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Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter möchte die junge Carla Bergmann endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie herausfindet, dass er Indianer ist und in Kanada lebt, macht sie sich auf den Weg in die Fremde. Dort stößt sie auf ein altes Familiengeheimnis, als dessen neue Hüterin sie sich behaupten muss, um das Land ihrer Ahnen vor Raubbau und Zerstörung zu bewahren. Der einfühlsame Lee Ghost Horse hilft Carla, ihre indianische Identität anzunehmen, und löst ungeahnte Gefühle in ihr aus. Sie lernt, die Wildnis und das Leben fernab der Zivilisation zu lieben, und findet so nicht nur die Wurzeln ihrer Familie, sondern auch ihre eigenen. Ein spannungsreicher Roman und eine große Liebesgeschichte, die die Leser in eine Welt voller Magie und Mythologie eintauchen lässt und sie auf eine abenteuerliche Reise in die Wildnis West-Kanadas führt.
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Das Buch
Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter möchte die junge Carla Bergmann endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie herausfindet, dass er Indianer ist und in Kanada lebt, macht sie sich auf den Weg in die Fremde. Dort stößt sie auf ein altes Familiengeheimnis, als dessen neue Hüterin sie sich behaupten muss, um das Land ihrer Ahnen vor Raubbau und Zerstörung zu bewahren.
Der einfühlsame Lee Ghost Horse hilft Carla, ihre indianische Identität anzunehmen, und löst ungeahnte Gefühle in ihr aus. Sie lernt, die Wildnis und das Leben fernab der Zivilisation zu lieben, und findet so nicht nur die Wurzeln ihrer Familie, sondern auch ihre eigenen.
Ein spannungsreicher Roman und eine große Liebesgeschichte, die die Leser in eine Welt voller Magie und Mythologie eintauchen lässt und sie auf eine abenteuerliche Reise in die Wildnis West-Kanadas führt.
Die Autorin
Sanna Seven Deers ist 1974 in Hamburg geboren. Nach ihrer Heirat mit dem kanadischen Indianer David Seven Deers zog sie 1997 mit ihm in die Wildnis der Rocky Mountains. Dort leben sie jetzt auf ihrer Ranch ohne Strom und fernab jeglicher Zivilisation mit ihren vier Kindern und vielen Tieren. Zurzeit schreibt sie an ihrem nächsten Roman. Weitere Informationen über die Autorin unterwww.sannasevendeers.com
Von Sanna Seven Deers ist in unserem Hause bereits erschienen:
Der Gottheit zu gehorchen, ist Freiheit.
Lucius Annaeus Seneca
Mutti, ich bin zu Hause!« Carla Bergmann ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Endlich war Wochenende. Allein der Gedanke versetzte die junge Frau in Hochstimmung.
Schwungvoll hängte sie ihre Jacke an den Garderobenhaken und legte Handtasche und Schlüssel auf die Anrichte daneben. Ihr Blick fiel auf einen Stapel Post, den ihre Mutter Anna dort abgelegt hatte. Sie nahm die Briefe in die Hand und schaute sie flüchtig durch. Nichts Besonderes. Reklame, Rechnungen, eine Postkarte von Tante Margit aus der Schweiz, wo diese zurzeit mit ihrer Familie Urlaub machte. Carlas Miene verdunkelte sich, als sie die Zeilen auf der Kartenrückseite überflog. Wann immer Tante Margit von sich hören ließ, konnte man darauf setzen, dass ein kleiner Seitenhieb dabei war – selbst wenn sie aus dem Urlaub schrieb.
Carla seufzte leise. In ihren dreiundzwanzig Lebensjahren hatte sie es trotz aller Anstrengung nicht geschafft, Tante Margit und deren Familie, dazu gehörten Onkel Hans und Cousin Peter, zu mögen. Denn obwohl Margit und Anna Schwestern waren, so waren die beiden Frauen doch grundverschieden, und es fiel Carla oft schwer zu glauben, dass sie tatsächlich verwandt waren.
An diesen Unterschied erinnerte Tante Margit sie auch ständig. Carla und ihre Mutter konnten ihr einfach nichts recht machen und waren ihr zudem nicht akademisch genug. Margit war zehn Jahre älter als Anna und Ärztin mit eigener Praxis. Onkel Hans war ein erfolgreicher Anwalt, und Sohn Peter bereits verlobt und auf dem sicheren Wege, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Anna hingegen war lediglich eine Bankkauffrau, angestellt bei der hiesigen Sparkasse, und Carla war dem Beispiel ihrer Mutter gefolgt.
Das Schlimmste jedoch war, dass es bei den Bergmanns keinen Vater gab. Diese Tatsache veranlasste Margit Richter bei jedem Besuch zu allen nur erdenklichen Vorträgen über Moral und angemessenes Verhalten von Eltern. Carla brachte es jedes Mal zur Weißglut, hauptsächlich, weil ihre Mutter die Beleidigungen mit gesenktem Kopf hinnahm und auch Carla nie erlaubte, etwas zu entgegnen.
Auf Carlas Geburtsurkunde stand lediglich Vater unbekannt, und da es ihre Mutter zu quälen schien, darüber zu sprechen, hatte sie aufgehört nachzufragen.
Carla war schon immer anders gewesen, wie Tante Margit es ausdrückte. Das war denn auch der Grund, warum sie es nicht übers Herz brachte, aus der Mietwohnung, die sie noch immer mit ihrer Mutter teilte, auszuziehen.
Schon in der Grundschule hatten die anderen Kinder über Carla getuschelt. Was war das wohl für ein Mann, der ihr die hohen Wangenknochen, die großen, mandelförmigen Augen und die bronzefarbene Haut vererbt hatte? Kinder können sehr verletzend sein, und sobald es durchgesickert war, dass das ernste, zurückhaltende Mädchen lediglich die grau-grünen Augen ihrer blonden, aufgeschlossenen Mutter geerbt hatte und kein Vater da war, der das Rätsel lösen konnte, hatten die Sticheleien angefangen.
Carla hatte sich mehr und mehr in sich zurückgezogen. Und auch später, in der Pubertät und während der Ausbildung, hatte sie ihre Distanz und Unantastbarkeit beibehalten und war ihren eigenen Weg gegangen. Es störte sie nicht, ein Einzelgänger zu sein.
Oft hatte sie das Verhalten ihrer Gleichaltrigen als albern abgetan. Sie hatte Besseres mit ihrer Zeit zu tun, als irgendwo herumzuhängen, auf Partys zu gehen und über alles zu kichern.
Carla las für ihr Leben gern und befand sich oft in einer Traumwelt. Einer Welt, die ganz anders war als die Großstadtwelt in Norddeutschland, in der sie lebte. Einer Welt, die ihr entgegenkam, in die sie hineinpasste. Einer Welt mit Natur, mit Tieren und Pflanzen. Mit ihnen war Carla bereits von klein auf an gut zurechtgekommen, denn sie akzeptierten sie so, wie sie war. Sie hätte gern beruflich in diese Richtung etwas gemacht, aber der Mutter zuliebe war sie zur Bank gegangen.
Das Mitgefühl für ihre Mutter war Carlas schwacher Punkt. Anna war äußerlich ganz anders als sie, klein, hübsch und blond, gewann leicht Freunde. Aber Carla hatte schon als Kind erkannt, dass ihre Mutter sich hinter ihrer fröhlichen Fassade genauso verloren vorkam wie Carla sich hinter der ihren – vielleicht sogar mehr. Und im Gegensatz zu ihrer Tochter schien Anna Bergmann mit dieser Tatsache nicht gut zurechtzukommen.
Carla wusste nicht, was der Anlass für die tiefe Trauer war, die manchmal in den Augen ihrer Mutter zu lesen war, und es gab niemanden außer Tante Margit, den sie hätte fragen können. Ihre Großmutter war schon vor vielen Jahren gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht. So viel stand jedoch in Carlas treuem Herzen fest, sie würde die Mutter nie nach dem Grund fragen, und ihre Traurigkeit auch nie mit Absicht größer werden lassen.
Darum hatte sie keinen Widerspruch eingelegt, als sie nach Reitstunden gefragt und Anna abgelehnt hatte. Nicht etwa wegen der hohen Kosten, sondern wegen der Pferde. Sie hatte auch keine Einwände erhoben, als sie von der Idee, irgendetwas mit Pflanzen zu machen, auf eine Banklehre umgelenkt wurde. Carla liebte ihre Mutter sehr, war sie doch alles, was sie hatte. Ihr zuliebe absolvierte sie alle Dinge, die sie unternahm, mit Erfolg – aber nicht mit ganzem Herzen.
Diese und andere Dinge gingen Carla durch den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie noch immer im Flur stand, die Postkarte ihrer Tante in der Hand, und dass ihre Mutter ihren Gruß nicht erwidert hatte. Sie legte die Post zurück auf die Anrichte, und erneut erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Wochenende! Und heute Abend würden sie beide ins Kino gehen.
»Mutti, wo bist du?«, rief sie und zog die Tickets aus der Tasche. Der Mutter würde die Abwechslung gefallen. Wo konnte sie nur stecken?
