Das Wohlstandsparadox - Clayton M. Christensen - E-Book

Das Wohlstandsparadox E-Book

Clayton M. Christensen

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Beschreibung

Warum gelangen einige Länder zu Wohlstand, während andere in tiefer Armut verharren? Warum sind viele Länder heutzutage noch ärmer als in den 60ern? Und das, obwohl Milliarden an Spenden und Entwicklungshilfe geflossen sind. Gewohnt analytisch und mit scharfem Blick widmet sich Clayton M. Christensen genau diesen Fragen. Er untersucht, warum viele Investitionen in die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes nicht den erwarteten Erfolg bringen, sondern die Probleme oft noch verschlimmern. Und er stellt seinen Ansatz zur Bekämpfung der globalen Armut vor: Unternehmertum und Innovationen. Richtig eingesetzt können sie Länder aus der Armut befreien und für nachhaltigen Wohlstand sorgen.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Prosperity Paradox: How Innovation Can Lift Nations Out of Poverty

ISBN 9780062851826

Copyright der Originalausgabe 2019:

Copyright © 2019 by Clayton M. Christensen, Efosa Ojomo, and Karen Dillon.

All rights reserved.

Published by arrangement with HarperBusiness, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Copyright der deutschen Ausgabe 2019:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Irene Fried

Covergestaltung, Satz und Herstellung: Daniela Freitag

Lektorat: Claus Rosenkranz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-643-1eISBN 978-3-86470-644-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenverlag

Clayton M. Christensen

Efosa Ojomo und Karen Dillon

DAS

WOHLSTANDS

PARADOX

Warum klassische Entwicklungshilfe scheitertund wie innovative Ideen Hoffnung geben

Inhalt

Vorwort

TEIL 1Die Macht marktschaffender Innovationen

1Eine Einführung in das Wohlstandsparadox

2Innovation ist nicht gleich Innovation

3In der Anstrengung liegen Chancen

4Pull oder push? Die Geschichte zweier Strategien

TEIL 2Wie Innovation zu Wohlstand für viele führte

5Die Innovationsgeschichte Amerikas

6Ost trifft auf West

7Mexikos Effizienzproblem

TEIL 3Hindernisse überwinden

8Gute Gesetze genügen nicht

9Korruption ist nicht das Problem; es ist eine Lösung

10Wenn du es baust, kommen sie vielleicht nicht

TEIL 4Und nun?

11Vom Wohlstandsparadox zum Wohlstandsprozess

Anhang

Danksagungen

Anmerkungen

Vorwort

In den frühen 1970er-Jahren diente ich zwei Jahre lang als mormonischer Missionar in Südkorea, einem der damals ärmsten Länder Asiens. Dort wurde ich selbst Zeuge, welch verheerende Auswirkungen Armut hat: Ich verlor Freunde an vermeidbare Krankheiten und musste mitansehen, wie Familien tagtäglich eine unmögliche Wahl treffen mussten, ob sie nun Essen auf den Tisch brachten, ihre Kinder erzogen oder die ältere Generation unterstützten.

Leid war Teil des Alltags. Diese Erfahrung prägte mich so sehr, dass ich mich später – als ich das Rhodes-Stipendium für Oxford erhielt – entschied, Entwicklungsökonomie mit Fokus auf Südkorea zu studieren. Ich hoffte, das würde zu einem Job bei der Weltbank führen, wo ich dazu beitragen würde, die während meiner Zeit in Südkorea erkannten Probleme zu lösen. Nur dass in dem Jahr, in dem ich mich bei der Weltbank bewarb, keine weiteren Amerikaner eingestellt wurden – dieser Weg war mir also versperrt. Und so landete ich durch eine Laune des Schicksals in Harvard und studierte stattdessen Betriebswirtschaft. Die eindringlichen Bilder des völlig verarmten Landes sind mir indes in Erinnerung geblieben.

Wenn ich heute Südkorea besuche, hat es erfreulicherweise nichts mit jenem Land gemein, an das ich mich erinnere. In den Jahrzehnten seit meinem Aufenthalt dort hat sich Südkorea nicht nur zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelt. Es hat sich darüber hinaus zur angesehenen Gruppe der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gesellt und ist von einem Entwicklungshilfe-Empfänger zu einem internationalen Geber geworden.1 Der amerikanische Journalist Fareed Zakaria ging sogar so weit, Südkorea als „das erfolgreichste Land der Welt“2 zu bezeichnen. Dem kann ich nur beipflichten. Südkoreas Transformation binnen weniger Jahrzehnte ist ein wahres Wunder.

Ein derart dramatischer Wandel war für zahlreiche andere Nationen, die Südkorea noch vor wenigen Jahrzehnten glichen, leider nicht möglich. Ganz im Gegenteil: Burundi, Haiti, Niger, Guatemala und viele andere Länder, die bereits in den 1970er-Jahren bitterarm waren, sind es noch. Die Fragen, die vor so vielen Jahren mein Interesse an der Unterstützung Südkoreas weckten, nagten jahrzehntelang an mir. Weshalb finden manche Länder einen Weg zu Wohlstand, während andere in tiefer Armut verharren?

Wie sich zeigt, ist Wohlstand ein vergleichsweise junges Phänomen. Die meisten reichen Nationen waren nicht immer wohlhabend. Nehmen wir zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Wir vergessen gerne, wie weit es Amerika gebracht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren auch die Vereinigten Staaten bettelarm, Korruption grassierte und die Regierungsführung war chaotisch. De facto war Amerika in den 1850er-Jahren ein ärmeres Land als Angola, die Mongolei oder Sri Lanka heute.3 Damals lag die Kindersterblichkeit bei rund 150 Todesfällen pro 1.000 Geburten, das ist dreimal so hoch wie die Kindersterblichkeitsrate in Afrika südlich der Sahara im Jahr 2016.4 Das Amerika von damals hatte keine stabilen Institutionen und Infrastrukturen, es unterschied sich grundlegend von dem Land, das es heute ist. Aber gerade deshalb bietet die Geschichte Amerikas Hoffnung für arme Länder weltweit. Einen Weg raus aus der Armut zu finden ist möglich. Die Frage ist nur wie.5

Jahrzehntelang haben wir untersucht, wie in armen Ländern Armut eingedämmt und Wirtschaftswachstum geschaffen werden kann, und wir konnten echte Fortschritte feststellen. So verringerte sich die Quote extremer Armut weltweit von 35,3 Prozent im Jahr 1990 auf schätzungsweise 9,6 Prozent im Jahr 2015.6 Das bedeutet, mehr als eine Milliarde Menschen sind seit 1990 aus der Armut geführt worden. So eindrucksvoll diese Statistik auch sein mag, sie könnte ein falsches Fortschrittsgefühl vermitteln. Der Großteil dieser von der Armut befreiten Menschen, das heißt etwa 730 Millionen Menschen, kommt allein aus China. Dieses Land hat es geschafft, die extreme Armutsquote von 66,6 Prozent im Jahr 1990 auf heute unter zwei Prozent zu verringern.7 Das ist in der Tat beeindruckend. In anderen Regionen, wie zum Beispiel in Afrika südlich der Sahara, hat sich die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen jedoch beträchtlich erhöht.8 Und selbst für diejenigen, die formal gesehen nicht in extremer Armut leben, ist das Überleben weiterhin äußerst prekär.

