Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung - Liselotte Staub - E-Book

Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung E-Book

Liselotte Staub

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Beschreibung

Festlegung der Betreuungsanteile und der Eltern-Kind-Kontakte nach der Trennung der Eltern Welche Betreuungsform dem Kindeswohl im Einzelfall am besten entspricht, ist keine rechtliche Fragestellung. Für die Entscheidungsbehörden stellt daher im Konfliktfall die Bestimmung des umstrittenen Kindeswohls eine besondere Herausforderung dar. Ob beispielsweise eine geteilte Obhut gegen den Willen eines Elternteils dem Kindeswohl entspricht, lassen Entscheidungsbehörden zunehmend von psychologischen Sachverständigen beantworten. Gutachten sind aber nicht nur teuer, sondern auch belastend für alle Beteiligten. Mit diesem Buch soll ein Beitrag zur Entscheidungsbefähigung von Fachpersonen in entsprechenden Behörden geleistet werden. Diesen Fachleuten eröffnet es die Möglichkeit, sich über die wesentlichen Aspekte, Kriterien und deren Wechselwirkungen zu informieren und diese Aspekte angemessen zu gewichten, um schließlich zu einer Entscheidung zu gelangen. Darüber hinaus richtet sich das Buch an Gutachter*innen und an Psychotherapeut*innen, welche im Rahmen ihrer Tätigkeit mit getrennten Eltern und deren Kindern arbeiten. In die vorliegende zweite, überarbeitete Auflage wurden neue Erkenntnisse und Erfahrungen der praktisch tätigen Autorin seit Erscheinen der ersten Auflage übernommen. So wird u.a. die Elternpersönlichkeit verstärkt gewichtet und die Beurteilung der Qualität eines Gutachtens erweitert diskutiert.

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Liselotte Staub

Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung

Grundlagen für die Praxis der Betreuungsregelung

2., überarbeitete Auflage

Das Wohl des Kindes bei Trennung und Scheidung

Liselotte Staub

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Dr. phil. Liselotte Staub

Eisenbahnweg 6

3426 Aefligen

Schweiz

[email protected]

www.staub-psychologie.ch

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Nadine Strub, Worb

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: ePub

2., überarbeitete Auflage 2023

© 2018, 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96248-1)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76248-7)

ISBN 978-3-456-86248-4

http://doi.org/10.1024/86248-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Theoretische Grundlagen

1 Von der Loyalität zum Loyalitätskonflikt

1.1 Grundlage der Loyalität

1.2 Loyalitätsverletzung und Loyalitätskonflikt

1.3 Loyalitätskonflikt des Kindes vor dem Hintergrund der Gestalttheorie

1.4 Kriterien für die Ausprägung des Loyalitätskonflikts beim Kind

1.4.1 Abgrenzungsfähigkeit des Kindes

1.4.2 Beziehungsgeschichte des Kindes mit dem Vater und der Mutter

1.4.3 Ausprägungsgrad der Negativbeziehung zwischen Vater und Mutter

1.4.4 Loyalitätsforderungen und Manipulationsversuchen von Vater und Mutter gegenüber dem Kind

1.4.5 Vom Kind wahrgenommene Bedürftigkeit des Vaters oder der Mutter

1.4.6 Grad der Abhängigkeit des Kindes von Vater und Mutter

1.4.7 Zeitliche Verfügbarkeit

1.5 Loyalitätskonflikt und psychische Störungen

2 Der anhaltende Elternkonflikt

2.1 Bedeutung der Charakteristik des Konflikts für das Kind

2.2 Auswirkungen des Elternkonflikts auf das Erleben des Kindes

2.3 Auswirkungen des Elternkonflikts auf die Gesundheit des Kindes

2.4 Zusammenhang von Elternkonflikt und Eltern-Kind-Kontakt

3 Persönlichkeit der Eltern

3.1 Persönlichkeitsmerkmale von hochkonflikthaften Eltern

3.1.1 Von der akzentuierten Persönlichkeit zur Persönlichkeitsstörung

3.1.2 Ursachen von Persönlichkeitsstörungen

3.2 Zur Borderline-Persönlichkeit

3.2.1 Borderline und Partnerschaft

3.2.2 Merkmale von Partnern von Borderline-Persönlichkeiten

3.2.3 Auswirkungen der Borderline-Störung auf die Kinder

3.2.4 Kinder in der alleinigen Obhut von Borderline-Eltern

3.2.5 Funktionales Elternmodell als Schutzfaktor

3.3 Zur narzisstischen Persönlichkeit

3.3.1 Auswirkungen der Narzissmus-Störung auf Kinder

3.3.2 Narzissmus und Kind-Eltern-Beziehung nach der elterlichen Trennung

4 Schädigende Verhaltensweisen persönlichkeitsauffälliger Trennungseltern

4.1 Manipulations- und Entfremdungsstrategien

4.2 Stalking nach konflikthaften Trennungen

4.2.1 Gesetzesgrundlage für die Sanktionierung von Stalking

4.2.2 Auswirkung von Stalking

4.2.3 Umgang mit Stalking

4.2.4 Stalking und Eltern-Kind-Kontakt

4.3 Parentifizierung

4.3.1 Formen von Parentifizierung

4.3.2 Merkmale von Parentifizierung

4.3.3 Auswirkungen auf die Kinder

4.4 Falsche Missbrauchs- und Gewaltanschuldigungen

5 Individuelle Entwicklungsfaktoren auf Seiten des Kindes

5.1 Altersabhängige Ambivalenzfähigkeit

5.1.1 Zur Entwicklung der Ambivalenzfähigkeit

5.1.2 Missglückte Ambivalenzentwicklung

5.2 Geschlecht des Kindes

5.3 Resilienz

5.3.1 Temperament

5.3.2 Intelligenz

6 Kindeswille

6.1 Geschichtlicher Überblick

6.2 Beurteilung des Kindeswillens

6.2.1 Zielorientierung

6.2.2 Intensität

6.2.3 Stabilität

6.2.4 Autonomie

6.3 Entwicklung des Kindeswillens

6.4 Der beeinflusste Kindeswille

6.5 Subjektiver versus objektiver Kindeswille

7 Urteilsfähigkeit

7.1 Entwicklung der Urteilsfähigkeit

7.2 Rechtliche Bestimmungen

7.2.1 Relativität der Urteilsfähigkeit

8 Erziehungsfähigkeit

8.1 Beurteilung der Erziehungsfähigkeit

8.2 Diagnostik der Erziehungsfähigkeit

8.2.1 Klinisches Gespräch mit den Eltern

8.2.2 Interaktionsdiagnostik in der Laborsituation

8.2.3 Interaktionsdiagnostik anlässlich von Hausbesuchen

8.2.4 Testdiagnostik

8.3 Relativität von Erziehungsfähigkeit

8.4 Erziehungsfähigkeit und psychische Beeinträchtigungen

8.4.1 Erziehungsfähigkeit bei Eltern mit einem Borderline-Syndrom

8.4.2 Erziehungsfähigkeit bei kognitiver Beeinträchtigung

8.5 Erziehungsfähigkeit in Bezug auf Rückplatzierung

8.6 Erziehungsfähigkeit versus Betreuungsfähigkeit

9 Eltern-Kind-Beziehung nach der Trennung

9.1 Kontinuum der Eltern-Kind-Beziehung

9.1.1 Beziehungsstufe 1: No Preference

9.1.2 Beziehungsstufe 2: Affinität zu einem Elternteil

9.1.3 Beziehungsstufe 3: Bevorzugung eines Elternteils

9.1.4 Beziehungsstufe 4: Allianz mit einem Elternteil

9.1.5 Beziehungsstufe 5: Ambivalenzfähige Entfremdung

9.1.6 Beziehungsstufe 6: Internalisierte Entfremdung

9.2 Induzierte Entfremdung

9.3 Reaktive Entfremdung

9.4 Mischform von induzierter und reaktiver Entfremdung

9.5 Entfremdung im Rahmen einer Scheinbindung

9.6 Auswirkungen der Entfremdung auf die psychische Gesundheit

9.6.1 Konditionierungsprozesse

9.6.2 Psychodynamische Prozesse

9.7 Beziehungsentwicklung nach der Entfremdung

10 Bindung und Bindungsentwicklung

10.1 Bindung in Abgrenzung von Beziehung

10.2 Zur Bindungstheorie

10.3 Zur Bindungsentwicklung

10.4 Bindungshierarchie und Bindungskontinuität

10.5 Bindungsmuster

10.5.1 B-Typ: sichere Bindung

10.5.2 A-Typ: unsicher-vermeidende Bindung

10.5.3 C-Typ: unsicher-ambivalente Bindung

10.5.4 D-Typ: unsicher-desorganisierte bzw. hochunsichere Bindung

10.6 Biologischer Aspekt der Bindung

10.6.1 Stressforschung

10.6.2 Einfluss von Trennung auf Kleinkinder

10.7 Zur Bindungsdiagnostik

10.7.1 Testpsychologische Untersuchungen

10.7.2 Fehlerquellen bei der Bindungsdiagnostik

11 Bedeutung der Geschwisterbeziehung

11.1 Trennung von Geschwistern

12 Bedeutung des Kontinuitätsprinzips

12.1 Soziale und örtliche Kontinuität

12.2 Betreuungs- und Beziehungskontinuität

13 Zusammenfassung Teil I

Teil II: Sorgerecht, Festlegung von Betreuungsanteilen und Kontaktregelung

14 Elterliche Sorge bzw. Sorgerecht

14.1 Umgang mit Unsicherheiten in Bezug auf Bereiche der Alltagssorge

14.2 Gemeinsame Sorge und Elternkonflikt

14.3 Gemeinsame Sorge und Kommunikationsschwierigkeiten

14.4 Gemeinsame Sorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht

14.4.1 Rechtliche Grundlage

14.4.2 Psychologische Kriterien zur Bestimmung des Aufenthalts

14.5 Sorgerecht nach Unterbrechung des Eltern-Kind-Kontaktes

14.6 Gründe für Alleinsorge

14.7 Sorgerecht und Obhut

15 Alleinige Obhut und Elternkontakt

15.1 Begrifflichkeiten

15.2 Der persönliche Verkehr

15.3 Kontaktregelung bei Kleinkindern

15.3.1 Widerstände gegenüber Vater-Kind-Kontakten

15.3.2 Kontaktregelung bei Kleinkindern nach Kontaktunterbruch

15.4 Obhut und Elternkontakt bei Kindern ab Schulalter

15.4.1 Bumerang-Effekt im Kontakt mit Jugendlichen

15.5 Kontaktrecht und Kindeswohl aus empirischer Sicht

15.5.1 Auswirkung von Elternkontakten auf das Kindeswohl

15.5.2 Verhältnis zwischen Empirie und gesetzlichen Forderungen

15.5.3 Kriterien für eine Umteilung der Obhut als Alternative

16 Alternierende Obhut/Wechselmodell

16.1 Empirische Befunde zur alternierenden Obhut

16.1.1 Methode

16.1.2 Autorenschaft

16.1.3 Kulturelle Unterschiede

16.1.4 Repräsentativität der untersuchten Population

16.1.5 Untersuchungsinstrumente und Gütekriterien

16.1.6 Interpretation der Befunde

16.1.7 Publikationskriterien

16.2 Entscheidungskriterien für alternierende Obhut auf der Elternseite

16.2.1 Erziehungsfähigkeit der Eltern

16.2.2 Aufrechterhaltung der stabilen Verhältnisse

16.2.3 Persönliche Betreuung

16.2.3.1 Delegierte Betreuung

16.2.3.2 Persönliche Betreuung und Homeoffice

16.2.4 Elternkooperation und Elternkonflikt

16.2.5 Geographische Nähe

16.2.6 Finanzielle Verhältnisse

16.3 Entscheidungskriterien auf der Kindseite

16.3.1 Kindesalter

16.3.1.1 Von 0 bis 3 Jahren

16.3.1.2 Ab dem 4. Lebensjahr

16.3.1.3 Besonderheit im Jugendalter

16.3.2 Kindeswille

16.3.2.1 Das Kind will keine alternierende Obhut

16.3.2.2 Das Kind spricht sich für eine alternierende Obhut aus

16.3.3 Geschlecht des Kindes

16.3.4 Geschwisterbeziehungen

16.4 Alternierende Obhut: Fazit

Teil III: Kindesschutzmaßnahmen und Handlungsalternativen bei strittiger Betreuungsaufteilung

