Das Weltbild des Kindes (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 1) - Jean Piaget - E-Book

Das Weltbild des Kindes (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 1) E-Book

Jean Piaget

0,0
27,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieser Klassiker der Entwicklungspsychologie liefert eine gut verständliche und immer noch spannend zu lesende Übersicht über die typischen Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster von Vorschulkindern. Wie interpretieren Kinder den Zusammenhang von Wörtern und Dingen, den Ursprung und die Eigenschaften natürlicher Phänomene und die Ursache von Ereignissen? Jean Piaget analysiert in diesem Buch die typischen Eigenheiten des kindlichen Weltverstehens und widmet sich damit grundlegenden Fragen der Entwicklungspsychologie. Auf der Basis eigener Befragungen zu unterschiedlichen Aspekten der Kinderlogik greift er die Resultate der damaligen Forschung auf und setzt diese zu einem umfassenden Erklärungsmodell zusammen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 740

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



JEAN PIAGET

DAS WELTBILDDES KINDES

Aus dem Französischen übersetztvon Luc Bernard

Überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Jürgen Oelkers

IMPRESSUM

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Eine chronologische Gesamtbibliographie der Werke Piagets finden Sie auf www.klett-cotta.de/piaget.

Unter Mitarbeit von A. Bodourian (2., 9. und 10. Kapitel), G. Guex (1., 3., 7., 8. und 9. Kapitel), R. Hepner (8. Kapitel), H. Krafft (1., 3., 5., 7. und 9. Kapitel), E. Margairaz (9. und 10. Kapitel), S. Perret (1., 3., 5. und 7. Kapitel), V.-J. Piaget (1., 3., 7. und 9. Kapitel), M. Rodrigo (3. und 9. Kapitel), M. Rond (9. Kapitel), N. Swetlova (2., 9. und 10. Kapitel) und Dr. Versteeg (3. Kapitel).

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»La représentation du monde chez l’enfant«

© 1926 by Presses Universitaires de France

Für die deutsche Ausgabe

© 1978 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Archives Jean Piaget, Genf

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94811-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10680-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20229-8

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Jürgen Oelkers

EINLEITUNG: DIE PROBLEME UND DIE METHODEN

1. Die Testmethode, die reine Beobachtung und die klinische Methode

2. Die bei der klinischen Untersuchung beobachtbaren fünf Reaktionstypen

3. Regeln und Kriterien für eine Diagnose der erwähnten Reaktionstypen

4. Regeln für die Interpretation der Ergebnisse

ERSTER TEILDer kindliche Realismus

KAPITEL I: DER BEGRIFF »DENKEN«

1. Das erste Stadium: Man denkt mit dem Mund

2. Das Sehen und der Blick

3. Das zweite und das dritte Stadium: Man denkt mit dem Kopf

4. Die Wörter und die Dinge

KAPITEL II: DER REALISMUS DER NAMEN

1. Der Ursprung der Namen

2. Der Ort der Namen

3. Der intrinsische Wert der Namen

4. Schlussfolgerungen

KAPITEL III: DIE TRÄUME

1. Das erste Stadium: Der Traum kommt von außen und bleibt äußerlich

2. Das zweite Stadium: Der Traum kommt aus uns, ist aber außerhalb von uns

3. Das dritte Stadium: Der Traum ist innerlich und kommt von innen

4. Schlussfolgerungen

KAPITEL IV: DER REALISMUS UND DIE URSPRÜNGE DER PARTIZIPATION

1. Der Realismus und das Selbstbewusstsein

2. Die Partizipationsgefühle und die magischen Praktiken beim Kind

3. Die Ursprünge der kindlichen Partizipation und Magie

4. Gegenbeweis: Die spontanen magischen Haltungen beim Erwachsenen

5. Schlussfolgerung: Logische Egozentrik und ontologische Egozentrik

ZWEITER TEILDer kindliche Animismus

KAPITEL V: DAS DEN DINGEN ZUGESPROCHENE BEWUSSTSEIN

1. Das erste Stadium: Alles ist mit Bewusstsein ausgestattet

2. Das zweite Stadium: Alle beweglichen Gegenstände sind bewusst

3. Das dritte Stadium: Bewusst sind die mit Eigenbewegung ausgestatteten Körper

4. Das Bewusstsein wird den Tieren vorbehalten

5. Schlussfolgerungen

KAPITEL VI: DER BEGRIFF »LEBEN«

1. Das erste Stadium: Das Leben ist mit der Aktivität im Allgemeinen verbunden

2. Das zweite Stadium: Das Leben wird mit der Bewegung verbunden

3. Das dritte und das vierte Stadium: Das Leben wird mit der Eigenbewegung verbunden und dann den Tieren und Pflanzen vorbehalten

4. Schlussfolgerung: Der Begriff »Leben« beim Kind

KAPITEL VII: DIE URSPRÜNGE DES KINDLICHEN ANIMISMUS: MORALISCHE NOTWENDIGKEIT UND PHYSIKALISCHER DETERMINISMUS

1. Der spontane Animismus beim Kind

2. Die Sonne und der Mond folgen uns

3. Physikalischer Determinismus und moralische Notwendigkeit

4. Schlussfolgerungen: Der Aussagewert der Befragung über den kindlichen Animismus und die Natur des »diffusen Animismus«

5. Schlussfolgerungen (Fortsetzung): Die Ursprünge des kindlichen Animismus

DRITTER TEILDer kindliche Artifizialismus und die späteren Stadien der Kausalität

KAPITEL VIII: DER URSPRUNG DER GESTIRNE

1. Ein ursprünglicher Fall des ersten Stadiums

2. Das erste Stadium: Die Gestirne sind fabriziert worden

3. Das zweite und das dritte Stadium: Die Gestirne haben einen zuerst teilweisen, dann ganz natürlichen Ursprung

4. Die Mondsicheln

KAPITEL IX: DIE METEOROLOGIE UND DER URSPRUNG DER GEWÄSSER

1. Das Himmelsgewölbe

2. Die Ursache und die Natur der Nacht

3. Der Ursprung der Wolken

4. Der Donner und die Blitze

5. Die Bildung des Regens

6. Die Erklärung für Schnee, Eis und Kälte

7. Die Flüsse, die Seen und das Meer. Der primäre Ursprung der Gewässer

KAPITEL X: DER URSPRUNG DER BÄUME, DER BERGE UND DER ERDE

1. Die Herkunft des Holzes und der Pflanzen

2. Die Herkunft des Eisens, des Glases, des Stoffes und des Papiers

3. Die Herkunft der Steine und des Erdbodens

4. Der Ursprung der Berge

KAPITEL XI: DIE BEDEUTUNG UND DIE URSPRÜNGE DES KINDLICHEN ARTIFIZIALISMUS

1. Die Bedeutung des kindlichen Artifizialismus

2. Die Beziehungen zwischen dem Artifizialismus und dem Problem der Geburt der Kinder

3. Die Stadien des spontanen Artifizialismus und ihre Beziehungen zur Entwicklung des Animismus

4. Die Ursprünge des Artifizialismus

5. Die Ursprünge der Identifikation und die Ursachen für das Verschwinden des Artifizialismus und des Animismus

ANHANG:Anmerkungen zu den Beziehungen zwischen dem Glauben an das Wirksame und der Magie im Zusammenhang mit den Abschnitten 2 und 3 des IV. Kapitels

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Jürgen Oelkers

In einer 2005 erschienenen Rezension der Neuausgabe von Piagets Buch La représentation du monde chez l’enfant wird Jean Piaget bezeichnet als »célèbre épistémologue suisse« (Laberge 2005: 412). Die Rezension erschien in der frankokanadischen Zeitschrift Laval théologique et philosophique, die von der theologischen und der philosophischen Fakultät der Université Laval in Québec herausgegeben wird. In diesem Kontext ist Jean Piaget Epistemologe und so weder Entwicklungspsychologe noch Pädagoge.

Das Buch ist 1926 im französischen Original zum ersten Mal erschienen, seinerzeit im Pariser Verlag Félix Alcan. 1947 erschien eine unveränderte Neuauflage in den »Presses universitaires de France«. Dass eine Neuausgabe eines fast 80 Jahre alten Buches im gleichen Verlag neu rezensiert wird, ist ungewöhnlich, insbesondere dann, wenn es sich um einen Klassiker handelt, der viel gelesen wird und in der Ausbildung zum Standardrepertoire gehört, also schon deswegen immer neu aufgelegt wird. Freuds Traumdeutung ist ebenso wenig neu besprochen worden wie der Tractatus von Wittgenstein oder John Deweys Logik.

Die Rezension fasst den Befund zu Piaget und seinem Klassikerstatus wie folgt zusammen:

»Tout comme les ouvrages fondateurs de Freud ou de Bachelard, La représentation du monde chez l’enfant demeure un classique duquel aucun élément ne saurait être retranché ou même mis à jour. Cet ouvrage classique et relativement facile d’accès (comparativement à d’autres livres de Jean Piaget) saura inspirer les éducateurs, mais aussi les géographes, les psychologues, les philosophes, sans oublier les parents. On ne peut que souhaiter d’autres rééditions de tous les ouvrages épuisés de Jean Piaget« (ebd.: 414).

Die Bezüge auf Freud und Bachelard sind nicht zufällig gewählt. Der junge Jean Piaget ist stark von Freud beeinflusst worden und auch die Philosophie von Gaston Bachelard ist nicht ohne Einfluss auf sein Werk geblieben. Piaget hat sich vermutlich in Zürich und sicher in Genf einer Psychoanalyse unterzogen und sich dann aber früh von der Theorie der Entwicklung des Unbewussten abgegrenzt. Zur zentralen Frage Piagets wird, wie sich die menschliche Erkenntnis entwickelt, so fragt auch Bachelard, wenngleich historisch und nicht, wie Piaget, psychogenetisch.

