Sonst stirbt sie! - Arne M. Boehler - E-Book
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Sonst stirbt sie! E-Book

Arne M. Boehler

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Beschreibung

»Und dann kommt die Angst - zu jeder einzelnen Mutter, jedem einzelnen Vater in der Stadt: Ist mein Kind das nächste Opfer?« Die kleine Tochter eines jungen Paars verschwindet spurlos, doch Kommissarin Svenja Paulus erkennt keine Anzeichen für eine Entführung. Während sie alle Hebel in Bewegung setzt, um das Kind aufzuspüren, verhalten sich dessen Eltern verdächtig passiv. Haben sie eine schreckliche Schuld auf sich geladen?

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Arne M. Boehler

Sonst stirbt sie!

Thriller

Zum Buch

Tödliche Verblendung Die Hauptkommissarin Svenja Paulus wird an den Schauplatz eines mysteriösen Verbrechens gerufen: In der Nacht soll die einjährige Tochter von Philipp und Lena Dorn unbemerkt aus ihrem Kinderbett verschwunden sein. Da keine Anhaltspunkte für eine Entführung vorliegen, nimmt die Kommissarin zunächst die Eltern ins Visier. Svenja ist irritiert, als sich beide nur widerwillig an ihren Ermittlungen beteiligen, und bald bröckelt die Fassade der heilen Familienwelt. Werden die Dorns erpresst und wagen nicht, der Polizei die Wahrheit zu gestehen? Ist die Kindsmutter nicht die gute Gattin, die ihr Mann in ihr sieht? Oder hat ihn seine düstere Vergangenheit wieder eingeholt? Im Wettlauf mit der Zeit erkennt die Polizistin zu spät, dass die gesamte Ehe der jungen Eltern auf einer grausamen Lüge fußt …

Arne M. Boehler stammt aus Kempten im Allgäu. In jungen Jahren versuchte er sich als Sänger einer Heavy-Metal-Band, deren Erfolg jedoch überschaubar blieb. Er studierte Anglistik und Geographie auf Lehramt und unterrichtet heute an einem Gymnasium im Allgäu. Zu seiner Liebe für die Rockmusik gesellte sich im Lauf der Jahre die Zuneigung zum hohen Norden. Bevorzugt durchquert er die rauen Landschaften Skandinaviens zu Fuß, auf dem Fahrrad oder mit dem Kanu. Die Inspiration für seine Romane findet er dort, in der Abgeschiedenheit der Natur. »Sonst stirbt sie!« ist sein vierter Thriller.

Impressum

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Entwurfs und Fotos von: © Arne Böhler

ISBN 978-3-7349-3266-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Der Sarg ist fertig.

Die Kiste.

Das Ding, das ich mühsam aus gestohlenen Brettern zusammengenagelt habe.

Ich bin kein begabter Handwerker. Nacht und Nebel waren nicht hilfreich. Trotzdem bin ich zufrieden mit dem grob gezimmerten Kasten von der Größe eines Reisekoffers.

Jetzt kann ich sie mir holen.

Und begraben.

2

Philipp fährt aus dem Schlaf. Sein Herz klopft hart gegen den Brustkorb. Er sitzt aufrecht im Bett, die Decke hat er weggestrampelt. Ihm ist kalt. Es dauert einige Sekunden, bis er die Situation erfasst.

Ein Albtraum hat ihn erschreckt. Lena spielte darin eine Rolle – und seine eigene bizarre Vergangenheit. Im Traum verfolgte ihn ein unsichtbarer Beobachter, ein Ausbund des Bösen. Philipp konnte seinen erdigen Dunst riechen, fühlte den kalt-feuchten Atem in seinem Nacken. Das Wesen trug einen Spaten bei sich. Philipp sah das Werkzeug nicht, aber er spürte, dass es da war. Warum ausgerechnet ein Spaten?

Rate mal!

Philipp schüttelt das Grauen ab und blickt nach rechts, wo Lena neben ihm auf dem Rücken liegt.

Normalerweise.

Jeden Tag erfreut er sich am Anblick ihrer Silhouette. Der feinen Nase, den schmalen Schultern, der nach oben gewölbten Brust, die sich mit ihren Atemzügen sanft hebt und senkt.

Normalerweise.

Heute erstreckt sich Lenas Laken faltenfrei über die Ma­tratze, das geblümte Oberbett liegt aufgeschlagen am Fußende, akkurat parallel zur Bettkante ausgerichtet. Unberührt. So, wie Philipp es gestern zurechtgemacht hat.

In seinem Albtraum versuchte Lena, viel rationaler veranlagt als er, ihn von der fixen Idee abzubringen, dass ein finsterer Schurke hinter ihm her sei. Sie nahm Philipp bei der Hand und zog ihn durchs Haus, um ihm zu zeigen, dass dort niemand auf ihn lauerte.

»Alles in Ordnung, Schatz, siehst du?«

Als er immer noch zweifelte, drohte Lena, nur halb im Scherz, ihn wieder zum Psychiater zu schleppen. Da schreckte er aus dem Schlaf.

Ein blöder Traum.

Philipp braucht keinen Seelenklempner. Nicht mehr.

Er wuschelt sich durchs Haar. Beim erneuten Blick auf die leere Bettseite fällt ihm ein, dass Lena ja verreist ist. Sie kommt erst übermorgen zurück. Er nimmt sein Handy vom Nachttisch und checkt WhatsApp. Kein Lebenszeichen. Sie schmollt wohl immer noch. Er sortiert seine Gedanken, räuspert sich. Dann spricht er eine Nachricht für sie ein: »Sorry, Schatz. Hab mich gestern blöd benommen. Friede?«

Mit dem Abschicken zögert er.

Ihm ist schon wieder entfallen, was den Anstoß für den Zoff gab, den sie kurz vor ihrer Abreise hatten. Das Gezänk hinterließ bei ihm einen bitteren Nachgeschmack. Sicher hat es auch den hässlichen Traum getriggert.

Es ging um irgendeine Kleinigkeit, wie immer. Kann sein, dass Lena nach dem Abendessen zum wiederholten Mal ihr dreckiges Geschirr auf dem Tisch stehen ließ. Oder dass sie ihre getragene Unterwäsche auf dem Schlafzimmerboden entsorgte, anstatt sie in den Wäschekorb zu stecken, den Philipp dafür angeschafft hat. Kann sein, dass er sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass er nicht ihr Lakai sei, oder so etwas in der Art. Er erinnert sich nicht.