17 Die Kindesanhörung

17.1 Rechtsgrundlage

17.2 Zuständigkeit und Anforderungen an die anhörende Person

17.3 Befragung und Protokollierung der Ergebnisse

17.4 Auswirkung der Anhörung auf das Kind

18 Kinderanwaltschaft

18.1 Ziel und Zweck

18.2 Selbstbestimmung oder Zwang zur Autonomie?

18.3 Zur Kinderanwaltschaft aus psychologischer Sicht

18.3.1 Rollenverständnis

18.3.2 Umgang mit Niederlage

18.3.3 Fachlichkeit

18.3.4 Subjektiver vs. objektiver Kindeswille

18.3.5 Wiederholte Befragungen

19 Therapie von Kindern

19.1 Kontraindikation für eine Kindertherapie

19.2 Indikation für eine Kindertherapie

20 Begleitete Eltern-Kind-Kontakte

21 Freiwillige Elternprogramme

21.1 New Beginnings – Neue Anfänge

21.2 Kind im Blick

21.3 Kinder aus der Klemme

22 Die angeordnete Elternmediation

22.1 Unterschied zur klassischen Mediation

22.1.1 Zum Prinzip Freiwilligkeit

22.1.2 Zum Prinzip Autonomie

22.1.3 Zum Prinzip Neutralität

22.1.4 Zum Prinzip Vertraulichkeit

22.2 Einfluss der juristischen Prozessstruktur

22.3 Indikation und Kontraindikation von angeordneter Elternmediation

22.4 Formen der angeordneten Elternmediation

22.4.1 Child-inclusive-Mediation

22.4.2 Shuttle-Mediation

22.5 Schematischer Ablauf einer angeordneten Elternmediation

23 Gutachten

23.1 Sozialbericht versus Gutachten

23.2 Unterschied zwischen Anhörung und Untersuchung

23.3 Interventionsorientierte Begutachtung

23.4 Entscheidungsorientierte versus interventionsorientierte Gutachten

23.4.1 Entscheidungsorientierung

23.4.2 Interventionsorientierung

23.4.3 Transparenz im interventionsorientierten Gutachten

23.5 Rolle der Sachverständigen

23.6 Beurteilung der Qualität eines Gutachtens

23.6.1 Psychometrische Gütekriterien eines Gutachtens

23.6.1.1 Objektivität

23.6.1.2 Reliabilität

23.6.1.3 Validität

23.6.1.4 Objektivitäts-Validitäts-Dilemma

23.7 Verschriftlichung von Gutachten

23.7.1 Einholen von Fremdangaben

23.7.2 Gutachtenseröffnung

23.8 Auftragsformulierung der auftraggebenden Behörde

23.9 Bearbeitungszeit und Kosten

23.10 Alternative Wege der Entscheidungsfindung

23.10.1 Kurzgutachten

23.10.2 Sachverständige als Experten vor Gericht

23.10.3 Entscheidungsentschlossenheit der Behörde

23.10.4 Fallsupervision

24 Erinnerungskontakte

24.1 Definition von Erinnerungskontakten

24.2 Abgrenzung von begleitetem Umgang

24.3 Ablauf eines Erinnerungskontakts

24.4 Erinnerungskontakte aus psychologischer Sicht

24.4.1 Entwicklungshindernisse in der Spätadoleszenz

24.4.2 Abwehrmechanismen als Hindernisse

24.4.3 Dynamik der Abwehr von Schuld

24.4.4 Dynamik der Abwehr von Scham

24.5 Ziel der Erinnerungskontakte

24.5.1 Unterstützung der Identitätsentwicklung

24.5.2 Möglichkeit der Realitätskontrolle

24.5.3 Verhinderung von Spaltungsvorgängen

24.5.4 Möglichkeit zur späteren Beziehungsaufnahme

24.5.5 Psychoedukation

24.6 Erinnerungskontakte auch bei jüngeren Kindern?

24.7 Zur Kritik an Erinnerungskontakten

25 Zur Zwangsvollstreckung von Kontaktrechten

25.1 Rechtliche Situation

25.2 Zwangsvollstreckung von Umgangskontakten aus psychologischer Sicht

25.3 Zur Zwangsvollstreckung von Erinnerungskontakten

25.3.1 Bedeutung der Urteilsfähigkeit

25.3.2 Bedeutung des Persönlichkeitsrechts des Elternteils

25.3.3 Beurteilung der Zumutbarkeit

25.3.4 Rechtliche Überlegungen

25.3.5 Ethische Überlegungen

25.4 Dilemma zwischen Kindesschutz und Erwachsenenschutz

25.5 Und dann …

26 Schlusswort

Anhang

Literaturverzeichnis

Die Autorin

Sachwortverzeichnis

|13|Vorwort

Der 11-jährige L. und die 8-jährige S. leben seit der Trennung ihrer Eltern vor zwei Jahren bei der Mutter. Den Donnerstag nach Schulschluss und jedes zweite Wochenende verbringen sie mit ihrem Vater. Im Zusammenhang mit der anstehenden Scheidung beantragt nun der Vater vor Gericht die geteilte Obhut. Die Mutter ist strikte dagegen.

In einem anderen Fall verweigert der 6-jährige K. den Kontakt zu seinem Vater hartnäckig. Während die Mutter auf den Willen des Kindes verweist, die Bemühungen des eingesetzten Beistands als quälende Einmischung betrachtet und den Mahnfinger der Behörde als Zumutung wahrnimmt, klagt der Vater die gleiche Behörde an, sein Kontaktrecht schleifen zu lassen und das Gesetz nicht anzuwenden. Die Behörde verspricht sich von einer Begutachtung einen Ausweg aus dieser Doublebind-Situation. Es findet sich aber kein Gutachter, der sich zeitnah um den Fall kümmern könnte, und die Zeit drängt.

Zwangslagen wie diese gehören zum Tagesgeschäft der Familien- bzw. Zivilgerichte und der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Daran hat sich nichts geändert, seit im Rahmen der Reformen des Familienrechts in Deutschland (1998), Österreich (2013) und schließlich in der Schweiz (per 1. Juli 2014) die gemeinsame elterliche Sorge unabhängig vom Zivilstand der Eltern zum Regelfall erklärt wurde. Der mit den Reformen einhergehende Paradigmenwechsel bezieht sich im Grundsatz auf die Rechtsgleichheit zwischen den Eltern, welche nun unabhängig vom ehelichen Status die Verantwortung für Erziehung und Entwicklung des Kindes gemeinsam behalten. Anders als die Sorge bzw. das Sorgerecht kann man das Kind selber aber nicht teilen. Daher gilt es weiterhin, den oder die obhutinnehabenden Elternteile und die entsprechenden Betreuungsanteile zu bestimmen oder den persönlichen Kontakt des Kindes mit dem getrennt lebenden Elternteil zu regeln.

Wenn sich die Eltern nicht einigen können, wo und mit wem das Kind nach der elterlichen Trennung aufwachsen soll, und die Kindbetreuung zum unüberwindbaren Konflikt führt, stellen sich den Entscheidungsbehörden heute jedoch differenziertere und kindeswohlspezifischere Fragen: Während es vor den Reformen nicht selten zu entscheiden galt, welchem Elternteil bei gleicher Voraussetzung die Sorge und Obhut über das Kind zugeteilt werden und welcher Elternteil mit einem Kontaktrecht von circa zwei Wochen|14|enden pro Monat den „Trostpreis“ bekommen soll, ist es heute möglich, eine dem individuellen Kind angepasste Betreuungsaufteilung zu bestimmen.

Die Tatsache, dass die Reformen im Familiengesetz die Eltern als Kenner und Experten für ihre Kinder mit mehr Eigenverantwortung ausstatten und die Sorgerechtsverteilung in der Regel nicht mehr Inhalt der Scheidungsverhandlung ist, entlastet jedoch nicht automatisch die Scheidungsverfahren. Die aus kinderpsychologischer Sicht notwendigen und wichtigen Veränderungen gehen nämlich mit einer größeren Unsicherheit der Entscheidungsbehörden einher, zumal die Frage, welche Betreuungsform dem einzelnen Kind am besten entspricht, keine rechtliche Fragestellung ist. In einem Rechtssystem, in dem eigenverantwortliche Individuen mit gleichen Rechten ausgestattet sind, entstehen an den Grenzen der Rechtsgleichheit naturgemäß Konflikte. Und weil in der Demokratie mangels hierarchischer oder diktatorischer Regeln die Konflikte eben ausgehandelt werden und das Ergebnis dem Kindeswohl entsprechen muss, ist damit zu rechnen, dass die Eltern die Behörden des Staates häufiger anrufen werden, wenn sie ihre Konflikte nicht eigenverantwortlich lösen können.

Beim Entscheiden der ausnehmend psychologischen Frage, welche Kindbetreuung nach der elterlichen Trennung dem Kindeswohl am besten entspricht, sind die Entscheidungsbehörden häufig überfordert, insbesondere dann, wenn sich diese Frage vor dem Hintergrund von scheinbar unlösbaren Elternkonflikten stellt. Demzufolge werden Gutachter beauftragt, Empfehlungen auszusprechen.

Mit diesem Buch soll ein Beitrag zur Entscheidbefähigung von Fachpersonen in entsprechenden Behörden geleistet werden. Diesen Fachleuten eröffnet es die Möglichkeit, sich über die wesentlichen Aspekte, Kriterien und deren Wechselwirkungen zu informieren und diese Aspekte angemessen zu gewichten, um schließlich zu einer Entscheidung zu gelangen. Darüber hinaus richtet sich das Buch an Gutachter und an Psychotherapeuten, welche im Rahmen ihrer Tätigkeit mit getrennten Eltern und deren Kindern arbeiten.