Carla ertappte sich dabei, ungeduldig zu werden. Sie schaute im Bad, in der Küche, im Wohnzimmer und auf dem Balkon nach. Nichts. Wahrscheinlich hatte die Mutter sich hingelegt.
Vorsichtig öffnete Carla die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Der Raum war abgedunkelt. Schon breitete sich ein wissendes Lächeln auf Carlas Gesicht aus. Doch das Bild, das sich ihr bot, als sie die Tür ein Stück weiter öffnete, ließ das Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren. Die Mutter lag nicht wie erwartet friedlich schlummernd auf ihrem Bett, sondern zusammengesackt und leblos auf dem Boden, die Übergardine, an der sie sich augenscheinlich hatte festhalten wollen, in der Hand.
Carlas Kehle schnürte sich zusammen, und für einen Augenblick war ihr, als würde sie nie wieder einen Laut über ihre Lippen bringen und nie wieder einen Schritt tun. Doch dann riss sie sich zusammen und stürzte mit einem heiseren, hilflosen »Mama!« zu ihrer Mutter, deren leblose Augen sie, wie in einem Alptraum, anstarrten.
Tage später noch fragte Carla sich, wie sie die Kraft aufgebracht hatte, nicht in Panik auszubrechen, sondern den Notarzt anzurufen. Sie konnte sich an die Einzelheiten nicht genau erinnern, nur daran, dass sie weinend neben ihrer Mutter gekniet hatte, bis der Notarzt eingetroffen war und erklärt hatte, dass nichts mehr getan werden könnte. Anna Bergmann war an Herzversagen gestorben, mit nur fünfundvierzig Jahren. Sie war tot, nicht mehr da, und Carla war allein auf der Welt.
Aber auf was für einer Welt? Carlas Welt war zusammengebrochen, existierte nicht mehr.
Ihre Chefin war vorbeigekommen, nachdem Carla am Montag nicht zur Arbeit erschienen und auch nicht ans Telefon gegangen war. Frau Kranz hatte sich ihrer angenommen, sie aus ihrer Starrheit zurück ins Leben geholt und ihr mit allen nötigen Formalitäten geholfen. Carla wusste nichts über Beerdigungen und Erbschaften. Als ihre Großmutter gestorben war, war sie zu klein gewesen, und ihre Mutter und Tante Margit hatten alles geregelt. Doch jetzt gab es nur Carla. Tante Margit war irgendwo in der Schweiz und davon abgesehen auch der letzte Mensch, den sie im Augenblick um sich haben wollte.
Carla hatte geweint, zwei Tage lang, dann waren ihre Tränen versiegt, und sie war in eine Art Stumpfsinn verfallen. Seit dem Besuch von Frau Kranz ging es ihr körperlich besser. Sie konnte essen und wieder klar denken. Und ihr Überlebensinstinkt gab ihr die Kraft, an sich selbst und ihre Zukunft zu denken. Innerlich aber fühlte sie sich gebrochen.
Die Trauer hing auch jetzt noch, vier Tage später, wie eine bleierne Decke über Carla. Nachts schlief sie unruhig, aber tagsüber konnte sie wenigstens Dinge erledigen und ruhig mit Leuten sprechen. Sie tat diese Dinge mechanisch und stellte fest, dass es ihr half, den Alltag wieder zu bewältigen. Sie war beurlaubt und ging, auf den Vorschlag von Frau Kranz hin, die Sachen ihrer Mutter durch, um herauszufinden, ob es ein Testament, offene Rechnungen und Ähnliches gab. Hauptsächlich aber, um sich zu beschäftigen.
Die Beerdigung würde stattfinden, nachdem Tante Margit und Onkel Hans samt Peter und Verlobter aus dem Urlaub zurückgekehrt wären. Sie war auf den folgenden Samstag festgelegt worden.
Carla saß auf dem Fußboden im Schlafzimmer ihrer Mutter über Schubladen, die Annas private Dinge und Papiere enthielten und die sie zuvor nie angerührt hatte. Eine blasse, späte Märzsonne schien zum Fenster herein und tauchte einen Teil des Zimmers in goldenes Licht.
Alte Briefe, Fotos und Andenken glitten durch Carlas Hände, während Tränen wieder und wieder versuchten, ihr die Sicht zu nehmen. Als Letztes öffnete sie eine Schachtel mit Heftern und Papieren. Überraschenderweise wiesen die Kontoauszüge ihrer Mutter ein, wenn auch geringes, Minus auf. Und Carla stellte fest, dass die Prämien für Annas Lebensversicherung schon seit geraumer Zeit nicht mehr gezahlt worden waren. Sie stutzte. Wie oft hatte ihre Mutter über diese Lebensversicherung gesprochen. Carlas Absicherung für den schlimmsten Fall. Warum hatte sie die Zahlungen eingestellt? Bei ihrem guten Gehalt und sparsamen Lebensstil hätte eigentlich noch einiges übrig sein müssen. Auch das Sparkonto war leer. Wo war das Geld ihrer Mutter geblieben?
Carlas Neugier und Argwohn waren geweckt. Sie schob die Schubladen zur Seite und sah sich nach anderen Möglichkeiten um, wo ihre Mutter Papiere hätte ablegen können. Ihr Blick fiel auf das Bett. Die restlichen Orte hatte sie bereits durchforstet. Sie hob die Matratze an einer Ecke hoch. Fast kam sie sich lächerlich vor. Nur Leute, die etwas zu verbergen hatten, packten Dinge an solche Stellen. Ihre Mutter hatte wahrlich nicht zu ihnen gehört.
Wie sehr Carla sich irrte! Unter der Matratze befand sich ein schmaler Hefter mit Papieren. Carla zog ihn vorsichtig hervor und ließ die Matratze zurückgleiten. Erstaunt setzte sie sich auf das Bett und öffnete den Hefter. Zahllose Wettscheine, Lotterie- und Rubbellose kamen zum Vorschein. Die Beträge waren erheblich.
Carla schloss die Augen und presste fassungslos eine Hand an ihre Stirn. Ihre Mutter eine Glücksspielerin? Sie konnte es nicht fassen. Doch sie hielt alle Beweise in den Händen.
Es dauerte einige Minuten, bis Carla in der Lage war, die Scheine aus den Händen zu legen und die restlichen Papiere durchzusehen. Ihre Mutter war erst seit so kurzer Zeit tot, und doch begann sich Carlas Bild von ihr bereits wie von selbst zu wandeln. Sie biss sich auf die Lippe. Sie wollte ihre Mutter in guter Erinnerung behalten. Natürlich wusste sie, dass Anna Bergmann ihre Fehler gehabt hatte. Wer hatte keine? Aber das? Es handelte sich um eine Seite ihrer Mutter, die nicht ins übrige Bild passte.
Aber damit war es nicht genug. Die nächsten Papiere warfen Carla beinahe zurück in die Starrheit. Ganz oben lag ein offiziell aussehendes Papier in englischer Sprache. Sie schaute genauer hin. Das Papier war in British Columbia, Kanada, ausgestellt und gab an, dass Anna Bergmann dort ein Grundstück besaß. Genaueres konnte Carla dem Wortlaut nicht entnehmen.
Aufgewühlt griff sie nach dem nächsten Papier, eine Heiratsurkunde, ebenfalls ausgestellt in British Columbia. Und der Name der Braut lautete Anna Bergmann.
Carla erstarrte und ließ das Papier sinken. Das konnte nicht sein! Ihre Mutter war nie verheiratet gewesen. Und doch stand ihr Name auf dem Papier. Die Urkunde bezeugte, dass Anna Bergmann aus Deutschland einen Charles Ward aus Vancouver geheiratet hatte, fast zwei Jahre vor Carlas Geburt.
Die Gedanken in Carlas Kopf wirbelten umher wie Sandkörner in einem heftigen Sturm. Wenn nun … was, wenn … könnte es sein, dass …? Hastig griff Carla nach einer Fotografie in dem Hefter. Sie sprang auf und hielt das Foto ins Sonnenlicht. Sie erschrak so sehr, dass sie beinahe aufgeschrien hätte.
Aus der Aufnahme blickten ihr zwei vor Glück strahlende Menschen entgegen, deren Gesichter sie nur zu gut kannte. Das eine gehörte ihrer Mutter und das andere, so schien es jedenfalls, Carla selbst. Ihr Gesicht glich, in weiblicher Form, dennoch unverkennbar, dem des Mannes auf dem Foto. Sie schaute auf das Hochzeitsfoto ihrer Eltern und in das ebenmäßige, edle Gesicht von Charles Ward, ihrem Vater.
Die Türklingel riss Carla schließlich aus der stillen Faszination, mit der sie das Foto betrachtete. Sie wusste, dass es Tante Margit war, die auf der anderen Seite der Tür wartete. Es war Freitag. Familie Richter war aus dem Urlaub zurück und hatte ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter erhalten.
Ohne zu überlegen, stopfte Carla die Grundbesitzurkunde, die Heiratsurkunde und das Foto ihrer Eltern unter ihren Pullover. Dann ging sie die Tür öffnen.
Mein armes Kind!« Tante Margit stürzte sich mit übertriebenem, fürsorglichem Gehabe auf Carla, sobald diese die Tür geöffnet hatte.