Zwar haben wir tatsächlich Fortschritte erzielt, dennoch scheint kein Konsens darüber zu herrschen, wie Armut zu beseitigen ist. Die Vorschläge reichen von der Entwicklung der katastrophalen gesellschaftlichen Infrastruktur (unter anderem in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Transport) über die Verbesserung von Institutionen, die Erhöhung der Entwicklungshilfe bis hin zur Ankurbelung des Außenhandels und vielem mehr.9 Aber selbst diejenigen, die sich nicht auf eine passende Lösung einigen können, würden in einem Punkt übereinstimmen: dass Fortschritte bisher zu langsam erfolgten.

Abbildung 1: Das Pro-Kopf-Einkommen von 1960–1969 wurde gemittelt, um einen Einkommenswert pro Kopf für das Jahr 1960 zu ermitteln. Die Werte sind inflationsbereinigt.

Quelle: Datenbank des World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds

Bedenken wir Folgendes: Seit den 1960er-Jahren haben wir mehr als 4,3 Billionen US-Dollar öffentliche Entwicklungshilfe als Unterstützung für ärmere Länder gewährt.10 Doch leider hatten viele unserer Interventionen nicht die erhoffte Wirkung. Tatsächlich zählen sogar viele Länder, die bereits 1960 als arm galten, auch heute noch als arm. Schlimmer noch, mindestens 20 Länder waren 2015 ärmer als noch im Jahr 1960 (siehe Abbildung 1), in den meisten Fällen selbst nach Hilfeleistungen in Milliardenhöhe.11

Efosa Ojomo, Co-Autor dieses Buchs und einer meiner ehemaligen Studenten in Harvard, kennt den Schmerz des Scheiterns trotz gut gemeinter Bemühungen aus erster Hand. Seine Erfahrung erlaubt Einblicke in die Frustration, die viele einst erfolgversprechende Projekte auslösten, die darauf ausgelegt waren, ärmeren Volkswirtschaften bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Efosa stammt ursprünglich aus Nigeria, hat aber den Großteil seines Erwachsenenlebens in den Vereinigten Staaten gelebt und gearbeitet. Obgleich er die Armut kannte, die diese armen Länder plagte, blieb sie für ihn nur ein Randproblem. Bis er die Widmung in dem Buch Wir retten die Welt zu Tode: Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut las – den Angriff von Professor William Easterly von der New York University auf die Bestrebungen des Westens, verarmten Ländern zu helfen. Easterly erzählte die Geschichte Amaretchs, eines zehnjährigen äthiopischen Mädchens, das täglich um drei Uhr morgens aufstand, um Feuerholz zu holen. Anschließend lief sie kilometerweit, um dieses Feuerholz auf dem Markt zu verkaufen, womit sie zum Unterhalt ihrer Familie beitrug.

Nachdem er ihre Geschichte gelesen hatte, konnte Efosa in jener Nacht nicht schlafen. Kein Kind verdiente es, ein derart hartes Leben zu führen. Deshalb gründete er gemeinsam mit einigen Freunden die gemeinnützige Organisation „Poverty Stops Here“, um Geld für den Bau von Brunnen in verschiedenen Regionen in seinem Heimatland Nigeria zu sammeln. „Bei dem Besuch armer Gemeinden sticht einem als Erstes der Wassermangel ins Auge“, erzählte Efosa mir später. „Wasser ist Leben. Deshalb existieren so viele Wasserprojekte auf der ganzen Welt. Wir müssen den Menschen Zugang zu Wasser verschaffen. Das ist der Anfang.“ Schmerzhaft deutlich werden bei dem Besuch eines armen Landes aber auch die mangelhafte Bildungsqualität, unbefestigte Straßen, eine schlechte Regierungsführung und weitere Armutsindikatoren. Liegt daher nicht die Vermutung nahe, die Lösung des Armutsproblems läge darin, all das oder wenigstens eines dieser Probleme zu beheben?

Efosa konnte über 300.000 US-Dollar sammeln und bestimmte fünf Gemeinden, die man beim Bau von Brunnen unterstützen würde. Es war ein Tag ungetrübter Freude, als Efosa und seine Unterstützer diese Gemeinden besuchten, um die Brunnen in Betrieb zu nehmen – nicht nur für Efosa, sondern auch für die Anwohner. Ich kann mir kaum einen bewegenderen Moment vorstellen, als zu sehen, wie sauberes Wasser in ausreichender Menge aus einer Quelle in einem Dorf sprudelt, in dem es vorher keine gab.

Nun stellte sich aber heraus, dass Brunnen kaputtgehen. Etwa ein halbes Jahr nach dem Bau eines neuen Brunnens erhielt Efosa einen Anruf bei sich zu Hause in Wisconsin, dass kein Wasser mehr käme und er aus Tausenden Kilometern Entfernung jemanden in Nigeria finden sollte, der das reparierte. Da sich sämtliche von seiner Organisation gebauten Brunnen in ländlichen Gegenden befanden, war es immer eine Herausforderung, einen gut ausgebildeten Techniker zu finden, der die Ersatzteile beschaffen und in das Dorf fahren konnte. Ein Problem wurde behoben, ein anderes tauchte auf. Heute ist nur noch einer der fünf von Poverty Stops Here installierten Brunnen aktiv. Efosa und seine Freunde, die diesen Dörfern in aller Ernsthaftigkeit helfen wollten, gaben den Bau zusätzlicher Brunnen widerwillig auf.