In die vorliegende zweite, überarbeitete Auflage wurden neue Erkenntnisse und Erfahrungen der praktisch tätigen Autorin seit Erscheinen der ersten Auflage aufgenommen. Da im familienrechtspsychologischen Handlungskontext der Umgang mit Kontaktschwierigkeiten die größte Herausforderung darstellt, wird in der zweiten Auflage die Verortung der Problematik unter anderem in der Elternpersönlichkeit verstärkt gewichtet, und entsprechende Lösungsmöglichkeiten (wie z. B. Teilnahme an Elternprogrammen, Obhutumteilung oder Erinnerungskontakte auch bei jüngeren Kindern) werden diskutiert. Erweiterte Ausführungen zur Beurteilung der Qualität eines Gutachtens richten sich sowohl an die Entscheidbehörden als auch an die Sachverständigen.

|15|Abkürzungsverzeichnis

ABGB

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich)

AußAußStrG

Langtitel: Bundesgesetz über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen, Kurztitel: Außerstreitgesetz (Österreich)

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch (Deutschland)

FamFG

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Deutschland)

HKÜ

Haager Kindesentführungsübereinkommen

StGB

Strafgesetzbuch (Deutschland, Österreich)

ZGB

Zivilgesetzbuch (Schweiz)

ZPO

Zivilprozessordnung (Schweiz)

|17|Einleitung

Die Etablierung eines kindeswohlverträglichen Betreuungsmodells bildet sowohl für die Betroffenen als auch für die Entscheidungsbehörden eine der größten Herausforderungen im Umgang mit Trennungseltern. Insbesondere wenn sich Eltern nicht darüber einigen können, fällt dem Staat die Wächterfunktion darüber zu, dass bei allem Verständnis für die Rechte und Bedürfnisse der Eltern das Kindeswohl nicht ins Hintertreffen gerät. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Entscheidungsbehörden müssen Situationen identifizieren können, die Kinder in die Rolle drängen, verlorene Partnerliebe zu kompensieren oder monetäres Ungleichgewicht zwischen den Eltern auszugleichen. Die Behörden müssen einschreiten, wenn der Kampf der Eltern um die Kinder zur Schädigung dieser Kinder führt.

Dass die betroffenen Kinder nicht gleichzeitig bei beiden Eltern leben können, erzeugt einen Interessenkonflikt, der insbesondere beim elterlichen Wunsch nach möglichst „gerechter“ Anwesenheitsverteilung des Kindes ins Gewicht fällt. Nach welchen Kriterien entscheidet man darüber, welches Betreuungsmodell für das Kind am zuträglichsten ist? Welche Gründe führen zu dem Phänomen, dass Kinder nach der Trennung der Eltern den Kontakt zu einem Elternteil ablehnen, und wie ist vorzugehen?

Das vorliegende Buch thematisiert die Herausforderungen und Hürden, welche sich mit den Familiengesetz-Reformen in den deutschsprachigen Ländern und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Ansprüchen einerseits und den konkreten Ansprüchen der getrennten Eltern auf möglichst viel Zeit mit ihren Kindern andererseits ergeben. Im Zentrum der Betrachtung steht das Erleben des Kindes im Umgang bzw. Kontakt mit seinen getrennten Eltern aus entwicklungspsychologischer, systemischer und familienrechtspsychologischer Sicht, dies vor dem Hintergrund der gesetzlichen Vorgaben und Interventionsmöglichkeiten.

Das Buch gliedert sich in drei Teile:

Ausgangspunkt des ersten Teils ist die Bühne, auf welcher die Betreuungsanteile der sorge- und obhutsberechtigten Eltern für das Kind oder der persönliche Verkehr des Kindes mit dem Elternteil ohne Obhut bestimmt und geregelt werden. Vor einem familienrechts|18|psychologischen Hintergrund werden Aspekte dargestellt und erläutert, welche im Drama der konflikthaften „Aufteilung“ des Kindes zwischen den getrennten Eltern eine Rolle spielen, miteinander interagieren und beim Bestimmen der Betreuungsanteile und des persönlichen Verkehrs berücksichtigt und beurteilt werden müssen.

Auf der Seite des Kindes ist dies zunächst der trennungsinhärente Loyalitätskonflikt (Kap. 1) – der Belastungsfaktor, den alle Trennungskinder miteinander teilen. Warum entsteht aus Loyalität ein Loyalitätskonflikt? Was ist das Besondere am Loyalitätskonflikt, und wie wirkt er auf das Kind, wenn sich die Eltern trennen?

Zwar wirkt sich auch die altersabhängige Ambivalenzfähigkeit (Kap. 4.1) und die Resilienz des Kindes (Kap. 4.3) auf das Ausmaß des Loyalitätskonfliktes aus. Aber den größten Einfluss auf dessen Ausprägungsgrad und den Umgang des Kindes damit nehmen die Eltern mit ihrem Verhalten. Eine besonders prägende Größe stellt der anhaltende Elternkonflikt dar (Kap. 2), welcher unabhängig vom Einfluss auf die Betreuungsaufteilung als der kindeswohlschädlichste Trennungsfaktor gilt.

Die Erfahrung zeigt, dass die persönlichkeitsbedingten Problemlösungsstrategien und Absichten der zerstrittenen Eltern eine entscheidende Rolle im Konflikt um die Betreuungsanteile spielen. Daher befasst sich ein weiteres Kapitel mit dysfunktionalem Elternverhalten vor dem Hintergrund der am häufigsten identifizierbaren Persönlichkeitsmerkmale (Kap. 3.1) bei hochkonflikthaften Eltern.

In Abhängigkeit von den genannten Faktoren auf der Kind- und der Elternseite zeigt sich das Ausmaß des Loyalitätskonfliktes schließlich im geäußerten Willen des Kindes auf die Frage, wo und mit wem es nach der Trennung zusammenleben möchte. Im Kapitel 5 über den Kindeswillen werden die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für eine Willensbekundung dargelegt und Einflussgrößen aufgezeigt, welche den Willensausdruck formen.

Im Zusammenhang mit dem Kindeswillen gilt es, die Voraussetzungen für die Urteilsfähigkeit zu bestimmen (Kap. 6).

Ein maßgebender Aspekt bei der Betreuungsaufteilung ist in der Beziehungsgeschichte und den daraus entspringenden individuellen Beziehungen des Kindes zu seinen beiden Eltern verortet (Kap. 8). Während ältere Kinder die Charakteristik dieser Beziehung auf unterschiedliche Art zum Ausdruck bringen, ist sie bei jüngeren Kindern nur aufgrund der Bindungsentwicklung beurteilbar. Unverzichtbar ist folglich bei der Bestimmung einer kindeswohlverträglichen Betreuungsform für Säuglinge und Kleinkinder die Berücksichtigung des Bindungsaspekts (Kap. 9).

Vor dem Hintergrund des systemischen Geschehens interagieren die Aspekte auf der Kindseite mit den Aspekten auf der Elternseite. Während bei obhutinnehabenden Eltern die Erziehungsfähigkeit (Kap. 7) vorausgesetzt werden muss, ist für einen Elternteil mit einem minimalen Kontaktrecht die Betreuungsfähigkeit hinreichend. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen erziehen und betreuen zu unterscheiden.

Die miteinander interagierenden Aspekte auf der Bühne des Streits um das Kind sind nun vorgestellt und charakterisiert. Im zweiten Teil werden die Voraussetzungen und |19|Kriterien für die Festlegung von Betreuungsanteilen bzw. die Regelung des Umgangskontakts eingehend diskutiert. Hochkonflikthafte Eltern imponieren in den Beratungen, Mediationen oder anderweitigen Interventionen in der Regel durch Uneinigkeit in Bezug auf die Frage, wo das Kind nach der Trennung leben, ob und mit welchem Elternteil es wann, wie häufig und wie lange Kontakt haben soll. Können sich die Eltern nach ihrer Trennung oder Scheidung nicht einigen, wo das Kind leben wird und mit welchem Elternteil das Kind wie oft und wie lange Kontakt haben soll, obliegt die Entscheidungskompetenz darüber grundsätzlich den zuständigen Entscheidungsbehörden.

Im dritten Teil werden Interventionen und Handlungsmöglichkeiten dargestellt, welche den Behörden bei solchen Fragen zur Verfügung stehen und das Potential haben, in der konflikthaften Betreuungsaufteilung und bei Kontaktrechtstreitigkeiten das Kindeswohl zu gewährleisten. Die Voraussetzungen sowie Nutzen und Schaden von drittbegleiteten Eltern-Kind-Kontakten, Pflichtmediation, Therapieprogrammen für Eltern, interventionsorientierten Gutachten und Erinnerungskontakten werden diskutiert. Im Rahmen der jüngeren Reformen im Familienrecht wurden als hauptsächliche Ziele die stärkere Eigenverantwortung der Eltern sowie der Vorrang von Beratung und einvernehmlicher Konfliktlösung formuliert. Daher wird sowohl den Interventionsmöglichkeiten als auch den Entscheidungshilfen große Bedeutung zugemessen. Das Buch schließt mit Überlegungen zur Erzwingung und Vollstreckung von Eltern-Kind-Kontakten aus psychologischer und ethischer Sicht.

|21|Teil I: Theoretische Grundlagen

|23|1  Von der Loyalität zum Loyalitätskonflikt

Fallbeispiel

Die beiden berufstätigen Eltern betreuten den 8-jährigen Jan etwa zu gleichen Teilen selber, bis die Mutter den Vater nach einer heftigen Auseinandersetzung wegen einer Außenbeziehung des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung wies und mit Jan zurückblieb. Von nun an kämpften beide Eltern erbittert um die Obhut über Jan. Eine alternierende Obhut kam für die Mutter nicht in Frage. Beim Versuch, Jan auf ihre Seite zu ziehen, machten die Eltern den je anderen Elternteil schlecht. Einerseits unterstützte Jan seinen Vater, indem er in dessen Klagen über die Mutter einstimmte, andererseits berichtete der Junge der Mutter nach den Kontakten mit dem Vater nur Negatives über den Vater. Wie das Kind seine Eltern wahrnahm, führte zu zusätzlichen Konflikten zwischen den Eltern, die Jan immer eins zu eins mitbekam. Zunehmend kamen Klagen von der Schule, dass Jans Leistungen nachließen und er oft in Schlägereien verwickelt sei.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Loyalitätsbemühungen des Kindes und den daraus resultierenden Konflikt. Der Loyalitätskonflikt ist ein scheidungs- bzw. trennungsinhärenter Belastungsfaktor für das Kind und gehört unausweichlich zur elterlichen Trennung dazu. Der Loyalitätskonflikt zählt zu den bedeutsamsten Stressfaktoren, mit denen ein Kind bei der Trennung seiner Eltern konfrontiert ist. Die Auswirkung des Loyalitätskonflikts manifestiert sich insbesondere in Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten zwischen dem Kind und seinen getrennten Eltern. Loyalitätskonflikte sind oft auch dann der Motor, wenn sich Kinder gerecht auf Mutter und Vater verteilen wollen, um ihre streitenden und bedürftigen Eltern zufriedenzustellen. Weil das Fühlen, das Verhalten und der Willensausdruck des Kindes im Loyalitätskonflikt immer darauf ausgerichtet ist, diesen unangenehmen Zustand auszuhalten oder aufzulösen, kann man generell davon ausgehen, dass sich die meisten Umgangs- und Kontaktschwierigkeiten des Kindes vom Loyalitätskonflikt her erklären lassen. In Abhängigkeit von bestimmten Faktoren unterscheiden sich Loyalitätskonflikte im Ausprägungsgrad und Bewältigungsmuster. Diese Tatsache rechtfertigt eine eingehende Betrachtung des Phänomens.

|24|1.1  Grundlage der Loyalität

Was genau ist Loyalität, wie entsteht sie und wie mutiert sie zum Konflikt?

