passagiere deshalb nicht sofort.
Die übergewichtige Teenagerin mit den langen schwarzen Haaren und der Kleidung in derselben, lebensfrohen Farbe starrte auf ihr Handy und schien den Trubel in der Wartehalle überhaupt nicht wahrzunehmen. Neben Cora stand als kunterbunter Kontrast ihre kleine Schwester, rothaarig, mit hellgrüner Regenjacke und Gummistiefeln in Pink. Die schmale Achtjährige musterte alle Ankommenden mit dem offenen, neugierigen Blick, den nur Kinder zustande bringen. Hinter ihr stand nicht Holger, sondern seine Mutter, die Hände auf den Schultern ihrer Enkelin abgelegt. Sie entdeckte Anke als Erste, stupste die Kleine an und zeigte auf sie.
»Mama!«
Mara hüpfte auf ihre Mutter zu und umarmte sie so stürmisch, dass Anke aufpassen musste, dass sie bei diesem Überfall nicht das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Anke beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. Sie fühlte sich warm an, das Feuer ihres Haars duftete nach Zitrone.
Nur drei Tage ohne sie. Und so sehr vermisst.
Cora sah lediglich kurz vom Display des Smartphones auf, und als Anke ihr über den Kopf streichen wollte, drehte sie ihn weg.
»Hat dir jemand die Stimme geklaut?«
Ein genervtes Augenrollen bildete die einzige Antwort des Teenagers auf den misslungenen Scherz.
Gertrud reichte Anke mit einem nachsichtigen Lächeln die Hand. Du weißt doch, wie sie ist, zurzeit.
»Ich habe euch was mitgebracht.«
Anke kramte in den Taschen ihres Parkas und reichte ihren Töchtern je eine Packung Rahmkaramellen, die sie im Duty-Free-Shop in München gekauft hatte.
»Toll! Kann ich gleich eins haben?«
Mara machte sich umständlich daran, die weiße Tüte aufzureißen, aber ihre Finger rutschten immer wieder ab.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Gertrud.
»Können wir erstmal zum Auto gehen, ja?«, sagte Anke.
Gertrud ließ die hilfreich ausgestreckte Hand wieder sinken.
»Wie du meinst.« Sie bedachte Mara mit einem entschuldigenden Blick.
»Wie war die Messe?«
»Anstrengend.«
»Und der Flug?«
»Sanft wie selten zuvor.«
Gertrud nahm ihr den großen Hartschalenkoffer ab und sie machten sich durch das Gedränge auf den Weg zum Parkdeck. Mara hopste um ihre Mutter herum wie ein Gummiball. Cora und ihre Großmutter gingen schweigend voraus.
»Wo ist eigentlich euer Vater?«
»Der Papa hat gesagt, sein Chef hat ihn anderufen, und er muss ganz schnell zu einem Mietding kommen! Mama, was ist das, ein Mietding?«, sagte Mara.
Cora ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen. Immerhin schien es hinter ihrer unbeteiligten Teenager-Maske noch ein paar Gefühle zu geben.
»Er musste kurzfristig nach London«, informierte Gertrud sie. »Irgendeine wichtige Besprechung.«
»Aber er hat doch versprochen, dass er die Kinder zu sich nimmt, während ich in München bin.«
Gertrud fütterte den Parkscheinautomaten mit einem Schein.
»Du weißt doch wie die sind, bei seiner Bank«, sagte sie und nahm das Ticket entgegen.
Als sie bei Ankes Subaru ankamen, öffnete Gertrud die Heckklappe und Anke wuchtete den Trolley in den Kofferraum.
»Es war halt anders vereinbart, aber ich wundere mich über gar nichts mehr«, sagte sie.
»Ich weiß überhaupt nicht, was du immer hast! Die beiden sind doch gerne bei uns! Ist alles kein Problem. Und bei mir isst Mara auch immer ordentlich, nicht wahr, Schatz?«, sagte Gertrud.
Sicher. Oma ist die Beste.
Aber was sollte Gertrud auch sonst sagen? Holger war ihr einziger Sohn, und Anke konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals kritisiert hatte, obwohl es Anlässe dazu reichlich gegeben hätte.
»Möchtest du fahren?« Gertrud hielt Anke den Zündschlüssel hin.
Die winkte ab.
Als Gertrud den Wagen startete und ruckelnd aus dem Parkhaus zirkelte, bereute Anke bereits, den Beifahrersitz gewählt zu haben. Sie steckte die Schnalle des Gurtes ins Schloss, doch er rastete nicht ein. Sie versuchte es ein zweites Mal, mit dem gleichen Ergebnis.
Nicht schon wieder. Der Wagen war doch erst in der Werkstatt gewesen! Egal, jetzt musste es erstmal ohne Anschnallen gehen. Auf dem kurzen Stück und bei Omas gemächlicher Fahrweise bestand ohnehin keine Gefahr für Leib und Leben.
»Diese Professorin von Laatz ... kanntest du die nicht?«, fragte Gertrud nachdem sie endlich die gelbschwarze Schranke passiert und sich in den nachmittäglichen Verkehr eingereiht hatten.
»Ja, ich habe sie aber viele Jahre nicht gesehen. Wieso?«
»Sie ist tot. Ertrunken. Hast du davon nicht gehört?«, sagte Gertrud im Plauderton.
Es klang surreal. Wo Anke doch erst vor wenigen Tagen mit Yvonne gesprochen hatte.
»Die Zeitungen sind voll davon«, fuhr Gertrud ungerührt fort. »Magst du was darüber hören?«
Von dir bestimmt nicht.Und auch nicht jetzt.