Carla schloss die Augen. Nicht, weil sie erneut Traurigkeit überkam, sondern, weil Tante Margits Eintreffen noch schmerzhafter zu werden versprach, als sie angenommen hatte.
Gleich hinter Tante Margit schoben sich Onkel Hans, Cousin Peter und dessen Verlobte Silvia mit ernsten Mienen an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Unausgesprochen hing wie eine stumme Anklage der Satz Wir wussten, dass so etwas früher oder später in diesem Haushalt passieren würde über ihren Köpfen. Carla folgte ihnen, begleitet von Tante Margits pausenlosem Geplapper und Schnäuzen.
Margit ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Carla selbst blieb im Türrahmen stehen und betrachtete die merkwürdige Gruppe von Menschen, die alles darstellte, was ihr an Familie geblieben war.
Tante Margit saß in eleganter Kleidung – dunkelgrauer Hosenanzug, Lederhalbschuhe und eine Menge Goldschmuck –, die Beine sorgsam übereinandergeschlagen, in dem rot-gelb geblümten Sessel, der Annas Lieblingsplatz gewesen war, und rieb sich die rot geweinte Nase.
Onkel Hans, Peter und Silvia hatten sich auf den kleinen Zweisitzer gedrückt. Hans Richter, in, wie er es nannte, bequemer Freizeitkleidung, war gerade im Begriff sich eine Zigarette anzuzünden. Eine Sache, die er niemals gewagt hätte, wäre seine Schwägerin zugegen gewesen.
Carlas Cousin Peter und dessen Verlobte Silvia saßen bewegungslos wie Statuen da. Peter versuchte mitfühlend zu wirken, ließ seine Blicke jedoch über die Gegenstände des hellen, freundlichen Wohnzimmers gleiten, gerade so, als kalkuliere er, was es sich wohl zu erben lohne.
Silvia verzog keine Miene. Selbst ihre Frisur schien versteinert. Denn obwohl eine leichte Brise durch die offene Balkontür wehte, die sogar die Blätter der großen Grünpflanzen, die im Raum verteilt standen, sanft tanzen ließ, bewegte sich bei Silvia kein noch so feines Härchen.
Carla bemerkte, dass ihre Verwandten erwartungsvoll und fast anschuldigend in ihre Richtung blickten. Sie wurde ungeduldig. Hatten diese Leute irgendeine Ahnung, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte? Oder waren ihre Gefühlsantennen vollkommen stumpf?
»Warum schaut ihr mich so an?«, stieß Carla hervor und blickte auffordernd in die Runde.
Onkel Hans räusperte sich. »Wir sind etwas enttäuscht, dass du dich nicht dazu durchringen konntest, uns von dem Ableben deiner lieben Mutter unmittelbar zu unterrichten. Wir wären sofort aus dem Urlaub zurückgekommen und hätten dir mit allem Nötigen geholfen. So wie es in Familien eben üblich ist. Aber natürlich kann man in deinem Fall nicht zu viel erwarten. Du hattest ja nie eine richtige Familie …« Er unterbrach sich, als er Carlas entsetztes und gleichzeitig ärgerliches Gesicht sah und einen bedrohlichen Blick von seiner Frau auffing.
»Eine E-Mail wäre doch sicherlich im Rahmen des Möglichen gewesen«, versuchte Tante Margit es nun in freundschaftlichem Ton.
Für einen Moment war Carla sprachlos. Hatten ihre Verwandten tatsächlich die Nerven, hier vorbeizuschauen, eine Woche nach dem Tod ihrer Mutter, und sie zu kritisieren? Gefühlskalt war kein gebührendes Wort für ein solches Verhalten!
Sie versuchte, sich zu konzentrieren und ihre Stimme ruhig zu halten. »Es ist möglich, dass ich in meiner Trauer nicht hundertprozentig klar gedacht habe. Natürlich hätte ich euch eine E-Mail schicken können, aber ich war doch etwas aufgewühlt und bitte um Verständnis.« Sie konnte nicht glauben, dass diese Worte tatsächlich aus ihrem Mund kamen. Aber sie wollte gewisse Informationen haben, und dazu musste sie Tante Margit bei guter Laune halten. Deshalb fuhr sie fort: »Und die meisten Dinge habe ich recht gut alleine regeln können.«
»Ja, wie eine Bestattungsfeier einen Tag nach unserer Rückkehr«, erwiderte Tante Margit aufgebracht. »Ein bisschen mehr Zeit hättest du uns schon einräumen können.«
Carla schluckte trocken. Tante Margit dachte wieder einmal nur an sich. Alles musste nach ihrem Zeitplan laufen.
Für Carla war die vergangene Woche schwer genug gewesen, und sie wartete darauf, mit der Beerdigung ihrer Mutter einen Schlussstrich zu ziehen, der es ihr erlauben würde, zumindest oberflächlich, in den Alltag und ins Leben zurückzukehren.
Sie tat daher so, als habe sie den Kommentar ihrer Tante nicht gehört. »Das Einzige, was ich nicht gefunden habe, ist ein Testament.«
»Darüber mach dir mal keine Gedanken, meine Liebe«, warf Onkel Hans sofort ein. »Der Letzte Wille deiner Mutter befindet sich in meiner Obhut. Ich lasse dir eine Abschrift für Behördendinge zukommen. Sie hinterlässt dir all ihre Besitztümer, was nicht viel sein dürfte.« Er lächelte zufrieden.
Carla nickte abwesend. Die nächste Frage war schwieriger, aber sie musste es wenigstens versuchen. »Tante Margit, wusstest du, dass mein Vater Kanadier ist?« Sie ließ die Worte im Raum stehen und blickte ihre Tante erwartungsvoll an. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Es dauerte einige Zeit, bis Margit Richter ihrer Nichte antwortete. »Ich habe deiner Mutter immer gesagt, dass du die Wahrheit früher oder später herausfinden würdest, und dass sie es mit ihren Verheimlichungen nur noch komplizierter macht.«
Hier kommt es!, dachte Carla. Sie hatte Tante Margit auf dem richtigen Fuß erwischt.
»Nun ja«, meinte Margit und richtete sich hilfesuchend an ihren Mann, der sich räusperte. »Was deine Tante sagen will, ist Folgendes.« Er rutschte nervös auf dem Sofa hin und her. »Deine Mutter ist nach Abschluss ihrer Ausbildung im Urlaub in Kanada gewesen und hat sich Hals über Kopf in einen Mann namens Charles Ward verliebt. Die beiden haben kurz darauf überstürzt geheiratet, und für einige Zeit haben wir nichts weiter von deiner Mutter gehört. Ihrer eigenen Aussage nach hat sie mit Ward irgendwo in der Wildnis in einer Hütte gehaust, bevor sie sich mit ihm entzweit hat und kleinlaut und schwanger nach Deutschland zurückgekehrt ist. Die genauen Gründe für ihr Schweigen dir gegenüber kennen wir nicht. Aber sie hat auch uns gebeten, nichts darüber verlauten zu lassen. Natürlich haben wir uns daran gehalten«, fügte er gönnerhaft hinzu und meinte abschließend: »Ich persönlich denke, dass deine Mutter sich sehr für ihr kopfloses Verhalten geschämt hat und dich nicht mit ihren Lasten hat aufwachsen lassen wollen.«
Carla verkniff sich eine Antwort. Sie hatte die Information, die sie gesucht hatte, bekommen. Von dem Grundstück in Kanada schienen weder ihre Tante noch der Onkel etwas zu wissen, und dabei wollte sie es auch belassen.
Richters fuhren mit der Unterhaltung in gleichem Ton fort, bis Carla ihnen endgültig versichern konnte, dass sie wirklich gut alleine zurechtkäme und lediglich etwas Ruhe bräuchte. Doch die zwei Stunden mit der Familie hatten ihren Tribut verlangt. Überwältigt von all den neuen Informationen und Tatsachen und dem arroganten Verhalten ihrer Verwandten, musste Carla ihre letzte Kraft aufbringen, um in ihrem Kopf einfach alles beiseitezuschieben und in einen traumlosen, mehr oder weniger regenerierenden Schlaf zu sinken, der es ihr ermöglichte, die bevorstehende Trauerfeier zu überstehen.
Carla schleppte sich nach der Trauerfeier nach Hause und verschlief den Rest des Wochenendes. Am Montag ging sie wieder zur Arbeit. Sie fühlte sich erschöpft, aber gleichzeitig erleichtert darüber, dass wenigstens noch etwas Gewohntes in ihrem Leben vorhanden war.
Dennoch hatte sie Probleme, sich zu konzentrieren. Zu sehr war ihr Leben in der letzten Woche aus den gewohnten Bahnen geraten. Sie hatte ihre Mutter verloren, aber sie hatte einen Vater gewonnen. Nicht nur irgendeinen Erzeuger, sondern einen richtigen Vater. Ihre Mutter hatte sich verliebt und geheiratet. Carla hatte eine richtige Familie gehabt, auch wenn diese noch vor ihrer Geburt auseinandergebrochen und nun durch den Tod ihrer Mutter unwiderruflich aufgelöst war. Der Anfang war richtig gewesen, und diese Tatsache machte sie froh.