Etymologisch stammt das Wort „loyal“ vom französischen loi, „Gesetz“, und bedeutet gesetzestreu, redlich, anständig. Im familiendynamischen Ansatz des Begründers und Pioniers der Familientherapie, Ivan Boszormenyi-Nagy, wird Loyalität als ein Zusammenwirken von Begegnung und Gerechtigkeit verstanden. Während Begegnung als grundlegendes und konstituierendes Element von Menschsein betrachtet wird, gilt Gerechtigkeit als existentielle Gegebenheit eines Ordnungsprinzips menschlicher Beziehungen.

Vor dem Hintergrund der begründeten Annahme, dass das Streben nach Gerechtigkeit ein primäres Handlungsbedürfnis des Menschen ist, entwarf Boszormenyi-Nagy 1973 eine psychologische Theorie, in der gegenseitige Verpflichtungen, Erwartungen und Ausgleichsbedürfnisse zwischen Familienmitgliedern zu wesentlichen bewussten und unbewussten Verhaltensmotiven werden. Die treibende Kraft erkannten Boszormenyi-Nagy und Spark (1981) in der Loyalität, welche so lange unsichtbar bleibt, wie das Individuum nicht genötigt wird, Position zwischen zwei Menschen oder zwei Gruppen zu beziehen.

Boszormenyi-Nagy betont die vertikale Loyalität unter Blutsverwandten inklusive Adoptivkindern und unterscheidet diese von der horizontalen Loyalität bei Herzensbeziehungen, zum Beispiel Freundschaften. Er geht davon aus, dass allen menschlichen Individuen in den Beziehungen zu ihren Angehörigen ein angeborenes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit innewohnt. Jedes Sein entwickelt sich psychisch in einer Intersubjektivität, der Kind-Eltern-Beziehung. Aufgrund seiner frühen Geburt und der damit einhergehenden biologischen und psychologischen Unreife ist das Menschenkind auf seine Eltern bzw. primären Bezugspersonen angewiesen und muss deren Erwartungen erfüllen, um überleben zu können.

Die bedingungslose Bereitschaft zur Fürsorge beziehen die Eltern aus ihrem wieder auflebenden primären Narzissmus1, welcher sich in Liebe zum Kind verwandelt: Die Eltern sehen im Kind sich selber. Diese Wiederbelebung des primären Narzissmus mit der Elternschaft ist ein inhärenter Bestandteil der menschlichen Entwicklung und offenbart sich beispielsweise in Fällen, in denen Eltern ihr zur Adoption freigegebenes Kind nie kennengelernt haben, sich aber mit diesem Kind lebenslänglich verbunden fühlen und große Anstrengungen unternehmen, um Kontakt zu diesem herzustellen. Das Gegen|25|stück dazu ist die narzisstische Kränkung eines Vaters, der erfährt, dass er nicht der biologische Vater des Kindes ist, in welches er investiert hat, und sich aufgrund dieser Kränkung von diesem Kind zurückzieht (vgl. Klosinski, 2007).

Gründend auf dieser Theorie definiert Ducommun-Nagy (2012) fünf Dimensionen bzw. Bestimmungen von Loyalität innerhalb der Familie:

DieethischeBestimmung bezieht sich auf die Verpflichtungskomponente von Loyalität. Diese ist zunächst an unser Pflichtbewusstsein und unseren Sinn für Fairness und Gerechtigkeit gebunden. Im Gegenzug für ihre Verfügbarkeit zugunsten der Kinder erwarten die Eltern von diesen Loyalität. Diese Loyalität beherrscht die Beziehung und wird auf die Kinder übertragen. Ob dieser Prozess genetisch angelegt ist, unbewusst tradiert wird oder das Resultat von Erziehung ist, bleibt offen.

Fazit: Die Verletzung dieser Dimension geht mit einer ethischen Zuwiderhandlung einher und erzeugt beim Individuum Angst, verstoßen zu werden.

DiepsychologischeBestimmung von Loyalität bezieht sich auf den Verlustschmerz, der fast alle Eltern erfasst, wenn die Kinder autonom werden und von zuhause ausziehen. Im überwiegend unbewussten Wissen um den Verlustschmerz der Eltern geht die Autonomieentwicklung auf Seiten der Kinder mit mehr oder weniger Schuldgefühlen einher. Um diese Schuldgefühle abzuwenden, kommt es vor, dass Kinder auf die Verwirklichung ihrer persönlichen Projekte verzichten oder mit den Eltern einen unbewussten Ausgleichshandel eingehen. Beispielsweise kann ein Sohn seine Selbständigkeit nur schuldlos verwirklichen, indem er den Eltern einmal in der Woche seine Schmutzwäsche bringt, sie also besucht. Dass es sich dabei um einen unbewussten Prozess handelt, der mit der äußeren Realität nichts zu tun hat, zeigt sich daran, dass viele Eltern, welche unter einem ausgeprägten Verlusterleben leiden, die Autonomieentwicklung ihrer Kinder stets als oberstes Erziehungsziel auf ihrer Agenda hatten und diese Entwicklung auch förderten und unterstützten.

Fazit: Die Verletzung der psychologischen Bestimmung der Loyalität wird als Ungerechtigkeit empfunden und erzeugt beim „Täter“ Schuld- und Schamgefühle.

DiesystemischeBestimmung erkennt in der Loyalität ein primäres Ordnungsprinzip, welches die Homöostase der Familie aufrechterhält. Loyalität ist der emotionale Leim, welcher das Weiterbestehen der Familie über die Zeit hinweg garantiert und in der bedingungslosen Akzeptanz von Familienmitgliedern zum Ausdruck kommt. Die Familie ist in ihrem Fortbestehen auf die Loyalität ihrer Mitglieder angewiesen und bestraft die Deserteure. Vom systemischen Standpunkt aus betrachtet, sichert die Loyalität, dass die Kinder die Erwartungen der Eltern erfüllen, um Repressalien zu verhindern.

Fazit: Die Verletzung dieser Dimension geht mit Angst vor Bestrafung einher.

|26|DiefaktischeBestimmung von Loyalität bezieht sich auf den biologischen Aspekt von Loyalität bzw. die Tatsache, dass von einer genetisch angelegten oder durch Prägung entstandenen Verbindung zwischen Familienangehörigen auszugehen ist. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Kinder ihren Erzeugern gegenüber oft auch dann loyal sind, wenn diese es nicht verdient haben oder wenn Kinder nie eine Beziehung zu ihren Erzeugern aufgenommen haben.2 Entsprechend ist die Abwendung und Abkehr von Freunden leichter zu bewältigen als die rigorose Abwendung von der Familie. Offenbar haben wir nicht nur eine verinnerlichte Tendenz, Menschen zu bevorzugen, mit denen wir ein genetisches Erbe teilen, sondern unsere Identitätsentwicklung verlangt auch, dass wir eine tatsächliche oder wenigstens eine imaginierten Verbindung mit unseren Erzeugern etablieren, ähnlich einer Figur, die ohne Hintergrund, von dem sie sich abhebt, nicht erkannt werden kann. Die faktische Loyalität des Kindes gegenüber seinen Eltern ist intrinsisch motiviert und ein existentielles Bedürfnis. Die Unterdrückung dieses Bedürfnisses geht mit Identitätsverlust einher bzw. mit dem Gefühl, nicht zu wissen, woher wir kommen und wer wir sind. Das Kind als Produkt beider Eltern definiert seine Identität zunächst körperlich, seelisch und geistig über seine Eltern. Von diesem Standpunkt betrachtet, sind Loyalitätsbrüche immer auch Identitätsbrüche. Werten sich die Eltern gegenseitig ab, wird damit auch immer ein Teil des Kindes in Frage gestellt.

Fazit: In der Loyalität zum einen und gleichzeitigen Illoyalität zum anderen Elternteil kann das Kind auch einem Teil von sich selber nicht treu sein.

DieexistentielleDeterminante von Loyalität ist mit der dialektischen Definition von Autonomie verknüpft. Da unsere Autonomiemöglichkeit von einer Verbindung mit anderen abhängt, bieten wir unseren Nächsten unsere Loyalität an, um eine „Ich-du-Verbindung“ herzustellen. Diese Verbindung ist für unsere Individuation in der Abgrenzung vom Gegenüber existentiell. Kinder offerieren diese Art von Loyalität auch ihren anonymen Erzeugern. Allein das Wissen darum, dass diese an ihrer Existenz beteiligt sind, reicht dazu offenbar aus.

Fazit: Die Unterdrückung oder das Fehlen dieser Dimension von Loyalität kann die Individuation bzw. das Gefühl von Einzigartigkeit und Einmaligkeit gefährden oder unmöglich machen.

|27|1.2  Loyalitätsverletzung und Loyalitätskonflikt

Die Triebfeder der Loyalität ist also in den primären Bedürfnissen nach Bindung, Zugehörigkeit, Identität und Individuation verortet, welche das Individuum mittels Aufrechterhalten der unsichtbaren Loyalität gewährleistet. Kommt der Mensch in die Lage, dass er diese Loyalität freiwillig oder unfreiwillig verletzen muss, stellen sich unterschwellig sämtliche unangenehmen Gefühle ein, welche den fünf genannten Determinanten von Loyalität innewohnen: Angst vor Bestrafung, Angst, ausgeschlossen zu werden, Schuldgefühle und Angst vor Bedeutungslosigkeit infolge fehlender Identität und Individuation.

Ausgehend von der Familie als Dreh- und Angelpunkt von Loyalität ergibt sich, dass das System „Familie“ aus verschiedenen Subsystemen zusammengesetzt ist, welche miteinander in Konflikt geraten und sich gegenseitig die Loyalität aufkündigen können. Der Loyalitätskonflikt ist in seiner Natur triangulär und bezieht sich auf drei reale oder imaginierte Protagonisten. Im Sinne von „Wenn zwei sich streiten, leidet der Dritte“ ist dieser Dritte mit einer kognitiven Dissonanz konfrontiert:3 Loyal zu bleiben, ist ihm nicht mehr möglich, weil Loyalität gegenüber dem einen Subsystem zu Illoyalität gegenüber dem anderen Subsystem führt.

Abgesehen davon, dass die unabwendbare Verletzung von Loyalität gegenüber einem Subsystem mit den oben beschriebenen unangenehmen Gefühlen einhergeht, bewirkt die kognitive Dissonanz zusätzliche unangenehme Gefühle, nämlich Schuldgefühle, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit. Das Aushalten dieser Gefühle wird zum psychischen Kraftakt und drängt nach Erlösung. Die Begründung dafür liefert die Gestalttheorie.

1.3  Loyalitätskonflikt des Kindes vor dem Hintergrund der Gestalttheorie

Die Gestalttheorie ist ein psychologischer Ansatz, der am Anfang des 20. Jahrhunderts von den Psychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Kurt Lewin konzipiert und unter der Bezeichnung „Gestaltpsychologie“ bekannt wurde. Unter dem Begriff „Gestalt“ versteht man eine Konfiguration oder eine Ereignisfolge, die zwar aus verschiedenen Elementen, Gliedern und einzelnen Ereignissen zusammengesetzt ist, aber als einheitliches Ganzes wahrgenommen wird. „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“ – so lautet denn auch der Leitsatz der Gestaltpsychologie. Der Wortteil „Gestalt“ als eine Art Ganzheitsbegriff bezieht sich nicht nur auf die Wahrnehmung von Konfigurationen, sondern auch auf ein gestalthaftes Denken. Während in den Naturwissenschaften das Hauptinteresse dem Erkennen von kleinsten Teilen gilt, liegt der Fo|28|kus beim gestalthaften Denken auf der Bezogenheit der Teile zueinander. Diese Auffassungsweise führt weg von der Quantität und rückt die Qualität ins Zentrum.