Anke schüttelte knapp den Kopf und wendete den Blick. Beobachtete die Regentropfen, die an der Seitenscheibe in fingerdicken Rinnsalen nach unten strebten wie die Tränen auf der Wange eines weinenden Kindes. Yvonnes seltsamer Anruf hallte in ihrer Erinnerung nach ...
Sie kommt gerade aus der Dusche, in den Bademantel des Münchener Hotels gehüllt und mit einem weißen Handtuch-Turban auf dem Kopf, als das I-Phone klingelt.
»Och, bitte nicht!«
Das Display zeigt eine unbekannte Nummer. Anke drückt den Anruf weg. Sie hat heute auf der Messe genug gesprochen, der Tag ist lang gewesen und sie will sich vor dem Einschlafen gemütlich eine Stunde im Bett lümmeln und den neuen Roman von Stephen King lesen, den sie auf ihren Reader heruntergeladen hat.
Das Telefon klingelt wieder. Dieselbe Nummer. Vielleicht ist der Anruf wirklich dringend. Die Kinder sind übers Wochenende bei Holger, hoffentlich ist ihnen nichts passiert?
Widerwillig, aber gleichzeitig Böses ahnend, drückt sie auf den grünen Hörer.
»Hallo?«
»Schön, dich zu hören.« Die Stimme am anderen Ende ist gefärbt von Rotwein und dem Rauch einer Milliarde Zigaretten. Ein Klang, den Anke sofort wiedererkennt.
»Yvonne«, flüstert sie. Nur dieses eine Wort. Und aus dem Nichts meldet sich das Ziehen in ihrem linken Bein wieder, die längst verheilte Wunde im Oberschenkel, wo Yvonne mit dem Küchenmesser hineingestochen hat, vor sechzehn Jahren.
Anke beginnt zu zittern, kann den Widerhall der längst verdrängten Ereignisse kaum ertragen. Freude und Hass liefern sich einen kurzen, erbitterten Zweikampf in ihr.
»Das mit Holger tut mir leid«, sagt die Reibeisenstimme. Ganz weit weg.
Woher hat Yvonne überhaupt diese Nummer? Der Hass gewinnt das Duell um Ankes Herz.
»Ich werde darüber hinwegkommen«, sagt sie kalt. »Hast du getrunken, Yvonne?«
»Nein, was spielt das für eine Rolle? Ich ... hör mir zu! Ich weiß, dass einiges schiefgelaufen ist zwischen uns.«
So kann man das ausdrücken. Ein zwanzig Zentimeter langes Kochmesser zum Beispiel. Bis ans Heft ins Bein gestoßen. In Ankes Bein, wohlgemerkt.
»Und ich erwarte auch keine Jubelschreie von dir, weil ich jetzt anrufe.«
»Was willst du?«
»Ich ... ich weiß es auch nicht. Es war einfach so ein Gefühl. Habe von dir geträumt. Und von deinen beiden Kindern. Ich ..., ach, vergiss es!«
Es klingt seltsam, wenn diese Frau Ankes Kinder erwähnt, die sie nie zu Gesicht bekommen hat. Das geisterhafte Ziehen im Bein wird heftiger. Nichts hat sich verändert. Yvonne ist immer noch das gleiche Miststück wie damals.
»Um was geht es?«
»Ich ... ach Anke, ich ...«
Immer noch dieselbe Drama-Queen.
»Ich habe nicht mehr lange zu leben.«
Anke hat beim allerersten Ton gespürt, dass der Anruf zu nachtschlafender Zeit nicht nur dazu dient, nach vielen Jahren einfach mal wieder hallo zu sagen.
»Metastasen im ganzen Körper. Höchstens noch drei Monate.«
Obwohl Anke Yvonne zu hassen gelernt hat, trifft sie die Offenbarung mit ungeahnter Wucht. Doch wieder gewinnt ihr eigener Schmerz die Oberhand.
»Ich wünsche dir... Kraft«, ist alles, was sie herausbringt.
»Da ist noch etwas, Ännchen …«
Anke saugt tief Luft ein.
Ännchen. So hat Yvonne sie früher genannt. Vorher.
Vor Niels.
»Ich muss weiterarbeiten, Yvonne.«
Anke öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. Es ist kalt für eine Nacht im Oktober, aber die Herbstluft fühlt sich gut an. Ihr Atem zieht in langen, weißen Schwaden hinaus in die Nacht und löst sich dann in der Kälte auf.
Die Anruferin wird von einem Hustenanfall geschüttelt, der Anke allein vom Zuhören weh tut. Sie will ansetzen, das seltsame Gespräch abzuwürgen, da kommt Yvonne ihr zuvor:
»Ich will reinen Tisch machen, bevor es mich erwischt.«
»Okay ...?«
Die Professorin schweigt.
»Yvonne?«
»Ich habe mit Holger geschlafen. Als du mit Cora schwanger warst. Und noch ein paarmal danach.«
Das hat sie nicht soeben gesagt, oder? Das darf sie nicht gesagt haben! Holger hat unzählige Weibergeschichten auf dem Kerbholz. Aber nicht mit Yvonne. Das passt nicht zusammen.
Ankes Kopf wird heiß.
»Ich weiß nicht, warum, aber wir haben es getan. Und ich bin nicht besonders stolz darauf, das kannst du mir glauben. Und es tut mir leid. Ich ...« Ein weiterer Hustenanfall.
Anke widersteht dem Impuls, sofort aufzulegen, unterdrückt das Übelkeitsgefühl, das sich ihrer bemächtigt. Der Oberschenkel pocht wild.
»Sollen wir uns treffen?«, fragt Yvonne.