Der Wissenschaftsphilosoph Bachelard versucht zu verstehen, wie sich die Evolution des Wissens vollzieht, nachdem alle Eckpfeiler des klassischen Systems fraglich geworden sind, nämlich die Newtonsche Mechanik, die Euklidische Geometrie und die Aristotelische Logik. Wissen oder Erkenntnis werden damit dynamisch und haben keine zeitlosen Fundamente, ohne auf der anderen Seite durch unbewusste Kräfte gesteuert zu werden. Piaget fragt, wie sich die menschliche Erkenntnis entwickelt, wenn weder eine Mechanik von Vorstellungen (Herbart) noch eine Triebdynamik (Freud) angenommen werden können.

Piaget, der sich zunächst vor allen Dingen mit biologischen Problemen befasst hat und erst spät zur Psychologie gewechselt ist, geht von einer ähnlichen Situationsbeschreibung wie Bachelard aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass auch die Physik einem grundlegenden Wandel unterzogen wird und dass die antiken Annahmen über Logik und Geometrie nicht länger gehalten werden können. Die Evolutionstheorie Darwins hat gezeigt, dass es kein starres Sein gibt, sondern dass sich alle Formen des Lebens entwickeln unter der Voraussetzung einer biologischen Zeit.

Piagets Werk La représentation du monde chez l’enfant versucht eine ähnliche Veränderung der Erkenntnistheorie. Später ist dieser Schritt als genetische Epistemologie bezeichnet worden. Erkenntnis entwickelt sich aber nicht einfach im Sinne von Wissensinnovation, sondern im Einklang mit dem Wachstum. Piaget interessiert sich für die Art und Weise, wie Kinder in verschiedenen Altern zu Erkenntnissen kommen und sie artikulieren. Anders als bei Kant, beschreibt die Theorie der Erkenntnis nicht einfach den notwendigen Rahmen des Wissens, vielmehr geht es darum, die Genesis der Erkenntnis zu beschreiben, so wie sie Kinder durchlaufen.

Die Entwicklungspsychologie des Kindes ist nicht neu. Bereits im 18. Jahrhundert liegen erste Ansätze vor, die nicht nur, wie die Pädiater, das körperliche Wachstum des Kindes beschreiben, sondern auch von der allmählichen Entwicklung des Geistes ausgehen. Träger dieser Entwicklung ist das Kind, anders als bei Hegel kann sich der Geist nicht selbst entwickeln. In diesem Sinne begründet Piaget nicht die Entwicklungspsychologie, sondern gibt ihr eine radikale Wendung.

Über Phasen der kindlichen Entwicklung ist schon vor Piaget nachgedacht worden. Bekannte Namen wie der von James Mark Baldwin stehen für elaborierte Konzepte, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg vorlagen. Es gibt seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch zunehmend empirische Forschung in der Kinderpsychologie, dabei nicht nur die bekannten statistischen Untersuchungen von Thorndike oder die phänomenologischen Beschreibungen des Kinderspiels von Stanley Hall, sondern auch erste Längsschnittuntersuchungen und nicht zuletzt eine sich schnell entwickelnde Lehr- und Leistungsforschung.

Was macht nun die Besonderheit von La représentation du monde chez l’enfant aus? Piaget hat Zoologie an der Universität von Neuchâtel studiert und im Jahre 1918 eine naturwissenschaftliche Dissertation vorgelegt. Im gleichen Jahr studierte er Psychologie bei Carl Gustav Jung und Paul Eugen Bleuler in Zürich. Ein Jahr später befasste er sich mit Fragen der Psychiatrie in Paris und 1920 arbeitete er mit Théodore Simon im Labor von Alfred Binet in Paris zusammen. Hier hatte er eine glänzende Idee.

Simon und Binet hatten einen Standardtest zur Erfassung der Intelligenz entwickelt. Nunmehr ging es darum, auch Testverfahren für Kinder festzulegen. Die Tests bezogen sich auf bestimmte Altersstufen und maßen Kinder an den Antworten auf vorgegebene Fragen. Die Intelligenz sollte mit der Fehlerquote zu- oder abnehmen. Fehler waren Abweichungen von den korrekten Antworten. Piaget hatte die Intuition, dass damit das Lernen der Kinder aus der Perspektive von erwachsenen Psychologen beschrieben wird, während tatsächlich ganz andere Vorgänge angenommen werden müssen.

Wenn Kinder auf Fragen der Erwachsenen nicht korrekt antworten, stellt sich die Frage, warum sie überhaupt antworten wie sie antworten. Piaget, anders gesagt, interessierte sich für die Logik des Inkorrekten, also das, worüber Erwachsene leicht lachen, wenn sie Äußerungen von Kindern mit dem vergleichen, was in ihrem eigenen Weltbild als korrekt gilt. Im Intelligenztest sind das Retardierungen, für Piaget erschließt sich das Weltbild des Kindes aus dem, was die Kinder sagen, und nicht aus dem, was sie sagen sollen. Bei Piaget wie auch bei Bachelard geht es darum, wie Irrtümer erkannt und genutzt werden, wenn das Denken sie für korrekt hält (Astolfi 1999).

1977 erschienen die »Conversations libres avec Jean Piaget«. Der Filmemacher und Journalist Jean-Claude Bringuier hat insgesamt vierzehn Gespräche mit Piaget geführt, in denen er sich zu allen Aspekten seines Werkes geäußert hat. Im dritten Gespräch bezeichnet Piaget das Kind als Modell für die Entwicklung der Intelligenz (Bringuier 1996: 43–50). Hier wird der Grundgedanke der piagetschen Psychologie wie folgt gefasst:

»Beim zeitgenössischen Menschen gibt es eine gewaltige Anzahl bereits vorhandener Strukturen mit unbekannter Entstehung. Jedes beliebige gesprochene Wort hat eine jahrtausendealte Geschichte hinter sich. Es ist ein kollektiv erarbeitetes Konzept, an dem eine große Anzahl von Generationen mitgewirkt hat. Man hat auf die Art seiner Entstehung keinen Zugriff, man hat es nur mit Endergebnissen zu tun. Aber die genügen mir nicht! Die Geschichte kann man bis zu den Griechen zurückverfolgen und noch weiter … Das Wunderbare bei Kindern ist, daß man immer auf ein Individuum trifft, das bei Null anfängt. Dann kann man sehen, wie die Entwicklung sich vollzieht« (ebd.: 48).

Bringuiers Sammlung trägt auf Deutsch den Titel: »Im Allgemeinen werde ich falsch verstanden.« Der durchaus selbstbewusste Satz bezieht sich auf verschiedene Rezeptionskontexte, in denen Piaget diskutiert wurde, etwa die klassische Ontologie, die philosophische Erkenntnistheorie, die Entwicklung des Geistes und nicht zuletzt die Anwendung von Piagets Einsichten in der Reformpädagogik.

Tatsächlich mutet der Grundgedanke einer Selbstentwicklung der Intelligenz befremdlich an, weil Intelligenz so weder als Anlage noch als Umweltstimulus verstanden werden kann. Das Kind vollzieht auch nicht einfach die Phylogenese nach, die man im Anschluss an Johann Friedrich Herbart und Ernst Haeckel vermutet hat. Entwicklung ist weder einfach Fortschritt noch Wiederholung, Piaget hat vor Augen, dass letztlich immer nur Austauschprozesse zwischen Person und Umwelt beschrieben werden können, für die die beiden berühmten Konzepte der Assimilation und Akkommodation stehen, wobei Piaget in La représentation noch den Begriff der »Nachahmung« verwendet, den Gabriel Tarde geprägt hat.

Die Entwicklungspsychologie vor Piaget nahm dagegen an, dass sich Entwicklungen »im« Geiste vollziehen. Das erklärt zum einen nicht, wie sich der Geist entwickelt, und zum anderen auch nicht, wie der Träger des Geistes, also das neugeborene Kind, sich selbst verändern kann. Bei Baldwin und anderen werden starre Stufen der Entwicklung oder besser der Höherbildung angenommen, die letztlich auf Rousseau zurückgehen. Im Emile konzipiert Rousseau Entwicklungsphasen, die zwischen zwei starren Zeitpunkten ablaufen und keinerlei individuelle Varianz zulassen. Rousseau ist stark beeinflusst von der antiken Naturphilosophie, für ihn gilt also der Satz: »Die Natur macht keine Sprünge.«

Im 19. Jahrhundert setzte sich unter dem Einfluss von Charles Darwin die Evolutionstheorie durch, die die Naturphilosophie überwindet. »Entwicklung« ist nicht mehr festgelegt auf organisches Wachstum. Piaget war kein Darwinist in einem engeren Sinne, er sah also nicht einfach die Veränderung der Arten bedingt durch natürliche Selektion. Aber auch für ihn ist »Entwicklung« bezogen auf Umwelten und kein endogenes Programm. Die Frage ist dann, wie dieses Modell auf die menschliche Entwicklung bezogen werden kann, wenn nicht Arten, sondern Individuen betrachtet werden.

Die Idee, Grundprobleme der Erkenntnis vom Verlauf der Entwicklung aus zu denken, also mit den Kindern zu beginnen und ihre Lernprozesse zu betrachten, geht auf John Locke zurück. Piaget greift aber nicht auf die sensualistische Lehre der Erkenntnisse zurück, sondern er versucht, Rousseaus Grundgedanken zeitgemäß weiterzuentwickeln.