Es war, als sei ein wichtiges Teil im Puzzle ihrer Persönlichkeit endlich an die richtige Stelle gelangt. Der Schmerz um den Verlust ihrer Mutter ließ ein wenig nach und machte Platz für etwas anderes: die Sehnsucht nach Charles Ward, ihrem Vater.
Carla verbrachte ihre Feierabende damit, in Gedanken versunken durch die nun ihr allein gehörende Dreizimmerwohnung zu wandern und Spekulationen über ihre Eltern anzustellen. Ihr war durch frühere Erfahrungen mit ihrer Tante klar, dass sie auf keine weiteren Erklärungen oder Offenbarungen ihrerseits zu hoffen brauchte. Alles, was Carla blieb, waren Spekulationen.
Doch war das wirklich wahr? Etwas schwirrte in ihrem Kopf herum und ließ sich nicht fangen. Wie sehr wünschte sie sich, wenigstens einen Freund zu haben, mit dem sie ihre Gedanken hätte teilen können. Sie fühlte, dass sie aus ihrer Not heraus bald anfangen würde, mit sich selbst zu sprechen.
Auf ihren Wanderungen durch die Wohnung nahm Carla weder die Topfpflanzen ihrer Mutter noch die schönen Pinienmöbel wahr. Sie erfreute sich auch nicht, wie in anderen Jahren, an der Tatsache, dass draußen der Frühling auf dem Vormarsch war und die Abende nun länger wurden. Und während die jungen Leute in der Nachbarschaft an laueren Abenden Spaziergänge machten, oder schon ab und zu im Café an der Ecke draußen saßen und plauderten, lief Carla ruhelos in ihrer Wohnung umher.
Etwa eine Woche nach der Beerdigung stoppte sie ihre Wanderung unvermittelt und ließ sich in den Sessel ihrer Mutter fallen. Charles – Carla. Die beiden Namen hatten den gleichen Ursprung. Ihre Mutter hatte sie nach ihrem Vater benannt!
Warum hatte Anna Bergmann ihre kleine Tochter nach einem Ehemann benannt, von dem sie getrennt lebte? Und warum hatte sie sich nicht von ihm scheiden lassen? Oder hatte sie sich scheiden lassen?
Einen Augenblick lang war Carla unschlüssig. Aber da ihre Mutter alle Heiratsdokumente sorgfältig aufbewahrt hatte, wagte sie anzunehmen, dass es keine Scheidungspapiere gab. Warum sonst sollte man noch die Heiratsurkunde besitzen?
Carla richtete sich auf, als ihr die Antwort kam: aus demselben Grund, aus dem man seine Tochter nach dem getrennt lebenden Ehemann benannte. Anna Bergmanns Herz hatte bis zu ihrem Tod Charles Ward gehört. Es hatte nie einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben!
Carla hatte bisher angenommen, dass sie selbst der Grund für das Alleinsein ihrer Mutter gewesen war. Nun aber war sie sicher, dass sie sich geirrt hatte. Anna war bis in den Tod mit dem Mann verheiratet gewesen, den sie geliebt hatte.
Aber warum, um alles in der Welt, hatte sie ihn dann verlassen? Der einzige Grund, den Carla sich vorstellen konnte, war, dass es ihr Vater gewesen war, der sich hatte trennen wollen. Was war tatsächlich geschehen und hatte damit ihr eigenes Leben in solch seltsame Bahnen gelenkt?
Der Schlüssel zu all ihren Fragen lag nun in den Händen einer einzigen Person: Charles Ward – sollte er noch am Leben sein. Konnte sie ihn ausfindig machen?
Carla begann erneut zu grübeln und in der Wohnung umherzuwandern. Doch sie fand keine Antwort.
Als sie schließlich in einen unruhigen Schlaf glitt, hatte sie einen Traum, so realistisch, dass sie davon aufwachte.
In dem Traum sah sie ihren Vater Charles Ward, der auf einem Weg auf sie zukam. Er war älter als auf dem Hochzeitsfoto, aber sie erkannte ihn zweifellos.
Der Weg, auf dem er ging, war eine Art Feldweg und führte durch eine Landschaft, schöner, als Carla sie je zuvor gesehen hatte: Sanfte, zum Teil mit Fichten und Lärchen dicht bewaldete und dann wieder mit Wiesen bestückte Berghänge erstreckten sich zu beiden Seiten, stiegen an zur Linken und fielen ab zur Rechten. Die Wiesen waren übersät mit den schönsten Wildblumen in allen nur erdenklichen Farben. Die Blumen wiegten sich sanft mit den Gräsern im Wind. Der Himmel war strahlend blau. Carla konnte das Lied des Windes in den Bäumen hören und den würzigen Duft der Fichtennadeln riechen.
Sie sah ihren Vater näher kommen und schließlich einen Arm zum Gruß heben, ein Lächeln auf dem Gesicht.
Das Bild verschob sich, und Carla konnte eine Frauengestalt erkennen, die in einiger Entfernung stand und offensichtlich auf Charles wartete. Die Frau schaute in seine Richtung und schirmte mit der Hand ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht ab.
Als ihr Vater an die Frau herantrat, stellte Carla erstaunt fest, dass es sich um eine alte, indianische Frau handelte. Sie war traditionell gekleidet, und graues dünnes Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Ihr Gesicht war von zahllosen Falten durchzogen, und die dunkelsten, weisesten Augen, die Carla je gesehen hatte, funkelten sie an.
Die Blicke aus diesen Augen richteten sich nun fragend auf den Bereich neben und hinter Charles Ward, der die alte Dame begütigend anlächelte. Mit einer leichten Handbewegung erklärte er: »Sie kommt.«
Die alte Frau nickte zufrieden – und Carla saß kerzengerade im Bett.
Der Traum war so wirklich gewesen, dass sie glaubte, noch immer den Duft von Fichtennadeln wahrzunehmen, und es dauerte einige Minuten, bis sie wirklich wusste, wo sie war.
Carla knipste die Nachttischlampe an und holte tief Luft. Sie würde nach Kanada fliegen. Irgendwo in diesem fernen Land wartete ihr Vater auf sie.
»Das ist doch purer Wahnsinn!« Onkel Hans marschierte aufgebracht in Carlas Wohnzimmer umher. Sie hatte pflichtbewusst ihre Tante und den Onkel davon in Kenntnis gesetzt, dass sie ihren Jahresurlaub nehmen und nach Kanada fliegen würde. Genauere Gründe hatte sie ihnen nicht genannt. Das war auch nicht nötig gewesen. So viel hatten sich ihre Verwandten zusammenreimen können. Das Ergebnis war, dass Carla erneut Familie Richter zu Besuch hatte, natürlich unaufgefordert und unangemeldet. Das war das Interessante an ihrer Verwandtschaft: Was immer Carla auch tat, es schien bei ihnen das dringende Bedürfnis zu bestehen, sie über bevorstehende Fehltritte zu belehren. Und die beinhalteten all die Dinge, die Familie Richter als unrichtig, unwichtig und außerhalb der Norm empfand. Mit anderen Worten, jegliche Gefühlsregung auf Carlas Seite, die über die lebensnotwendigen Dinge wie Schlafen, Essen und Trinken hinausging. So jedenfalls kam es Carla vor, besonders heute, wo ihr wichtigere Dinge durch den Kopf gingen, als ihre Pläne vor ihren Verwandten zu rechtfertigen.
»Warum?«, fragte sie deshalb gereizt.
»Du weißt doch gar nicht, worauf du dich da einlässt. Kanada ist groß. Dein Vater kann überall sein, sollte er noch leben«, erklärte Peter begütigend. »Vielleicht können wir von hier aus ein paar Nachforschungen anstellen.«
Carla schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe ihn in einem Traum gesehen. Er wartet auf mich.« Sie erwähnte nicht, dass sie durch die Grundstücksurkunde einen guten Anhaltspunkt für ihre Suche zu haben glaubte.
Onkel Hans, Tante Margit und Peter sahen sie fassungslos an. »Du kannst doch nicht im Ernst Wert auf einen Traum legen!«, rief Onkel Hans entsetzt aus.
»Mein liebes Kind«, schluchzte Tante Margit, »überlege doch nur. Du hast in den letzten zwei Wochen so viel durchgemacht. Du bist verwirrt. Du wirst dich ins Unglück stürzen!«
»Hört zu«, sagte Carla. »Ihr wisst überhaupt nicht, was ich in den letzten Wochen wirklich durchgemacht habe! Mein Leben ist komplett aus der Bahn geraten, und vieles von dem, was ich über meine Eltern und somit über mich selbst zu wissen glaubte, hat sich völlig gewandelt. Ich kann mich bei der Arbeit nicht konzentrieren, habe nachts keine Ruhe und fange an, mit mir selbst Zwiegespräche zu führen. Mir fällt die Decke auf den Kopf, und ich bin in diesem Zustand für niemanden genießbar. Ich muss einfach meine Chance wahrnehmen und wenigstens versuchen, meinen Vater oder irgendwelche Anhaltspunkte über sein Schicksal zu finden. Ich habe viele unbeantwortete Fragen, und er ist der Einzige, der sie mir beantworten kann.« Sie blickte verständnissuchend in die Runde.