»Anke? Bist du noch dran?«
*
»Anke?«
Gertruds Stimme holte sie aus der Erinnerung zurück.
»Ja? Sorry...«
Obwohl erst Nachmittag war, herrschte auf den Straßen Kölns zäher Verkehr, und der herbstliche Wolkenbruch verschlechterte die Sicht erheblich.
»Ich sagte, ich habe Apfelkuchen gemacht.« Gertrud musste die Stimme etwas erheben, um gegen den Lärm des Regens anzukommen, der auf das Dach des Wagens trommelte.
»Danke, das ist lieb. Aber ich müsste nochmal kurz in die Galerie«, sagte Anke.
»Oh, Mama! Bitte fahren wir zu Oma und Opa!«, ertönte es mümmelnd vom Rücksitz. Anscheinend hatte Mara, die zurzeit beängstigend wenig aß, sich gleich die Hälfte der Bonbons in den Mund geschoben.
»Ach, Schätzchen, ich muss Remigius noch ein paar Unterlagen vorbeibringen.«
Im Gegensatz zu Anke war Gertrud eine perfekte Köchin und Bäckerin und ihr Apfelkuchen eine Delikatesse.
»Warum machen wir es nicht so: Ihr fahrt mit zu Oma, ohne mich. Ich komme dann mit dem Taxi nach und hole euch beide und den Wagen dort ab.«
Gertrud stieß ein missbilligendes Geräusch aus.
»Kann das nicht bis morgen warten?«, fragte sie.
»Es geht nicht anders«, erklärte Anke. »Abgemacht?«
Gertrud zuckte mit den Schultern und starrte auf die Straße.
»Gut, danke. Ich hole euch nachher bei Oma ab, okay? Aber nicht zu viel Kuchen essen, wir gehen noch zu McDonald's.«
»Das ist so typisch für dich!«, sagte Cora.
Es waren ihre ersten Worte seit Ankes Ankunft. Demzufolge hatte sie ihre Stimme nicht an durchreisende Händler verkauft. Immerhin.
Die Tüte mit Coras Bonbons klatschte auf Ankes Schoß. Ungeöffnet.
»He, was soll das?«
»Ich bin allergisch gegen Nüsse, schon vergessen?«
Von der Fahrerseite kam ein empörtes Zischen, das nicht Cora galt.
Willkommen daheim.
Vierhundert Kilometer von Köln entfernt knallte Niels Sörensen den Hörer auf das altmodische, schwarze Telefon in seinem Atelier und drosch mit dem Fuß einen leeren Farbkübel gegen die Wand, dass es krachte.
»Du bist so Scheiße!«, brüllte er den Apparat an, und verfiel in seine Muttersprache: »Så utroligt lort!« So unglaublich Kacke.
Er meinte nicht das Gerät, sondern seine schottische Assistentin Fiona McCarthy, die offenbar nicht in der Lage war, ein paar technische Kleinigkeiten für die bevorstehende Versteigerung in Brüssel auf die Reihe zu bringen.
Was war nur los mit ihr, in letzter Zeit? Wofür bezahlte er die dumme Pute, wenn er sich dann selbst um alles kümmern musste, verflucht nochmal?
Mit Anke wäre ihm das nicht passiert. Ja, Anke ...
Tief in seinem Innersten wusste er, dass er zornig auf sich selbst war, auf seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und sich wieder seiner Lebensaufgabe zu widmen.
Seit wann ging das eigentlich so, mit dieser Malhemmung? Früher war er morgens ins Atelier gestürmt, wo fünf oder sechs unfertige Bilder nur darauf gewartet hatten, zu Ende gemalt zu werden. Bei mir fehlt noch Rot, schrie ihn dann ein Bild an, ein anderes brüllte: nicht dieses Blau! Und dann legte Niels los und malte. Tanzte zwischen den Leinwänden hin und her wie einst Fred Astaire, mit traumwandlerischer Sicherheit.
Vorbei.
Er sah aus dem Fenster der ehemaligen Papierfabrik, die er sich zusammen mit einigen anderen Künstlern zum Atelier umgebaut hatte. Jetzt, im Oktober, herrschten im Freien schon kühle Temperaturen und hier drinnen war es so kalt, dass ihn selbst mit dickem Strickpullover fror. Sogar sein Gehirn war tiefgekühlt. Was war nur mit der Heizung los? Die Misere hatte begonnen, als er vor einigen Monaten die Sache von Anke und Holger erfahren hatte. Seitdem produzierte er nur noch gequirlten Hühnermist.
»Lass die Energie fließen, so wie früher, dann wird es schon«, hatte Fiona versucht, ihn zu motivieren. Ihre hilflosen Tränen waren sogar durchs Telefon zu hören gewesen.
Statt rumzuheulen sollte sie ihn besser hart rannehmen. So wie Anke früher.
Anke. Immer wieder Anke.
Vergiss sie endlich. Du hast es selbst vermasselt.
Er seufzte. Fiona hielt keinem Vergleich mit Anke stand. Ohne auch nur ein einziges Bild gesehen zu haben, hatte dieses Arbeiterkind aus Glasgow in einem Interview geprahlt, dass die neue Werkschau ihm endgültig den Durchbruch bescheren und in die Top Ten der europäischen Maler katapultieren würde. Damit hatte sie die Erwartungen von Kritikern und Sammlern in stratosphärische Höhen geschraubt. Er selbst hatte jedoch keinen blassen Schimmer, wie er sie erfüllen sollte.
Mit Abscheu betrachtete er die Leinwand, an der er gerade gearbeitet hatte.
»Røv skidt«, murmelte er.