Das geschieht in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit einigen bahnbrechenden Büchern. Unmittelbar vor La représentation du monde chez l’enfant erschienen die zweibändigen Etudes sur la logique de l’enfant, Vol. I: Le langage et la pensée chez l’enfant; Vol. II: Le jugement et le raisonnement chez l’enfant. Neuchâtel und Paris (Delachaux & Niestlé) 1923 und 1924. In der Einleitung zum Buch über das Weltbild des Kindes wird festgehalten, dass in den früheren Studien die Form und das Funktionieren des kindlichen Denkens analysiert wurden, während es nunmehr um die Inhalte gehen sollte (in diesem Band: 22).

Die Repräsentation der Welt im Kind hat zwei wesentliche Aspekte, wie ebenfalls in der Einleitung festgehalten wird. Der erste Problemkreis bezieht sich auf die Wirklichkeit beim Kind und der zweite auf die kindliche Kausalität. »Wirklichkeit« ist für das Kind nicht einfach die wirkliche Welt, die hinter den Annahmen des Erwachsenen steht und die die verschiedenen Wissenschaften (oder genauer: deren jeweiligen Erkenntnisstand) bestimmen. Auch ältere Kinder sind nur begrenzt auf das bezogen, was Wissenschaften beschreiben können. Daher ist die Frage: Auf welchen Wirklichkeitsebenen bewegt sich das kindliche Denken?

Der zweite zentrale Problemkreis bezieht sich auf die Frage, wie Kinder die Begriffe »Ursache« und »Gesetzmäßigkeit« gebrauchen. Das ist vermutlich Piagets größte Entdeckung, denn er geht davon aus, dass Kausalität grundlegend ist für das kindliche Denken und nicht mit dem wissenschaftlichen Weltbild der Erwachsenen kompatibel ist. Mit dem Spracherwerb ist es Kindern möglich, über Ursachen zu reden, nur anders, als die Erwachsenen für korrekt halten. Die Welt könnte gar nicht erfasst werden, wenn es nicht auch Ursachen und Erklärungen im kindlichen Denken gäbe. Genau davon handelt La représentation du monde chez l’enfant.

Die drei großen Teile des Buches entsprechen Entwicklungsphasen, die allerdings nicht wie bei Rousseau starr sind. Im ersten Teil geht es um den kindlichen Realismus. Beschrieben werden frühe Formen des Denkens, der Gebrauch von Namen, Träume und der kindliche Realismus in Anbetracht magischer Praktiken. Der zweite Teil behandelt den kindlichen Animismus, also das den Dingen zugesprochene Bewusstsein, den Begriff »Leben« und das Verhältnis von moralischer Notwendigkeit und physikalischem Determinismus. Im dritten Teil wird dann auf die späteren Stufen der Kausalität eingegangen, also gefragt, wie Kinder den Ursprung der Gestirne, der Gewässer, der Bäume, der Berge oder der Erde sehen. Dieser Teil ist überschrieben mit »Der kindliche Artifizialismus«.

Die einzelnen Konzepte sind nicht neu, »Animismus« etwa stammt aus der Religionssoziologie des 19. Jahrhunderts und Träume von Kindern wurden bereits von Freud behandelt. Neu ist, dass Piaget die Konzepte konsequent mit der Entwicklung des Kindes und seinem Denken oder Weltbild in Verbindung bringt.

Von größter Bedeutung sind Piagets methodische Überlegungen, die auch erklären, warum er oft missverstanden wurde. Hier wird zudem begründet, warum Tests zur Erfassung der Leistungen des Kindes nicht ausreichen. Das wird wie folgt gesagt:

»Die Kinder werden organisierten Prüfungen unterzogen, die zwei Bedingungen genügen müssen. Es wird allen Kindern die gleiche Frage unter gleichen Voraussetzungen gestellt; die Antworten der Kinder werden auf ein Stufenmodell oder eine Skala bezogen, die einen qualitativen Vergleich ermöglicht« (ebd.: 23).

Damit können nicht die unabhängigen Antworten von Kindern erfasst werden und die geistige Orientierung des befragten Kindes droht »verfälscht« zu werden. Will man wirklich wissen, wie die Kinder denken, muss man mit ihnen reden und »auf jeden fixen Fragebogen verzichten« (ebd.: 24). Ausgangspunkt für die Untersuchung des kindlichen Denkens ist die Beobachtung und nicht die vorher festgelegte Befragung. Dabei geht es vor allem um eine erstrangige Quelle, »nämlich das Studium der spontanen Fragen der Kinder« (ebd.: 25).

Tests legen die Antworten auf die vorgegebenen Fragen fest, aber wenn man bestimmte kindliche Erklärungen untersuchen will, muss man von den spontanen Fragen ausgehen. Es sind die Fragen, die die Kinder haben und die sich dann auch mit ihren Erklärungen verbinden. Auf der anderen Seite muss in Rechnung gestellt werden, dass Kinder unter sich anders reden als mit Erwachsenen. In Gesellschaft mit Erwachsenen stellt das Kind wohl pausenlos Fragen, aber gibt keine eigenen Erklärungen, weil antizipiert wird, wie die Erwachsenen reagieren, nämlich mit Unverständnis oder mit Belehrung.

»[Das Kind] schweigt sich über seine eigenen Vorstellungen aus, am Anfang, weil es glaubt, sie seien jedermann bekannt, später aus Scham, weil es fürchtet, sich zu täuschen, aus Angst vor Desillusionierungen. Es schweigt sich insbesondere auch deshalb aus, weil ihm seine Erklärungen, da sie die seinen sind, als die natürlichsten und auch als die einzig möglichen vorkommen« (ebd.: 27).

Bei der näheren Beschreibung des methodischen Vorgehens bezieht sich Piaget auf das Vorbild der klinischen Untersuchung und der Diagnoseerstellung von Psychiatern (ebd.: 28), wie er sie in Zürich und Paris kennengelernt hat.

Die klinische Untersuchung ist in der Hinsicht experimentell, dass der Kliniker Probleme aufwirft, Hypothesen aufstellt, die Bedingungen variiert und schließlich seine Hypothesen überprüft, und zwar an den Reaktionen, die das Gespräch mit den Patienten ausgelöst hat. Die klinische Untersuchung besteht aber auch aus direkter Beobachtung und der Berücksichtigung des jeweils gegebenen geistigen Kontextes. Wo ein reiner Experimentator systematische Fehler sieht, folgt der Kliniker einem Toleranzgebot und verzichtet auf Wertungen.

Aus diesem Grunde wird La représentation du monde chez l’enfant auch als »eine Sammlung klinischer Beobachtungen« bezeichnet (ebd.: 29). Dieses Verfahren verlangt nach einer speziellen Ausbildung. Es sind, so Piaget, »mindestens ein Jahr lang tägliche Übungen notwendig, damit man über die unvermeidlichen Anfangsschwierigkeiten hinauskommt« (ebd.). Piaget alleine hat für das Buch mehr als 600 Beobachtungen aufgezeichnet, hinzukommen die Protokolle und Aufzeichnungen der verschiedenen Mitarbeiter an der Studie. Die Anforderungen an die klinische Methode werden vor dem Hintergrund verstanden, dass es schwierig ist, als Erwachsener ein Kind nicht zu beeinflussen und tatsächlich spontane Äußerungen aufzeichnen zu können.

Die Schwierigkeiten werden ausführlich so gefasst:

»Er muss beobachten, das Kind sprechen lassen können, er darf den Redefluss nicht bremsen, nicht in eine falsche Richtung bringen, und er muss gleichzeitig ein Sensorium dafür haben, etwas Genaues herauszuholen, er muss jederzeit eine Arbeitshypothese, eine Theorie, ob richtig oder falsch, zur Hand haben, die er überprüfen kann. Man muss die klinische Methode anderen beigebracht haben, um ihre wirklichen Schwierigkeiten zu begreifen. Anfänger suggerieren dem Kind, was sie finden möchten, oder aber sie suggerieren überhaupt nicht, weil sie nichts suchen, und dann finden sie auch nichts« (ebd.).

Es geht also um die spontanen Überzeugungen des Kindes, die selten von Erwachsenen wahrgenommen werden, weil ihre eigenen Kausalitäten im Wege stehen. Die klinische Methode, die Piaget Mitte der zwanziger Jahre vor Augen hat, sensibilisiert für die Schwierigkeiten, spontane Überzeugungen festzustellen, was nur möglich ist, wenn der Erwachsene nicht von seinen Vorurteilen geleitet wird. Der Erwachsene hat keine Möglichkeit, an der Kommunikation unter Kindern teilzunehmen, ohne diese zu verfälschen. Er hat auch keine Restkindlichkeit in sich, wie oft in der populären Diskussion angenommen wird. Deswegen stellt die klinische Methode höchste Anforderungen an den Experimentator.

Die Erwartung an die Methode wird am Beispiel so beschrieben:

»Wir werden auch sehen, dass man sechs bis acht Jahre alte Kinder nur fragen muss: ›Was tut die Sonne, wenn du spazieren gehst?‹, damit sie sogleich antworten, die Sonne und der Mond würden ihnen folgen, mit ihnen zusammen spazieren und gleichzeitig mit ihnen stillstehen. Die Konstanz in den Antworten und die Spontaneität beim Erzählen, wo doch die Frage eher vage gestellt wird, lassen mit Sicherheit auf eine spontane Überzeugung schließen, die vor der Frage selbst schon vorhanden gewesen ist« (ebd.: 33).

Piaget belehrt den Leser über die Eigenständigkeit jedes Kindes, das tatsächlich neu auf die Welt kommt und diese sich dann aneignen muss, aber nicht einfach als »Welt«, die nicht übernommen werden kann, weil sie gar nicht zur Verfügung steht. Das Kind lernt in sozialen Situationen und Erfahrungsräumen, die sich nie zur »Welt« erweitern.