Poverty Stops Here ist beileibe keine außergewöhnliche Geschichte. Alleine in Afrika gibt es einer Studie des Internationalen Instituts für Umwelt und Entwicklung zufolge über 50.000 kaputte Brunnen. In einigen Kommunen sind nicht weniger als 80 Prozent der Brunnen defekt.12 In einem der Dörfer, das Efosa für einen Brunnen auserkoren hatte, fiel ihm ein paar Hundert Meter von dem von Poverty Stops Here errichteten ein bereits vorhandener, defekter Brunnen auf, der von einer internationalen Hilfsorganisation installiert, anschließend jedoch aufgegeben worden war.

Für Efosa, der so gerne dazu beitragen wollte, das Leid zu mindern, war diese Erfahrung zutiefst entmutigend. Sein Scheitern warf einige schwierige Fragen für ihn auf. Wenn nicht einmal eine Ressourcenspritze und eine Portion guter Willen diese drängenden Probleme lösen konnten, was sollte denn helfen? Weshalb sind einige Anstrengungen von Erfolg gekrönt, andere jedoch nicht? Warum ergeht es manchen Ländern besser als anderen? Die vielleicht wichtigste Erkenntnis für Efosa war, dass die Linderung der Armut – oder der offensichtlichsten Anzeichen von Armut – das Problem langfristig womöglich nicht lösen wird. Armut zu bekämpfen ist nicht dasselbe wie Wohlstand zu schaffen. Wir müssen beginnen, anders zu denken. Unsere Hoffnung ist, dass dieses Buch nicht nur dazu beiträgt, Ihre Einstellung zum Problem der wirtschaftlichen Entwicklung zu ändern, sondern auch die aufkommenden Fragen und die zur Unterstützung von hilfsbedürftigen Gemeinden entwickelten Lösungen zu überdenken.

Was verstehen wir unter „Wohlstand“? Es gibt einige offensichtliche und gebräuchliche Kriterien für Wohlstand. Da wären der Bildungszugang, das Gesundheitswesen, Sicherheit und Gefahrenabwehr, eine gute Regierungsführung und so weiter. Der Legatum Prosperity Index, der den Wohlstand von 148 Nationen in diesen Kategorien misst und eine Rangfolge erstellt, enthält darüber hinaus mehrere andere Parameter, wie zum Beispiel Maßnahmen zum Umweltschutz. Wenig überraschend zählen Länder wie Norwegen, Neuseeland und Finnland zu den Spitzenreitern, während der Sudan, Jemen und die Zentralafrikanische Republik am Ende der Liste zu finden sind.

Auch wenn die oben genannten Punkte wesentlich für die Bestimmung des Wohlergehens von Mitgliedern einer Gesellschaft sind, sehen wir den Zugang zu Erwerbstätigkeit und Aufstiegschancen als die wichtigeren Faktoren. Für dieses Buch definieren wir „Wohlstand“ folglich als den Prozess, mit dem immer mehr Menschen in einer Region ihr wirtschaftliches, soziales und politisches Wohlergehen verbessern.

Diese Unterscheidung ist wichtig, denn wir könnten einige Länder zwar als „reich“, aber nicht als besonders wohlhabend einstufen, darunter Länder, die mit wertvollen Bodenschätzen gesegnet sind. Wohlstand bildet den Nährboden für zunehmende Freiheiten – ob wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Natur – und ist weniger auf den Zugang zu ein oder zwei einzelnen Ressourcen, wie dem Öl, angewiesen. Während nun einige Länder reich sind und Wege gefunden haben, diese Reichtümer unter einigen ihrer Bürger zu verteilen, würden wir sie nicht als wohlhabend bezeichnen, denn dieser Reichtum hat keine Kultur der Unternehmungen, der Innovationen und keine Vielfalt der Märkte hervorgebracht. Er hat nicht zu einer sozioökonomischen Mobilität für alle geführt. Und diese Ressourcen haben auch nicht ein Umfeld nachhaltigen Wohlstands erzeugt, der bestehen bleibt, wenn die natürlichen Ressourcen versiegen oder künftig ihren Wert verlieren. Hieraus wird deutlich, wie wichtig es ist, zu verstehen, woraus Armut entsteht.

So sind meine Co-Autoren Efosa Ojomo, die ehemalige Herausgeberin der Harvard Business Review Karen Dillon und ich der Frage nachgegangen, wie aus armen Ländern wohlhabende Nationen werden können.

Für eine bessere Lesbarkeit haben wir das Buch in der Perspektive des Ich-Erzählers geschrieben, der hierin vertretene Standpunkt ist jedoch durchaus das Produkt unserer Zusammenarbeit. Efosa und Karen sind in jeder Hinsicht meine Co-Autoren gewesen und ich bin sehr dankbar für ihre Kooperation und Leidenschaft bei dem Versuch, die Welt zu verbessern. Wir wissen, dass viele von Ihnen unsere Ziele teilen.

Dieses Buch haben wir mit Blick auf vier Zielgruppen geschrieben.

Zum einen ist dieses Buch für diejenigen in der Entwicklungshilfe, die alles daransetzen, die Welt von Armut zu befreien. Wir begrüßen Ihre Anstrengungen und hoffen, dass der in diesem Buch vorgestellte Ansatz Ihnen dabei hilft, die Probleme, die Sie lösen möchten, aus einem anderen Blickwinkel, vielleicht sogar kontraintuitiv, zu betrachten.

Die zweite Zielgruppe sind Investoren, Innovatoren und Unternehmer, die in Schwellenländern erfolgreiche Unternehmen aufbauen möchten. Ihre Arbeit spielt bei der Schaffung von Wohlstand in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen eine wesentliche Rolle. Die Welt braucht Sie heute mehr denn je. Mit unseren Ideen wollen wir Sie nicht aus rein bürgerlicher Verantwortung zu einer Investition in diesen Ländern drängen. Vielmehr bezwecken wir damit, den Blick für mögliche Gelegenheiten zu schärfen, die anderen unter Umständen entgehen könnten.

Drittens ist es für politische Entscheidungsträger gedacht, die Maßnahmen ergreifen möchten, um die Entwicklung in ihren Ländern voranzutreiben. Es gibt nur wenige Jobs weltweit, die schwieriger sind als der eines Staatsdieners in einem Land, das über zu geringe Ressourcen verfügt. Wir hoffen, dass wir durch die Bereitstellung eines theoretisch fundierten Entwicklungsmodells dazu beitragen, dass Sie diese Ideen in eine für die einzigartige Situation in ihrem Land angemessene Entwicklungspolitik umsetzen können.