Genau das waren die Bilder, die er in verzweifelten achtzehnstündigen Arbeitstagen hinschmierte. Eselsdreck, nichts als stinkender Eselsdreck. Sein luftiger Pinselstrich, die kräftigen Farben, all seine Markenzeichen wollten nicht auf die Leinwand, obschon er verzweifelt mit neuen Materialien, Strukturen und Formen experimentierte. Alles, was dabei rauskam, war Schrott. Nichts von seiner früheren Wildheit zeigte sich, kein Anzeichen von dem Drama oder dem schockierenden Realismus, der ihn zum enfant terrible der deutschen Kunstszene hatte werden lassen. »Du unverschämter, dänischer Bastard«, hatte eine zwanzig Jahre ältere Kritikerin ihm am Rande einer Ausstellung einmal anerkennend zugeraunt und ihm mit einem anzüglichen Grinsen ihre Privatnummer in seine Hose gesteckt. Ein geiler Ritt war gefolgt.
Diese guten Zeiten waren vorbei.
Seine heutigen Motive lungerten gelangweilt auf den Leinwänden herum und sein flacher Pinselstrich entlockte gelegentlichen Besuchern nicht einmal mehr ein Gähnen. Gegen diese Seuche half weder Yoga noch Tantra. Er hatte beides mit Fiona ausprobiert. Auch literweise Whisky hatte keinen positiven Effekt, von Koks ganz zu schweigen. Es putschte ihn zwar auf, hatte jedoch schon vor vielen Jahren aufgehört, ihn zu beflügeln.
Niels starrte auf die Reiseprospekte, die Fiona angeschleppt hatte. Brauchte er tatsächlich einen Tapetenwechsel, eine radikale Veränderung, so wie sie vorschlug?
Das war doch Unsinn. Die vier Wochen Ayurveda auf den Azoren hatten ihn jedenfalls nicht zu einem besseren Maler gemacht.
Seine neue Freundin, Tanice, war ein Lichtblick gewesen. Aber bereits nach wenigen Wochen hatte er bemerkt, dass unter ihrem attraktiven Firnis eine gewöhnliche Durchschnittsfrau steckte.
»How many kids shall we have, baby?«, war die einzige Frage, die Tanice umtrieb, wenn sie nicht gerade recherchierte, wie häufig ihr Bild in Klatschspalten und Promi-Blogs auftauchte, wälzte sie Kataloge mit Babyklamotten.
Nein, danke. Ein bräsiges Familienleben kam für Niels nicht infrage, und Tanice’ Jugendlichkeit entzog ihm eher Energie, als dass sie ihm welche zuführte.
Zwei Frauen, zwei Fehlgriffe. Es war hoffnungslos.
»Lort«, flüsterte er noch einmal.
Er warf den Pinsel auf den Boden und pfefferte die Palette in die Ecke, wo sie gegen eine Batterie leerer Weinflaschen klirrte und mit der Farbseite nach unten zu liegen kam. Klar, wie auch sonst?
Was er in den vergangenen Stunden auf die Leinwand gekleckert hatte, war furchtbarer Schund, den ihm die Kritiker um die Ohren hauen würden. Bettvorleger statt Bastard. Er kickte die Staffelei ins Nirwana und beschloss, sich für heute geschlagen zu geben.
Vielleicht sollte er trinken? Oder vögeln? Tanice war in London auf irgendeiner Jetset-Party, aber die Nummer von Nightshades, dem Münchener Escort-Service, lag griffbereit.
Aber eigentlich hatte er keine Lust auf eine Hure. Ohne genau zu wissen warum, ging er in den ehemaligen Maschinenraum, den er als Archiv nutzte, und begann halbherzig in den unfertigen Bögen und Leinwänden zu stöbern. Es war doch nicht auszuschließen, dass sich unter seinen abgebrochenen oder verworfenen Werken unerkannte Juwelen befanden, oder? Bilder, die ihm die dringend benötigte Inspiration lieferten?
Die alten Werke waren noch größerer Bockmist als das, was draußen im Atelier stand. Er hatte diese Bilder aus gutem Grund niemals fertiggestellt, geschweige denn das Publikum damit belästigt.
Sein Blick fiel auf ein graues, großformatiges Objekt, das ganz hinten in der Ecke an der Wand lehnte, zur Hälfte verdeckt von unbenutzten Leinwänden und einem blauen Vorhang, der vor einer schmalen Lüftungsluke hing.
Er zwängte sich zu der Luke durch und hob den Stoff an. So ähnlich hatte seine Bewerbungsmappe an der Kunstakademie ausgesehen. War sie das? Er hatte sie viele Jahre unbeachtet bei jedem Umzug einfach mitgenommen, ohne ihren Inhalt erneut zu inspizieren. Es musste so sein, allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht mehr genau daran erinnern, denn seine Studienzeit lag über zwanzig Jahre zurück und die wenigen Tage, an denen er damals nicht mit Alkohol und irgendwelchen Drogen vollgepumpt war, konnte man an einer Hand abzählen. Selige Jugendzeit.
Er zog die angestaubte Mappe heraus - sie war unerwartet schwer - und nahm sie mit ins Atelier. Dort hievte er sie auf einen großen Tapeziertisch und betrachtete sie. Ein flacher Fremdkörper aus einer anderen Galaxie, der das Licht des Raumes auf seltsame Weise aufzusaugen schien, gleichzeitig aber eine kalte, bösartige Energie an seine Umgebung abstrahlte.
Wollte er wirklich mit seinem Alter Ego konfrontiert werden? Mit seinem zwanzigjährigen, kokainverseuchten Ich und dessen unreifem Gekrakel, das vielleicht noch schlimmer war als die Lappen, die hoffnungsfrohe Bewunderer und Hobbymaler ihm manchmal zur Begutachtung vorlegten?