Und das wäre dann die eigentliche Pointe des Buches: Das »Weltbild« des Kindes ist keine »Weltanschauung«, sondern eine individuelle Erarbeitung der eigenen Kognitionen. Man kann sie vergessen, aber nicht hinter sie zurückfallen. Deswegen kann von einer genetischen Erkenntnistheorie die Rede sein, die Piaget in seinen späteren Büchern entwickelt hat.

LITERATUR:

Astolfi, Jean Pierre (1999): El »error«. Un medio para sesenar: Gaston Bachelard, Jean Piaget. Sevilla: Diada Editoria (= Investigacion y Ensenanza. Serie Practica, 15).

Bringuier, Jean-Claude (1996): Jean Piaget. Im Allgemeinen werde ich falsch verstanden. Unterhaltungen. Aus den Französischen übers. v. Enrico Heinemann u. Reinhard Tiffert. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe v. May Widmer-Perrenoud. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Laberge, Yves (2005): Jean Piaget, dir., La représentation du monde chez l’enfant. Paris, Presses Universitaire de France (coll. ›Quadrige‹), 2003 (1947), 335 p. In: Laval théologique et philosophique, 61, 2: 412–414.

EINLEITUNG

DIE PROBLEME UND DIE METHODEN

Das Problem, das wir hier untersuchen wollen, ist eines der wichtigsten, aber auch eines der schwierigsten der Kinderpsychologie. Welche Vorstellungen haben die Kinder in den verschiedenen Stadien ihrer intellektuellen Entwicklung spontan von der Welt? Das Problem hat zwei wesentliche Aspekte. Zuerst muss die Frage nach der Modalität des kindlichen Denkens gestellt werden: Auf welchen Wirklichkeitsebenen bewegt sich dieses Denken? Mit anderen Worten, glaubt das Kind, wie wir Erwachsenen, an eine wirkliche Welt, und macht es einen Unterschied zwischen diesem Glauben und den verschiedenen Fiktionen seines Spiels und seiner Einbildungskraft? In welchem Maß unterscheidet das Kind zwischen der äußeren und einer inneren oder subjektiven Welt, wie zieht es eine Grenze zwischen dem Ich und der objektiven Wirklichkeit? Alle diese Fragen bilden einen ersten Problemkreis, den der Wirklichkeit beim Kind.

Eine zweite grundlegende Frage hängt unmittelbar mit dieser ersten zusammen, die der Erklärung beim Kind. Wie gebraucht das Kind die Begriffe »Ursache« und »Gesetzmäßigkeit«? Welche Struktur hat die kindliche Kausalität? Man hat die Erklärung bei Naturvölkern und in den Naturwissenschaften untersucht, man hat sich mit den verschiedenen philosophischen Erklärungstypen befasst. Wartet das Kind mit einem eigenen Erklärungstyp auf? Alle diese Fragen stellen einen zweiten Problemkreis dar, den der kindlichen Kausalität. Mit der Realität und der Kausalität beim Kind setzen wir uns in diesem Buch (und in einer weiteren Publikation über die physikalische Kausalität beim Kind) auseinander. Es geht somit um eine ganz andere Problemstellung als diejenige, die wir in einer bereits publizierten Untersuchung (Piaget 1923 [LP]; 1924 [JR]) erforscht haben. Während wir dort die Form und das Funktionieren des kindlichen Denkens analysiert haben, befassen wir uns hier mit seinem Inhalt. Die beiden Fragenkomplexe hängen eng miteinander zusammen, sie lassen sich aber ohne allzu große Willkür voneinander trennen. Die Form und das Funktionieren des Denkens kann man immer dann aufklären, wenn das Kind mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen in Berührung kommt. Es sind soziale Verhaltensweisen, die von außen beobachtet werden können. Der Inhalt hingegen kann sichtbar werden oder unsichtbar bleiben, je nach Kind und je nach dem Objekt seiner Vorstellung. Er ist ein System von inneren Überzeugungen, die nur mit einer speziellen Technik aufgedeckt werden können. Er ist vor allem ein System von Tendenzen, von geistigen Haltungen, deren sich das Kind selbst nie bewusst geworden ist und von denen es nie gesprochen hat.

Wir kommen deshalb nicht darum herum, uns zuerst und vor allem anderen über die Methoden zu verständigen, die wir bei der Untersuchung solcher kindlicher Überzeugungen anwenden wollen. Damit man die Logik der Kinder beurteilen kann, muss man oft nur mit ihnen sprechen oder man muss sie nur beim Umgang mit anderen Kindern beobachten. Ihre Überzeugungen lassen sich jedoch nur mit einer speziellen Methode beurteilen, die, das sei von Anfang an festgehalten, schwierig und mühsam ist und einen durch mindestens ein oder zwei Jahre Erfahrung geschulten Blick voraussetzt. Psychiater mit klinischer Erfahrung sehen sofort ein weshalb. Um den wahren Wert irgendeiner kindlichen Aussage beurteilen zu können, muss man peinlich genaue Vorsichtsmaßnahmen treffen. Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen möchten wir zuerst einige Worte sagen, denn der Leser, der sie nicht kennt, könnte den Sinn der folgenden Seiten völlig missverstehen und die Versuche, die wir durchgeführt haben, verfälschen, falls er sich, was wir erhoffen, dazu entschließt, sie selbst noch einmal auszuführen und zu überprüfen.

1. Die Testmethode, die reine Beobachtung und die klinische Methode

Eine erste Methode, die man anzuwenden versucht sein könnte, um das zur Diskussion stehende Problem zu lösen, sind die Tests. Die Kinder werden organisierten Prüfungen unterzogen, die zwei Bedingungen genügen müssen. Es wird allen Kindern die gleiche Frage unter gleichen Voraussetzungen gestellt; die Antworten der Kinder werden auf ein Stufenmodell oder eine Skala bezogen, die einen qualitativen Vergleich ermöglicht. Die Methode hat für eine individuelle Diagnose unzweifelhaft Vorteile. Die Statistiken, die man auf diese Weise erhält, geben für die allgemeine Psychologie oft nützliche Aufschlüsse. In Bezug auf die Probleme, mit denen wir uns hier befassen, kann man jedoch den Tests zwei erhebliche Mängel vorwerfen. Eine zureichende Analyse der Ergebnisse ist zunächst nicht möglich. Wenn man dauernd unter identischen Bedingungen arbeitet, erhält man ein Rohergebnis, das für die Praxis interessant sein mag, das aber oft für die Theorie unbrauchbar ist, weil der Kontext nicht ausreicht. Das ist noch nicht sehr schwerwiegend, denn man könnte sich vorstellen, dass sich die Tests durch eine entsprechende geistige Anstrengung so lange abwandeln lassen, bis sie alle Komponenten einer bestimmten psychologischen Haltung aufdecken. Der Hauptmangel des Tests bei den Untersuchungen, mit denen wir uns befassen, besteht jedoch darin, dass die geistige Orientierung des befragten Kindes verfälscht wird oder mindestens verfälscht werden könnte. Wir wollen beispielsweise herausfinden, wie sich das Kind die Bewegung der Gestirne vorstellt. Wir stellen die Frage: »Weshalb bewegt sich die Sonne?« Das Kind wird etwa antworten: »Der liebe Gott stößt sie« oder »Der Wind stößt sie« usw. Das sind zwar Vorstellungen, deren Kenntnis nicht unwesentlich ist, auch wenn sie auf kindliche Fabulierlust zurückzuführen sind, denn Kinder neigen dazu, Mythen zu erfinden, wenn sie durch eine bestimmte Frage in Verlegenheit gebracht werden. Wenn man aber Kinder jeden Alters auf diese Weise getestet hat, ist man immer noch gleich weit wie vorher, denn es ist durchaus möglich, dass sich das Kind diese Frage noch nie in dieser Weise gestellt hat oder dass es sie sich überhaupt noch nie gestellt hat. Es kann durchaus sein, dass sich das Kind die Sonne als ein Lebewesen vorstellt, das sich von selbst bewegt. Mit der Frage: »Weshalb bewegt sich die Sonne?« suggeriert man die Vorstellung eines äußeren Wirkens und provoziert eine Mythenbildung. Mit der Frage: »Wie bewegt sich die Sonne?« suggeriert man möglicherweise im Gegenteil eine Beschäftigung mit dem »Wie«, um das sich das Kind bisher gar nicht gekümmert hatte, und man provoziert neue Mythen: »Die Sonne bewegt sich durch Blasen«, »mit der Wärme«, »sie rollt« usw. Es gibt nur ein Mittel, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, nämlich die Fragen abwandeln, Gegenvorschläge vorbringen, mit einem Wort, auf jeden fixen Fragebogen verzichten.

Bei Geisteskrankheiten stellt sich das Problem genau gleich. Ein Patient mit Dementia praecox kann sich in bestimmten Augenblicken durchaus daran erinnern, wer sein Vater ist, obwohl er üblicherweise seine Abstammung auf berühmtere Vorfahren zurückführt. Das eigentliche Problem ist aber, wie sich ihm die Frage in seinem Geist gestellt hat und ob sie sich gestellt hat. Die Kunst des Klinikers besteht nicht darin, dass er seinen Patienten dazu bringt zu antworten, sondern dass er ihn dazu bringt, frei zu sprechen, dass er die spontanen Tendenzen entdeckt und sie nicht in eine bestimmte Richtung leitet und kanalisiert. Er stellt jedes Symptom in einen geistigen Kontext hinein und abstrahiert nicht von diesem Kontext.

Kurz, Tests sind in verschiedener Hinsicht nützlich. Bei unserem Vorhaben besteht aber die Gefahr, dass sie die Perspektive verzerren, indem sie den kindlichen Geist in eine falsche Richtung lenken. Sie gehen möglicherweise an wesentlichen Fragen, an spontanen Interessen und ganz ursprünglichen Vorstellungen vorbei.