Jedenfalls reagierte Lena schnippisch. Das eine Wort gab das andere, und aus dem Wortgefecht entspann sich ein übler Streit, bei dem, wie immer, Grundsätzliches auf den Tisch kam.

Wer das Geld verdient. Wer sich nicht genug ums Kind kümmert. Wer sich ins gemachte Nest gesetzt hat. Es lag überwiegend an Philipp, dass die Sache gestern aus dem Ruder lief. Jetzt tut es ihm leid.

Lena müht sich für ihre kleine Familie ebenso ab wie er, auf ihre Weise. Aber muss sie ihn als »Korinthenkacker« bezeichnen?

Sie war auf hundertachtzig. Mal wieder. Warum sei aus dem lockeren Typen bloß so ein ekelhafter Pedant geworden, brüllte sie. Dann rauschte sie hinaus und ließ ihn mit dem Abwasch allein.

Ihre Wortwahl verletzt ihn, aber im Kern stimmt er ihr zu: Die Vaterschaft hat ihn verändert. Seine ohnehin starke Ordnungsliebe mag zwanghafte Züge angenommen haben. Aber was ist schlecht daran? Um einen Haushalt zu führen, bedarf es bestimmter Prinzipien, sonst wächst dir das Chaos über den Kopf. Und mit einem kleinen Kind ist doppelte Sorgfalt geboten. Das könnte Lena doch einsehen.

Als sie nach etlichen vergeblichen Versuchen endlich schwanger wurde, entschieden sie gemeinsam, dass Philipp die Care-Arbeit übernehmen und Lena mit ihrem Beamtenjob das Geld verdienen würde. Zumindest so lange, bis Philipp den Durchbruch schafft. Sie waren sich einig.

Wann kippte es?

Philipp hört seine Voicemail noch einmal ab. Sie ist peinlich und nichtssagend. Gut, dass er sie nicht abgeschickt hat. Er löscht sie und spricht eine neue ein, nimmt alle Schuld auf sich und bittet Lena um Verzeihung. Meistens funktioniert das, er hat Übung.

Sein Daumen tippt auf das grüne Symbol zum Absenden. Er kann sich nicht erklären, weshalb er gestern so ausgetickt ist. Korinthenkackermäßig. Welcher Zacken fällt ihm aus der Krone, wenn er ihre Sachen wegräumt? Sie hat ihn aus der Trostlosigkeit geholt – hinein in ein angenehmes, bürgerliches Leben. Ohne Lena wäre er vielleicht ein Junkie. Ein Penner oder Knastologe, wer weiß. Davor hat sie ihn bewahrt. Sie kann es gar nicht oft genug betonen.

Außerdem sieht Philipp ja, dass sie sich bemüht.

Sie will eine gute Mutter sein, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Sie verbringt viel Zeit bei der Arbeit, auch nachmittags und abends – speziell, seit sie befördert wurde. Irgendwer muss die Brötchen ja verdienen, sagt sie. Und am Ende eines langen Tages ist sie platt. Sollte er als Hausmann ihr da nicht eine angenehme Zeit bereiten?

Sein gestriger Ausraster hatte eine Ursache: der Frust des Augenblicks. Der leise Neid, der ihn ab und zu überkommt, dass Lena ein Leben da draußen führt, während sein eigenes überwiegend im Haus stattfindet. Putzen, waschen, Windeln wechseln.

Er liebt seine Tochter wie nichts auf der Welt, doch manchmal wünscht er sich Abwechslung. Das macht ihn nicht zu einem schlechten Menschen, oder?

Wenn Emma schläft, hockt er sich regelmäßig in sein kleines Studio oder vor die alte Schreibmaschine. Dann lässt er sich hypnotisieren – wahlweise vom Weiß des Bildschirms oder des Papiers. Ein guter Song ist in letzter Zeit nicht dabei entstanden. Nicht mal eine brauchbare Melodie.

Wird besser, wenn sie größer ist.

Philipp reibt sich den letzten Rest Müdigkeit aus den Augen und verdrängt das Unbehagen, das die Erinnerung an den Streit ausgelöst hat. Und an den Albtraum.

Heute stehen Frühjahrsputz und Wäschewaschen an. Er wird den ganzen Tag schuften. Warum braucht Emma bloß so viele Windeln? Pampers kamen nie infrage. Zu viel Müll.

Philipp dreht sich nach links, schlägt die Beine über die Bettkante und setzt die Sohlen auf die von ihm sorgfältig gescheuerten Dielen. Seine Füße sind wohlgeformt, nicht zu dick und nicht zu dünn, mit perfekt proportionierten Zehen. Nichts anderes an seinem Körper gefällt ihm so gut. Seine Haut ist milchig, sein Gesicht, nun ja, gewöhnlich. Und knallrote Haare sind auch nicht jedermanns Sache, selbst wenn sie voll und wuschelig sind wie seine.

Lena mochte beides, seine Haare und seine Füße. Bevor sie ihn heiratete, schwärmte sie, er habe die geilsten Füße der Welt. Philipp vermutete einen Fetisch, gegen den er nichts einzuwenden hatte. Er war jünger als sie, fast noch ein Kind, und genoss es, von einer so erfahrenen Frau umgarnt zu werden.

Seit sie Emma bekommen haben, interessieren Lena seine Füße nicht mehr. Der Rest auch nicht, wenn er ehrlich ist.

Nur eine Phase, hofft Philipp.

Laut Google braucht es bei manchen Frauen etwas Zeit, bis sie nach der Geburt wieder Lust auf Sex haben. Nur eine Phase.

Er gähnt. Schnuppert.

Rümpft die Nase. Sein Atem riecht sauer. Er lauscht, ob sein kleines Mädchen schon wach ist – das Wunder des Lebens, das er auch ein Jahr nach der Geburt noch immer nicht recht fassen kann. Gibt es Eltern, die vollständig begreifen, warum ihr Kind sie so erfüllt? Philipp kann es sich nicht vorstellen.

Im Haus ist es still. Emma schläft noch. Heute gar kein Hunger, Schätzchen?

Draußen zwitschert eine Amsel. Das Haus – Lena erbte es von ihrer Großmutter – steht in der Waldfriedenstraße, und die Adresse ist Programm. Im Süden von Augsburg, am Rand des Siebentischwalds, ist Ruhe der Normalzustand. Weder stört das Rumpeln der Straßenbahn, noch knattern ständig Autos vorbei.

Philipp ist Musiker. Er braucht Stille, damit die Melodien zu ihm finden, doch heute empfindet er die Abwesenheit von Geräuschen als störend. Abermals horcht er.

Kein Mucks von Emma.