Niels waren ja heute bereits die Bilder peinlich, die er vor fünf oder zehn Jahren geschaffen und damals noch zu Spottpreisen verhökert hatte.
Er grinste. Auch diese Zeiten waren vorbei, zum Glück. Sein letztes Gemälde hatte für vierhunderttausend den Besitzer gewechselt. Vier. Hundert. Tausend. Für ein Bild! Der Preis war ihm äußerst schmeichelhaft vorgekommen. Wie konnte ein Stück von ihm beschmierte Leinwand so wertvoll sein?
Egal.
Die Mappe lag immer noch unberührt vor ihm. Er wandte sich von ihr ab, ging zum Schnapsregal, griff nach der Flasche mit dem Talisker und entkorkte sie. Der Whisky roch nach Medizin und schmeckte nach Torf und Rauch.
Zurück am Tapeziertisch öffnete er die Mappe. Warum fühlte sich das blassblaue Band, mit dem die beiden Deckel zusammengehalten waren, so heiß in seinen Fingern an? Warnte ihn etwa sein Instinkt, sich den alten Bildern zu nähern?
Er zögerte und ließ das Band fahren, war versucht, die Schleife wieder zuzubinden und den Ordner schnellstmöglich dorthin zurückzubringen, wo er ihn hergeholt hatte.
Er nahm einen weiteren, großen Schluck aus der Flasche und ließ den Whisky seine Kehle hinunterrinnen. Das rohe Feuer beseitigte seine Zweifel und mit einem Schwung öffnete er den Pappdeckel.
Kein Knall ertönte. Und es entfleuchte auch kein Schwefeldampf. Nur ein leicht muffiger Geruch stieg auf.
Zuoberst lag ein Aquarell. Es zeigte ein Stillleben mit Blumen – er konnte sich nicht erinnern, es jemals gemalt zu haben. Darunter kamen noch einige ähnliche Versuche zum Vorschein, und halbwegs ungelenke Aktstudien. Hatte er in seiner Jugend tatsächlich solchen Unsinn produziert? Es musste wohl so sein.
Er blätterte weiter, bis ein Ölbild erschien, ein Porträt, das er herausnahm, um es im Licht genauer zu betrachten. Es war, wie alle anderen Bilder in der Mappe, auf billiges Leinwandimitat gemalt worden und passte zu seiner Vermutung über die Entstehungszeit der Bilder. Als er im Teenageralter angefangen hatte, seine ersten Studien zu malen, hatte er sich in einem Schreibwarenladen in Aalborg solche Blöcke besorgt. Sie waren billig, aber für Anfänger halbwegs brauchbar.
Das Ölgemälde war eine Zumutung. Nicht weil es schlecht war, im Gegenteil. Es zeigte ein Kindergesicht. Einen kleinen Menschen in tiefstem Leid, so plastisch, dass Niels ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.
Er hatte sich in den letzten Wochen oft gefragt, warum er als Jungspund in die Kunstakademie aufgenommen worden war, bei seinem beschränkten Talent. Aber wenn er in seiner Jugend zu dieser Leistung fähig gewesen war, dann erübrigte sich die Frage.
Die folgenden Porträts in der Mappe übertrafen das erste noch. Alle stellten Traurigkeit und Kummer dar, aber doch so unterschiedlich und faszinierend, gleichzeitig jedoch auch dermaßen abstoßend in ihrer virtuosen Darstellung des Elends, dass Niels nach kurzer Zeit überwältigt war. Er legte die Blätter zurück in die Mappe und klappte den Deckel zu. Legte mit Nachdruck die linke Hand darauf, wie um zu verhindern, dass sich der Karton noch einmal von selbst öffnete.
Mit der anderen Hand griff er zur Schnapsflasche und trank gierig. Was hatte ihn veranlasst, diese Bilder zu malen? Porträts noch dazu, eigentlich gar nicht sein Sujet? Und wieso hatte er sie in der Mappe vergessen und niemals wieder hervorgeholt? Kokain hin oder her, aber so benebelt konnte er doch nicht gewesen sein, oder?
Der Whisky begann schnell zu wirken und der letzte Rest seines Erinnerungsvermögens ließ ihn im Stich. Er schüttelte den Kopf. Nahm einen weiteren Schluck.
Aus dem aufsteigenden Alkoholnebel waberte eine andere Frage in seinen Sinn: Welchen Weg musste er gehen, um die Quelle dieser Fähigkeiten erneut anzuzapfen?
Anke.
Unsinn!
Doch: Anke.
Warum eigentlich nicht?
Weil sie dir den Schuh in den Arsch treten wird, dass er drin stecken bleibt. Deshalb!
Es käme auf den Versuch an ...
Niels bekam nun doch Lust auf eine Hure. Ja, ein wenig vögeln würde ihm das Hirn freipusten.
Er ging zum schwarzen Telefon und wählte die Nummer. Auswendig.
»Ob Natascha heute Abend wohl ...?«
Seine Favoritin war frei.
»Wunderbar! Ich erwarte sie, wie üblich.«
Natascha sah Anke ein bisschen ähnlich, und wenn sie zusätzlich die randlose Brille aufsetzte, die Niels extra für die Treffen mit ihr besorgt hatte, war die Illusion perfekt. Zumindest mit ein paar Gläsern Talisker intus.
Der Abend war gerettet. Und dann würde man sehen.
Die Galerie Remigius Wohlstedt befand sich in der Kreuzgasse in der nördlichen Altstadt von Köln, nur einen Steinwurf entfernt vom Schauspielhaus, im Erdgeschoss eines schmucklosen, vierstöckigen Gebäudes aus der Nachkriegszeit. Als Anke den Laden aufschloss, hörte sie bereits die hohe, aufgeregte Stimme des Inhabers, der in sein Handy brüllte.