Wir wollen deshalb auf die reine Beobachtung zurückgreifen. Jede Untersuchung des kindlichen Denkens muss von der Beobachtung ausgehen und zur Beobachtung zurückkehren, um die Experimente, die sich vielleicht an ihr inspiriert haben, kritisch zu überprüfen. Bei den Problemen, mit denen sich diese Untersuchung befasst, bietet die Beobachtung eine erstrangige Informationsquelle an, nämlich das Studium der spontanen Fragen der Kinder. Die detaillierte Prüfung des Inhalts dieser Fragen gibt Aufschluss über die Interessen der Kinder auf den verschiedenen Altersstufen, und sie deckt viele Probleme auf, die sich dem Kind stellen, an die wir nie gedacht oder die sich uns nie in dieser Form gestellt hätten. Die Untersuchung der Form solcher Fragen zeigt vor allem auch, auf welche Lösungen die Kinder implizit kommen, denn fast jede Frage enthält in der Art, wie sie gestellt wird, bereits die Antwort. Wenn etwa ein Kind sich fragt: »Wer macht die Sonne?«, kommt darin offenbar die Meinung zum Ausdruck, die Sonne sei auf irgendeine herstellende Aktivität zurückzuführen. Oder wenn ein Kind fragt, weshalb es den Salève1 zweimal, nämlich den großen und den kleinen, das Matterhorn aber nur einmal gebe, scheint das darauf hinzuweisen, dass es glaubt, die Berge seien einem Plan gemäß angeordnet, der jeden Zufall ausschließe.

Damit können wir für unsere Methode eine erste Regel aufstellen. Will man bestimmte kindliche Erklärungen untersuchen, muss man, damit die Arbeit etwas einbringt, von spontanen Fragen ausgehen, die gleich alte oder jüngere Kinder gestellt haben, und für die Fragen, die man den als Prüflingen ausgewählten Kindern stellen will, dieselbe kindgemäße Form wählen. Falls man aus den Ergebnissen einer solchen Untersuchung Schlussfolgerungen ziehen will, muss man insbesondere nach einem Gegenbeweis suchen, indem man diese spontanen Fragen der Kinder studiert. Dabei zeigt sich, ob die Vorstellungen, die man den Kindern zuschreibt, ihren Fragen und der Art, wie sie diese stellen, entsprechen oder nicht.

Nehmen wir ein Beispiel. Wir untersuchen in diesem Buch den kindlichen Animismus. Wir werden sehen, dass Kinder einer bestimmten Altersstufe mit Ja antworten, wenn man sie fragt, ob die Sonne lebendig, mit Wissen, Gefühlen usw. ausgestattet sei. Ist das eine spontane Vorstellung, oder ist das eine Antwort, die durch die Art der Befragung direkt oder indirekt suggeriert wird? Man sucht dann bei den Fragen der Kinder, die man gesammelt hat, ob unter ihnen ein ähnliches Phänomen anzutreffen sei, und stößt beispielsweise auf ein sechseinhalb Jahre altes Kind, DEL (siehe LP, Kapitel I, Abschnitt 8), das, als es eine Kugel in Richtung der Beobachterin rollen sah, spontan gefragt hat: »Weiß sie, dass Sie dort sind?« Man bemerkt auch, dass DEL oft danach gefragt hat, wann ein Gegenstand, beispielsweise ein Blatt, tot oder lebendig sei. Auf die Antwort, verwelkte Blätter seien wirklich tot, hat DEL entgegnet: »Aber sie bewegen sich im Wind!« (Ebd., Abschnitt 8.) Es gibt somit Kinder, die durch die Art, wie sie ihre Fragen stellen, das Leben und die Bewegung innerlich zu verarbeiten scheinen. Diese Tatsachen zeigen, dass eine auf eine bestimmte Weise durchgeführte Befragung über den Animismus (beispielsweise Fragen, wie DEL sie stellt, ob ein bewegter Körper »wisse«, dass er sich bewegt) nichts Unnatürliches ist und dass die innerliche Verarbeitung des Lebens und der Bewegung ein spontanes Anliegen des Kindes ist.

Man ersieht daraus, dass eine direkte Beobachtung notwendig ist, man sieht aber auch, welche Hindernisse und Grenzen einer solchen Methode gesetzt sind. Die Methode der reinen Beobachtung ist aufwendig, die Qualität der Ergebnisse scheint auf Kosten der Quantität zu gehen (man kann nicht viele Kinder unter gleichen Bedingungen beobachten), sie scheint auch etliche systematische Mängel aufzuweisen, von denen die beiden wichtigsten erwähnt seien. Ein ernsthaftes Hindernis für denjenigen, der das Kind durch reine Beobachtung kennenlernen will, ohne ihm irgendwelche Fragen zu stellen, ist zunächst einmal die intellektuelle Egozentrik des Kindes. Wir haben an anderer Stelle (LP, Kapitel I–III) zu zeigen versucht, dass das Kind nicht spontan versucht oder dass es ihm nicht spontan gelingt, sein ganzes Denken mitzuteilen. Es befindet sich in Gesellschaft anderer Kinder; das ganze Gespräch dreht sich um die unmittelbaren Aktionen und das Spiel, es geht nicht auf diesen wesentlichen Teil des Denkens ein, der von der Aktion abgelöst ist und sich im Kontakt mit der Aktivität der Erwachsenen oder mit der Natur entwickelt. Die Vorstellung der Welt und die physikalische Kausalität scheinen von daher für das Kind völlig bedeutungslos zu sein. Es sei denn das Kind befindet sich in Gesellschaft der Erwachsenen. Dann stellt es pausenlos Fragen, ohne eigene Erklärungen dafür zu geben. Es schweigt sich über seine eigenen Vorstellungen aus, am Anfang weil es glaubt, sie seien jedermann bekannt, später aus Scham, weil es fürchtet, sich zu täuschen, aus Angst vor Desillusionierungen. Es schweigt sich insbesondere auch deshalb aus, weil ihm seine Erklärungen, da sie die seinen sind, als die natürlichsten und auch als die einzig möglichen vorkommen. Was in Worten formuliert werden könnte, bleibt somit üblicherweise implizit, weil das Denken des Kindes noch nicht so umfassend sozialisiert ist wie unser Denken. Von solchen formulierbaren, zumindest dank der inneren Sprache formulierbaren, Gedanken abgesehen: Wie viel unformulierbares Denken entzieht sich unserem Zugriff, wenn wir uns darauf beschränken, das Kind zu beobachten, ohne mit ihm zu sprechen? Mit unformulierbarem Denken meinen wir die geistigen Haltungen, die synkretistischen, visuellen oder motorischen Schemata, alle diese Vorverbindungen, von denen man spürt, dass es sie gibt, sobald man mit dem Kind spricht. Man muss vor allem diese Vorverbindungen kennenlernen, und zu ihrer Aufspürung sind spezielle Methoden notwendig. Der zweite systematische Mangel der reinen Beobachtung ist darauf zurückzuführen, dass man beim Kind kaum zwischen Spiel und Überzeugung unterscheiden kann. Ein Kind, das allein zu sein glaubt, sagt etwa zu einer Dampfwalze: »Hast du die großen Steine richtig zerdrückt?« Spielt es, oder personifiziert es wirklich die Maschine? Man kann das in einem solchen Fall unmöglich entscheiden, weil es ein besonderer Fall ist. Die reine Beobachtung kann nicht zwischen Überzeugung und Fabulieren unterscheiden. Es gibt, wie wir noch sehen werden, ein einziges Kriterium, nämlich möglichst viele Informationen und einen Vergleich zwischen den individuellen Reaktionen.

Man muss deshalb unbedingt über die Methode der reinen Beobachtung hinausgehen und, ohne die Mängel der Tests in Kauf zu nehmen, die wichtigsten Vorteile des Experimentierens ausnützen. Wir wenden dazu eine dritte Methode an, die die positiven Elemente des Tests und der direkten Beobachtung vereinigt und ihre jeweiligen Mängel vermeidet: die Methode der klinischen Untersuchung, die der Psychiater bei der Diagnosestellung verwendet. Man kann zum Beispiel bestimmte Formen von Paranoia während Monaten beobachten, ohne je dem Größenwahn auf die Spur zu kommen, den man dennoch bei jeder seltsamen Reaktion spürt. Andererseits hat man keine differentialdiagnostischen Tests für die verschiedenen Krankheitssyndrome. Doch der Kliniker kann gleichzeitig: 1. mit dem Kranken sprechen, ihm bei seinen Antworten folgen, um sich nichts von dem entgehen zu lassen, was an Wahnvorstellungen sichtbar werden könnte; 2. den Kranken mit aller Vorsicht und Zurückhaltung auf die kritischen Bereiche hinlenken (seine Herkunft, seine Nationalität, seine militärischen und politischen Aspirationen, seine Fähigkeiten, sein mystisches Leben usw.), ohne dass er selbstverständlich weiß, wo er der Wahnvorstellung tatsächlich auf die Spur kommen wird, aber indem er das Gespräch immer in einem Aufschlüsse verheißenden Bereich führt. Die klinische Untersuchung ist somit experimentell, insofern der Kliniker Probleme aufwirft, Hypothesen aufstellt, die Bedingungen variiert und schließlich seine Hypothesen an den durch das Gespräch ausgelösten Reaktionen überprüft. Die klinische Untersuchung besteht aber auch aus direkter Beobachtung, insofern der gute Kliniker sich selbst lenken lässt, indem er lenkt, und den ganzen geistigen Kontext berücksichtigt, anstatt »systematischen Fehlern« zum Opfer zu fallen, was beim reinen Experimentator so oft der Fall ist.