»Dein Vater ist bloß ein dummer Waldläufer«, murmelte Tante Margit aufgebracht vor sich hin. »Ein Nichtsnutz. Warum wohl hat deine Mutter ihn verlassen?« Sie schnäuzte sich die Nase.
»Was hast du gesagt?« Carlas Augen blitzten gefährlich. »Woher willst du das wissen? Bist du dort gewesen? Kennst du ihn persönlich?«
Margits Finger spielten nervös mit ihrem Taschentuch. Dann wurde sie plötzlich ärgerlich und platzte heraus: »Du bist genau wie deine Mutter. So leichtgläubig. Ein gefundenes Fressen für die, die so etwas auszunutzen wissen. Und dein Vater ist einer von denen. Oh, wie hat deine Mutter vor der Hochzeit von ihm geschwärmt. So ein gut aussehender, gut gebauter Mann, und so gebildet. Gebildet, ha! Ein einfacher Indianer. Ein Waldläufer und Jäger, der nicht mehr bieten konnte als eine Bretterbude mit Plumpsklo, irgendwo in der gottverlassenen Wildnis!« Tante Margits Gesicht war vor Erregung krebsrot geworden.
Carla wich einen Schritt zurück, und ihr Gesicht spiegelte ihre Missbilligung. Was für eine arrogante, voreingenommene und oberflächliche Person ihre Tante doch war. Mit Vergnügen hätte sie sie gegen die Wand geklatscht. Doch sie hielt sich zurück. Sie würde nicht auf ein solches Niveau herabsinken.
Aber sie musste klar Stellung beziehen. Ihr Vater war ein Teil von ihr, auch wenn Familie Richter das anders sah. Die abwertenden Worte ihrer Tante hatten sich somit auch gegen Carla gerichtet.
So ruhig und neutral wie möglich sagte sie deshalb: »Ich glaube, es ist besser, wenn ihr jetzt geht.«
Und Familie Richter ging, wenn auch unter Androhung schlimmster Konsequenzen für Carlas weiteres Leben, sollte sie auf ihren Plänen bestehen.
Carla änderte ihre Pläne nicht. Und nach dieser neuesten Offenbarung ihrer Charakterlosigkeit fand Carla den Gedanken, viel Distanz zwischen sich und ihre verbleibende Verwandtschaft zu bringen, geradezu verlockend.
Erst als sie am Abend im Bett lag und über die Geschehnisse des Nachmittags nachdachte, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Tante, die sie in ihrem Ärger einfach verdrängt hatte: ein einfacher Indianer. Ein Waldläufer und Jäger.
Carla setzte sich im Bett auf. Ein Indianer!
Dann wäre sie selbst ja …
Im Dunkeln lief sie ins Badezimmer. Erst dort knipste sie mit angehaltenem Atem das Licht an. Forschend betrachtete sie das Gesicht, ihr Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte: die bronzene Haut, die mandelförmigen Augen, die hohen Wangenknochen. All die Gegebenheiten, die ihr so missfallen hatten, weil sie sie von den Menschen in ihrer Umgebung abzugrenzen schienen, verwandelten sich plötzlich in klar zu erkennende Merkmale ihrer indianischen Abstammung. Sie hätte es selbst im Gesicht ihres Vaters ablesen sollen: die schwarzen Haare, die dunklen Augen, die hohen Wangenknochen. Die stolzen, ebenmäßigen Züge, die goldbraune Haut, die schmalen, geschwungenen Lippen. Hätte er auf dem Foto andere Kleidung getragen und langes Haar gehabt, hätte sie nicht eine Sekunde an seiner Herkunft gezweifelt.
Die Gene ihrer Mutter hatten bei Carla lediglich zu einer etwas helleren Haut- und Haarfarbe und graugrünen Augen geführt. Wären ihr langes, glattes Haar, das ihr bis weit auf den Rücken herabfiel, schwarz und ihre Augen dunkelbraun, dann würde es auch bei ihr keine Zweifel an ihrer indianischen Abstammung geben.
Und zum ersten Mal in ihrem Leben überkam sie ein Anflug von Stolz. Sie lächelte ihr Spiegelbild schüchtern an und dachte an die alte Indianerin in ihrem Traum.
Wer immer sie sein mochte, sie wartete auf Carlas Ankunft, und Carla spürte, dass sie sie nicht enttäuschen durfte.
Carla wurde gebraucht. Aus einem ihr unbekannten Grund wurde sie auf der anderen Seite der Welt gebraucht. Und es blieb ihr nicht viel Zeit.
Eine Woche später befand Carla sich auf einem Rastplatz am Highway 1, der von Vancouver durch das Fraser Valley nach Norden führte, und studierte die Straßenkarte. Verträumt schweifte ihr Blick aus dem Fenster ihres Mietwagens, und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Sie war am Vorabend in Vancouver angekommen, hatte die Nacht in einem Motel verbracht und war am Morgen nach einem herzhaften kanadischen Frühstück in Richtung Norden aufgebrochen. Ihr Ziel war Kamloops, die Stadt, die als Ausstellungsort auf dem Grundbuchauszug ihrer Mutter angegeben war.
Carla war jetzt etwa 150 Kilometer von Vancouver entfernt und wusste, dass sich der Highway hinter Hope teilen würde. Sie hatte auf dem kleinen Rastplatz kurz vor der Stadt angehalten, um sicherzustellen, dass sie die richtige Abzweigung nahm. Sie wollte noch am heutigen Tag in Kamloops eintreffen, um am frühen nächsten Morgen das Land Title Office – das Grundbuchamt aufzusuchen, das die Urkunde über das Grundstück – aufzusuchen hatte.
Es gab jedoch keinen Anlass zur Eile. Laut Karte waren es nur ungefähr 250 Kilometer bis zu ihrem Bestimmungsort, und die Landschaft war zu atemberaubend, um einfach achtlos durchzufahren. Die Straße erforderte Carlas gesamte Aufmerksamkeit, denn sie war kurvig und ging bergauf und bergab, ganz im Gegensatz zur norddeutschen Autobahn. Dazu kam, dass die Autos hier viel größer waren als zu Hause in Deutschland, und ein paar Mal hatte Carla aufkommende Panik unterdrücken müssen, wenn wieder einer der riesigen Lastwagen mit überhöhter Geschwindigkeit in einer Haarnadelkurve zum Überholen ansetzte und erst in letzter Sekunde und unter erheblichem Schwanken auf die andere Straßenseite wechselte. Ganz bestimmt würde sie unter solchen Bedingungen nicht die Landschaft begutachten, die so verlockend an ihr vorüberzog.
Hier auf dem Rastplatz konnte Carla nun alle Dinge ganz genau betrachten, ohne sich ermahnen zu müssen. Es war ihr zweiter Stopp seit Vancouver, und da die Sonne so herrlich auf die frühlingshafte Landschaft schien, beschloss sie spontan, sich ein wenig die Beine zu vertreten.
Wie herrlich alles hier war! Seit Vancouver fand Carla sich umgeben von einer majestätischen Bergkulisse, die den Vordergrund freigab für ein gigantisches Delta und Tal, das Fraser Valley, durch das sich ohne aufgestaute Kraft der wunderschöne Fraser River zog. Zunächst war das Delta entlang des Highways mit Wohnhäusern und Geschäftsvierteln bestückt gewesen. Die Bebauung hatte sich jedoch nach einiger Zeit gelichtet, und nun übersäten großzügige Farmen das flache Tal, das sich schnell immer weiter verengte, um in Hope in den Fraser Canyon überzugehen.
Carla atmete die späte Aprilluft ein. Die Luft war so klar und frisch hier. Ganz anders als in der Großstadt.
Der Gedanke an die Stadt ließ sie an ihre Wohnung in Hamburg denken. Sie hatte einen Schlüssel bei ihrer Tante und ihrem Onkel hinterlassen und sich mit den Unterlagen, Urkunden und Fotos für vier Wochen auf die Reise gemacht.
Seit sie herausgefunden hatte, wie es um die Geldangelegenheiten ihrer Mutter stand, war Carla froh, dass wenigstens sie selbst ihren monatlichen Überschuss zur Seite gelegt hatte. Es war genug, um Flug, Mietauto, Verpflegung und Unterkunft für die nächsten vier Wochen zu bezahlen, und mit etwas Glück würde sogar noch eine kleine Summe für eventuelle Notfälle übrigbleiben.
Carla schob ihre Gedanken beiseite, sog ein letztes Mal die frische Bergluft ein und stieg erneut in ihr Auto. Wenig später wechselte sie auf den Highway 5, der sie über einen 1500 Meter hohen Pass führte, vorbei an karger Felslandschaft mit kleinwüchsigen Fichten und hinunter in ein trockenes Tal, in dem die Kleinstadt Merrit wie in einem Westernfilm aus dem Nichts in der Grasebene vor ihr auftauchte. Anschließend führte der Highway über einen weiteren Pass und in ein weiteres Tal, in dem Kamloops lag. Auch hier war die Landschaft sehr trocken, und Ponderosa-Kiefern, wilde Salbeibüsche und karger Grasbestand beherrschten noch immer die Landschaft.