Eigentlich wird sie vor ihm munter und regt sich in ihrem Bett. Manchmal steht sie schon aufrecht hinter dem weißen Gitter, wenn er zu ihr hereinkommt. Aber sie quengelt nie, weil sie Hunger hat oder die Windel voll ist.

Emma ist ein unkompliziertes Kind. Philipp kennt andere Storys, die meisten von einer Mutter aus dem Babyschwimmen. Anscheinend entwickeln sich manche Kinder bereits früh zu Tyrannen. Emma nicht. Sie schläft seit dem fünften Monat durch, bis vor Kurzem im elterlichen Schlafzimmer. Seit einigen Wochen bewohnt sie das Zimmer jenseits des schmalen Flurs, das vorher als Rumpelkammer diente.

Philipp wehrte sich gegen Emmas Verbannung, sie sei noch viel zu klein, um allein zu schlafen. Aber Lena setzte sich durch. Sie kann unbeugsam sein. Die Anwesenheit des Kindes raube ihr den Schlaf, sagte sie. Außerdem bräuchten Eltern ungestörte Zeit zu zweit. Um für ein Geschwister zu sorgen.

Philipp gab nach, wie meistens, immerhin schien das Ende der sexuellen Durststrecke in Sicht. Um seine Sorgen abzumildern, konstruierte Lena das weiße Gitter, damit Emma ihr Bett nicht ohne Unterstützung verlassen kann. Mit Werkzeug kann Lena umgehen, das muss man ihr lassen.

Angefasst hat sie ihn seit Emmas Ausquartierung dennoch nicht. Doch, einmal, nach einem weinseligen Dinner, das Philipp nur zu diesem Zweck gekocht hatte. Da benutzte Lena seinen Schwanz wie ein Ding, wie eine der Raspeln, mit denen sie Holz bearbeitet. Als sie nach dem rauen Akt gekommen war, stieg sie von ihm ab, drehte sich um und schlief ein. Er wichste, bis auch er kam. Besser als nichts.

Philipp wünscht sich ihren Sex leidenschaftlicher. Inniger. Wie früher. Wie in den Fantasien, zu denen er onaniert. Wie am Anfang, als Lena gar nicht genug von ihm bekommen konnte …

So wichtig ist Sex nun auch wieder nicht.

Ohne sich die Lüge abzukaufen, erhebt Philipp sich und schleicht aus dem Schlafzimmer. Emma holen. Das größte Glück seines Lebens. Lena wollte sie Leonore taufen, nach ihrer Oma, der das Haus früher gehörte. Ein scheußlicher Name, fand Philipp. Am Ende ließ er sich überreden, sodass nun »Leonore Emma Dorn« im Stammbuch steht. Doch vom ersten Tag an sprach er sie nur mit ihrem zweiten Vornamen an, und Lenas Verwandte folgten seinem Beispiel. Sie selbst ebenfalls, irgendwann. Zähneknirschend. Emma reagierte einfach nicht, wenn sie abends nach Hause kam, die Aktentasche abwarf und »Leonore?« rief.

Emma. Das klingt wunderschön, findet Philipp.

Doch was ist schon ein Name? In Wahrheit hätte er mit jedem leben können. Ein gesundes Kind ist ein unschätzbares Geschenk, und seine Emma entwickelt sich schneller, als er es je für möglich gehalten hätte. Neulich, zwei Tage bevor sie ein Jahr alt wurde, zog Emma sich am Buffet hoch und machte ihre ersten wackeligen Schritte. Philipp war so stolz auf sie, dass er sie vor Freude am liebsten gleich wieder an sich gedrückt hätte. Doch Emma plumpste abermals auf den Popo, lachte, rappelte sich hoch und versuchte es noch einmal. Philipps Baby.

Er steht vor ihrer Tür und lauscht. Dass sie sich heute so still verhält, beunruhigt ihn ein wenig. Sie babbelt morgens oft fröhlich vor sich hin.

»Da. Da. Dada. Ba. Ba. Pa.«

Bapa.

Er öffnet die Tür und schleicht auf Zehenspitzen zu ihr hinein.

Die Fensterläden sind verschlossen, die Vorhänge zugezogen, doch Philipp findet den Weg zu ihrem Bett blind. Es dauert einen Moment, bis seine Augen sich ans Dämmerlicht gewöhnen.

Lena hat die Wände rosa gestrichen, die alten Möbel cremeweiß lackiert – auch das selbst gebaute Regal: unten die Spielsachen, oben die Windeln. Die Kommode, den Wickeltisch.

Der Raum duftet nach Philipps Tochter, nach Puder und Shampoo in einer dunklen, gemütlichen Umgebung.

»Emmachen? Schläfst du noch, mein Engel? Der Bapa ist da.«

Sie reagiert nicht.

»Emmachen?«

Gestern Abend war sie nicht ganz auf dem Damm. Sie hatte leichtes Fieber und aß fast nichts. Hat sich der Zustand über Nacht verschlimmert? Ist sie krank? Rührt sie sich deshalb nicht? Philipp knipst das Licht an.

Das Bett ist leer.

3

Ungläubig starrt Philipp auf die Matratze.

Dorthin, wo seine Tochter liegen sollte.

Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn. Sein Puls dröhnt.

Eine Einjährige kann nicht aus eigener Kraft aus diesem Bett klettern, Lenas Vorrichtung ist für sie so unüberwindlich wie eine vier Meter hohe Betonmauer für einen Erwachsenen.

Schlagartig kehrt der Albtraum in Philipps Bewusstsein zurück. Der Schatten, der ihm Böses wollte. Hatte der nicht ein Bündel auf dem Arm, so groß wie sein Kind? War das gar kein Traum?

Sein Atem kommt stoßweise. Seine Wangen glühen, die Hände sind eisig. Das Offensichtliche ist schwer zu fassen. Die einzig logische Erklärung.

Hilflos hebt er die kleine Decke. Es ist Unsinn. Emmas Körper würde sich deutlich darunter abzeichnen. Doch irgendwie hilft ihm die Übersprunghandlung, seine Schockstarre zu überwinden, die Wahrheit zu begreifen.

Er rast ins Schlafzimmer, schnappt sich das Handy und wählt 110. Zweimal vertippt er sich, dann baut sich die Verbindung auf.

»Man hat mir meine Tochter gestohlen!«

Die Beamtin am anderen Ende redet beruhigend auf ihn ein. Er ist so aufgelöst, dass er ihre Fragen – Name, Adresse, Beschreibung des Kindes – nur mit Mühe beantworten kann.