Auf den Menschen bezogen beschäftigt sich die Gestalttheorie vor allem mit der Entstehung von Ordnung im psychischen Geschehen des Individuums in der dynamischen Interaktion mit seiner Umwelt: Der Mensch organisiert seine Wahrnehmungen, sein Denken, Fühlen und Verhalten nach bestimmten Mustern. Dabei bestimmen nicht nur Triebbedürfnisse, außenliegende Kräfte oder feststehende Persönlichkeitseigenschaften das Erleben und Verhalten des Menschen, sondern auch die Interaktion von Individuum und Situation im Sinne eines dynamischen Feldes.

Die Gestalttheorie geht davon aus, dass die Dynamik des psychischen Systems „Mensch“ durch eine Tendenz zu ausgewogenen Zuständen charakterisiert ist und daher Strukturen mit ausgeglichenen dynamischen Beziehungen anstrebt: Der Mensch strebt nach der „guten Gestalt“ oder „guten Form“ und bevorzugt gewisse Konfigurationen wegen ihrer Einfachheit und Kohärenz. Dieses Bedürfnis nach einer harmonischen Form hat zur Folge, dass Individuen versuchen, Inkonsistenzen zu vermeiden, und sich um eine geordnete und kohärente Sicht der Welt bemühen.

Vor diesem Hintergrund hat sich der Gestalttheoretiker Fritz Heider in den 1950er Jahren in seiner Balancetheorie mit der Widersprüchlichkeit in den Beziehungen beschäftigt, die eine Person zwischen sich und anderen Elementen ihrer Umwelt wahrnimmt. Er geht davon aus, dass der Mensch auch in sozialen Beziehungen ausgewogene Zustände gegenüber unausgewogenen Zuständen bevorzugt. Als ausgewogenen oder Gleichgewichtszustand bezeichnet Heider eine soziale Beziehungsordnung, in welcher die Relationen zwischen den Akteuren aufeinander abgestimmt und harmonisch sind und daher nicht nach Veränderung drängen.

Die Zustände „Ausgeglichenheit“ und „Unausgeglichenheit“ werden in der Gleichgewichtstheorie auf eine aus drei Akteuren bestehende Triade angewendet. Bestimmend für die Entscheidung, ob ein Beziehungssystem als ausgewogen wahrgenommen wird oder nicht, ist die Anzahl der beteiligten positiven (+) und negativen (−) Beziehungen zwischen den Beziehungsakteuren (s. Abb. 1). Eine Triade „ICH – Person A – Person B“ ist im Gleichgewicht, wenn das triadische System eine gerade Anzahl negativer Beziehungen aufweist (Situation 2, 3 und 4 in Abb. 1) oder gar keine negativen Beziehungen enthält (Situation 1). Alle anderen Konstellationen, wie zum Beispiel zwei Positivbeziehungen und eine Negativbeziehung (Situationen 5, 6 oder 7), sind nicht im Gleichgewicht. Situation 8 ist unbestimmt.

Die ausbalancierten, das heißt nach keiner Veränderung strebenden Triaden lassen sich metaphorisch aus der Sicht von ICH bzw. meiner Sicht wie folgt interpretieren:

(Situation 1): Der „Freund“ meines „Freundes“ ist mein „Freund“.

(Situation 2): Der „Feind“ meines „Freundes“ ist mein „Feind“.

(Situation 3): Der „Freund“ meines „Feindes“ ist mein „Feind“.

(Situation 4): Der „Feind“ meines „Feindes“ ist mein „Freund“.

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Abbildung 1:  Mögliche Beziehungs-Triaden nach Heider (1977, S. 240)

In den unausgeglichenen Triaden (Situationen 5, 6 und 7) steht das ICH in einem Loyalitätskonflikt. Die damit verbundene Spannung tendiert zu einer Veränderung oder geht mit der Mobilisierung von psychischer Energie einher, wenn der Loyalitätskonflikt aufrechterhalten werden will oder aufrechterhalten werden kann. Der Ausprägungsgrad des Loyalitätskonfliktes oder die Fähigkeit, die Spannung auszuhalten, hängt nun von verschiedenen Einflussgrößen ab:

meiner Abgrenzungsfähigkeit,

meiner Beziehungsgeschichte mit A und B,

dem Ausprägungsgrad der Negativbeziehung zwischen A und B,

dem Ausprägungsgrad der Bedürftigkeit von A und B, wie ich sie wahrnehme,

den Loyalitätsforderungen von A und B mir gegenüber,

dem Grad meiner Abhängigkeit von A bzw. B.,

der mir zur Verfügung stehenden Zeit, die Bedürfnisse sowohl von A als auch B zu bedienen.

Auf dieser Grundlage lässt sich nun der Loyalitätskonflikt des Kindes mit getrennten Eltern darstellen: Das Kind steht an meiner Stelle bzw. anstelle von ICH, und Vater und Mutter ersetzen meine Freunde bzw. übernehmen die Position von A und B:

In dieser Konstellation (Abb. 2, Situation 1) gibt es naturgemäß zwei positive Vorzeichen für die Beziehung des Kindes zu Mutter und Vater und ein negatives Vorzeichen für die Beziehung zwischen Vater und Mutter. Diese Triade ist im Ungleichgewicht und strebt somit nach einer Spannungsauflösung bzw. nach einem Gleichgewicht. Aus der Sicht der Eltern wäre ein Gleichgewicht dann hergestellt, wenn die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil negativ wird (Situation 2 oder 3), und aus der Sicht des Kindes wäre ein Gleichgewicht vorhanden, wenn die Beziehung zwischen den Eltern sich wieder in Rich|30|tung „positiv“ verändert (Situation 4). Das natürliche Streben nach Veränderung bezieht sich beim Kind also auf den Wunsch, dass die Beziehung zwischen den Eltern wieder positiv wird. Geschieht dies nicht, bleibt das Kind im Loyalitätskonflikt gefangen. Es hat genau zwei Möglichkeiten: Entweder ist es in der Lage, die aus diesem Ungleichgewicht resultierende Spannung und die damit einhergehenden unangenehmen Gefühle auszuhalten (Situation 1) oder es solidarisiert sich mit einem Elternteil und opfert die Loyalität zum anderen Elternteil (Situation 2 oder 3). Das Gleichgewicht wäre auch dann hergestellt, wenn das Kind zu beiden Elternteilen eine Negativbeziehung installieren würde. Aber diese Möglichkeit bleibt wohl allenfalls erwachsenen Kindern vorbehalten.

Abbildung 2:  Das Kind in der Triade mit seinen Eltern (M, V) in Trennungsfamilien

1.4  Kriterien für die Ausprägung des Loyalitätskonflikts beim Kind

Vor dem Hintergrund der bio-psycho-sozialen Natur von Loyalität ergibt sich in Verbindung mit den gestalttheoretischen Gesetzen die Tatsache, dass jedes Kind in einen Loyalitätskonflikt gerät, wenn sich die Eltern trennen. Der Loyalitätskonflikt gehört zur elterlichen Trennung wie das Fieber zur Grippe-Erkrankung. Aber wie eine Grippe mit unterschiedlich hohem Fieber einhergehen kann, ist auch der Loyalitätskonflikt beim Kind unterschiedlich ausgeprägt. Wie schwerwiegend der Loyalitätskonflikt des Kindes in der Beziehung zu seinen getrennten Eltern ist, hängt grundsätzlich von den genau gleichen Faktoren ab wie in der freundschaftlichen Triade. Aber schon deshalb, weil der emotionale Leim der vertikalen Familien-Loyalität fester zusammenhält, ist die Situation der Kinder in der Zerrissenheit zwischen den Eltern gravierender als in den vergleichbaren Situationen von Freunden in der horizontalen Loyalität in Abbildung 1. Während wir in der Beziehung zu zwei Freunden jederzeit die Möglichkeit haben, ein Gleichgewicht herzustellen, indem wir die Loyalität zu A und/oder B aufkündigen, ist diese Bewältigungsstrategie beim Kind schon allein aufgrund der emotionalen und auch existentiellen Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern zumindest problematisch.

Ob das Kind in der Lage ist, den Konflikt auszuhalten, oder ob es den Konflikt auflöst, indem es im Sinne einer Bewältigungsstrategie eine Allianz mit einem Elternteil eingeht, hängt von folgenden Faktoren ab:

|31|der Abgrenzungsfähigkeit des Kindes,

der Beziehungsgeschichte des Kindes mit dem Vater und der Mutter,

dem Ausprägungsgrad der Negativbeziehung zwischen Vater und Mutter,

den Loyalitätsforderungen und Manipulationsversuchen von Vater und Mutter gegenüber dem Kind,

der vom Kind wahrgenommenen Bedürftigkeit des Vaters oder der Mutter,

dem Grad der Abhängigkeit des Kindes von Vater und Mutter,

der Zeit, welche dem Kind zur Verfügung steht, die Beziehungsbedürfnisse sowohl des Vaters als auch der Mutter zu bedienen.

1.4.1  Abgrenzungsfähigkeit des Kindes

Das Kind kann den Konflikt eher aushalten, wenn seine Ambivalenzfähigkeit entwickelt ist und es über eine gute Abgrenzungsfähigkeit verfügt (vgl. Kap. 5.1). Die Ambivalenzfähigkeit ist aber anfällig für Störungen. Ist das Kind durch die Trennung der Eltern schwer belastet, kommt es zu einer Regression4 in der Ambivalenzentwicklung, wobei sich das Kleinkind wieder an seine Bezugsperson klammert und mit dieser eine Allianz eingeht und das ältere Kind in seiner Ambivalenzfähigkeit einbricht und entsprechende Irritationen und Verunsicherungen zeigt. Beim älteren Kind hängt die Abgrenzungsfähigkeit auch von individuellen Faktoren ab, etwa von Resilienz und Geschlecht. Erfahrungsgemäß können sich Knaben besser abgrenzen als Mädchen. Dies hat damit zu tun, dass sich Mädchen eher über Beziehungen identifizieren und Knaben eher über Kompetition.

1.4.2  Beziehungsgeschichte des Kindes mit dem Vater und der Mutter

Der Loyalitätskonflikt ist umso schwerer, je sicherer und vertrauter das Kind an beide Elternteile gebunden ist und je verfügbarer und verlässlicher beide Elternteile dem Kind vor der Trennung zur Verfügung gestanden haben. Mit der Unerträglichkeit eines ausgeprägten Loyalitätskonflikts steigt das Risiko, dass das Kind die Beziehung zu einem Elternteil opfert.