Da die klinische Methode in einem Bereich, wo ohne sie alles nur Unordnung und Verwirrung wäre, große Dienste geleistet hat, würde sich die Psychologie des Kindes einen schlechten Dienst erweisen, wenn sie auf dieses Werkzeug verzichten wollte. Es gibt a priori keinerlei Grund, weshalb man nicht einem Kind dort Fragen stellen sollte, wo die reine Beobachtung der Forschung nicht weiterhelfen kann. Was man auch über die Mythomanie und die Beeinflussbarkeit des Kindes sagen mag, und welche systematischen Irrtümer sich auch daraus ergeben können, das alles kann den Psychologen nicht davon abbringen, Fragen zu stellen. Aber er muss selbstverständlich durch die klinische Methode den Anteil der Beeinflussbarkeit und des Fabulierens an den vom Kind gegebenen Antworten feststellen.

Wir brauchen hier keine Beispiele zu zitieren, weil dieses Buch von seiner Absicht her eine Sammlung klinischer Beobachtungen darstellt. Umständehalber müssen wir zwar unsere Fälle schematisieren, nicht indem wir sie zusammenfassen (was eine Verfälschung wäre), sondern indem wir aus den Gesprächsprotokollen nur die für uns direkt interessanten Stellen herausgreifen. Von den Notizen, die für einzelne Fälle mehrere Seiten lang sind, werden nur wenige Zeilen wiedergegeben. Wir halten es jedoch für unnötig, ein vollständiges Beispiel einer solchen Befragung zu publizieren, denn die klinische Methode kann nur durch lange Praxis gelernt werden. In der Kinderpsychologie wie in der pathologischen Psychologie sind mindestens ein Jahr lang tägliche Übungen notwendig, damit man über die unvermeidlichen Anfangsschwierigkeiten hinauskommt. Schwierig ist es vor allem, selbst nicht zu viel zu reden, wenn man einem Kind Fragen stellt, insbesondere für einen Pädagogen! Und schwierig ist es, das Kind nicht zu beeinflussen! Schwierig ist es vor allem auch, den Mittelweg zwischen einer Systematisierung, die auf vorgefasste Ideen zurückzuführen wäre, und einer Inkohärenz, die auf das Fehlen jeder Leithypothese zurückginge, zu finden! Ein guter Experimentator muss zwei oft unverträgliche Eigenschaften in sich vereinigen. Er muss beobachten, das Kind sprechen lassen können, er darf den Redefluss nicht bremsen, nicht in eine falsche Richtung bringen, und er muss gleichzeitig ein Sensorium dafür haben, etwas Genaues herauszuholen, er muss jederzeit eine Arbeitshypothese, eine Theorie, ob richtig oder falsch, zur Hand haben, die er überprüfen kann. Man muss die klinische Methode anderen beigebracht haben, um ihre wirklichen Schwierigkeiten zu begreifen. Anfänger suggerieren dem Kind, was sie finden möchten, oder aber sie suggerieren überhaupt nicht, weil sie nichts suchen, und dann finden sie auch nichts.

Die Dinge sind nicht so einfach, und man muss das gesammelte Material kritisch begutachten. Die Unsicherheiten der Befragungsmethode müssen in der Psychologie durch eine mit wachem Geist vorgenommene, scharfsinnige Interpretation ausgeglichen werden. Doch auch hier steht der Anfänger wieder zwei entgegengesetzten Gefahren gegenüber: dass er all dem, was das Kind sagt, entweder einen höchsten oder dann einen sehr geringen Wert beimisst. Die großen Feinde der klinischen Methode sind jene, die jede Antwort des Kindes für bare Münze nehmen, aber auch jene, die jedem Ergebnis einer Befragung von vornherein mit größter Skepsis begegnen. Die Ersteren sind die gefährlicheren, aber beide erliegen dem gleichen Irrtum. Sie nehmen an, dass all das, was ein Kind während des viertel-, halb- oder dreiviertelstündigen Gesprächs, das man mit ihm führt, sagt, auf ein und derselben Bewusstseinsebene einzustufen sei, der Ebene einer reflektierten Überzeugung oder der Ebene der reinen Fabulierlust. Das Wesen der klinischen Methode besteht jedoch eben gerade darin, dass sie das gute Korn von der Spreu sondert und jede Antwort in ihrem geistigen Kontext sieht. Nun gibt es aber einen Kontext der Überlegung, des blinden Glaubens, des Spiels oder des Nachplapperns, einen Kontext des Sichbemühens und des Interesses oder der Ermüdung. Und vor allem gibt es bei den Prüfungen Kinder, denen man sofort Vertrauen entgegenbringt, bei denen man sieht, wie sie nachdenken und suchen, aber auch solche, bei denen man spürt, dass sie sich über den Fragesteller nur lustig machen und dass sie ihm nicht einmal zuhören.

Wir können uns hier unmöglich über die Regeln auslassen, die einer solchen Diagnose der individuellen Reaktionen zugrunde liegen. Das ist eine Sache der Erfahrung, der Praxis. Um jedoch zu zeigen, nach welchen Grundsätzen wir die folgenden Beobachtungen aus allen vorliegenden Protokollen (wir haben für dieses Buch persönlich mehr als 600 Beobachtungen aufgezeichnet, und unsere Mitarbeiter haben ihrerseits zahlreiche Kinder in vielen Einzelpunkten untersucht) ausgewählt haben, müssen wir versuchen, die verschiedenen Antworten, die man erhalten kann, nach einigen typischen Kategorien zu klassifizieren. Diese Typen sind von sehr ungleichem Wert, man muss ein klares Schema dieser Klassifikation vor Augen haben, damit man die Interpretationen mit der nötigen Sorgfalt gegeneinander abstufen kann.

2. Die bei der klinischen Untersuchung beobachtbaren fünf Reaktionstypen

Wenn die gestellte Frage das Kind langweilt oder ganz allgemein bei ihm kein Bemühen um ein Verständnis auslöst, antwortet es irgendetwas und irgendwie, ohne dass es auch nur versucht, sich über den Fragesteller lustig zu machen oder ihm eine rasch erfundene Geschichte aufzutischen. Wir bezeichnen diese Reaktion mit einem bequemen, wenn auch etwas barbarischen Ausdruck, der von Binet und Simon geprägt wurde, als Mir-ist-es-Wurstismus2. Wenn das Kind, ohne sich etwas dabei zu überlegen, mit einer selbst erfundenen Geschichte, an die es nicht oder nur rein verbal glaubt, auf die Frage antwortet, nennen wir das Fabulieren. Wenn sich das Kind Mühe gibt, auf die Frage zu antworten, die Frage aber suggestiv ist oder das Kind ganz einfach versucht, den Fragesteller zufrieden zu stellen, ohne sein eigenes Denken zu bemühen, sprechen wir von einer suggerierten Überzeugung3. Wir zählen dazu auch das trotzige Beharren, falls dieses darauf zurückzuführen ist, dass die Fragen als suggestive Folgen gestellt werden. In anderen Fällen ist diese Perseveration eine Form des »Mir-ist-es-Wurstismus«. Wenn das Kind mit Überlegung antwortet und seine Antwort aus sich selbst herausholt, ohne dass sie ihm suggeriert wurde, wenn aber die Frage neu für es ist, sprechen wir von ausgelöster Überzeugung. Diese ausgelöste Überzeugung wird durch die Befragung unweigerlich beeinflusst, denn die Art, wie die Frage gestellt und dem Kind vorgelegt wird, zwingt es, in eine bestimmte Richtung zu denken und sein Wissen auf eine bestimmte Weise zu systematisieren; sie ist aber umgekehrt auch eine Eigenleistung des kindlichen Denkens, denn weder der Gedankengang, den das Kind anstellt, um auf die Frage zu antworten, noch die Gesamtheit der vorhandenen Kenntnisse, die das Kind während seines Überlegens benützt, sind direkt vom Experimentator beeinflusst. Die ausgelöste Überzeugung ist somit weder im eigentlichen Sinne spontan noch im eigentlichen Sinne suggeriert. Sie ist das Ergebnis eines Denkens auf Befehl, aber vom eigenen »Rohmaterial« her (Kenntnisse des Kindes, Vorstellungsbilder, motorische Schemata, synkretistische Vorverbindungen usw.) und mit eigenen logischen Werkzeugen (Denkstruktur, geistige Haltung, intellektuelle Gewohnheiten usw.). Wenn das Kind schließlich nicht nachdenken muss, bevor es auf die Frage antwortet, sondern eine fix und fertige, weil bereits formulierte oder formulierbare Antwort geben kann, ist das eine spontane Überzeugung. Eine spontane Überzeugung ist somit dann gegeben, wenn die Frage für das Kind nicht neu ist und wenn die Antwort sich aus einer eigenen früheren Überlegung ergibt. Wir zählen selbstverständlich Antworten, die durch vor der Befragung erhaltenen Unterricht beeinflusst sind, nicht zu diesem Reaktionstyp, wie übrigens auch zu keinem der anderen. Es ist ein ganz anderes und natürlich sehr komplexes Problem, wie man bei den Antworten auseinanderhalten soll, was vom Kind stammt und was von Erwachsenen aus seiner Umwelt herrührt. Wir kommen später auf diese Frage zurück. Zuerst wollen wir die beschriebenen fünf Reaktionstypen, angefangen beim letzten, etwas klarer gegeneinander abgrenzen.