»Wie kannst du es wagen, mir so einen Unfug aufzutischen?« Beim letzten Wort sprühten kleine Spucketröpfchen aus seinem Mund.
Der gemaßregelte Anrufer schien sich zu verteidigen, kam aber nicht zu Wort.
»Das ist alles Schwachsinn!«, schrie Remigius in den Hörer, so dass die beachtliche Wampe unter seinem Hemd wackelte. Er hatte die Siebzig längst überschritten, war kahl rasiert und trug immer maßgeschneiderte Kleidung in den Farben Lila und Schwarz. Seit dem Infarkt und mehreren Bypässen vor zwei Jahren war die Zahl seiner cholerischen Anfälle deutlich zurückgegangen, aber manchmal brach sein hitziges Temperament immer noch durch. Anke fürchtete dann jedes Mal, dass sein schwaches Herz den Geist aufgeben könnte. Gleichzeitig war sie froh, heute nicht das Objekt seiner Beschimpfungen zu sein, denn im Zorn verwandelte er sich in eine Furie, deren Augen weit aus den Höhlen des blutrot angelaufenen Kopfes traten. Der ganze Mann sah dann aus, als stünde er kurz vor dem Platzen.
»Du hast’s verbockt! Du ganz allein. Und die arme Yvonne kann gar nix dafür!« Seine hohe Stimme überschlug sich, während er in das Handy schrie, das er jetzt wie ein Mikrofon vor sein glühendes Gesicht hielt.
»Einfach verbockt hast du´s! Kein Aber! Wenn du den Termin nicht einhältst, verliere ich ein Vermögen! Und du fliegst hochkant raus!«
Remigius kappte die Verbindung und legte das Telefon in seinen Schoß.
»Nulpe!«
Ohne ein weiteres Wort rollte er in das kleine Zimmer, das sich an den hinteren Teil des Verkaufsraumes anschloss, und knallte die Tür zu.
Anke ging ihm nach und klopfte zaghaft an.
»Komm schon rein«, brummte es von innen.
»Zachy?«, fragte sie.
»Kennst du einen größeren Idioten?«, antwortete er und fummelte in der Herrenhandtasche herum, die er immer im Rollstuhl mit sich führte.
Er schien nicht zu finden, was er suchte, und blickte zu Anke auf.
»Und jetzt, da ..., da Yvonne ..., da sie von uns gegangen ist, versucht er ihr seinen Misserfolg in die Schuhe zu schieben. Das ist so mies von ihm.«
Wieder begann er in der Tasche zu kramen, doch ohne Erfolg.
»Das ist alles so schrecklich. Ich fühle mich grauenhaft, weil ich Yvonne gebeten habe, Zachy ein wenig zur Seite zu stehen. Und dann läuft sie ausgerechnet dort einem Irren über den Weg«, sagte er.
»Gertrud hat Andeutungen gemacht. Was ist genau mit Yvonne geschehen?«
»Man hat sie ausgeraubt und in einen Fluss gestoßen, in diesem Provinzkaff, ist das zu glauben? Nicht hier im ach so gefährlichen Köln.«
Er gab die Suche in den Tiefen des Täschchens endgültig auf.
»Verflixt nochmal, wo sind denn meine ...?«
Anke nahm die Schatulle mit den Mentholdrops von seinem Schreibtisch und hielt sie ihm vor die Nase.
»Ach, danke, Liebes. Auch eins?«
Manchmal glaubte Anke, dass Remigius sich ausschließlich von den grünen Dingern ernährte, was seine immense Körperfülle jedoch nicht im Mindesten erklärt hätte. Sie lehnte mechanisch ab. Dass Yvonne für immer weg sein würde, sickerte erst jetzt langsam in ihr Bewusstsein und belastete sie stärker als gedacht.
»Weiß man schon, wer ...?«
»Ach woher denn!«, schmatzte Remigius. »Die Polizei tappt im Dunkeln. Wahrscheinlich irgendein Gelegenheitsräuber. Du kennst doch Yvonne: Anstatt dem Dieb brav ihre Brieftasche auszuhändigen, hat sie bestimmt eine Diskussion mit ihm angefangen. Und dann ... ach, es ist schrecklich!«
Auf unbestimmte Weise spürte Anke, dass seine Theorie nicht stimmte. Yvonne war zwar nie einer verbalen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen, aber gleichzeitig viel zu intelligent, um sich nachts mit einem Straßenräuber anzulegen. Sie war nicht das zufällige Opfer eines Schurken geworden, das fühlte Anke.
»Und Zachy?«, fragte sie.
»Was soll mit dem sein? Er packt die Gelegenheit beim Schopf und versucht, ihr alle Schuld für sein Versagen ans Bein zu binden. Jetzt, wo sie sich nicht mehr dagegen wehren kann.«
Remigius stopfte sich ein weiteres grünes Bonbon in den Mund.
»Ist natürlich Quatsch, was er da verzapft. Yvonne ist ja erst vor ein paar Wochen in Wiltheim eingetroffen. Der Blötschkopp hat´s selbst vergeigt, so sieht´s aus.«
»Was soll ich dazu sagen? Du kennst meine Meinung«, sagte Anke vorsichtig.
»Nun fang bitte nicht wieder damit an! Ich hatte einen guten Grund, ihn zu meinem Assistenten zu machen!«
Richtig. Deine Synapsen laufen Amok, wenn ein attraktiver junger Mann auf der Bildfläche erscheint.