Und nun der letzte und wichtigste Grund: Wir haben dieses Buch für die zehnjährigen Kinder der Welt geschrieben, die wie Amaretch ein besseres Leben verdient haben. Es richtet sich an die Dorfbewohner in Nigeria, die sich über das aus Efosas Brunnen sprudelnde Wasser freuten, nur um dabei zuzusehen, wie sie Monate später versiegten. Es ist für die Väter und Mütter, die unermüdlich arbeiten, um ihre Familien zu versorgen, aber nicht über ein Leben am Existenzminimum hinauskommen. Und letztlich haben wir Das Wohlstands-Paradox für eine zunehmende Anzahl von jungen Menschen geschrieben, deren Hoffnung mit jedem Tag schwindet, weil ihre Welt ohne Perspektiven zu sein scheint. Wir hoffen, dieses Buch entfacht erneut ihr Vertrauen und ihren Optimismus: denn eine bessere Zukunft wartet auf sie. Eine bessere Zukunft wartet auf uns alle.

TEIL 1

DIE MACHT MARKTSCHAFFENDER INNOVATIONEN

1 EINE EINFÜHRUNG IN DAS WOHLSTANDSPARADOX

Von seriösen Menschen ausgelacht zu werden ist nicht schön. Mich haben seriöse Menschen ausgelacht, als ich ihnen vor 20 Jahren erklärte, ich wolle ein Telekommunikationsnetz in Afrika aufbauen. Dann nannten sie mir sämtliche Gründe, warum das Projekt nie gelingen würde. Aber ich dachte weiter darüber nach. Mir sind die Herausforderungen bekannt. Aber weshalb können sie nicht die Chance erkennen?

– MO IBRAHIM

Worum geht es?

Hungernde Kinder an Straßenecken. Slums ohne sauberes Wasser und sanitäre Anlagen. Keinerlei Beschäftigungsperspektiven für Jugendliche, deren Anteil an der Bevölkerung wächst. Die meisten von uns sind betroffen angesichts der schmerzhaften Zeichen von Armut, die in armen Ländern auf der ganzen Welt zu sehen sind. In extremer Armut leben nach Angaben der Weltbank nach wie vor mehr als 750 Millionen Menschen, die mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen müssen. Helfen wollen wir alle. Die wohl naheliegendste Lösung für diese Probleme – arme Länder durch Investitionen direkt bei der Verringerung dieser sichtbaren Armutszeichen zu unterstützen – hatte jedoch nicht den durchschlagenden Erfolg, den viele sich erhofft hatten. Man muss sich nur ansehen, wie viele Milliarden Dollar über die Jahre bei relativ schleppenden Fortschritten in diese Probleme geflossen sind, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmt. Möglich, dass diese Bemühungen vorübergehend die Not einiger Menschen lindern – aber wir bewirken damit nicht genug.

Was wäre also, wenn wir dieses Problem mit anderen Augen betrachteten? Was wäre, wenn wir uns darauf konzentrierten, dauerhaften Wohlstand zu schaffen, anstatt zu versuchen, die sichtbaren Zeichen der Armut zu beseitigen? Das mag eine kontraintuitive Vorgehensweise erfordern. Diese ermöglicht es Ihnen jedoch, dort Chancen zu entdecken, wo Sie es vielleicht am wenigsten erwarten.

Als Mo Ibrahim in den späten 1990er-Jahren zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, eine Mobilfunkgesellschaft in Afrika zu gründen, hielten ihn die Menschen für verrückt. „Alle sagten, Afrika sei ein hoffnungsloser Fall“, erinnert er sich heute. „Ein gefährlicher Ort, voller Diktatoren, voller Verrückter … die allesamt korrupt wären.“ Es ging so weit, dass man ihn auslachte, wenn er von seiner Idee erzählte.

Ibrahim hatte früher bei der British Telecom als technischer Direktor gearbeitet und leitete eine eigene erfolgreiche Beratungsfirma. Sein Plan war, in Afrika südlich der Sahara – wo die meisten Menschen noch nie ein Telefon benutzt, geschweige denn besessen hatten, ein Mobilfunknetz von Grund auf aufzubauen. Auf dem afrikanischen Kontinent, der von den Basaren Marokkos bis hin zu den großen Geschäftskomplexen in Johannesburg reicht, sind 54 Nationen beheimatet. Die Gesamtbevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen verteilt sich auf über 11,7 Millionen Quadratmeilen – eine Fläche, die mehr als die dreifache Größe der Vereinigten Staaten ausmacht. Der überwiegende Teil dieses Territoriums verfügte über keine bestehende Infrastruktur für alte Festnetztelefone, ganz zu schweigen von den für eine funktionierende Mobilfunkgesellschaft notwendigen Sendemasten. Damals galten Mobiltelefone als teures Spielzeug für die Reichen, als Luxus, den sich die Armen nicht leisten konnten und, was noch wichtiger war, den sie nicht brauchten. Bei der Prüfung der Marktchancen in Afrika haben viele – auch Ibrahims Kunden und ehemalige Kollegen bei den großen Telekommunikationsunternehmen – das Ausmaß der Armut, die fehlende Infrastruktur, die Labilität von Regierungen und selbst den nicht gewährleisteten Zugang zu Wasser, Gesundheitsvorsorge und Bildung angeführt. Sie sahen die allgegenwärtige spürbare Armut, die jeden Winkel der Gesellschaft durchdringt, aber keinen fruchtbaren Boden für ein Neugeschäft.

Ibrahim sah die Sache anders – was für ihn spricht. Statt Armut zu sehen, erkannte er Chancen. „Lebt man weit entfernt von dem Dorf, in dem die Mutter wohnt, und möchte gerne mit ihr sprechen, muss man womöglich eine siebentägige Reise auf sich nehmen“, erinnert sich Ibrahim. „Könnte man hingegen einfach ein Gerät in die Hand nehmen und mit ihr sprechen, wie viel wäre das wert? Wie viel Geld würde man sparen? Wie viel Zeit?“ Beachten Sie: Ibrahim sagte weder Wie sollen sich Millionen Afrikaner, für die drei Mahlzeiten am Tag oftmals Luxus sind, ein Mobiltelefon leisten? noch Wie willst du die Investitionen in die Infrastruktur eines nicht existenten Marktes rechtfertigen? Er konzentrierte sich stattdessen auf den Kampf für die Verwirklichung von etwas Wichtigem, wofür es kaum gute Lösungen gab. Für Ibrahim bedeutete der Kampf enormes Potenzial.