Dass man bei der klinischen Untersuchung spontane Überzeugungen des Kindes aufdecken kann, dass man sie vom Kind selbst entwickeln lassen kann, ist unbestreitbar. Solche Überzeugungen sind selten, das heißt, es ist sehr schwierig, ihnen auf die Spur zu kommen, aber es gibt sie. Wir werden zum Beispiel sehen, dass (durchschnittlich) acht Jahre alte Knaben imstande sind, den Mechanismus eines Fahrrades verbal richtig zu erklären und vollständig zu zeichnen. Ein solches Resultat und die Tatsache, dass die individuellen Antworten etwa gleichzeitig richtig werden, lassen offensichtlich darauf schließen, dass Fahrräder vor der Befragung beobachtet und durchdacht worden sind, auch wenn wir nie eine Frage von Kindern zu irgendeiner Einzelheit des Fahrradmechanismus notiert haben. Wir werden auch sehen, dass man sechs bis acht Jahre alte Kinder nur fragen muss: »Was tut die Sonne, wenn du spazieren gehst?«, damit sie sogleich antworten, die Sonne und der Mond würden ihnen folgen, mit ihnen zusammen spazieren und gleichzeitig mit ihnen stillstehen. Die Konstanz in den Antworten und die Spontaneität beim Erzählen, wo doch die Frage eher vage gestellt wird, lassen mit Sicherheit auf eine spontane Überzeugung schließen, die vor der Frage selbst schon vorhanden gewesen ist.

Der Leser wird kaum infrage stellen, dass es spontane Überzeugungen gibt, er wird aber vor allem die Abgrenzung zwischen spontanen und ausgelösten Überzeugungen fragwürdig finden. Man hat tatsächlich ständig den Eindruck, man stelle den Kindern Fragen, an die sie überhaupt nie gedacht hätten, und dennoch sind die Antworten so unerwartet und so originell, dass alles auf eine frühere Überlegung hindeutet. Wo ist die Grenze zu ziehen? Wir fragen beispielsweise Kinder: »Woher kommt die Nacht?« Wenn man die Frage in dieser Form stellt, wird nichts suggeriert. Das Kind zögert, weicht der Frage aus und antwortet schließlich, es seien große schwarze Wolken, die die Nacht bewirken. Eine spontane Überzeugung? Oder greift das Kind, weil es sich die Frage noch nie gestellt hat, für seine Antwort auf die einfachste, für seine Vorstellungskraft ökonomischste Hypothese zurück? Über beide Interpretationen lässt sich diskutieren. Mehr noch, beide sind wahrscheinlich richtig. Man stößt nämlich auf Kinder, die auf die Frage, weshalb die Wolken sich bewegen, antworten: »Damit es Nacht wird.« In einem solchen Fall ist die Erklärung der Nacht durch die Wolken eindeutig spontan. In anderen Fällen erhält man den Eindruck, das Kind habe seine Erklärung im gleichen Augenblick erfunden. Bei diesem Beispiel fallen spontane und ausgelöste Überzeugungen interessanterweise zusammen, aber sie haben im Allgemeinen, und das gilt auch in diesem speziellen Fall, für den Psychologen nicht denselben Wert.

Dass man die Kinder fragt, ob sie über die Frage, die man ihnen stellt, schon einmal nachgedacht hätten, ist selbstverständlich völlig unnütz. Sie wissen es nicht, weil die Erinnerung und die Introspektion noch fehlen.

Dass man aber in jedem einzelnen Fall spontane und ausgelöste Überzeugungen auseinanderhalten kann, ist alles in allem von nicht so entscheidender Bedeutung. Auch das Studium der ausgelösten Überzeugungen an sich ist höchst aufschlussreich. Wir wollen diesen Punkt ausdrücklich betonen, denn er ist für unser Vorhaben bedeutungsvoll. Es ist ein Faktum, das jedes theoretische Argument verblassen lässt: dass nämlich die ausgelösten Überzeugungen ebenso einheitlich wie die spontanen Überzeugungen sein können. Wir haben uns zum Beispiel dieses kleine Experiment ausgedacht: Man wirft vor den Augen des Kindes einen Kieselstein in ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas und fragt das Kind, weshalb das Wasser höher steige. Die Antworten, die man erhält, gehören natürlich, mindestens in den meisten Fällen, zu den ausgelösten Überzeugungen, insofern das Kind in der Regel nicht im Voraus wusste, dass der Wasserstand nach dem Eintauchen des Kiesels steigen würde. Aber alle jüngeren Kinder (unter neun Jahren) erklären, das Wasser steige, weil der Stein »schwer« sei, und der weitere Verlauf des Experiments zeigt deutlich, dass sie nicht an das Volumen, sondern nur an das Gewicht des untergetauchten Körpers denken. Das ist somit eine Lösung, die im gleichen Augenblick gefunden wurde, die aber dennoch bei allen Kindern bemerkenswert einheitlich ausfällt. Dieses Buch wird noch viele andere Beispiele für diese Einheitlichkeit der ausgelösten Überzeugungen liefern. Auch wenn eine Lösung während des Experiments selbst gefunden wird, wird sie dennoch nicht aus nichts gefunden. Sie setzt bereits ausgebildete Schemata, eine bestimmte geistige Ausrichtung, intellektuelle Gewohnheiten usw. voraus. Eine einzige Regel ist wirklich entscheidend, nämlich nichts zu suggerieren, also nicht durch die Fragestellung eine spezielle Antwort unter allen möglichen Antworten aufzudrängen. Falls es freilich gelingt, zwischen ausgelöster und suggerierter Überzeugung zu unterscheiden, lohnen die ausgelösten Überzeugungen eine vertiefte Untersuchung, denn in ihnen äußert sich zumindest die geistige Haltung des Kindes. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein Kind hat uns gefragt: »Wer macht die Sonne?« Wir haben die Frage übernommen und vielen anderen Kindern in einer nicht suggestiven Form gestellt: »Wie hat die Sonne begonnen?« Alle jüngeren Kinder antworten, die Menschen hätten sie gemacht. Nehmen wir an, das sei eine einfache Eingebung des Augenblicks und diese Kinder hätten noch nie an diese Frage gedacht. Doch es ist eine Lösung, die das Kind einerseits gefunden und anderen Lösungen vorgezogen hat und die es andererseits auch unter dem Druck unserer Gegenvorschläge nicht aufgibt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist somit diese Antwort des Kindes, die in der Sonne ein Artefakt sieht, auch wenn sie ausgelöst ist, auf einen latenten Artifizialismus, auf eine artifizialistische geistige Ausrichtung zurückzuführen. Dafür ist natürlich noch der Beweis zu liefern, aber die Problemstellung selbst bietet keine Schwierigkeiten. Andererseits verzichtet das Kind im weiteren Verlauf der Befragung trotz unserer Bemühungen nicht auf seine Hypothese. Das ist ein zweites Anzeichen, nämlich dafür, dass es kaum gegen diese artifizialistische Haltung gerichtete Bestrebungen gibt. Sonst wäre das Kind leicht von seiner Überzeugung abzubringen oder auf andere Vorstellungen zu bringen. Eine Untersuchung der ausgelösten Überzeugungen ist folglich durchaus berechtigt. Die Methode besteht darin, dass man das Kind über alles befragt, was es umgibt. Nach unserer Hypothese sagt die Art, wie das Kind die Lösung findet, etwas über seine spontane geistige Haltung aus. Damit diese Methode zu einem Ergebnis führt, muss sie selbstverständlich streng geregelt werden, und zwar sowohl in Bezug auf die Fragestellung als auch in Bezug auf die Interpretation der Antworten, die man auf die Fragen erhält. Mit diesen Regeln werden wir uns sogleich noch befassen.

Die Abgrenzung zwischen ausgelösten und spontanen Überzeugungen ist also nicht so bedeutungsvoll, aber zwischen den ausgelösten und den suggerierten Überzeugungen muss umgekehrt deutlich unterschieden werden. Man darf nicht meinen, das Suggerieren lasse sich leicht vermeiden. Eine lange Lehrzeit ist nötig, bis man die vielen möglichen Formen des Suggerierens erkennen und vermeiden kann. Zwei Spielarten sind besonders gefährlich, die Suggestion durch das Wort und die Suggestion durch die Perseveration.

Die Suggestion durch das Wort ist insgesamt leicht zu umschreiben, im Einzelnen aber sehr schwierig zu erkennen. Es gibt nur ein Mittel, sie zu vermeiden, nämlich die kindliche Sprache erlernen und die Fragen in dieser Sprache formulieren. Am Anfang jeder neuen Untersuchung muss man deshalb allein die Kinder sprechen lassen, damit man sich ein Vokabular zusammenstellen kann, das ohne jede Suggestion auskommt. Man kann sonst unmöglich die Folgen voraussehen, die ein scheinbar harmloser Ausdruck haben kann. Die Wörter »vorwärts gehen« (avancer), »marschieren« (marcher) und »sich bewegen« (bouger) zum Beispiel sind für das Kind keineswegs Synonyme. Die Sonne »geht vorwärts«, von ihr wird nie gesagt, »sie bewegt sich«. Wenn man ein solches Wort, das das Kind nicht erwartet, unvorsichtigerweise gebraucht, besteht die Gefahr, dass man durch reine Suggestion animistische oder anthropomorphistische Reaktionen auslöst, die man dann für spontan hält.

Die Suggestion durch hartnäckiges Beharren ist noch schwieriger zu vermeiden, denn schon nur eine Fortsetzung des Gesprächs nach der ersten Antwort ermuntert das Kind dazu, am einmal gewählten Weg hartnäckig festzuhalten. Jede Befragung, die aus einer Reihe von aufeinander folgenden Fragen besteht, löst ein solches Beharren aus. Wenn man zum Beispiel das Kind fragt, ob ein Fisch, ein Vogel, die Sonne, der Mond, die Wolken, der Wind usw. lebendig seien, bringt man es allein dadurch dazu, Ja oder Nein zu sagen, durch bloße Gewöhnung. In einem solchen Fall sind die Antworten natürlich »suggeriert« und nicht »ausgelöst«, so wie wir diesen Begriff verwendet haben.