»Er wurde mir wärmstens empfohlen! Und du, mit deinen beiden Kleinen, hattest ja nicht die Zeit«, fügte Remigius hinzu.
»Ganz so war es nicht«, widersprach Anke. »Soweit ich mich erinnere -«
»Ist jetzt auch wurscht! Er hat’s jedenfalls vergeigt.« Remigius schob seine Unterlippe nach vorn wie ein schmollendes Kind.
»Du magst ihn sehr, nicht wahr?«, sagte sie. Das war untertrieben: Remigius schmachtete den höchstens halb so alten Zachy förmlich an.
»Ach, Unsinn! Er ist ein Versager, nichts weiter. Kann gar nicht glauben, dass ich vorhatte, ihm den Laden zu vererben.«
»Wie bitte? Du wolltest ihn als Erben einsetzen?«
Remigius sah zu Boden. »Das ist natürlich vom Tisch. Zumindest solange, bis er das Museum zum Erfolg geführt hat.«
Also erbt Zachy keinen Heller.
»Neulich war er hier und hat mir hoch und heilig versprochen, dass alles in Ordnung kommt. Er brauche nur ein wenig Hilfe und eine weitere Geldspritze, weil in Süddeutschland alles viel teurer sei als hier, auch die Baukosten und so weiter. Und ich Hornochse habe ihm alle Vollmachten gegeben, die er wollte. Und zusätzlich Yvonne von Laatz beleiert, damit sie ihm mit ihrem Namen Türen öffnet, die ihm angeblich verschlossen waren.«
»Und?«
Remigius seufzte.
»Jetzt ruft er an und beichtet, dass die Eröffnungsvernissage um mindestens ein halbes Jahr verschoben werden muss.«
»Wirklich? Wofür habe ich dann in München die Werbetrommel gerührt?«
»Ich weiß es ja«, sagte er kleinlaut.
»Darf ich dich daran erinnern, dass es seine Idee war, das mit dem Museum?«, sagte Anke. »Ein Rückzieher zu diesem Zeitpunkt wird unserem Ansehen erheblich schaden, und die Sammler und Künstler verlieren das Vertrauen in unsere Zuverlässigkeit.«
»Ich weiß, es ist furchtbar.« Remigius standen Tränen in den Augen.
»Na, na, so schlimm wird es schon nicht sein.« Anke verkniff sich, hinzuzufügen, dass sie selbst dem unerfahrenen Zachy niemals so viel Verantwortung übertragen, geschweige denn, ihm Yvonne von Laatz als Beraterin an die Seite gestellt hätte. Das war eine andere Geschichte.
»Du musst das Ding jetzt schaukeln«, sagte Remigius.
Sie sah ihn erstaunt an.
»Ich soll die Kohlen aus dem Feuer holen? Für ihn? Für sie?«
»Für mich, Liebes. Nur für mich.« Er nahm ihre Hand, und Anke wurde sich wieder bewusst, warum sie so gerne mit ihm zusammenarbeitete: Wenn er nicht gerade tobte oder feilschte, war Remigius Wohlstedt einer der liebenswürdigsten Menschen auf diesem Planeten.
»Tu es einfach für mich«, wiederholte er. »Ich habe doch sonst keinen Mitarbeiter, dem ich so vertrauen kann. Und du warst immer wie eine Tochter für mich.«
Anke ließ sich auf die dunkelrote Couch fallen, auf der Remigius seine Nickerchen hielt, wenn er sich im Hinterzimmer einschloss, »um Rechnungen zu prüfen«. Sie legte die Beine übereinander und verschränkte die Arme.
»Cora wird mich erwürgen.«
Wie sollte sie ihrer heftig pubertierenden Tochter beibringen, dass sie Köln verlassen sollte – und all ihre Freundinnen und Schulkameraden? Nur um ihrer Mutter in ein bayerisches Kuhkaff zu folgen? Mara war diesbezüglich pflegeleicht. Aber sollten sie diesen Umbruch wirklich auf sich nehmen, für ein höchst fragwürdiges Projekt, das Zachys wirrem Hirn entsprungen war? Weil Remigius ihm blind vor Verliebtheit gefolgt war, entgegen Ankes eindringlicher Warnung?
»Teenager finden schnell neue Freunde«, sagte Remigius, ihre Gedanken lesend. »Und es wäre doch nur für kurze Zeit. Und, schließlich war es doch auch deine Idee.«
»Verdreh bitte nicht die Tatsachen! Ich habe vorgeschlagen, eine dritte Dependance zu gründen, das stimmt. Aber in München, und nicht im Nirgendwo!«
»Sieh bitte dort nach dem Rechten, Anke. Mir zuliebe.«
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich die Richtige dafür bin.«
»Ich würde es ja selbst tun, aber schau mich an!« Er deutete auf den Rollstuhl. »Seit dem verdammten Infarkt bin ich nicht mehr der Alte. Also überleg es dir bitte, Liebes.«
Er setzte einen lauernden Blick auf, der nichts Gutes verhieß. »Ich würde dich nämlich ungern als Mitarbeiterin verlieren.«
Was waren denn das für Töne?
»Wieso verlieren? Willst du mich etwa rausschmeißen? Tu dir bloß keinen Zwang an!«
Er hob abwehrend die Hände.
»Das will ich doch gar nicht, hör zu -«
»Nein! Du hörst jetzt zu!«, unterbrach sie ihn. »Holger ist zwar ein Idiot und ein notorischer Schürzenjäger, aber er zahlt seine Alimente pünktlich jeden Monat. Ich mache den Job bei dir nicht wegen des Geldes, sondern weil er mir Spaß macht. Außerdem kannst du mich gar nicht feuern, denn ohne meine Kontakte bist du aufgeschmissen und ich habe nicht vor, dir meine -«
»Jetzt halt mal die Luft an! So war es gar nicht gemeint«, unterbrach Remigius ihren Furor.