Dieser Kampf stellt sich oft als „Nichtkonsum“ dar: Wo künftige Konsumenten in einem bestimmten Bereich ihres Lebens verzweifelt vorankommen möchten, es aber keine erschwingliche und erreichbare Lösung für ihr Problem gibt. Also verzichten sie einfach darauf oder sie entwickeln Notlösungen, aber ihr Leiden bleibt bestehen – und entzieht sich den herkömmlichen Messgrößen, die herangezogen werden, um unternehmerische Chancen zu bewerten. Genau in diesem Nichtkonsum erkannte Ibrahim aber die Chance, einen Markt zu erschaffen. Folglich gründete er – mit äußerst geringer finanzieller Unterstützung und nur fünf Mitarbeitern – das Unternehmen Celtel1 mit dem Ziel, einen panafrikanischen Mobilfunkkonzern aufzubauen.

Dabei musste er einige sehr große Hindernisse überwinden. Die notwendige Infrastruktur für ein Mobilfunknetz bereitzustellen war ein unüberschaubares Unterfangen – das ohne die Unterstützung lokaler Regierungen oder Großbanken durchgeführt wurde. Als äußerst schwierig erwies sich die Kapitalbeschaffung. Obwohl er den Beweis für sein Geschäftsmodell erbracht und einen vorhersehbaren Cashflow von mehreren Millionen Dollar erreicht hatte, verweigerten ihm Banken weiterhin einen Kredit. So war Ibrahim gezwungen, Celtel vollständig mit Eigenkapital zu finanzieren, „was in der Telekommunikationsbranche für ein Unternehmen unserer Größe und unserer Reichweite ein Novum war“, erklärte er. Allerdings ließ er sich davon, wie auch von den zahlreichen anderen Herausforderungen, nicht abhalten. Gab es keinen Strom, stellte er eigenen Strom zur Verfügung. Waren keine logistischen Strukturen vorhanden, entwickelte er eben eigene. Gab es kein Bildungsoder Gesundheitswesen, sorgte er für die Ausbildung und die Gesundheitsvorsorge seines Personals. Und wenn keine Straßen existierten, dann baute er entweder provisorische oder er nutzte Hubschrauber für den Transport von Ausrüstungsgegenständen. Denn Ibrahim ließ sich von der Vision leiten, welch unschätzbarer Wert es für Millionen Afrikaner wäre, wenn der Kontakt untereinander nicht mehr mit enormen Mühen verbunden sein würde. Letztlich ist es ihm geglückt.

In gerade einmal sechs Jahren konnte Celtel seine Geschäftstätigkeit in 13 afrikanische Länder ausbauen, darunter Uganda, Malawi, die Demokratische Republik Kongo und die Republik Kongo, Gabun und Sierra Leone, und zudem 5,2 Millionen Kunden gewinnen. Dass sich kaufwillige Kunden zu Hunderten bei der Eröffnung zahlreicher Niederlassungen anstellten, war keine Seltenheit. Ibrahims Unternehmen war derart erfolgreich, dass 2004 ein Umsatz von 614 Millionen US-Dollar und ein Nettoergebnis von 147 Millionen US-Dollar erzielt wurde. Als Ibrahim sich 2005 zum Verkauf entschloss, erlöste er stattliche 3,4 Milliarden US-Dollar. In kürzester Zeit war es Celtel gelungen, in einigen der ärmsten Länder der Welt einen Wert von mehreren Milliarden Dollar freizusetzen.

Celtel war allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Heute ist Afrika die Heimat einer hochentwickelten Mobilfunkbranche, die zahlreiche Mobilfunkunternehmen (zum Beispiel Globacom, Maroc Telecom, Safaricom, MTN, Vodacom, Telkom und andere) umfasst, die mehr als 965 Millionen Mobilfunkanschlüsse bereitstellen. Diese Unternehmen haben nicht nur Fremd- und Beteiligungskapital in Milliardenhöhe aufgenommen, des Weiteren geht man davon aus, dass diese Branche im Jahr 2020 4,5 Millionen Arbeitsplätze sichern, 20,5 Milliarden US-Dollar an Steuern zahlen und einen Mehrwert für afrikanische Volkswirtschaften in Höhe von 214 Milliarden US-Dollar schaffen dürfte.2 Zudem haben Mobiltelefone auch in anderen Branchen zur Wertschöpfung beigetragen, beispielsweise im Bereich der Finanztechnologie. Unternehmen ziehen zur Bewertung der Kreditwürdigkeit Informationen über die Telefonnutzung heran und gewähren Kredite an Millionen kreditwürdiger Menschen, die in der Vergangenheit keinen erhalten hätten.

Dass Mobiltelefone weltweit – und auch in ganz Afrika – allgegenwärtig sind, mag heute offensichtlich sein. Vor 20 Jahren aber war Ibrahim der Einzige, der das Potenzial erkannte.

Der von Ibrahim aufgebaute Markt sowie die erschwerten, vermeintlich unüberbrückbaren Umstände, unter denen ihm dies gelang, führen uns zur Lösung für das sogenannte Wohlstandsparadox. Auch wenn es kontraintuitiv klingt, unsere Untersuchungen haben ergeben, dass dauerhafter Wohlstand in vielen Ländern nicht durch die Beseitigung der Armut entstehen wird, sondern durch Investitionen in Innovationen, die in diesen Ländern zur Schaffung neuer Märkte führen.3 So konnten wir nachweisen, dass echter, langfristiger Wohlstand nicht zuverlässig durch die Geldflut erzeugt wird, die wir direkt in die armen Länder pumpen, um Armutsindikatoren – wie geringe Bildungsqualität, unterdurchschnittliche Gesundheitsfürsorge, schlechte Regierungsführung, nicht-existente Infrastruktur – sowie viele andere Indikatoren zu verbessern, deren Optimierung Wohlstand nahelegen würde. Unserer Ansicht nach etabliert sich Wohlstand in vielen Ländern gerade dann in einer Volkswirtschaft, wenn wir in einen bestimmten Innovationstyp investieren, also in eine marktschaffende Innovation, die oftmals als Impulsgeber und Grundlage für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung dient.