Man könnte nun meinen, dass – ähnlich wie bei Freundschaftstriaden – auch unterschiedlich enge Eltern-Kind-Beziehungen den Loyalitätskonflikt des Kindes bestimmen. Entsprechend wäre ein 8-jähriger Knabe mit einer engen Beziehung zur Mutter und einer distanzierten Beziehung zu seinem beruflich oft abwesenden Vater weniger loyalitätsbelastet. Aber aufgrund der besonderen Bedeutung der vertikalen Loyalität unter Familien|32|angehörigen (vgl. Kap. 1.1) kann man keineswegs davon ausgehen, dass dieses Kind weniger leidet, im Gegenteil. Seine Schuldgefühle können sogar noch größer sein, wenn es den Grund für seine enge Verbindung mit der Mutter und seine distanzierte Beziehung zum Vater vor der Trennung bei sich verortet. Hingegen ist der Loyalitätskonflikt dieses Kindes sicher kaum ausgeprägt, wenn es selber oder die Mutter vor der Trennung häufig Opfer von Gewalt und Missbrauch durch den Vater geworden ist.

1.4.3  Ausprägungsgrad der Negativbeziehung zwischen Vater und Mutter

Der Loyalitätskonflikt ist umso schwerer, je größer der emotionale Abstand der Eltern infolge Elternkonflikt ist und je länger dieser Konflikt dauert. Eltern, welche ihre emotionalen Ressourcen in einen anhaltenden Konflikt investieren, fehlt es an Ressourcen, das Kind im Aushalten des Loyalitätskonfliktes positiv zu beeinflussen und zu unterstützen. Schon allein dadurch steigt das Risiko, dass das Kind den Loyalitätskonflikt längerfristig nicht mehr aushält und dysfunktional löst.

1.4.4  Loyalitätsforderungen und Manipulationsversuchen von Vater und Mutter gegenüber dem Kind

Entsprechendes Verhalten spielt sich oft vor dem Hintergrund spezifischer Persönlichkeitseigenschaften der Eltern ab (vgl. Kap. 3). Die Grenze zwischen subtilen, unbewussten Loyalitätsforderungen und bewussten Entfremdungsstrategien ist fließend und stellt für das Kind eine große Versuchung dar, sich in der Allianz mit einem Elternteil vom unerträglichen Loyalitätskonflikt zu entlasten.

1.4.5  Vom Kind wahrgenommene Bedürftigkeit des Vaters oder der Mutter

Die Not eines oder beider Elternteile kann die Loyalitätsverteilung des Kindes steuern. Insbesondere wenn das Kind bemerkt, dass es mit seinem Verhalten oder allein durch seine Gegenwart diese Not zu lindern vermag und damit in diesem Chaos etwas Kontrolle zurückgewinnen und sich wirksam fühlen kann, steigt das Risiko, dass es sich dem Elternteil zuwendet, dem es schlechter geht. Diese Wahrscheinlichkeit ist umso höher, wenn es sich bei diesem Elternteil um den Elternteil handelt, von dem sich das Kind nach der Trennung abhängiger fühlt.

|33|1.4.6  Grad der Abhängigkeit des Kindes von Vater und Mutter

Während sich in Freundschaftsbeziehungen oft subtil unterschiedliche Abhängigkeiten identifizieren lassen, ist ein Kind naturgemäß von beiden Eltern abhängig. Aber auch das Kind ist ein Homo oeconomicus und wählt in Notsituationen seine Entscheidung und Handlung im Sinne einer Maximierung der Nutzenfunktion. Ist die Grenze der Erträglichkeit erreicht, steigt das Risiko, dass das Kind seine Loyalität letztlich dem Elternteil zukommen lässt, von dem es sich nach der Trennung abhängiger fühlt.

1.4.7  Zeitliche Verfügbarkeit

Für die Pflege von zwei Zweierbeziehungen bzw. der Beziehung mit dem Vater und der Beziehung mit der Mutter muss zwangsläufig mehr Zeit aufgewendet werden als für das Zusammensein mit beiden Eltern. Da auch der Tag eines Kindes nur 24 Stunden hat, kommen insbesondere ältere Kinder in Bedrängnis, wenn sie sich ihren Eltern gegenüber verpflichtet fühlen und infolgedessen ihre altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben vernachlässigen.

1.5  Loyalitätskonflikt und psychische Störungen

Das Aushalten eines Loyalitätskonflikts absorbiert viel psychische Energie. Je nach individueller Konstitution des Kindes kann es geschehen, dass diese Energie nicht mobilisiert werden kann und das Kind psychisch dysfunktional reagiert. So entwickelt ein vormals unauffälliges Kind nicht selten Ängste, Rückzugstendenzen, Schulschwierigkeiten oder zeigt depressive Tendenzen, wie zum Beispiel erhöhte Weinerlichkeit, niedrige Frustrationstoleranz, aggressives Verhalten oder Antriebsschwierigkeiten, oder das jüngere Kind reagiert nach abgeschlossener Sauberkeitsentwicklung erneut mit Ausscheidungsstörungen.

Nebst der Koalition und Allianzbildung mit einem Elternteil und Distanzierung bis Ablehnung des anderen Elternteils entwickeln loyalitätsbelastete Kinder auch andere Störungen, welche im Sinne einer subjektiven Bewältigungsstrategie verstanden werden müssen. Prototypisch dafür sei der selektive Mutismus genannt. Diese psychische Sprachstörung beginnt meist zwischen dem 5. und 9. Lebensjahr. Betroffene Kinder können sprechen, tun dies aber nur mit einer bestimmten sozialen Gruppe, in der Regel mit den Eltern und engen Verwandten. Das emotional bedingte selektive Verstummen ist nicht mit bewusster Antipathie oder Sympathie gegenüber einer Person zu erklären, und meistens ist kein eindeutiger, punktueller Auslöser identifizierbar. Geht der Loyalitätskonflikt mit einer vorbestehenden Sprachentwicklungsverzögerung einher, ist das Risiko besonders hoch, dass sich ein selektiver Mutismus entwickelt.

|34|Mutistisches Schweigen ist ein verständlicher Lösungsversuch in einer Situation der Verwirrung, in der Unklarheit über Grenzen und Unsicherheit darüber herrscht, mit welchen Personen noch gesprochen werden darf. Das Kind spricht dann nicht mehr, um sich nicht zu versprechen. Darüber hinaus geht das Sprechen und Verstandenwerden bei Kindern mit verzögerter Sprachentwicklung von vornherein mit einer Anstrengung einher. Daher ist es aus der Optik des Kindes funktional, nicht mehr zu sprechen und demzufolge nichts mehr falsch zu machen. Kann das psychische System des Kindes den Loyalitätskonflikt nicht mehr bewältigen und kommt es zu einer Symptombildung, droht die Gefahr, dass das Symptom ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und vom eigentlichen Problem ablenkt. Eine psychotherapeutische Abklärung hat zwar das Potential, das Problem zu erkennen. Mit der damit einhergehenden Pathologisierung kann die Belastung des Kindes aber auch ansteigen (vgl. Kap. 19).

1

Am Anfang des Lebens steht die enge Beziehung von Mutter und Kind, in der das Kind ein ozeanisches Gefühl der Vollkommenheit und Harmonie erlebt. Der Säugling kann noch nicht zwischen sich und der Umgebung unterscheiden. Er fühlt sich noch identisch mit der Umwelt und die Umwelt identisch mit sich. Man nimmt an, dass im Verlauf seiner Entwicklung ein intensives Bestreben beim Individuum besteht, den verloren gegangenen Idealzustand der Verschmelzung in der frühen Kindheit wiederherzustellen. In dem Maße, wie der Mensch diesem Ideal nachkommt, verspürt er erneut einen Teil von dem anfänglichen Gefühlszustand der Vollkommenheit, der im psychoanalytischen Jargon als „primärer Narzissmus“ definiert wird.

2

In der klinischen Arbeit zeigt sich nicht selten, dass insbesondere die von ihren Eltern am meisten vernachlässigten oder misshandelten Kindern oft diejenigen sind, welche gegenüber ihren Eltern am loyalsten sind. Dies hat damit zu tun, dass die menschliche Psyche die Tatsache kaum integrieren kann, dass ausgerechnet der oder die Menschen uns misshandeln, die für unseren Schutz und unsere Geborgenheit zuständig sind. Im Nicht-wahrhaben-Wollen dieser Tatsache tendiert das Individuum dazu, in einer Art „Wiederholungszwang“ den Täter immer wieder zu prüfen, in der Hoffnung, zu erkennen, dass es selber sich getäuscht hat.

3

„Kognitive Dissonanz“ bezeichnet einen unangenehmen Gefühlszustand, den man bei sich widersprechenden Meinungen oder Handlungen verspürt und daher auflösen will.

4

Im psychologischen Sprachgebrauch versteht man unter „Regression“ einen Rückfall auf einen bereits überschrittenen Punkt der Reifungsentwicklung. Regressives Verhalten tritt in Stresssituationen auf und läuft unbewusst ab. Es dient der Stabilisierung des psychischen Gleichgewichts. In diesem Sinne ist es nicht dysfunktional, sondern Teil der Fähigkeit zur Selbststeuerung.

|35|2  Der anhaltende Elternkonflikt

Die in den Meta-Analysen zusammengefassten Resultate der Scheidungsforschung verweisen auf folgende Faktoren, welche – mit absteigender Stärke – negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Kinder nach der Scheidung haben (Amato & Keith, 1991a; Amato & Keith, 1991b; Amato & Gilbreth, 1999; Amato, 2001):

ausgeprägter Nachscheidungskonflikt zwischen den Eltern;

beeinträchtigte Beziehung zu einem belasteten Elternteil, in der Regel zur Mutter;

abwesender oder beeinträchtigter nicht sorgeberechtigter Elternteil, in der Regel der Vater;

finanzielle Schwierigkeiten der Restfamilie;

substantielle Veränderungen der gewohnten Umgebung wie zum Beispiel Umzug der Kinder oder Verlusterfahrungen;

unzulängliche Bewältigungsstrategien der Kinder selber.

Der nach der Trennung anhaltende Elternkonflikt wurde wiederholt und konsistent als der vermutlich schädlichste Faktor in Bezug auf die Anpassung der Kinder nach der Scheidung identifiziert. Der schädliche Einfluss resultiert aus dem Loyalitätskonflikt, der mit dem Elternkonflikt einhergeht, aus den Gefühlen von Unsicherheit und Kontrollverlust infolge mangelhafter Bewältigungsstrategien des Kindes und aus der verringerten Aufmerksamkeit der mit ihrem Konflikt beschäftigten Eltern.

Auf der Bühne der Sorge- und Obhutsverteilung spielt der Elternkonflikt die entscheidende Rolle. Hochkonflikthafte Trennungsfamilien sind jedoch eine sehr heterogene Gruppe. Das Auftreten und die Intensität typischer Konflikteigenschaften können stark variieren. Um die kindeswohlrelevanten Eigenschaften des Elternkonfliktes zu identifizieren und die betreuungsrelevanten Faktoren im Einzelfall zu bestimmen, ist daher die Beurteilung der Konfliktdynamik, des Konfliktinhalts und des Konfliktverhaltens unumgänglich.

|36|2.1  Bedeutung der Charakteristik des Konflikts für das Kind

Es versteht sich von selbst, dass der anhaltende Streit der Eltern das Kind emotional bedroht und daher in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Inwieweit das Kind davon betroffen ist und Schaden nimmt, hängt von den Eigenschaften des Konflikts ab.