»Ich schicke jemanden vorbei, fassen Sie möglichst wenig an, hören Sie? Kommen Sie klar, oder brauchen Sie einen Arzt?«

Philipp verneint die Frage, ob die Beamtin dranbleiben solle, bis die Kollegen da sind, dann wird die Verbindung gekappt.

Ihm ist schlecht. Er muss würgen, kann sich aber nicht übergeben. Er rennt zurück in Emmas Zimmer – wie kann es so unendlich leer sein?

Vor dem kleinen Bett sackt er zusammen. Wann kommt endlich die Polizei?

Unvermittelt regen sich Zweifel in ihm. Was, wenn Emma doch herausgeklettert ist? Irgendwie?

Philipp steht auf und durchforstet jeden Winkel des Obergeschosses. In größter Eile kontrolliert er die Fenster.

Alle geschlossen.

Er durchwühlt den Wäschekorb im Bad. Immer wieder ruft er nach Emma, bis seine Stimme rau ist. Sie muss doch irgendwo sein! Eine Entführung kommt ihm plötzlich lachhaft vor, der Notruf verfrüht. Er hat doch noch gar nicht gründlich gesucht!

Am oberen Treppenabsatz öffnet Philipp das Gitter, das Emmas Sturz nach unten verhindern soll. Er stolpert die schmale Stiege ins Erdgeschoss hinab. Sein Pyjama verheddert sich im eisernen Geländer, der Stoff reißt mit einem Ratsch.

Die Küchentür steht eine Handbreit offen.

Na, siehste!

Er hat ein Problem mit offenen Türen, schwer zu erklären, es ist eine der Marotten, die Lena auf die Palme bringen. Jetzt hofft er allerdings, fleht zu dem Gott, an den er nicht glaubt, dass die offene Tür ein gutes Omen ist: Emma gelangte irgendwie nach unten und hat sie aufgekriegt.

Bitte, lass sie da drin sein! Am Boden hocken und vor Vergnügen quietschen, weil sie so fleißig überall Mehl verstreut oder irgendeinen anderen Blödsinn angestellt hat. Einen Quatsch, der Philipp zusätzliche Arbeit bereitet, ihn heute aber zum glücklichsten Bapa der Welt macht.

Bitte lass sie da drin sein!

Die Küche ist picobello. Genau, wie Philipp sie am Abend zurückgelassen hat. Kein Mehl. Kein Quatsch. Kein Kind.

Es gibt kein Versteck, wo Emma sein könnte, suchen ist zwecklos. Bleibt nur noch das Wohnzimmer.

Doch auch dort ist sie nicht. Eine Eiterblase des Irrsinns platzt in Philipps Gehirn: Ich habe gar kein Kind!Seine Knie wollen nachgeben. Im letzten Moment krallt er sich an der antiken Stehlampe fest, schlottert am ganzen Leib.

»Nein«, flüstert er. »Ich bin Vater! Meine Tochter ist auf der Welt!« Die Geburt war langwierig und schmerzhaft. Philipp hielt Lenas Hand.

Emma gibt es! Er hat keinen Zweifel.

Obwohl er sich der Existenz seines Kindes sicher ist, verstört ihn, was ihm seine innere Stimme einflüstert. Eine weibliche Stimme.

»Nein!«, murmelt er. »Nein, nein, nein!«

Der Psychiater hat ihn von ihr befreit, damals, als Kind. Ein für alle Mal. Philipp wurde erwachsen. Er hat eine kluge Frau geheiratet und sein Glück gefunden. Deshalb kann ihn die Stimme auch nicht beirren.

Nicht mehr.

4

Es vergeht eine quälende Viertelstunde. Philipp rennt mehrfach durch das Haus, den Keller, den Garten, doch er entdeckt keine Spur von Emma.

Endlich klingelt es. Eine Frau und ein Mann stehen vor der Tür. Die Frau trägt Jeans und Lederjacke, sie ist kräftig gebaut, aber nicht fett, ihr schwarzes Haar ist raspelkurz. Sie stellt sich als Kriminalhauptkommissarin Svenja Paulus vor.

Philipp kann das Alter von Menschen schlecht einschätzen, Svenja Paulus dürfte nicht älter als Mitte dreißig sein, so wie Lena. Trotzdem fühlt er sich in ihrer Gegenwart wie ein Schuljunge, klein und unsicher, als er atemlos ihre Fragen beantwortet: »Ein Jahr alt, vierundsiebzig Zentimeter, zehn Komma drei Kilo. Sie trägt Baumwollwindeln und einen hellblauen Strampelanzug mit dunklen Knöpfen.«

Von der Kommissarin geht eine natürliche Autorität aus, die Philipp einschüchtert. Ihre wachen Augen scheinen den Dingen direkt auf den Grund zu blicken.

»Seit wann genau vermissen Sie Ihre Tochter?«

Seine Stimme bebt: »Ich bin aufgestanden, und sie war nicht in ihrem Bett.« Er muss die Tränen zurückhalten, fühlt sich wie betäubt. »Muss ungefähr um halb sechs gewesen sein.«

Der Sidekick der Kommissarin notiert die Uhrzeit in ein grünes Notizbuch. Philipp hat sich seinen Namen nicht gemerkt, aber der große, breitschultrige Mann flößt ihm genauso viel Respekt ein wie Svenja Paulus. Der Bleistift wirkt in seiner riesigen Hand, als könnte er jeden Moment zerbrechen.

»Ihr Anruf ging um fünf Uhr dreiundfünfzig bei uns ein«, sagt der Hüne.

Philipp hört keinen Vorwurf heraus, er macht ihn sich selbst. Dreiundzwanzig Minuten bis zum Notruf. Wieso hat er so lange damit gewartet, Hilfe zu holen?

»Wie jeden Morgen bin ich gleich zu Emma rüber«, sagt er. »Als ich sie nicht fand, habe ich sofort bei der Polizei angerufen.« Er wischt mit dem Handrücken die Tränen von seiner Wange. »Ich habe alles durchsucht und kann es mir nicht erklären. Nichts war beschädigt, im Haus fehlte nichts, mal abgesehen von Emmas Schnuller. Ich fand alles exakt so vor, wie ich es abends hinterlassen habe. Sogar die Haustür war abgeschlossen.«

Die Beamten bitten darum, durch das Haus gehen zu dürfen. Gemeinsam überzeugen sie sich, dass an den Fenstern und Türen keine Beschädigungen vorliegen.

»Was ist das hier?« Die Kommissarin deutet auf eine frische Kerbe im Rahmen der Wohnzimmertür, gesplittertes Holz auf Kopfhöhe.