Vergleichen wir Mo Ibrahims Methode beim Aufbau von Celtel mit Efosas Bemühungen, über seine gemeinnützige Organisation „Poverty Stops Here“ Brunnen zu bauen. Zwar ist „Poverty Stops Here“ wesentlich kleiner, dafür aber charakteristisch für die Denkweise, die hinter zahlreichen Maßnahmen zur Unterstützung armer Länder steht. Beispielsweise sind lediglich 18,2 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe für „wirtschaftliche Infrastrukturprojekte“ bestimmt, wohingegen der Großteil des Geldes Bildung, Gesundheit, die soziale Infrastruktur und andere konventionelle Entwicklungsvorhaben finanziert.4 Abgesehen davon, dass die Hilfen aus den OECD-Ländern den weitaus größten Teil der Entwicklungshilfeausgaben ausmachen, hat die Struktur dieser Ausgaben darüber hinaus eine Signalwirkung für zahlreiche andere Spender und Förderer von Projekten in armen Ländern. Im Grunde war Efosas Vorhaben von dem Glauben beseelt, dass wir Armut überwinden können, wenn wir nur genügend Ressourcen in ein verarmtes Gebiet lenken.

Was aber könnte passieren, wenn wir den Schwerpunkt auf Innovationen und marktnahe Lösungen und nicht auf die herkömmlichen entwicklungsorientierten Konzepte legten? Formulieren wir es anders: Was, wenn wir uns weniger auf Projekte vom Typ Efosa und mehr auf Projekte vom Typ Mo Ibrahim konzentrierten? Efosa sah die Lösung eines Problems darin, mehr Brunnen zu finanzieren und zu bauen. Ibrahim hingegen gelang es, Probleme zu lösen, indem er einen Markt schuf, der auf Menschen abzielte, die bereit waren, für ein Produkt zu bezahlen. Das ist nicht dasselbe. Und dass sie sehr unterschiedliche Langzeiteffekte haben, hat unsere Forschung zudem gezeigt.

Das Wohlstandsparadox verstehen

Ich bin kein Experte für jedes Land mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Aber mein persönlicher Werkzeugkasten zur Lösung schwieriger Herausforderungen basiert auf Theorien, mit deren Hilfe wir das Problem bei der Wurzel packen können. Eine gute Theorie hilft beim Verständnis des zugrunde liegenden Mechanismus, der als Motor fungiert.

Nehmen wir beispielsweise die Geschichte der menschlichen Flugversuche. Bereits früh haben Forscher eine starke Korrelation zwischen der Fähigkeit zu fliegen und der Ausstattung mit Federn und Flügeln festgestellt. Geschichten von Männern, die sich beim Versuch zu fliegen Flügel anschnallten, sind Jahrhunderte alt. Sie bildeten das nach, was ihrer Meinung nach Vögeln ermöglichte, in die Lüfte zu steigen: Flügel und Federn.

Diese Attribute wiesen eine hohe Korrelation – sprich eine Verbindung zwischen zwei Dingen – zur Flugfähigkeit auf. Als die Menschen jedoch versuchten, die ihrer Meinung nach „Best Practices“ der erfolgreichsten Flieger anzuwenden, indem sie sich Flügel umschnallten, von Kathedralen sprangen und heftig mit den Flügeln schlugen … scheiterten sie kläglich. Der Fehler lag darin, dass die Möchtegern-Piloten – trotz der Korrelation zwischen Federn, Flügeln und dem Fliegen – den elementaren Kausalmechanismus, der bestimmten Geschöpfen das Fliegen erlaubte, sprich die Ursache hinter dem Geschehen, nicht verstanden.

Auch wenn diese Dinge prinzipiell etwas Gutes sind, brachten weder die Entwicklung besserer Flügel noch ein dichteres Federkleid bei den menschlichen Flugversuchen den Durchbruch. Zum Erfolg führten vielmehr der holländisch-schweizerische Mathematiker Daniel Bernoulli und sein Buch Hydrodynamica, eine Studie über Strömungsmechanik. Im Jahr 1738 formulierte er das nach ihm benannte Bernoulli-Prinzip, eine Theorie, die, auf das Fliegen angewandt, den Effekt des Auftriebs erklärt. So bewegten wir uns von der Korrelation (Flügel und Federn) in Richtung Kausalität (Auftrieb). Das moderne Fliegen kann direkt auf die Entwicklung und die Annahme dieser Theorie zurückgeführt werden.

Allerdings reichte dieses bahnbrechende Verständnis der Flugursache noch immer nicht aus, das Fliegen auch absolut zuverlässig zu machen. Wenn Flugzeuge abstürzten, mussten sich die Forscher im Anschluss fragen: „Welcher Umstand hat bei diesem speziellen Flugversuch zum Absturz geführt? Der Wind? Der Nebel? Der Neigungswinkel des Flugzeugs?“ Auf diese Weise konnten Forscher definieren, welchen Regeln Piloten folgen mussten, um in allen unterschiedlichen Konstellationen erfolgreich zu sein. Ein charakteristisches Merkmal einer guten Theorie ist, wenn Ratschläge in Form von Wenn/Dann-Aussagen unterbreitet werden.

Als Professor an einer Business School werde ich Hunderte Male im Jahr gebeten, ein Urteil über spezifische unternehmerische Herausforderungen in Branchen oder Organisationen abzugeben, ohne über besondere Kenntnisse in diesen zu verfügen. Und doch kann ich eine Einschätzung abgeben, denn es existiert ein Instrumentarium an Theorien, das mich nicht lehrt, was ich über ein Problem zu denken habe, sondern wie ich über eines nachdenken soll. Eine gute Theorie ist meines Erachtens der beste Weg, Probleme in einen breiteren Rahmen zu stellen. Dann können die richtigen Fragen gestellt werden, die uns die hilfreichsten Antworten liefern. Eine Theorie anzunehmen heißt nicht, uns in akademischen Details zu verlieren, sondern sich ganz im Gegenteil auf die überaus praktische Frage zu konzentrieren, wodurch etwas verursacht wird – und warum. Dieser Ansatz steht im Zentrum dieses Buches.

In welcher Beziehung steht also die Theorie zu unserem Bestreben, in vielen armen Ländern Wohlstand zu schaffen und schließlich die Welt zu verbessern? Viele Dinge, die mit Wohlstand korrelieren – im übertragenen Sinne also das Anlegen von Flügeln und Federn –, sind bestechend. Wen berührt der Anblick eines neu gebohrten Brunnens nicht, der eine benachteiligte Gemeinde mit sauberem Wasser versorgt? Wenn wir nicht unser Verständnis dafür vertiefen, woraus wirtschaftlicher Wohlstand entsteht und gestützt wird, werden wir tatsächlich nur schleppend vorankommen, und zwar unabhängig davon, in wie viele gute Ansätze wir investieren.