Es war noch früh am Nachmittag, und Carla entschloss sich kurzfristig, das Land Title Office schon an diesem Tag aufzusuchen.
Kamloops war eine verhältnismäßig große Stadt mit ungefähr 200000 Einwohnern und zahlreichen Highwayausfahrten, so dass Carla zweimal anhalten musste, um nach dem Weg zu fragen. Die Menschen waren sehr hilfsbereit, und der Tankwart, den sie ansprach, suchte ihr sogar die genaue Anschrift aus dem Telefonbuch heraus.
Die Straßen waren, wie in den meisten nordamerikanischen Städten, allesamt in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung angeordnet, und so war die Adresse leicht zu finden.
Sie fand einen Parkplatz in der Nähe des Gebäudes und ging das restliche Stück zu Fuß, neugierig auf die neuen Eindrücke.
Ein großer Teil der Bevölkerung schien indianischer Abstammung zu sein, und Carla musste sich ermahnen, die Leute nicht anzustarren.
Schließlich erreichte sie das Gebäude, in dem sich das Land Title Office befand, und versuchte der hilfsbereiten Empfangsdame so gut es mit ihren Englischkenntnissen ging, zu erklären, weshalb sie da war. Die junge Frau telefonierte kurz und verwies Carla an einen Sachbearbeiter im zweiten Stock. Dort angekommen, schickte man sie weiter zu einem Bearbeiter im ersten Stock. Bürokratie schien überall gleich zu sein.
Im ersten Stock fand Carla endlich einen älteren Herrn mit grauem Haar und sehr korrekter Kleidung, der erklärte, dass er ihr weiterhelfen könne. Sie zeigte ihm die Besitzurkunde, die sie in Annas Unterlagen gefunden hatte, sowie beglaubigte Übersetzungen des Testaments und der Todesurkunde. Der Sachbearbeiter gab ihr Formulare zum Ausfüllen und Unterschreiben, damit das Grundstück auf ihren Namen umgeschrieben werden konnte. Das war alles.
Carla war erleichtert. Von Deutschland aus wäre das Umschreiben nur mit viel Geld für spezialisierte Anwälte möglich gewesen. Hier vor Ort musste sie lediglich die Behördengebühren bezahlen.
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, setzte sich der Sachbearbeiter erneut an seinen Computer und tätigte außerdem einige Telefonate. Dann teilte er Carla mit, dass keine Grundsteuern ausstanden und die Steuern für dieses Jahr schon im Voraus entrichtet worden waren. Er fotokopierte einen Kartenausschnitt, markierte eine Straße und gab Carla weitere Computerausdrucke und eine grobe Vorstellung davon, welche Route sie nehmen musste. Er versicherte ihr jedoch, dass sie es bis zum Grundstück ihrer Mutter vor der Abenddämmerung nicht mehr schaffen würde. Carla bedankte sich herzlich und verließ, den neuen Stapel Papiere unter dem Arm, das Gebäude.
Es war jetzt später Nachmittag. Carla nahm sich im nächst größeren Motel ein Zimmer, schrieb eine kurze E-Mail an Tante Margit, um sie wissen zu lassen, dass sie gut in Kanada angekommen war, und ließ sich mit den Papieren und Karten aufs Bett fallen. Die letzten Stunden kamen ihr vor wie in einem Traum. Alles war viel glatter verlaufen, als sie es sich hätte wünschen können.
Nach eingehendem Studium der zahlreichen Seiten fand Carla Folgendes heraus: Sie war Erbin eines 640 Acres großen Grundstücks, das sich ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb des Ortes Midtown am Ende einer kleinen Nebenstraße in den Bergen befand. Bauten auf dem Grundstück waren mit einem Wert von 15 000 Kanadischen Dollar angegeben, was sich nicht vielversprechend anhörte. Die Adresse lautete: 1750 Silver Mountain Road, Midtown, British Columbia.
Silver Mountain Road. Der Name gefiel Carla, und sie konnte es kaum abwarten zu sehen, wie es dort aussah. Würden noch Anhaltspunkte für den Aufenthalt ihrer Mutter zu finden sein? Und Hinweise auf den Aufenthaltsort ihres Vaters? Oder, Carla schluckte, vielleicht sogar ihr Vater selbst? Ein flaues Gefühl setzte sich in ihrer Magengegend fest und ließ sich nicht mehr vertreiben.
Und 640 Acres? Sie schaute auf die Umrechnungstabelle ihres Taschenkalenders: Das waren rund 260 Hektar Land. Ein riesiges Gebiet!
Mit dem Finger folgte Carla der Route von Kamloops nach Midtown und versuchte, sie sich so gut es ging einzuprägen. Zurück nach Merrit, dann über einen hohen Bergpass ins Okanagan Valley und nach Süden, entlang verschiedener großer Seen nach Osoyoos. Von dort führte die Straße hinauf zu einem Hochplateau, folgte der US-kanadischen Grenze und erreichte etwas später Midtown, eine kleine Grenzstadt, die mit einer Bevölkerungszahl von unter tausend auf der Karte angegeben war. Der Bearbeiter im Land Title Office hatte gesagt, dass Midtown eine alte Goldgräberstadt war, deren goldene Tage jedoch schon seit langem vorüber waren.
Carla ließ sich auf das Kissen zurücksinken. Was für ein Tag! Es schien ihr beinahe, als seien hilfreiche Kräfte am Werk gewesen, die ihr den Weg geebnet hätten. Wenn Mutter nur hier sein könnte, dachte sie. Doch dann wäre Carla jetzt nicht hier, sondern in ihrem geordneten Alltag in Hamburg.
Was würde ihr wohl der morgige Tag bringen?
Carla erwachte am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durch das hochgelegene Fenster ihres Motelzimmers fielen. Es dauerte einige Minuten, bis sie wusste, wo sie war. Erstaunt schüttelte sie den Kopf. Waren seit ihrer Ankunft in Vancouver wirklich erst zwei Tage vergangen? Dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Mit ein bisschen Glück würde sie heute das Grundstück am Ende der Silver Mountain Road finden. Das Land, das ihrer Mutter insgeheim so lange Zeit gehört hatte.
Schnell stand sie auf und war schon wenige Zeit später mit ihrem Mietwagen unterwegs. Heute hatte sie jedoch kaum ein Auge für die Landschaft, die draußen an ihr vorbeizog. Ihre Gedanken waren bei ihrer Mutter und ihrem Vater, und sie war erfüllt mit freudiger Erwartung.
Carla folgte dem Highway zurück nach Merrit, nahm die Verbindungsstraße zum Okanagan Valley, die über einen hohen Pass führte und an deren Seiten kaum ein Haus zu sehen war. Nach ungefähr hundert Kilometern wilder Berglandschaft erreichte sie die Abzweigung zu einem weiteren Highway und folgte diesem in südlicher Richtung, entlang wunderschöner Seen, riesiger Ranches, Farmen und großer Obstplantagen.
Das Wetter war großartig, Sonnenschein mit blauem Himmel und warmen Temperaturen. Die Natur um sie herum war nicht etwa gerade zu neuem Leben erwacht, sie stand in voller Blüte. Obstbäume, über und über bedeckt mit weißen und rosafarbenen Blüten, säumten die Straße und gaben den Anschein tausender Bräute, die sich zum Tanz trafen.
Carla musste einfach anhalten, um für einen Moment den Anblick zu genießen.
Anschließend durchquerte sie das Okanagan Valley nahe der US-Grenze und folgte deren Verlauf hinauf auf ein hochgelegenes Plateau, dessen sanfte Hügel sich in alle Richtungen bis zum Horizont zu erstrecken schienen. Hier war es kühler, und die Bäume hatten weder Blätter noch Blüten, sondern lediglich Knospen, die gerade dabei waren aufzuspringen.
Eine halbe Stunde später verließ die Straße das Hochplateau und folgte einem Flüsschen, zu dessen beiden Seiten sich ländliche Wohnhäuser und weitläufige Ranches erstreckten. Der Verkehr hatte sehr nachgelassen, und Carla genoss die Fahrt.
In ihrem Eifer oder vielleicht, weil es so hatte sein sollen, übersah sie die Abzweigung zur Silver Mountain Road und hielt überrascht an, als ein Straßenschild ihr plötzlich mitteilte, sie sei jetzt in Midtown. Sie war zu weit gefahren. Da dies jedoch die nächstgelegene Ortschaft war, beschloss Carla, sich umzusehen und herauszufinden, ob es ein Motel gab.
Die Eingruppierung Midtowns in Kleinstadt mit Einwohnerzahl unter tausend war wirklich nicht übertrieben. Anhand der Wohnhäuser hätte Carla die Einwohnerzahl auf nicht mehr als fünfhundert geschätzt. Es gab eine Hauptstraße, an der sich ein kleiner Einkaufsladen, eine Grundschule, ein Postamt, ein Café und ein Saloon befanden, und eine Handvoll Nebenstraßen, die von der Hauptstraße abzweigten. Die Wohnhäuser waren fast ausschließlich älteren Baujahrs, aber gut gepflegt.