»Ach … Das ist nichts. Wir waren das. Eine Unachtsamkeit.«

Als Kind hat Philipp gelernt, der Polizei zu misstrauen, und bis heute hat sich daran nichts geändert. Wie soll es Emma zurückbringen, wenn er der Beamtin mitteilt, dass seine Frau eine jähzornige Ader besitzt? Manchmal brennt bei Lena die Sicherung durch und sie wirft Gegenstände nach ihm. Sie klatscht ihm manchmal sogar eine, wenn ihr »die Pferde durchgehen«. So nennt sie es, wenn sie einen Wutanfall bereut.

Die Holzscharte ist das Ergebnis von Lenas letztem Ausbruch. Die Scherben des Tellers, den sie gestern Abend nach ihm schleuderte, hat Philipp zusammengekehrt. Der Klügere gibt nach.

Die Ermittlerin braucht von all dem nichts zu wissen. Es tut nichts zur Sache. Außerdem ist es Philipp peinlich, dass seine Frau regelmäßig ausrastet.

Die Kommissarin hakt nicht nach. »Sind Sie ganz sicher, dass nicht doch ein Fenster offen war, als Sie vom Bett aufstanden? Vielleicht waren Sie schlaftrunken und haben es einfach geschlossen, ohne die Handlung bewusst zu regis­trieren. So was passiert. Denken Sie bitte gründlich nach. Es könnte Emmas Weg nach draußen gewesen sein.«

»Ich bin mir sicher. Vor dem Zubettgehen mache ich immer einen Rundgang und sehe nach, ob alles verschlossen ist. Ein Tick von mir. Ich kann sonst nicht einschlafen. Aber, hm …« Philipp erinnert sich an die Küchentür, die morgens offen stand.

»Was ist?«, fragt die Kommissarin.

Es ist ihm unangenehm, über seinen Fimmel Auskunft zu geben. Das klingt so verschroben.

»Was ist Ihnen eingefallen, Herr Dorn? Jedes Detail ist wichtig.«

»Etwas war heute Morgen anders als gestern. Nur eine winzige Kleinigkeit.«

»Aha?« Der Hüne zückt den Stift. »Und die wäre?«

»Es hört sich in Ihren Ohren vielleicht schräg an, aber Sie müssen wissen, dass mich offene Türen kirre machen«, sagt Philipp. »Es ist ein psychologischer Schutzmechanismus oder so was. Wenn eine Tür nicht vollständig geschlossen ist, dann kann ich mich nicht konzentrieren. Selbst wenn sie nur einen kleinen Spalt offen steht, muss ich hingehen und sie zumachen. Ich muss den Schlüssel nicht umdrehen, sondern sie nur schließen.«

Die Kommissarin runzelt die Stirn, doch rasch kehrt die entspannte Offenheit in ihr Gesicht zurück. »Soll’s geben. Und weiter?«

»Die Küchentür war heute früh offen, obwohl ich sie mit Sicherheit am Abend zugemacht habe.«

»Ist notiert«, sagt der Sidekick. Er misst dem Detail offensichtlich keine Bedeutung bei.

Philipp bietet den Ermittlern einen Platz am Esstisch an. Er selbst bleibt stehen, reißt ein Stück Küchenkrepp von der Rolle und trocknet seine Augen.

»Vielleicht ist Ihr Baby ja an einer anderen Stelle ins Freie gekrochen«, sagt der Kommissar. »Durch eine Luke oder ein Rohr, an das Sie noch nicht gedacht haben? Ich hab auch ’nen kleinen Lauser zu Hause. Wir kommen kaum hinterher.«

»Eine Katzenklappe?«, fragt Philipp.

»Zum Beispiel. Haben Sie so etwas?«

»Nein. Auch kein Rohr. Wofür sollte das gut sein?« Ganz sicher ist Philipp sich nicht. Es ist Lenas Haus. Sie hat es geerbt und in Eigenregie renoviert, lange bevor er sie kennenlernte. Sie wüsste bestimmt von einem solchen Rohr.

Die grässliche Vorstellung, dass Emma in eine Öffnung gekrabbelt sein könnte und nun darin feststeckt und um ihr Leben ringt, macht Philipp wahnsinnig. Genauso schlimm wäre es, wenn sie tatsächlich ins Freie gekrochen wäre und nun mutterseelenallein durch die Gegend irrt. Ein weitläufiger Wald beginnt direkt hinter dem Grundstück. Es ist Anfang April, bei den derzeit herrschenden Temperaturen würde sie erfrieren.

»Haben Sie den Garten gecheckt?«, fragt die Kommissarin.

»Da war sie nicht.« Philipp kann sich irren, aber er spürt Misstrauen in Svenja Paulus’ Blick. Gleichzeitig begreift er nicht, warum sie wertvolle Minuten verschwenden, um das Offenkundige zu diskutieren. Emma ist weg! Warum setzt die Polizistin nicht alle Hebel in Bewegung, um sie zu finden? Stattdessen unterstellt sie ihm auf subtile Art eine Verletzung seiner väterlichen Fürsorgepflicht.

Er nimmt sich zusammen und versucht, ruhig zu bleiben. »Ich kann Ihre Skepsis verstehen«, sagt er. »Die Sache ist ja auch verrückt. Aber Emma ist nicht hier, das ist offensichtlich! Sie braucht sicher Hilfe. Wollen Sie nicht eine Fahndung einleiten? Spürhunde auf sie ansetzen? Irgendetwas unternehmen, anstatt hier rumzusitzen und zu palavern?«

Die Polizistin bleibt trotz der Anschuldigungen gelassen. »Wir werden alles Notwendige in die Wege leiten, um Ihre Tochter zu finden. Vertrauen Sie mir. Aber ohne uns vorher ein klares Bild gemacht zu haben, verlieren wir am Ende mehr Zeit, als wir durch einen Schnellschuss gewinnen.«

Sie sieht sich um.

»Wo ist eigentlich Emmas Mutter? Lebt sie nicht mit Ihnen zusammen?«

Philipp erstarrt.

»Lena? Mein Gott! Sie weiß es ja noch gar nicht! Sie … sie … Meine Frau ist Lehrerin. Sie hat gerade Ferien. Sie ist seit gestern mit ein paar Kolleginnen auf einem Wellness-Trip im Allgäu.«

»Aha«, sagt die Kommissarin. Zwei Silben, die wie ein Ausrufezeichen klingen. »Sie haben also noch nicht mit ihr gesprochen?«

Philipp spürt, wie sein Gesicht heiß wird. Er kann sich selbst nicht erklären, wieso er sie nicht angerufen hat. Er war so außer sich, dass er völlig vergessen hat, Lena zu informieren.