HäufigkeitundDauerdesKonflikts. Das Kind leidet umso mehr, je häufiger es dem elterlichen Konflikt ausgesetzt ist und je länger die Konflikte anhalten. Über mehrere Stunden oder Tage brodelnde Spannungen sind besonders belastend. Das Kind hat nur wenige Gelegenheiten, seine Eltern noch als Einheit zu erleben, und je häufiger und länger das Kind die Eltern im Konflikt erlebt, desto seltener macht es die Erfahrung, dass die Eltern sich freundlich begegnen.

AusprägungsgraddesKonflikts. Das Konfliktausmaß für sich genommen fällt bei Kleinkindern mehr ins Gewicht als bei älteren Kindern. Lautstarke und bedrohliche Auseinandersetzungen strapazieren das Bindungssystem von Säuglingen und Kleinkindern, und zwar unabhängig vom Inhalt des Konflikts. Beispielsweise ist es für das Kleinkind bedrohlicher, wenn sich die Eltern anschreien, als wenn die Eltern überhaupt nicht mehr miteinander reden. Zu bedenken ist auch die anscheinende charakterliche Verwandlung der Eltern während eines heftigen Streites: Je ausgeprägter der Konflikt ist, desto deutlicher nimmt das Kind die Veränderung in Mimik, Stimme und Bewegungsmuster seiner Eltern wahr. Diese Veränderungen sind insbesondere für Kleinkinder irritierend und beängstigend.

Charakteristikbzw. „Spielart“ desKonfliktes. Es ist hinreichend belegt, dass körperliche Gewalt zwischen den Eltern für das Kind besonders traumatisierend ist. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass es für das Kind sogar traumatischer ist mitzuerleben, wenn sich die Eltern gegenseitig misshandeln, als wenn es selbst misshandelt wird (Lehmann, 1997; Osofsky, 2003). Offenbar belastet körperliche Gewalt zwischen den Eltern die Kinder unabhängig davon, ob sie direkt oder indirekt Zeugen der Gewalt sind. Selbst wenn die Kinder der Gewaltszene nicht direkt ausgesetzt waren oder nach wie vor sind, zeigen sie häufig posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, regressives Verhalten, Schlafstörungen und eine erhöhte Anfälligkeit für andere psychischen Störungen (z. B. Kindler, 2006; 2013b).

Konfliktdynamik. Das Kriterium Konfliktdynamik fragt nach dem Verlauf und der Beteiligung der Akteure. Für die anhaltende Hochkonflikthaftigkeit nach der elterlichen Trennung stimmt die Redewendung „Zum Streiten gehören zwei“ nur bedingt: In der Praxis finden sich durchaus auch Fälle, in denen ausschließlich ein Elternteil – häufig aufgrund einer nicht bewältigten Trennung – den anderen Elternteil mit streitsüchtigem Verhalten an sich bindet oder ein Stalking-Verhalten entwickelt (vgl. Kap. 4.2). Da die beiden Part|37|ner durch gemeinsame Kinder naturgemäß verbunden sind und den Kontakt der Kinder zu beiden Elternteilen gewährleisten müssen, kann sich der harmoniewillige Ex-Partner nicht in dem Maße vom streitsüchtigen Partner distanzieren oder verabschieden, wie dies bei kinderlosen Paaren angemessen wäre. Sind die Kinder in der Lage, das streitsüchtige Verhalten eines Elternteils zu erkennen, steigt das Risiko, dass sich die Kinder von diesem Elternteil distanzieren, was in der Regel das streitsüchtige Verhalten des Elternteils zusätzlich nährt.

InhaltdesKonfliktes. Streitigkeiten über kindbezogene Themen wie zum Beispiel Kontakte zum anderen Elternteil oder Erziehung sind für Kinder besonders belastend, weil diese Konflikte ein hohes Scham- und Schuldpotential enthalten.

ArtundWeisederKonfliktauflösung. Jeder Konflikt hat eine Dynamik und eine Struktur mit einem Anfang und in der Regel auch einem Ende. Für Kinder ist es wichtig zu wissen, was nach einer Auseinandersetzung kommt, wann der Streit beendet ist und wann sie wieder angstfrei durchatmen können. Erkennen Kinder das Ende einer Auseinandersetzung nicht, bleiben sie in der Angst gefangen.

2.2  Auswirkungen des Elternkonflikts auf das Erleben des Kindes

Feindseligkeit zwischen den Eltern verringert sich in der Regel in den ersten drei Jahren nach der Scheidung. Acht bis zwölf Prozent der Eltern verharren jedoch in anhaltendem, kindeswohlschädigendem Konflikt. Ergänzend zu den Ausführungen über die Auswirkungen des Elternkonflikts auf die Kinder in unserem Buch Scheidung und Kindeswohl (Staub & Felder, 2004) sei festgehalten, dass sich anhaltende Trennungskonflikte auf sämtliche Bereiche des kindlichen Erlebens auswirken.

MangelhafteAufmerksamkeit. Der anhaltende Konflikt beansprucht streitende Eltern oft emotional und kognitiv derart, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Bedürfnisse ihrer Kinder im Auge zu behalten und diese in ihren Entwicklungsaufgaben hinreichend zu unterstützen.

InkonsistenteDisziplinierung. Anhaltender Elternkonflikt geht oft mit einer inkonsistenten Disziplinierung der Kinder einher. Dies ist besonders problematisch, weil das Kind in den Zeiten des Familienumbruchs und des damit verbundenen Orientierungsverlusts auf eine verlässliche Elternführung angewiesen wäre.

BedrohteemotionaleSicherheit. Elternkonflikt bedroht Kinder in erster Linie in ihrer emotionalen Sicherheit und aktiviert Trennungs- und Verlustangst. Nach der elterlichen |38|Trennung aktiviert jeder Streit der Eltern bei jüngeren Kindern die Angst, dass es auch vom anderen Elternteil verlassen werden könnte.

Assoziationvon „Streit“ und „Katastrophe“. Nicht selten kommt es vor, dass Kinder aus differenzierten und gut situierten Familien ihre Eltern im Rahmen einer dramatischen Trennung zum ersten Mal richtig streiten sehen und dieser Streit sogar gewalttätig abläuft. Wenn dieser Konflikt in der Folge anhält und sich chronifiziert, fehlt diesen Kindern die Erfahrung, dass sich Eltern streiten und danach wieder versöhnen können. In der Folge setzt das Kind Streit mit Trennung gleich. Diese Gleichsetzung wird zum Risiko in der kindlichen Sozialentwicklung, wenn konflikttraumatisierte Kinder im späteren Alter dazu tendieren, Beziehungen in Frage zu stellen oder sofort zu beenden, sobald sich zwischenmenschliche Konflikte einstellen.

ElternkonfliktalstraumatischeErfahrung. Nicht zuletzt erfüllt ein eskalierender Elternkonflikt kurz vor oder anlässlich der vollzogenen Trennung die drei Kriterien des Traumas, wenn der Konflikt im Leben des Kindes ein (a) einschneidendes, (b) nicht vorhersehbares und (c) nicht beeinflussbares Ereignis darstellt.

GefahrdesemotionalenMissbrauchs. Wie hinreichend belegt ist, steigt mit zunehmendem Konflikt die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder von ihren Eltern parentifiziert5 werden, indem diese ihre emotionale Situation mit den Kindern diskutieren und von ihnen Unterstützung und Loyalität erwarten oder einfordern (Fichtner, Dietrich, Halatscheva, Hermann & Sander, 2010).

2.3  Auswirkungen des Elternkonflikts auf die Gesundheit des Kindes

Die psychischen Reaktionen des Kindes auf den Elternkonflikt sind vielfältig und können sich in so gut wie sämtlichen Verhaltensproblemen des Kindesalters manifestieren. Auffälliges Verhalten und somatoforme Störungen6 resultieren zum größten Teil aus der Beeinträchtigung der emotionalen und existentiellen Sicherheit. Abgesehen davon, dass das |39|Kind seine Eltern im Streit verändert und als fremd wahrnimmt, stellt sich insbesondere das Kleinkind die wenn auch unbewusste, so doch existentielle Frage: Wer achtet auf mich, wenn die Eltern sich in Monster verwandeln oder einander kaputt machen? Ältere Kinder im Stadium der Entwicklung des Gerechtigkeitssinnes fühlen sich gezwungen herauszufinden, wer von den streitenden Eltern im Unrecht ist. Rückzugsverhalten, Weinerlichkeit und Konzentrationsprobleme sind Ausdruck der übermäßigen gedanklichen Beschäftigung mit dem Elternkonflikt. Im Endeffekt können sich diese Kinder nicht auf ihre Entwicklungsaufgaben konzentrieren. Viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, das Elternverhalten zu überwachen und zu kontrollieren, um gegebenenfalls rechtzeitig reagieren oder sogar einschreiten zu können. Häufig entwickeln diese Kinder ein ausgeprägtes Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis, was mit zunehmendem Alter zur Belastung wird und oft Anlass für eine psychotherapeutische Behandlung ist. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Elternkonflikt und dem Loyalitätskonflikt entwickeln Kleinkinder mit verzögerter Sprachentwicklung nicht selten zusätzlich einen selektiven Mutismus (vgl. Kap. 1.5).

Das andauernde Überwachen der elterlichen Konflikte und die gedankliche Beschäftigung damit bringt das Kind an die Grenzen seiner emotionalen Ressourcen und erzeugt einen chronischen Zustand andauernder hoher physiologischer Erregung. Mittlerweile ist es unbestritten, dass chronischer Stress die Funktionen der Immunabwehr negativ beeinflusst. Bekannt ist, dass in Stresssituationen beispielsweise Glukokortikoide verstärkt ausgeschüttet werden. Diese Hormone hemmen die Bildung von immunkompetenten Zellen. Dies führt bei konfliktbelasteten Kindern zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Darüber hinaus ist erwiesen, dass chronischer Stress im jungen Gehirn die Entwicklung von Regionen beeinträchtigt, die sowohl für die kognitive als auch für die emotionale Steuerung bedeutsam sind (vgl. Roth & Strüber, 2014; Schubert, 2015).7

2.4  Zusammenhang von Elternkonflikt und Eltern-Kind-Kontakt

Die Autoren des Forschungsprojekts „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“ des Deutschen Jugendinstituts in München identifizierten die Gründe für die Belastung der Kinder in hochkonflikthaften Trennungsfamilien vor allem in der wenig entwicklungsgerechten Gestaltung des persönlichen Verkehrs (Fichtner et al., 2010). Konfliktbelastete Kinder neigen dazu, den Kontakt mit dem Elternteil, mit dem sie nicht zusammenleben, zu vermeiden oder zu verweigern. Im verzweifelten Versuch, sich in einer ausweglosen Situation ein Maximum an emotionaler Sicherheit zumindest eines Elternteiles zu bewah|40|ren, sind Kinder bereit, die Beziehung zum anderen Elternteil zu opfern, auch wenn sie mit diesem Elternteil vor der elterlichen Trennung emotional verbunden waren. Diese Tatsache schlug sich auch in den Forschungsresultaten nieder: Je länger Kinder im Hochkonfliktfeld der Eltern verblieben, desto häufiger wechselten sie zur Strategie der Distanzierung bis zur Kontaktverweigerung. Dass aber das konfliktbelastete Kind auf diese rigorose Bewältigungsstrategie zurückgreift, ist nur vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Loyalitätskonfliktes zu verstehen (vgl. Kap. 1.4). Ein Hinweis darauf ist folgende klinische Erfahrung: Kein Kind hat es gerne, wenn die Eltern streiten. Werden aber sowohl Scheidungskinder als auch Kinder aus vollständigen Familien gefragt, ob es für sie schlimmer wäre, wenn die Eltern sich häufig streiten oder wenn sie sich trennen würden, ziehen die Kinder in der Regel streitende Eltern vor.