An der Hauptstraße standen einige wirklich alte Holzhäuser, die aussahen wie in einem Western. Ansonsten ließen nur die Weite der Hauptstraße und ein Schild mit dem Gründungsjahr der Stadt darauf schließen, dass es Midtown schon seit 1886 gab.
Zu beiden Seiten der Stadt stiegen die Hänge der runden Berge immer höher an, und Kühe weideten auf ihrem Grasland. Verkehr gab es kaum. Ein schmaler Bach schlängelte sich durch die kleine Ansammlung von Häusern, und am anderen Ende der Stadt fand Carla, wonach sie gesucht hatte: ein Motel.
Zufrieden mit ihrem ersten Eindruck von Midtown, wendete sie ihren Wagen und verließ den Ort auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war.
Sie hielt beim Fahren Ausschau nach der Silver Mountain Road, konnte aber keine Seitenstraße ausfindig machen. Laut der Karte, die man ihr beim Land Title Office in Kamloops gegeben hatte, sollte sich die Abzweigung lediglich einige Kilometer außerhalb des Ortes befinden. Carla wollte nicht unnötig umherfahren und beschloss, beim nächsten Haus anzuhalten und nach dem Weg zu fragen.
Schon nach wenigen Minuten tauchte zu ihrer Linken ein massives Holzhaus mit gepflegtem Garten und vielen Koppeln auf. Das hübsche Haus war ihr bereits auf dem Hinweg aufgefallen, und sie fand es in Ordnung, dort anzuhalten.
Als Carla in die lange Einfahrt einbog, sah sie, dass eine Frau in dem großen Vorgarten Unkraut jätete. Sie atmete erleichtert auf. Ihr schien es sicherer, eine Frau anzusprechen. Entschlossen hielt sie an und ließ das Fenster herunter. Die Frau schaute unter ihrem Strohhut hervor und kam auf sie zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«, rief sie freundlich, noch bevor Carla etwas sagen konnte.
»Ich suche die Silver Mountain Road«, antwortete sie und stieg aus dem Wagen. »Ich muss die Abzweigung verpasst haben. Können Sie mir sagen, wo die Straße vom Highway abgeht?«
Die Frau lächelte und nickte. »Sie ist leicht zu übersehen, wenn man nicht weiß, wo sie ist. Und seit kurzem fehlt das Straßenschild.« Dann fügte sie hinzu: »Wollen Sie jemanden besuchen? Es gibt dort nur einige Ranches. Und nach ein paar Kilometern besteht die Straße nur noch aus Schotter.«
Die Frau war etwa Mitte fünfzig, klein und rundlich mit mittelbraunem Haar und freundlichen braunen Augen, deren Blicke jetzt erwartungsvoll auf Carla ruhten.
Carla wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war ihr schwer genug gefallen, nach dem Weg zu fragen, und es entsprach nicht ihrem Wesen, zu viel von sich selbst und ihren Plänen preiszugeben. Daher sagte sie nur vage: »Meine Mutter hat dort oben eine Weile gelebt, und ich wollte dem Ort einen Besuch abstatten.«
»Oh«, entgegnete die Frau jetzt etwas kühler. »Sind Sie mit Johnny Silver verwandt?«
»Ich bin mir nicht sicher«, meinte Carla. »Aber persönlich kenne ich keinen Johnny Silver.«
Die Frau atmete scheinbar erleichtert auf. »Da bin ich froh. Sie sehen auch viel zu nett aus. Aber wissen kann man es ja nie.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Holzhauses, und eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm kam über den Rasen auf sie zu. Sie blieb neben der Frau mit dem Strohhut stehen, und das Kind, ein kleines Mädchen, kletterte vom Arm ihrer Mutter und erklärte fröhlich: »Lily will bei Grandma sein!« Als sie Carla erblickte, wollte sie wissen: »Wer bist du?«
Carla musste lächeln und fühlte sich sofort viel wohler. Das Mädchen war ungefähr drei Jahre alt, hatte dunkelbraune, krause Haare, hellbraune Haut und wunderschöne bernsteinfarbene Augen. Sie war eine richtige kleine Schönheit.
»Ich heiße Carla Bergmann. Und wer bist du?«
»Lily Harrison«, erwiderte die Kleine und zeigte mit dem Finger auf sich. »Grandma«, verkündigte sie und zeigte auf die ältere Frau. »Mommy«, erklärte sie und deutete auf die junge Frau. Carla schmunzelte. Sie mochte Kinder. Für sie war die Welt noch ohne Komplikationen. Die anderen beiden Frauen schmunzelten ebenfalls. Die Mutter des Kindes streckte Carla die Hand entgegen. »Ich bin Mariah Harrison. Das ist meine Tochter Lily und das«, sie wies auf die ältere Frau, »meine Schwiegermutter June.«
June Harrison wandte sich an Mariah. »Miss Bergmann ist auf der Suche nach der Silver Mountain Road.«
Mariah nickte verstehend. »Welchen Akzent höre ich da?«, wollte sie wissen. »Sie sind nicht aus der Gegend, oder?« Sie blickte Carla fast mitfühlend an.
Diese stellte fest, dass Mariah Harrison selbst auch kein gewöhnliches Bild in dieser Gegend abgeben musste. Sie war ungefähr in Carlas Alter, hatte schwarze, kurze, krause Haare, große, runde bernsteinfarbene Augen wie ihre Tochter, volle Lippen, wunderschöne weiße Zähne und eine etwas dunklere Hautfarbe als die kleine Lily. Wie ihre Tochter strahlte auch sie in der Schönheit ihrer afrikanischen Vorfahren.
Carla schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Deutschland. Meine Mutter hat vor langer Zeit für eine Weile hier gewohnt, am Ende der Silver Mountain Road. Vor einigen Wochen ist sie gestorben und hat mir das Grundstück hinterlassen. Ich brauchte dringend Abwechslung und habe mir gedacht, dass ich es mir ansehen sollte. Sie hat vor ihrem Tod nie davon gesprochen.«
Die Worte waren ihr nur schwer über die Lippen gekommen, und die anderen Frauen spürten das.
»Ich weiß nicht, welches Grundstück das sein sollte«, meinte June Harrison. »Meines Wissens nach gibt es nur zwei Ranches an der Silver Mountain Road, und ich kenne beide Besitzer.« Sie blickte die Einfahrt hinunter. »Ah, da kommen mein Mann und mein Sohn. Die werden es wissen. Die beiden kennen sich in der Gegend sehr gut aus.«
Ein roter Pick-up hielt neben Carlas Mietwagen, und zwei Männer stiegen aus. Der ältere wurde ihr als Steve Harrison vorgestellt. Er schüttelte ihr herzlich die Hand. Er hatte dunkelbraunes Haar, eine sportliche Figur und schien sehr freundlich. Carla schätzte ihn auf das gleiche Alter wie seine Frau.
Sein Sohn Chris war Ende zwanzig und sah seinem Vater sehr ähnlich. Er hatte dieselbe Statur und war ebenfalls sportlich gebaut. Noch ehe er Carlas Hand schütteln konnte, war Lily auf seinen Arm geklettert und hatte ihre kleinen, rundlichen Arme um den Hals ihres Vaters geschlungen.
June Harrison übernahm es, Carla den Männern vorzustellen und zu erklären, wonach sie suchte und warum.
Steve Harrison dachte einen Moment nach. »Das kann nur die Singing Bear Ranch sein. Aber dort hat seit mindestens zwanzig Jahren niemand mehr gelebt. Für eine kurze Zeit war ein indianischer Mann mit seiner Frau dort ansässig. Aber das ist lange her, und die beiden haben sehr zurückgezogen gelebt.«
Carlas Augen weiteten sich. »Das müssen meine Eltern gewesen sein. Sind Sie sicher, dass dort niemand mehr lebt?«
»Absolut«, erwiderte Steve Harrison. »Die Ranch liegt am Ende der Straße, gute fünfzehn Kilometer den Berg hinauf, und das letzte Stück ist ziemlich unwirtlich. Es führen keine Strom- und keine Telefonleitungen dorthin, und es gibt dort, soviel ich weiß, nur ein paar alte Gebäude. Da ist seit Ewigkeit niemand mehr gewesen.«
»Ist es leicht zu finden?«, wollte Carla wissen.
Gerade wollte Steve Harrison verkünden, dass der Ort wirklich kein Platz für eine junge Dame war, die sich in der Wildnis nicht auskannte, als ihm sein Sohn, auf einen Anstoß seiner jungen Frau hin, zuvorkam.
»Leicht zu finden ist es schon«, meinte Chris. »Sie fahren zurück zum Highway und biegen rechts ab. Die Silver Mountain Road mündet etwa vierhundert Meter von unserer Einfahrt in den Highway, dort, wo die großen Fichten stehen.« Carla folgte seinem ausgestreckten Arm und nickte. »Sie fahren dann die Straße bergauf. Sie ist nur zu Beginn etwas abschüssig, danach führt sie durch ein Hochtal. Nach ungefähr acht Kilometern ist auf der linken Seite die Einfahrt zur Silver Spur Ranch – da auf keinen Fall abbiegen.« Er blickte sie eindringlich an. »Nach weiteren fünf Kilometern kommen Sie zur Einfahrt der Ghost Horse Ranch. Dort wohnt ein Freund von mir mit seiner Familie. Er hat ein Telefon, und falls Sie auf Probleme stoßen, können Sie dort gern anhalten. Von der Ghost Horse Ranch sind es nur noch ungefähr zwei Kilometer bis zum Tor der Singing Bear Ranch. Eigentlich können Sie es nicht verfehlen«, fügte er dann hinzu und lächelte Carla Mut machend an.