»Ich … Es klingt blöd, aber ich war so verwirrt, dass Emma weg war. Da hab ich total verschwitzt, mich bei meiner Frau zu melden. Ich dachte nur daran, die Polizei zu rufen.« Er greift zu seinem Handy. »Ich muss das sofort nachholen! Natürlich! Ich ruf sie an. Lena muss erfahren, dass Emma entführt wurde. Die Arme! Sie muss sofort herkommen und suchen helfen!«

Die Kommissarin hebt die Hand. »Warten Sie damit bitte noch einen Moment, Herr Dorn.«

Er lässt das Telefon sinken. »Warum?«

Ihr Blick ist ihm unangenehm. So forschend. »Wissen Sie, was ein erfahrener Ermittler angesichts des vorliegenden Sachverhalts als Erstes ausschließen wird? Noch bevor er andere Maßnahmen einleitet?«

»Nein … ich … Woher soll ich das wissen?«

Sie schweigt. Um ihn hinzuhalten, wie es Philipp scheint. Er braucht einen Moment, bis er kapiert, worauf sie hi­naus­will.

»Sie meinen, dass die Eltern selbst … dass wir Emma …?«

Die Kommissarin zuckt die Schultern. Stumm fixiert sie ihn wie eine Katze ihre Beute.

»Sie meinen, meine Frau könnte …?«

Svenja Paulus nickt.

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst! Sie verdächtigen tatsächlich meine Frau? Dass sie heimlich ins Haus kam und Emma mitgenommen hat? Das wäre ja …«

»Ich verdächtige niemanden, Herr Dorn. Dafür ist es zu früh. Aber bei mehr als achtzig Prozent aller Kindesentführungen haben Väter, Mütter oder nahe Verwandte ihre Finger im Spiel. Bei Kidnapping direkt aus dem eigenen Heim dürfte die Quote sogar erheblich höher sein.«

Davon hat Philipp gehört. Es gibt Romane darüber. Filme, Songs. Ein Elternteil entzieht dem anderen die Kinder, fast immer die Frau, die der Gewalt ihres Mannes entkommen will.

»Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Lena so etwas tut! Warum sollte sie?« Lena schlägt zu, bevor sie selbst geschlagen wird.

»Das glaube ich Ihnen, Herr Dorn. Aber wie Sie selbst sagen: In Ihrem Haus finden sich keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen, keine Unordnung. Es fehlt nichts.«

»Aber Emma ist weg!«

»Ja. Und ich will der Kriminaltechnik nicht vorgreifen. Theoretisch könnte ein gerissener Einbrecher leise Ihre Tür geöffnet, in den ersten Stock geschlichen und Ihre Tochter mitgenommen haben, ohne dass das Kind einen Mucks von sich gegeben hat. Theoretisch. Und danach hat der Täter fein säuberlich wieder abgeschlossen.«

Es klingt lächerlich, das muss Philipp zugeben.

Die Kommissarin lässt ihre Worte wirken, bevor sie weiterspricht. »Theoretisch könnte es so gewesen sein, nicht wahr?« Wieder macht sie eine Pause. »Die einfachere Erklärung ist allerdings, dass jemand Emma mitgenommen hat, der einen Schlüssel zu Ihrem Haus besitzt. Jemand, den Ihre Tochter kennt und dem sie vertraut, sodass sie weder geschrien noch sich gewehrt hat.«

»Also Lena!«

Philipp fällt es schwer, seine Gedanken zu ordnen. Er kann sich nicht vorstellen, warum seine Frau Emma entführt haben könnte. Gleichzeitig erleichtert ihn die Vorstellung.

»Wenn sie unser Kind bei sich hat, dann geht es Emma zumindest gut. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Wieso sollte meine Frau mitten in der Nacht unsere Tochter stehlen?«

»Wenn es so ist, kennen Sie die Gründe besser als ich.«

»Ich? Wieso? Versteh ich nicht …«

Die Ermittlerin deutet auf die Scharte im Holz, die von Lenas Tellerattacke stammt. »Hatten Sie vielleicht einen Streit?«

Philipp weicht ihrem Blick aus. »Nein! Bei uns ist alles in Ordnung.«

»Wirklich?«

»Na ja, wir haben uns gestritten, bevor sie abgereist ist. Nichts Großes. Etwas, was in jeder Ehe vorkommt.«

»Hm. Okay. Rufen Sie Ihre Frau jetzt bitte an. Stellen Sie das Telefon auf laut. Wenn Sie gestatten, hören wir mit. Sofern Sie Lena überhaupt erreichen.«

»Wieso denn nicht?«, fragt Philipp.

»Rufen Sie sie an! Wir werden sehen.«

Mit feuchten Fingern scrollt Philipp durch seine Kontakte.

Er tippt auf Lenas Nummer.

5

Das Rufzeichen ertönt aus Philipps Handy.

Svenja Paulus wartet gespannt. Die erfahrene Hauptkommissarin glaubt nicht, dass Lena den Anruf annehmen wird. Sie weiß, dass Ehefrauen oftmals eine beachtliche Leidenszeit hinter sich haben, bevor sie sich so radikal von ihrem bisherigen Leben trennen. Fast immer waren sie zuvor der Gewalt ihres Partners ausgesetzt und haben sich ihren drastischen Schritt reiflich überlegt, nicht selten abgerungen. Solche Frauen stellen sich oft tot, wenn ihr Peiniger sich meldet. Aus Angst vor seiner Rache. Oder weil sie fürchten, wieder vor ihm einzuknicken und reumütig zurückzukehren, wenn er zum x-ten Mal Besserung gelobt.

In diesem Fall ist Svenja sich nicht sicher, was Lenas Flucht vorausging. Aus unzähligen Vernehmungen weiß sie, dass man niemandem seine inneren Abgründe ansieht. Aber ein Gefühl sagt ihr, dass Philipp Dorn seine Frau weder schlägt noch demütigt. Er wirkt weich und empathisch. Aber womöglich hatte seine Frau andere Gründe, ihm das Kind zu entziehen.

Es tutet viermal aus dem Telefon, dann meldet sich eine helle Stimme: »Schatz?«

Philipp bleibt stumm. Dem verstörten Vater scheinen die richtigen Worte zu fehlen. Offenbar weiß er nicht, wie er seiner Frau beichten soll, dass ihr gemeinsames Kind wie vom Erdboden verschluckt ist. Und schon gar nicht, wie er sie fragen soll, ob sie selbst dahintersteckt.