In unserer Studie über den Weg zu Wohlstand, in der wir den Fortschritt (beziehungsweise dessen Fehlen) in einer Reihe von Volkswirtschaften weltweit, einschließlich Japan, Mexiko, Nigeria, Russland, Singapur, Südkorea, die Vereinigten Staaten und zahlreiche andere – untersuchten, stellten wir fest, dass verschiedene Arten von Innovation auf das langfristige Wachstum und den Wohlstand eines Landes in überaus unterschiedlichem Maße einwirken.

Eines müssen wir jedoch klarstellen: Der an dieser Stelle – und immer wieder in diesem Buch – beschriebene Prozess bietet keine Erklärung dafür, wie die einzelnen, wohlhabenden Länder aus der Armut hervorgegangen sind. Den Auftakt bildete beispielsweise in einigen Ländern wie Singapur eine Regierung, die der wirtschaftlichen Entwicklung und der Schaffung von Wohlstand Vorrang einräumte. In anderen Ländern hingegen, etwa in den Vereinigten Staaten, setzte der Marsch in Richtung Wohlstand bereits vor langer Zeit und eher schrittweise ein. Gute Theorien müssen stets im Kontext gesehen werden, denn sie sind nur unter bestimmten Umständen sinnvoll. Die Länder der Welt unterscheiden sich in puncto Größe, Bevölkerungsdichte, Kultur, Führungsphilosophien und Fähigkeiten, daher beeinflussen diese Faktoren ihr Schicksal.

Insgesamt haben wir jedoch festgestellt, dass sich für die Länder der Welt Investitionen in Innovationen und insbesondere in marktschaffende Innovationen als zuverlässiger Weg zu Wohlstand erwiesen haben. In diesem Buch blicken wir auf die Geschichte der heute wohlhabenden Volkswirtschaften, um die Kernelemente unserer Theorie zu veranschaulichen, die jenen Prozess beschreibt, durch den die Schaffung neuer Märkte eine Gesellschaft verändert. Durch ebendiesen Prozess war es einigen der ärmsten Länder auf der Welt möglich, Werte in Milliardenhöhe und Millionen von Arbeitsplätzen für ihre Bürger zu schaffen.

Ein nicht beachteter Weg zu Wohlstand

Unsere Überlegungen konzentrieren sich auf Impulse für die Schaffung und Sicherung von Wohlstand, die wir für viele Länder als wesentlich identifiziert haben: das Aufspüren von Chancen im Existenzkampf, das Investieren in marktschaffende Innovationen (die unter anderem für Arbeitsplätze sorgen, die wiederum zum Wachstum einer lokalen Wirtschaft beitragen) und die Anwendung einer „Pull“-Strategie im Bereich der Entwicklung (hier werden die erforderlichen Institutionen und Infrastrukturen dann in einer Gesellschaft geschaffen, wenn die neuen Märkte danach verlangen). Diese treibenden Kräfte werden wir in diesem Buch noch näher erläutern. All diese Ideen und Themen sind für die Lösung des Wohlstandsparadoxes essenziell, daher werden sie wiederholt und anhand der hier aufgeführten Innovationen und Geschichten aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Wenn wir von Innovationen sprechen, sind nicht nur Hightech-Produkte oder Produkte mit großem Funktionsumfang gemeint. Unsere Definition von Innovation bezieht sich auf etwas Konkreteres: eine Veränderung der Prozesse, womit Organisationen Arbeit, Kapital, Rohstoffe und Informationen in höherwertigere Produkte und Dienstleistungen umsetzen.5 „Marktschaffende Innovationen“ machen aus komplexen und hochpreisigen Produkten und Dienstleistungen einfache und bezahlbare Produkte und so einem völlig neuen Kundenkreis in einer Gesellschaft zugänglich, den „Nichtkonsumenten“.

Jede Wirtschaft besteht aus Konsumenten und Nichtkonsumenten. In florierenden Volkswirtschaften übersteigt der Anteil der Konsumenten bei vielen Produkten den der Nichtkonsumenten. Nichtkonsumenten sind Menschen, die darum kämpfen, irgendwie voranzukommen, denen es aber verwehrt bleibt, weil in der Vergangenheit eine gute Lösung unerreichbar war. Das heißt nicht, dass es keine Lösung auf dem Markt gäbe. Aber oftmals können sich Nichtkonsumenten bestehende Lösungen nicht leisten oder es fehlt ihnen die Zeit oder das erforderliche Fachwissen, um das Produkt erfolgreich nutzen zu können.

Marktschaffende Innovationen können den Wirtschaftsmotor eines Landes ankurbeln. Erfolgreiche marktschaffende Innovationen zeichnen sich durch drei Resultate aus. Erstens schaffen sie ihrem Wesen nach Arbeitsplätze, da immer mehr Menschen erforderlich sind, um neue Innovationen herzustellen, zu vermarkten, zu vertreiben und zu verkaufen. Bei der Beurteilung des Wohlstandes eines Landes sind Arbeitsplätze ein entscheidender Faktor.

Zum zweiten erwirtschaften sie Gewinne über viele Bevölkerungsschichten hinweg, die dann oft zur Finanzierung der meisten öffentlichen Dienstleistungen in der Gesellschaft, einschließlich Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen und so weiter, verwendet werden.

Drittens tragen sie das Potenzial in sich, die Kultur ganzer Gesellschaften zu verändern. Wir werden zeigen, dass zahlreiche Länder, die heute wohlhabend sind, einst arm, korrupt und schlecht regiert waren. Aber durch die Verbreitung von Innovationen wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der zur Transformation dieser Volkswirtschaften beigetragen hat. Beispielsweise trugen in den Vereinigten Staaten marktschaffende Innovationen, wie die Nähmaschine von Singer, die Filmkamera von Eastman Kodak und das Model T von Ford (Innovationen, auf die wir später en détail eingehen werden), zur Pflege einer Innovationskultur bei, die die amerikanische Gesellschaft drastisch veränderte. Sind einmal neue Absatzmärkte entstanden, die Nichtkonsumenten bedienen, „ziehen“ diese Märkte andere notwendige Komponenten an: Infrastruktur, Bildung, Institutionen und sogar den Kulturwandel. So wird das Überleben des Marktes gesichert, worauf wir in diesem Buch ausführlich eingehen werden. Auf diese Weise könnte die Entwicklung einer Gesellschaft verändert werden.