5

Der Begriff „parentifizieren“ bezeichnet eine unbewusste Haltung und Verhaltensweise, die Ausdruck einer spezifischen Beziehungserfahrung des Kindes mit den Eltern ist. Dabei übernimmt das Kind die Rolle und die Aufgabe eines Elternteils für die Mutter, den Vater oder sogar für beide. Häufig kompensiert das Kind damit defizitäres Elternverhalten.

6

Als „somatoforme Störungen“ werden körperliche Beschwerden bezeichnet, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen. Dabei stehen neben Allgemeinsymptomen wie Müdigkeit und Erschöpfung Schmerzsymptome an vorderster Stelle, gefolgt von Herz-Kreislauf-Beschwerden, Magen-Darm-Beschwerden und pseudoneurologischen Symptomen wie zum Beispiel Störungen der Sinnesorgane.

7

Weil bestimmte Neurotransmitter verstärkt freigesetzt werden, kommt es zu einer funktionellen Entkoppelung von Amygdala, Hippocampus und präfrontalem Kortex, so dass die einströmenden kognitiven und emotionalen Reize nicht fokussiert wahrgenommen und integriert werden können, sondern lediglich als fraktionierte Sinnesmodalitäten abgespeichert werden.

|41|3  Persönlichkeit der Eltern

Sind Fachpersonen und Entscheidungsbehörden im familienrechtspsychologischen Kontext mit unüberwindbaren und kindeswohlschädigenden Nachtrennungskonflikten konfrontiert, stellt sich die Frage nach spezifischen Persönlichkeitseigenschaften dieser Eltern.

Persönlichkeitseigenschaften sind relativ zeitstabile und überdauernde Charaktermerkmale, welche einen Menschen im Kern ausmachen. Dazu gehören auch Dispositionen bzw. Tendenzen, in bestimmten Situationen in bestimmter Weise zu erleben und sich zu verhalten. In der Persönlichkeitspsychologie hat sich das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit etabliert. Nach diesem Modell der „Big Five“ lassen sich die meisten menschlichen Persönlichkeitseigenschaften mittels fünf Persönlichkeitsdimensionen beschreiben, unabhängig von der jeweiligen Sprache oder Kultur. Entsprechend lässt sich jeder Charakter anhand der Ausprägung dieser fünf Haupteigenschaften bestimmen: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Anpassungsbereitschaft und emotionale Stabilität. Die interindividuellen Unterschiede in der Ausprägung dieser fünf Eigenschaften sind etwa zur Hälfte genetisch determiniert und etwa zur Hälfte das Resultat von Entwicklungserfahrungen und deren Wechselwirkung mit der genetischen Anlage.

Die Theorie der „Big Five“ ist durch eine Vielzahl von Studien belegt und gilt seit den 1970er Jahren als Standardmodell in der Persönlichkeitsforschung (vgl. Amelang & Bartussek, 2001).

3.1  Persönlichkeitsmerkmale von hochkonflikthaften Eltern

In der Praxis imponieren die Gemeinsamkeiten von Eltern, welche nach der Trennung auf einem hohen Konfliktniveau weiteragieren: Hochkonflikthafte Trennungseltern sind in anhaltende Konflikte hinsichtlich Obhutsregelung und Umgangsvereinbarungen verwickelt. Das Konfliktniveau bleibt über längere Zeit hinweg konstant hoch und lässt sich weder durch behördliche noch durch gerichtliche Interventionen nachhaltig reduzieren. Die Hochkonflikthaftigkeit schlägt sich auf mehreren Ebenen nieder:

|42|Auf der individualpsychologischen Ebene handelt es sich um emotional traumatisierte Eltern. Persönliche Grundängste, wie zum Beispiel Angst vor dem Verlassenwerden oder Angst vor Bedeutungs- oder Machtverlust, wurden mit der Trennung aktiviert. Die Beziehung zwischen den Eltern ist geprägt von Demütigungen, emotionalem Missbrauch, Wut, Rachegelüsten und gegenseitigem Misstrauen.

Auf der Paar-Ebene wird deutlich, dass die emotionale Bindung zwischen den Beziehungspartnern nicht aufgelöst werden kann. Schuldzuweisungen und Bestrafungswünsche dienen als Klebstoff. Entsprechend lässt sich die Paar-Ebene nicht von der Eltern-Ebene separieren. Auf der Eltern-Ebene findet ein kindzentrierter Rechtsstreit statt. Inhalte beziehen sich auf das Sorgerecht, die Obhut und den persönlichen Verkehr. Darüber hinaus drehen sich die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den Eltern um Erziehungsfragen und Koordinationsfragen wie zum Beispiel Übergabezeiten oder Nachholen von Wochenenden. Die feindselige Kommunikation anlässlich von Übergaben kann von psychischer oder körperlicher Gewalt begleitet sein. Die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil wird nicht respektiert. Nicht erwiesene Anschuldigungen wegen des Verhaltens und der Erziehungsmethoden des anderen Elternteils wie zum Beispiel Vernachlässigung oder Misshandlung des Kindes gehören zur Tagesordnung. Die Eltern sind nicht oder nicht mehr in der Lage, sich die Bedürfnisse des Kindes ins Bewusstsein zu rufen.

Auf der sozialen Ebene suchen sich die Eltern in ihrem Kampf Verbündete. Zunächst wird das Kind in den Konflikt einbezogen und sowohl implizit als auch explizit dazu angehalten, Stellung zu beziehen. Die erweiterte Familie bzw. Verwandtschaft, Freunde und professionelle Helfer werden ebenfalls in den Konflikt einbezogen oder angehalten, Stellung zu beziehen.

Die Hochkonflikthaftigkeit erreicht sehr rasch auch die behördliche Ebene. Vereinbarungen, welche anlässlich von Verhandlungen unterzeichnet worden sind, werden nicht umgesetzt und gerichtliche Anordnungen oder Interventionen nicht eingehalten. Es kommt zu Beschwerden und Wiederaufnahmen von Verfahren. Interventionen, welche darauf abzielen, das Konfliktverhalten der Eltern zu beeinflussen, scheitern. Sämtliche in Frage kommenden Maßnahmen sind alsbald ausgeschöpft.

Obwohl nur ein kleiner Prozentsatz aller Scheidungseltern langfristig als hochkonflikthaft gilt, beanspruchen diese Familien unverhältnismäßig viele personelle und finanzielle Ressourcen. Abgesehen davon ist die professionelle Arbeit mit hochkonflikthaften Eltern zeitintensiv und psychisch belastend.

Die Autoren des Projekts „Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft“ (Fichtner et al., 2010) haben sechs Merkmale hochstrittiger Eltern identifiziert:

reduzierte Offenheit für neue Erfahrungen,

reduzierte Verträglichkeit,

gering erlebte Selbstwirksamkeit in der elterlichen Beziehung,

unflexible Denkstrukturen,

Wahrnehmungsverzerrungen,

eingeschränkte Emotionsregulation.

|43|Die Vermutung liegt nahe, dass Eltern oder Elternteile, welche die Fachpersonen hilflos machen und Entscheidungsnotstände generieren, psychisch beeinträchtigt sind. Dabei handelt es sich jedoch seltener um offensichtliche psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie, Wahnerkrankung, manische Störung, Angst- oder Depressionserkrankungen. Zum einen sind Eltern mit diagnostizierten psychiatrischen Störungen in der Regel in Behandlung oder haben Helfer im Hintergrund, welche mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Eltern in Bezug auf die Kindbetreuung vertraut sind. Zum anderen verfügen Menschen mit neurotischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen, Angsterkrankungen oder Depressionen über eine Krankheitseinsicht und erleben ihre Beeinträchtigung als ich-dyston, das heißt als störend und ich-fremd. Daher sind diese Menschen in der Lage, Hilfe anzunehmen.

Wenn eine nicht auflösbare Hochkonflikthaftigkeit bei psychiatrisch unauffälligen Trennungseltern mit fehlender Ansprechbarkeit auf Unterstützung und Noncompliance in Bezug auf behördliche Maßnahmen einhergeht, handelt es sich bei den Akteuren in der Regel um Menschen mit einer akzentuierten Persönlichkeitsstruktur oder gar Persönlichkeitsstörung.

3.1.1  Von der akzentuierten Persönlichkeit zur Persönlichkeitsstörung

In der Persönlichkeit präsentiert ein Mensch seine charakteristischen Verhaltensweisen, seine Vorlieben und sein zwischenmenschliches Beziehungsmuster, womit er soziokulturelle Aufgaben und entsprechende Erwartungen erfüllt. In der Kombination mit den erworbenen Charaktereigenschaften sind es auch die stark genetisch bestimmten Eigenschaften wie Temperament und Intelligenz, welche die individuelle Persönlichkeit prägen und dem Individuum zu einer sinnstiftenden Identität verhelfen. Vor diesem Hintergrund sind Persönlichkeitszüge als tief verwurzelte Muster des Verhaltens, der Wahrnehmung, der Beziehungsgestaltung und des Denkens sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf die Umwelt zu verstehen.

Bei einer akzentuierten Persönlichkeitsstruktur und gar Persönlichkeitsstörung sind die Persönlichkeitszüge unflexibel, wenig angepasst oder dermaßen dysfunktional, dass die Leistungs- und Beziehungsfähigkeit beeinträchtigt und die kulturspezifische Lebenstauglichkeit eingeschränkt ist. Dabei sind die dysfunktionale Wahrnehmung und das entsprechende Verhalten des betroffenen Menschen zu einem integrierten Bestandteil von dessen Persönlichkeit geworden und mit seinem Charakter verschmolzen. Das gestörte Verhalten wird vom Betroffenen als ich-synton (zum Ich gehörend) und daher kaum als abnorm erlebt. Während subjektiv kaum ein Leidensdruck beklagt wird, ist es vielmehr das Umfeld, das leidet und hilflos wird.

Bei Elternteilen mit akzentuierter Persönlichkeitsstruktur oder gar Persönlichkeitsstörung und einem entsprechend dysfunktionalen Kommunikations- und Konfliktverhalten sind zumindest die Kinder, aber auch die damit befassten Fachpersonen und Behörden |44|betroffen. Weil persönlichkeitsauffällige Menschen in der Regel über eine intakte Ich-Stärke8 verfügen und jegliche Schwächen leugnen, sind ihre Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen nicht auf Anhieb erkennbar, schon gar nicht, wenn man diese Menschen im Einzelsetting anhört. Der Kern von Persönlichkeitsstörungen offenbart sich in zwischenmenschlichen Spannungen, und so dient es dem diagnostischen Verständnis, hochkonflikthafte Eltern miteinander interagieren zu lassen.

Die Grenze zwischen individuellem Persönlichkeitsstil (z. B. gewissenhaft, sorgfältig), akzentuierter Persönlichkeit