»Hallo? Philipp? Bist du das? Hallo?«

Er druckst immer noch herum, blickt hilflos zu Svenja herüber. Sie befürchtet, dass er zusammenbricht, bevor er eine Silbe herausbringt. Sie streckt ihre Rechte nach dem Handy aus, damit sie selbst mit der Frau sprechen kann, bevor diese wieder auflegt.

Dann beginnt Philipp doch: »Lena … Ich muss mit dir reden.«

»Was ist los, Schatz? Ist es wegen gestern? Vergiss es, mach dir keinen Kopf. Wir sind grad beim Frühstück … tolles Buffet! Können wir vielleicht später telefonieren?« Sie lacht. »Die anderen essen mir sonst alles weg.«

»Die Polizei ist bei uns, Lena.«

»Die Polizei? Warum? Ist was mit Emma?«

»Ich … ich … Lena, sie ist weg! Emma ist verschwunden! Ich kann es nicht erklären.«

Stille.

»Hast du sie geholt, Lena? Sei ehrlich!«

Stille.

Svenja Paulus fühlt sich in ihrem Verdacht bestätigt. Sie nickt ihrem Kollegen zu. Wie vermutet. Lena hat eine unverdächtige Situation geschaffen, ein Wellness-Wochenende vorgetäuscht, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ihr Schweigen ist ein Schuldeingeständnis. Sie hat das Kind heimlich mitgenommen.

Dann hört Svenja sie schreien.

»Spinnst du?« Der kleine Lautsprecher verzerrt Lenas Stimme. Philipp zieht den Kopf ein, als würde er einem Schlag ausweichen.

»Das kann nicht sein, Philipp! Hast du überall nach ihr gesucht? Neulich hat sie sich auch versteckt!«

»Ich … Ja! Sicher, Lena! Sie ist nicht da! Echt nicht!«

»Lass die Spielchen, Philipp. Das ist nicht witzig!«

»Nein, Lena! Ich … ich … Nein! Das ist kein Spiel.«

Mit einem Wink bedeutet Svenja ihm, ihr das Handy zu reichen. Folgsam übergibt er es.

»Hier spricht Hauptkommissarin Svenja Paulus, Frau Dorn. Kripo Augsburg. Bitte hören Sie mir zu: Es stimmt leider, was Ihr Mann sagt. Er hat uns angerufen, weil Ihre Tochter seit heute Morgen unauffindbar ist.«

»Das kann doch nicht sein!«

»Doch. Bedauerlicherweise. Wir haben es überprüft. Emma befindet sich nicht im Haus. Allerdings dachte ich, dass Sie Ihre Tochter vielleicht abgeholt haben.«

»Ich? Nein!«

»Wir konnten nämlich keine Spuren eines Eindringens finden im … Hallo? Frau Dorn …?«

Die Leitung ist tot.

6

Svenja fragt sich, was in dem idyllischen Haus am Stadtrand tatsächlich geschehen ist. Alles an dem Fall der spurlos verschwundenen Einjährigen fühlt sich falsch an. Nichts entspricht den typischen Mustern, die Svenja von Entführungen kennt. Es wirkt, als hätte Emma sich einfach in Luft aufgelöst, ohne eine Einwirkung von außen – wie durch Zauberei. Die Sache ist nur: Kriminalhauptkommissarin Svenja-Emilie Paulus hat schon in ihrer frühen Jugend aufgehört, an Magie zu glauben. An Wunder. An Gott.

Svenja hat in tiefe Abgründe geblickt, beruflich und privat, und immer waren es konkrete Personen, die sich oder andere ins Unglück stürzten. Immer waren es Menschen, die Mitmenschen Schaden zufügten oder selbst Qualen zu erdulden hatten. Aus Rache, Hass und Gier oder Eifersucht.

Svenja hat ihrem Kollegen Alwin aufgetragen, Tatortspezialisten anzufordern, die das Haus und den Garten der Dorns absuchen sollen. Der weiße Van mit der Aufschrift Polizeipräsidium Schwaben-Nord – Kriminaltechnik blockiert die Garageneinfahrt.

Den Telefonanschluss hat Svenja anzapfen lassen. Falls sich ein Entführer meldet, können sie die Nummer so vielleicht zurückverfolgen.

Die Kollegen suchen auch nach geheimen Räumen im Gebäude. Womöglich ist das Kind noch im Haus, versteckt in einer verborgenen Kammer. Alles schon vorgekommen. Doch warum sollten Eltern ihr Kind verstecken, um es als vermisst zu melden? Den Gedanken, dass Emma längst tot ist, lässt sie nicht zu. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn ihre pessimistische innere Stimme, geprägt durch bittere Erfahrungen, das Gegenteil raunt.

Falls eine Entführung vorliegt, werden die Kriminaltechniker Beweismaterial zutage fördern, das ihr dabei hilft, das Kind zu finden – ein Haar, eine Hautschuppe, die Faser eines Kleidungsstücks. Jeder Täter hinterlässt Spuren. Außerdem hat Svenja zwei Teams angewiesen, jeden registrierten Pädophilen und Sexualstraftäter in Augsburg aufzusuchen. Die Vorstellung, dass das Kind sich in den Fängen eines solchen Arschlochs befindet, dreht ihr den Magen um.

Ein grüner Opel Corsa biegt mit heulendem Motor in die Waldfriedenstraße ein. Zwanzig Meter vor dem Grundstück quietscht Gummi auf Asphalt. Zwei Fingerbreit vor der Schnauze eines Streifenwagens kommt der Opel zum Stehen. Eine schlanke Frau in Outdoor-Kleidung steigt aus. Sie lässt die Fahrertür offen und rennt auf Philipp, Alwin und Svenja zu, die vors Haus getreten sind, um der KT drinnen nicht im Weg zu sein.

»Wo ist unser Kind? Was hast du gemacht? Wo. Ist. Emma?«

Philipps Ehefrau trommelt mit den Fäusten auf dessen breite Brust. Er überragt sie um eineinhalb Kopflängen, lässt die Arme aber schlaff herabhängen und erduldet den Angriff ohne Widerstand.

Svenja weiß die Kraft ihrer zweiundachtzig Kilo zu nutzen, um Lena von ihm zu trennen. Seit dem abrupt beendeten Telefongespräch ist etwa eine Stunde verstrichen. Lena muss sofort in Ottobeuren losgefahren sein. Ihr Erscheinen und ihr unbeherrschtes Verhalten begraben Svenjas heimliche Vermutung, dass Lena das Kind selbst entführt hat.