»Ach ja? Wie soll ich es bitte sonst verstehen?«
»Nicht so, überhaupt nicht so! Es läuft momentan einfach nicht gut für uns.«
Er nahm sich ein weiteres Bonbon und hielt Anke wieder die Dose hin.
»Lass mich endlich mit den albernen Dingern in Frieden!«
»Ich wollte dir das alles schon am Telefon sagen, aber wir wurden ja unterbrochen. Fichtenau ist zu Bengtson desertiert, während du in München warst. Und bereits vor drei Wochen hat sich Schirin Dogan gemeldet und angekündigt, sich nach einem anderen Galeristen umsehen zu wollen.«
»Schirin? Wirklich? Jetzt, wo ich sie mit so viel Mühe aufgebaut habe und die Sammler endlich ihre Werke wollen?«
Remigius nickte.
»Und Gustav Waldmann ist vorgestern gestorben. Das musste bei einem Sechsundachtzigjährigen ja irgendwann passieren.«
»Unsere drei Aushängeschilder!«, rief Anke.
»Ja, verstehst du mich jetzt? Uns brechen erhebliche Einnahmen weg, und der Markt für alte Bilder ist leergefegt, weil jeder Geldsack inzwischen Kunst bunkert und kaum mehr jemand Bilder zur Versteigerung anbietet.«
»Aber warum hast du mir nichts von Schirin gesagt? Ich hätte doch mit ihr gesprochen und versucht -«
»Ich lasse mich nicht erpressen«, schnitt Remigius ihr das Wort ab. »Nicht von ihr und auch von sonst niemandem.«
Sein Kopf nahm wieder eine bedenkliche Röte an.
»Beruhige dich bitte.« Anke musste einen erneuten Wutanfall verhindern, also verzichtete sie darauf, das Thema zu vertiefen. Sie stand auf, trat von hinten an den Rollstuhl und legte Remigius die Hand auf die Schulter.
»Wir finden eine Lösung. So wie immer.«
Er ergriff ihre Hand.
»Das Museum in Bayern könnte eine sein.«
»Du hast vermutlich recht«, sagte Anke, ohne daran zu glauben.
»So gefällst du mir besser. Ich lasse mich auch nicht lumpen. Wie wär’s mit einer Gewinnbeteiligung? Sagen wir fünf Prozent? Zusätzlich zum Gehalt einer … Geschäftsführerin?« Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Wie immer, wenn es um Geld ging, erinnerte sein rundes Gesicht mit der spitzen Nase an einen Fuchs.
»Ich weiß nicht …«
»Also sieben? Natürlich nur vom Gewinn, nicht vom Umsatz, dass wir uns da nicht falsch verstehen.«
Was war denn mit ihm los? Remigius war so knickerig, dass er ungeachtet seines beträchtlichen Vermögens in einer Zweizimmerwohnung zur Miete hauste. Dass er ihr überhaupt eine Gewinnbeteiligung anbot, war trotz ihrer langjährigen Freundschaft mehr als ungewöhnlich. Dass er sogar bereit war, über das Gehalt in Verhandlungen zu treten, war ein beispielloser Vorgang.
»Dreißig«, sagte Anke und hoffte, das Thema damit endgültig zu begraben.
Er wurde bleich und schob die Pastille nervös in seinem Mund herum.
»Willst du mich ruinieren? Das kann ich nicht!«
»Es geht mir gar nicht ums Geld, Remigius.«
»Worum dann?«
Warum verstand er nicht, dass es im Leben um viel mehr ging als ums Geschäft?
»Lass mich einfach eine Nacht darüber schlafen, okay?«
Als sie in den Parkplatz des McDonald´s in der Neuenhofstraße hineinfuhr, übersah Anke beinahe den weißhaarigen Rentner, der mit zwei vollen Papiertüten auf seinen verbeulten BMW zusteuerte. Er schüttelte nur erbost den Kopf und ging weiter, während sie den Subaru in eine enge Parklücke lenkte und genervt den Motor abwürgte.
Ihr Kopf fühlte sich an, als ob ein böser Clown darin einen mächtigen Ballon aufblies, der ihr Gehirn schmerzhaft zusammenquetschte, so wie früher, wenn sie sich am Vorabend drei Flaschen Wein genehmigt hatte. Der Migräneanfall war dem Stress der vergangenen Tage geschuldet, obwohl sie ihn gerne nur dem Anrufer angelastet hätte, mit dem sie gerade verbunden war und der ihre Aufmerksamkeit erheblich vom Straßenverkehr ablenkte.
Sie hätte sich in den Arsch beißen können, das Telefonat überhaupt angenommen zu haben, denn eigentlich war sie im Moment nicht empfänglich für seine mit Selbstmitleid gewürzte Unverfrorenheit. Zum Glück schlief Mara tief und fest auf dem Rücksitz, und Cora hatte ihre Kopfhörer auf und starrte gebannt aufs I-Phone.
»Du vögelst jahrelang mit anderen Weibern und jammerst dann über die Konsequenzen? Werd endlich erwachsen.«
»Anke ...«, winselte es in ihren Gehörgang.
Was hatte sie an diesem Schwächling einmal gemocht, abgesehen von seinem blendenden Aussehen und seinem Geld?
»Ich habe dich nicht betrogen«, wiederholte er. »Niemals! Selbst wenn du es hunderttausendmal behauptest, wird es dadurch nicht wahr. Wieso glaubst du allen anderen, nur mir nicht?