Die suggerierte Überzeugung ist für den Psychologen völlig wertlos. Während die ausgelöste Überzeugung geistige Gewohnheiten sichtbar macht, die vor der Befragung ausgebildet worden sind, auch wenn sie erst unter dem Einfluss der Befragung systematisiert werden, enthüllt die suggerierte Überzeugung nichts anderes als die Beeinflussbarkeit des Kindes, die nichts mit seiner Vorstellung von der Welt zu schaffen hat.

Man möchte das Fabulieren mit derselben Eindeutigkeit ausschließen können, doch das ist eine der schwierigsten Fragen, die sich im Zusammenhang mit der klinischen Untersuchung des Kindes stellt. Wenn man Kinder, vor allem solche unter sieben bis acht Jahren, befragt, kommt es oft vor, dass sie zwar ein recht aufrichtiges und ernsthaftes Gesicht zeigen, sich in Wirklichkeit aber über die Frage lustig machen und eine Lösung erfinden, die ihnen ganz einfach gefällt.

Diese Lösung ist offensichtlich nicht suggeriert, da sie völlig frei gefunden wird und unvorhersehbar ist, aber sie gehört auch nicht zu den ausgelösten Überzeugungen, weil sie einfach gar keine Überzeugung ist. Das Kind spielt nur, und falls es sogar einmal an das glaubt, was es sagt, geschieht das nur durch Gewöhnung, oder es glaubt daran, so wie es an seine Spiele glaubt, weil es einfach glauben will. Die genaue Bedeutung dieses Fabulierens ist nicht einfach zu umschreiben. Drei Lösungen sind möglich. Man kann das Fabulieren zu dem zählen, was man beim normalen Erwachsenen »bluffen« nennen könnte. Das Kind fabuliert, um sich über den Psychologen zu mokieren und um vor allem nicht über eine Frage nachdenken zu müssen, die es langweilt und ermüdet. Diese Interpretation dürfte in der Regel für alle jene Kinder, es sind übrigens nicht viele Fälle, gelten, die älter als acht Jahre sind und dieses Verhalten zeigen. Bei den jüngeren Kindern erklärt sie aber nicht alles, und deshalb sind noch zwei andere Lösungen möglich.

Nach der zweiten Lösung wäre das Fabulieren mit der Mythomanie der Hysteriker vergleichbar. Das Kind würde dann nicht so sehr fabulieren, um sich über seine Befrager lustig zu machen, sondern weil dies eines seiner Denkverfahren wäre, und zwar im Falle von als störend empfundenen Fragen das bequemste Verfahren. Nach dieser zweiten Lösung würde somit das Kind zum Teil sich selbst düpieren, es würde jedenfalls gewissermaßen sich selbst etwas vormachen, auch wenn es über Fragen nachdenkt, die es sich ganz allein stellt. Das gilt zweifellos für viele jüngere Kinder um vier bis fünf Jahre. Bekannt sind die vielen rhetorischen Fragen, die solche Kinder laut sich selbst stellen und auf die sie sofort selbst eine Antwort geben. Nagy (1907) zitiert diese Frage: »Warum haben die Bären vier Pfoten?«, auf die das Kind sogleich von selbst antwortet: »Weil sie böse gewesen sind und der liebe Gott sie bestraft hat.« Also ein reiner Monolog und dennoch ein Fabulieren.

So gesehen hat das Fabulieren eine gewisse Bedeutung. Es zeigt, auf welche Lösungen das Kind von selbst kommt, wenn es keine besseren finden kann. Das ist zwar ein negatives Anzeichen, das man jedoch kennen muss. In diesem Sinne werden wir im vorliegenden Buch bisweilen fabulierende Antworten von jüngeren Kindern zwischen vier und sechs Jahren zitieren. Man muss sich selbstverständlich davor hüten, aus solchen Fakten etwas anderes als negative Anzeichen abzuleiten. Das Studium des Fabulierens ist deshalb lange nicht so »ergiebig« wie die Untersuchung der ausgelösten Überzeugungen.

Eine dritte Lösung würde besagen, dass das Fabulieren Überbleibsel früherer Überzeugungen oder, ganz selten freilich, Ansätze zu künftigen Überzeugungen enthalten kann. Wenn wir eine frühere Überzeugung aufgeben, aber nicht durch einen plötzlichen Stimmungswechsel, kommt es vor, dass wir mit ihr noch spielen, dass wir noch eine gewisse Sympathie für sie empfinden, ohne aber an sie zu glauben. Das kindliche Fabulieren spielt, relativ gesehen, bisweilen eine analoge Rolle. Im Zusammenhang mit dem Artifizialismus (Kapitel I, Abschnitt 4) werden wir den halbwegs fabulierten Mythos eines geistig Debilen kennenlernen, der seine Eltern an den Ursprung der Welt stellt. In diesem Mythos lebt noch etwas vom Glauben des Kleinkindes an die Allmacht der Erwachsenen fort.

Man ersieht daraus, wie komplex die Frage ist. Wir stehen noch am Anfang dieser Untersuchungen und wollen uns vor irgendwelchen Vorurteilen über die Natur des Fabulierens in Acht nehmen. Es kann recht interessant sein, insofern es beim Kind nicht im gleichen Verhältnis zur Überzeugung im eigentlichen Sinne des Wortes steht wie bei uns. Es ist somit ein Untersuchungsobjekt. Man muss es jedoch, gleichgültig welchen Zweck diese Untersuchung verfolgt, sorgfältig von den ausgelösten Überzeugungen unterscheiden. Im folgenden Paragraphen wollen wir deshalb versuchen, gewisse Kriterien dafür zu entwickeln.

Noch ein Wort zum Mir-ist-es-Wurstismus. Wenn man einen Debilen oder ein zu kleines Kind fragt: »Was gibt 3 und 3?«, erhält man eine völlig zufällige Antwort: 4 oder 10 oder 100. Ein Kind bringt es selten fertig zu schweigen, und erfindet deshalb lieber eine Antwort, als nichts zu sagen. Das ist kein Fabulieren, denn das Erfinden geschieht völlig unsystematisch, und von irgendeinem Interesse an der Frage ist nichts zu merken. Das Kind fabuliert, wenn es sich lustig macht; der »Mir-ist-es-Wurstismus« erwächst aus der Langeweile. Von diesem Inventar der verschiedenen möglichen Antworttypen wollen wir Folgendes festhalten. Die spontanen Überzeugungen, als schon vor der Befragung vorhandene, sind die interessantesten. Die ausgelösten Überzeugungen sind insofern aufschlussreich, als sich in ihnen die geistige Ausrichtung des Kindes erkennen lässt. Das Fabulieren kann gewisse Hinweise, vor allem negative, geben, falls man diese mit der angemessenen Vorsicht interpretiert. Die suggerierten Überzeugungen und der Mir-ist-es-Wurstismus sind grundsätzlich auszuschließen. Die ersteren enthüllen nur das, was der Experimentator vom Kind hatte hören wollen, der Letztere zeigt nur, dass das untersuchte Kind die Frage nicht begriffen hat.

3. Regeln und Kriterien für eine Diagnose der erwähnten Reaktionstypen

Wir wissen jetzt, was wir suchen wollen. Wir müssen jetzt noch versuchen, einige Regeln aufzustellen, mit denen sich die interessanten Antworten ausscheiden lassen. Wir wollen uns mit anderen Worten über die praktischen Mittel verständigen, durch die sich die im letzten Paragraphen in abstracto beschriebenen fünf Reaktionstypen auseinanderhalten lassen.

Woran soll man als Erstes die suggerierte Überzeugung und den Mir-ist-es-Wurstismus erkennen? Die suggerierte Überzeugung ist grundsätzlich momentan. Ein Gegenvorschlag, der nicht sogleich, sondern mit einem gewissen Verzug vorgebracht wird, reicht bereits aus, um sie ins Wanken zu bringen. Manchmal muss man das Kind nur weiterreden lassen und ihm nach einiger Zeit dieselben Fragen indirekt noch einmal stellen. Die suggerierte Überzeugung ist ein Parasit im Denken des Kindes; dieses versucht deshalb von selbst, diesen Fremdkörper wieder loszuwerden.

Doch dieses erste Kriterium reicht nicht aus. Es gibt besonders leicht beeinflussbare Kinder, die rasch ihre Meinung zu allem und jedem ändern, ohne dass man jedoch diese schwankende Grundhaltung umgekehrt als eindeutiges Kriterium verwenden könnte. Es gibt nur eine Methode, nämlich die Befragung zu vertiefen. Die suggerierten Überzeugungen haben die Eigenart, dass sie keinen Zusammenhang mit den anderen Überzeugungen des Kindes haben und dass es keine Analogien zu den Überzeugungen von Kindern der gleichen Altersstufe und aus demselben Milieu gibt. Daraus ergeben sich zwei weitere Verhaltensregeln. Zuerst sondiert man rings um die Antwort, bei der man nicht sicher ist, noch stärker in die Tiefe, um sich zu vergewissern, ob sie solide Wurzeln hat. Man stellt ähnliche, im Wortlaut abgewandelte Fragen. Mit Geduld und analytischem Scharfsinn lässt sich so die Suggestion vermeiden.

Diese drei Kriterien gelten a fortiori für den Mir-ist-es-Wurstismus, der ein noch unstabilerer Reaktionstyp als die suggerierte Überzeugung ist. Eine Unterscheidung zwischen dem Mir-ist-es-Wurstismus und dem Fabulieren bietet auch unabhängig vom Kontext keinerlei Schwierigkeiten. Das Fabulieren ist viel reicher und systematischer, der Mir-ist-es-Wurstismus ist nichts als ein toter Punkt ohne jede Verästelung.