Die zierliche Frau kann ihre Emotionen kaum bändigen, die Angst um ihr Kind, den Zorn auf ihren Mann. Ihre mittellangen nussbraunen Haare kleben an ihrer blassen Stirn, die modische Brille ist verrutscht, der Schock über das Unfassbare ist mit Großbuchstaben in ihr attraktives, herzförmiges Gesicht geschrieben.

Svenja versteht Lenas Emotionen, und doch ist sie auf seltsame Art von ihnen befremdet. Sie fühlt sich an eine Laiendarstellerin erinnert, die an der glaubwürdigen Verkörperung großer Gefühle scheitert.

Svenja verdrängt den Gedanken, er ist unfair. Niemand hat ein Drehbuch für so eine Krise.

Um die Eheleute voneinander fernzuhalten, bittet sie Alwin, Philipp ins Haus zu begleiten, damit der sich umzieht. Unter dem schwarzen Kapuzenpulli, den der schockierte Vater sich gegen die morgendliche Kälte übergezogen hat, trägt er immer noch seinen Schlafanzug. Das rote Haar des klobigen Mannes steht wirr von seinem Kopf ab.

Währenddessen stellt Svenja Lena dieselbe Frage, die sie zuvor schon deren Mann gestellt hat: »Besitzt jemand einen Zweitschlüssel für Ihr Haus?«

»Meine Eltern, für den Notfall. Aber die kommen nicht infrage.«

»Warum nicht?«

»Weshalb sollten sie Emma entführen?«

»Waren kürzlich Handwerker bei Ihnen? Haben Sie mit jemandem Streit? Kollegen? Bekannte? Verwandte?«

»Nein. Alles nicht.«

Svenja weiß, dass dies auf die wenigsten Leute zutrifft, trotzdem muss sie fragen: »Haben Sie Feinde? Leute, die sich an Ihnen rächen wollen?«

»Nein! Wo denken Sie hin?«

»Glauben Sie, dass jemand Sie erpressen will?«

Die Vorstellung scheint Lena zu überraschen. »Sie meinen Lösegeld? Das wäre ja schrecklich! Woher soll ich das denn nehmen?« Sie deutet auf das Haus. »Wir haben einen Berg von Schulden.«

»Denken Sie bitte trotzdem nach: Fällt Ihnen niemand ein, der Ihr Kind entführt haben könnte? Der selbst Schulden hat?«

»Nein! Warum denn? Bringen Sie Emma einfach zurück! Bitte! Versprechen Sie es!«

Svenja geht nicht darauf ein. Man soll Menschen keine falschen Hoffnungen machen. Stattdessen bittet sie Lena darum, von ihr einen Rachenabstrich nehmen zu dürfen, so wie zuvor schon bei Philipp. Zusätzlich fragt sie nach einer genetischen Vergleichsprobe von Emma. Ein Schnuller zum Beispiel, der wäre ideal.

»Wir werden jede DNA-Spur damit abgleichen, die wir im Haus finden«, erklärt sie.

Svenja lässt sich außerdem ein aktuelles Foto des Mädchens und seine Geburtsurkunde geben. Sie will sich nicht zum Gespött machen wie ein Kollege aus dem Norden, der in einem ähnlichen Fall vergaß, das Dokument einzufordern. Er fahndete achtundvierzig Stunden nach einem vermissten Jungen, bis sich herausstellte, dass eine geistig verwirrte Frau sich ihren verschwundenen Sohn nur eingebildet hatte.

Alwin kehrt mit Philipp zurück. Svenja fordert Lena auf, sich ebenfalls frisch zu machen, damit sie anschließend mit dem Ehepaar ins Präsidium fahren können. Ihr Haus sei wegen der Untersuchungen in den nächsten Stunden nicht nutzbar, behauptet Svenja, daher die Fahrt aufs Revier.

»Sie verdächtigen die beiden, oder?«, fragt Alwin, als er und seine Kollegin allein sind.

Svenja fummelt ein zerknautschtes Snickers aus ihrer Jackentasche. Sie reißt die Folie auf und beißt in den Riegel. »Gegen den Stress. Auch eins?«, sagt sie kauend.

»Nein, danke. Versuche, davon loszukommen. Zucker ist pures Gift.«

Manchmal erinnert Alwin sie an einen mittelalterlichen Krieger, der durch ein Zeitloch in die Gegenwart gefallen ist. Ein Wikinger, groß und muskelbepackt, mit geflochtenem Vollbart. Nur die etwas zu hohe Stimme passt nicht ins Bild, und statt Hörnerhelm und Kettenhemd trägt Alwin Schiebermütze und einen Dreiteiler aus Tweed-Stoff.

»Also, Sie verdächtigen sie?«, wiederholt er.

Svenja kaut auf dem süßen Brei herum. »Tun Sie es denn, Alwin?«

Obwohl sie erst seit Kurzem zusammenarbeiten, hat Svenja den Scharfsinn ihres jüngeren Partners schon schätzen gelernt.

»Ich weiß es nicht. Nein … Vielleicht.«

Alwin lächelt unsicher. Sein eindrucksvolles Äußeres spiegelt sein sanftes Wesen in keiner Weise wider. Er ist allseits bekannt als hilfsbereiter Kollege, liebevoller Vater und Ehemann.

»Ich will Ihren Schlussfolgerungen nicht vorgreifen, Frau Paulus. Sie sind die Chefin.«

Svenja schluckt den letzten Bissen hinunter. Sie ist noch nicht dazu gekommen, ihm das Du anzubieten, obwohl sie sich mit fast allen Kollegen duzt. Es hat sich noch keine geeignete Gelegenheit geboten.

Sie leckt sich einen Rest Schokolade von den Lippen und zerknüllt die Verpackung.

»Seien Sie bitte nicht so unterwürfig, Alwin. Das nervt. Nur weil Sie frisch aus dem Ei geschlüpft sind, sind Ihre Gedanken nicht weniger wert.«

Wäre sie zehn Jahre jünger und Alwin nicht verheiratet, könnte Svenja bei ihm schwach werden. Ein ungezähmtes Äußeres, gepaart mit einem Lächeln, das direkt ins Herz dringt. Genau ihr Typ.

Sie verdrängt den unprofessionellen Gedanken.

»Wir sind ein Team, klar?«, sagt sie. »Und ich bin nicht unfehlbar.«

Alwins Augen leuchten. »Da hört man aber was anderes. Alle Kollegen loben Sie in den höchsten Tönen: jüngste KHK in Bayern, perfekte Aufklärungsquote. Hart, aber fair.«