Carla bedanke sich, verabschiedete sich höflich, stieg in ihren Wagen und fuhr Richtung Highway davon.
»Meinst du, es war richtig, sie allein dorthin zu schicken?«, wollte Steve von seinem Sohn wissen.
Doch bevor dieser antworten konnte, mischte sich Mariah ein. »Es war in ihren Augen zu lesen, dass sie sich nicht umstimmen lassen würde. Und so wissen wir wenigstens, dass sie nicht aus Versehen auf der Silver Spur landet.«
Mariahs Blicke folgten dem kleinen Auto. »Viel Glück, Carla Bergmann«, sagte sie leise.
Lee Ghost Horse legte den Telefonhörer auf die Gabel und grübelte vor sich hin.
»Was gibt es, mein Junge?«, wollte seine Großmutter wissen.
Lee drehte sich zu ihr um und erklärte: »Das war Chris. Er hat gesagt, eine junge Frau habe bei ihm angehalten und nach dem Weg zur Singing Bear Ranch gefragt. Sie sei jetzt auf dem Weg dorthin. Chris meinte, die junge Frau habe erklärt, dass ihre Mutter dort vor langer Zeit kurzzeitig gewohnt habe, aber nun verstorben sei und ihr das Grundstück hinterlassen habe.« Er sah seine Großmutter eindringlich an.
»Mach dir keine Gedanken, mein Junge. Great Spirit weiß mehr als wir alle zusammen.« Damit drehte sie sich um und ließ ihren Enkelsohn nachdenklich in der Küche zurück. In dieser Beziehung war sie einfach unschlagbar. Lee hob resigniert die Schultern und verließ das Haus, um nach den Pferden zu sehen.
Carla fand die Abzweigung zur Silver Mountain Road diesmal sofort. Sie fuhr langsamer und bog an der Gruppe von Fichten rechts vom Highway ab. Sie sah nun den Straßenschildpfosten, das Schild selbst jedoch fehlte. Carla zuckte mit den Schultern. Die Ansässigen brauchten natürlich keine Schilder bei den wenigen Straßen, die es hier draußen gab.
Sie lenkte das Auto langsam und vorsichtig die kurvige Straße entlang, die sich zunächst in Serpentinen den Berg hinaufwand. Zur einen Straßenseite befand sich der Berghang, zur anderen ein zeitweilig steiler Abhang, der glücklicherweise großzügig mit Kiefern bedeckt war, die die Abschüssigkeit verdeckten. Ab und zu konnte Carla jedoch einen Blick auf die gegenüberliegende Talseite erhaschen, der ihr als typischer Flachländerin den Atem verschlug.
Immer höher kletterte das kleine Auto den Berg hinauf, eine nervöse Carla am Steuer. Wie kamen die Leute bloß im Winter hier hinauf? Und wie wieder hinunter? An die Rückfahrt wollte sie lieber nicht denken. Anhalten und umkehren konnte sie auch nicht. Sie war so weit gekommen, war der Singing Bear Ranch so nahe, da konnte sie unmöglich klein beigeben und einen Rückzieher machen.
Singing Bear Ranch – das klang so schön. Sie musste sie wenigstens einmal sehen.
Plötzlich weitete sich das Land vor ihr, und sie durchfuhr ein hochgelegenes Tal. Zu ihrer Linken sah sie ein Schild. Es war mit einer Sechs bemalt. War sie lediglich sechs Kilometer weit gekommen, seit sie den Highway verlassen hatte?
Die Landschaft hier oben war bezaubernd. Die Berghänge stiegen in leichten Wellen zu beiden Talseiten an und waren nur vereinzelt bewaldet. Zwischen den Gruppen von majestätischen Fichten, Kiefern und Espen fanden sich weitläufige natürliche Wiesen, auf denen Rinder grasten. Die Sonne lachte auf diese kleine, versteckte Welt und vermittelte ein Bild von kompletter Harmonie. Carla versuchte, sich alles so gut wie möglich einzuprägen. Sie wollte nichts von dieser Fahrt verpassen.
Sie erspähte einen kleinen Bachlauf, der sich parallel zur Straße durch das Hochtal zog und fröhlich über runde Steine plätscherte. Zu ihrer Linken tauchte ein Schild auf, das Kilometer 8 verkündete und fast sofort anschließend ein imposantes Tor, das zu einer der Ranches, von denen Chris Harrison gesprochen hatte, gehören musste. Sie las denn auch Silver Spur Ranch in schwarzen Buchstaben auf einem massiven Balken, der, auf zwei Pfosten gestützt, über der Einfahrt ruhte. In der Ferne konnte sie ein paar Holzbauten ausmachen, und die Einfahrt war geschottert. Das Ganze hatte einen Western Flair. Carla war zufrieden. So hatte sie sich die Landschaft und die Häuser hier vorgestellt.
Bald darauf verabschiedete sich die glatte, geteerte Straße, und Carla musste vorsichtig abbremsen, um nicht die Kontrolle über ihr Auto zu verlieren. Erschrocken stoppte sie den Wagen. Sollte man hier nicht ein Warnschild aufstellen? Dann aber wurde ihr wieder einmal bewusst, dass sie schließlich nicht in der Stadt war, und laut dem jungen Harrison wohnte nur noch eine Familie zwischen hier und der Singing Bear Ranch. Die kannte ihre Straße natürlich.
Carla folgte langsam und holpernd dem kleinen Bachlauf, der der Silver Creek sein musste, und fragte sich, warum man gerade hier mit dem Teeren der Straße aufgehört hatte. War der Behörde das Geld ausgegangen, oder waren die Anwohner entlang der verbleibenden Straße nicht wichtig genug?
Wenigstens hatte sie bei dieser Geschwindigkeit Zeit, sich die Landschaft anzusehen. An den Vertrag mit der Mietwagengesellschaft dachte Carla lieber nicht. Straßen wie diese mussten sie gemeint haben, als sie von nicht von üblichen Straßen abweichen gesprochen hatten.
Der Weg führte nun durch einen kurzen, dicht begrünten und daher schattigen Engpass, vorbei am Schild mit Kilometerzahl 12. Zu ihrer Rechten sah sie eine Einfahrt, deren verwittertes Holztor in einfachen weißen Buchstaben Ghost Horse Ranch verkündete. Das Tor stand offen, und eine benutzt aussehende Fahrspur führte von der Straße ab und verschwand bald darauf in einem Kiefergehölz.
Carla blickte auf die vor ihr liegende Straße und bemerkte drei Dinge: Es befanden sich keine Strommasten mehr entlang der Straße, und auch der Schotter endete. Alles, was sich vor ihr befand, war festgefahrene Erde. Zwei Fahrrillen, zwischen denen und zu deren beiden Seiten Gras wuchs. Hätte Carla es nicht besser gewusst, wäre sie wahrscheinlich an dieser Stelle umgekehrt. Sie war froh, bei den Harrisons nach dem Weg gefragt zu haben. Und drittens stellte sie erleichtert fest, dass der Engpass breiter wurde und in ein weiteres kleines Hochtal überging.
Carla biss sich auf die Unterlippe und lenkte den Wagen mutig in die Fahrrillen. Überrascht stellte sie fest, dass die festgefahrene Erde angenehmer zu befahren war als der Schotter. Es war zwar immer noch holprig, aber wenigstens nicht locker und rutschig wie auf dem Schotter. Sie holte tief Luft. Schon bald sollte die Singing Bear Ranch vor ihr auftauchen.
Einen Augenblick lang erfasste sie Unruhe bei dem Gedanken, dass sie womöglich kein Tor mit Schild vorfinden würde, da so lange niemand dort gelebt hatte. Wie sollte sie die Ranch dann finden?
Kurz darauf wurden ihre Zweifel jedoch beseitigt, als hinter einer scharfen Biegung im Weg ein verwittertes Holztor auftauchte, dessen rote Buchstaben das Sonnenlicht zu reflektieren schienen: Singing Bear Ranch breitete sich in Sonnenschein getaucht vor ihr aus.
Carla hielt an und ließ das Fenster herunter. Frische Bergluft und der Duft von Kiefernnadeln und Frühling stieg ihr in die Nase. Die Sonne wärmte ihre Schulter, und über ihr kreiste ein großer Vogel. Konnte es ein Adler sein?
Carlas Blick schweifte umher. Dies war der Ort, den ihre Mutter so sorgfältig geheim gehalten, an dem sie mit Charles Ward gelebt und den sie verlassen, aber nie verkauft hatte. Und je länger Carla auf die vor ihr liegende Landschaft blickte, desto fester setzte sich ein Gedanke: Ihre Mutter und ihr Vater waren auf dieser Ranch glücklich gewesen. Carla konnte es in ihren Fingerspitzen fühlen.