Teile unseres Modells sind in Ibrahims Vorgehen beim Aufbau von Celtel zu erkennen. Zunächst entwickelte er unter den ungewöhnlichsten Umständen eine Innovation, durch die ein traditionell komplexes und teures Produkt erschwinglicher wurde, sodass Millionen Menschen einen leichteren Zugang dazu bekamen. Dabei erschloss er einen dynamischen Markt, der nicht nur direkt Tausende von Arbeitsplätzen für die Bevölkerung schuf, sondern darüber hinaus die Entstehung anderer Wirtschaftszweige, wie beispielsweise Finanzdienstleistungen und mobile Gesundheitsdienste, beförderte. Zweitens beschaffte Ibrahim sich die Ressourcen, die er zum Aufbau seines Unternehmens benötigte. Da er ausschließlich die benötigten Ressourcen für den von ihm geschaffenen neuen, großen und profitablen Markt anzog, konnten sich seine Produkte nachhaltig durchsetzen. Auf dieses Thema werden wir immer wieder zurückkommen, weil es entscheidend dazu beiträgt, dass wir kluge Investitionen tätigen können. Und drittens stand bei der Entwicklung von Ibrahims Unternehmen Celtel die Lokalbevölkerung im Vordergrund. Anstatt nun ein Geschäftsmodell zu entwickeln, bei dem Kunden monatlich für Handyrechnungen aufkommen mussten – wie es in wohlhabenderen Ländern der Fall ist, deren Bürger über eine höhere Ertragskraft verfügen –, führte Ibrahim beispielsweise Prepaid-Karten ein. Neukunden konnten diese Karten bereits für gerade einmal 25 US-Cent erwerben, was dazu führte, dass viel mehr gekauft wurden. Darüber hinaus wurden 99 Prozent der von ihm geschaffenen Arbeitsplätze von Afrikanern besetzt.

Auch wenn Ibrahims Bemühungen ungewöhnlich erscheinen mögen, insbesondere heute, wo wir erwarten, dass sich die Regierungen armer Länder um viele der Dinge kümmern, die Ibrahim geleistet hat – wie es in vielen wohlhabenden Ländern der Fall ist –, wollen wir aufzeigen, dass sich seine Bemühungen kaum von denen vieler Innovatoren unterscheiden, die die Flamme des Wohlstands in ihren Ländern entfacht haben.

Damit Staaten langfristigen Wohlstand sichern können, ist letztlich eine gute Regierung vonnöten, die eine Kultur der Innovation fördert und unterstützt. Dabei ist es durchaus möglich, dass marktschaffende Innovatoren die Flamme entzünden, während Regierungen das Feuer schüren. Wir sind der festen Überzeugung, dass man durch das Verständnis, wie marktschaffende Innovationen eine gute Regierungsführung anregen und beeinflussen können – ein in vielen heute wohlhabenden Ländern zu beobachtendes Muster –, dazu beitragen kann, auf lange Sicht dauerhaften Wohlstand zu schaffen.6

Ein Leitfaden zu diesem Buch

Was auf den ersten Blick hoffnungslos erscheint, ist oft tatsächlich eine Chance, neue und florierende Märkte zu schaffen. Diese Erkenntnis ist nicht nur für Stakeholder von Bedeutung, die aktiv versuchen, Verbesserungen durchzusetzen, wie zum Beispiel Regierungen, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und andere in der Entwicklungshilfe, sondern auch für Innovatoren und Entrepreneure, die bislang keine Chancen erkannt hatten. Anstatt beispielsweise die knapp 600 Millionen Menschen in Afrika ohne Elektrizität nur als Symbol ihrer großen Armut zu sehen, sollten wir sie als eine enorme marktschaffende Chance begreifen, die es zu ergreifen gilt. Es sollte ein Aufruf zu Innovation sein und nicht als Mahnung verstanden werden, vorsichtig zu sein. In diesem Geiste unterbreiten wir Ihnen die Ideen in diesem Buch.

Uns ist bewusst, dass wir uns in komplizierte Gefilde begeben, wenn wir über die wirtschaftliche Entwicklung schreiben. Trotzdem hoffen wir, dass Ihnen die hier verfügbaren Modelle, Berichte und Fälle eine neue Sichtweise eröffnen. Die Gliederung in vier im Folgenden näher erläuterte Teile soll unsere Überlegungen und deren praktische Anwendung in der Welt nachvollziehbar machen.

In Teil 1 erläutern wir, welche Bedeutung Innovationen bei der Schaffung von Wohlstand in einer Volkswirtschaft zukommt. Detailliert legen wir dar, wie eine bestimmte Form von Innovation, die marktschaffende, als solide Grundlage für die Schaffung und Sicherung dauerhaften Wohlstands dient.

Im 2. Teil veranschaulichen wir unser Modell durch Beispiele, wie Innovationen und die daraus resultierende Kultur die Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea und Mexiko beeinflusst haben.

Auf die wahrgenommenen Entwicklungshemmnisse gehen wir in Teil 3 ein und erörtern den Zusammenhang zwischen marktschaffenden Innovationen und der Entwicklung guter Institutionen, dem Abbau von Korruption und der Errichtung und Unterhaltung von Infrastrukturen in einem Land.

In unserer Schlussfolgerung beschäftigen wir uns damit, wie wichtig es ist, das Wohlstandsparadox in einen Wohlstandsprozess umzumünzen. Zudem stellen wir einige Schlüsselprinzipien dieses Buches auf den Prüfstand.

Im Anhang präsentieren wir einige neue Marktchancen und Entwicklungsbemühungen von Unternehmern, Regierungen und NGOs, die die Spielregeln in verschiedenen Teilen der Welt verändern sollen. Wir hoffen, wir können dazu beitragen, dass diejenigen, die nach Gelegenheiten suchen, anders darüber denken, wo und wie man kostbare Ressourcen einsetzt könnte, um Wohlstand zu schaffen.

Es gibt wenige Themen, die komplexer sind als die Schaffung von Wohlstand in armen Ländern. Dass wir uns dieser Diskussion stellen, rührt von der Hoffnung her, dass unsere Überlegungen neue Wege zur Bewältigung dieser tief verwurzelten und zu Herzen gehenden Probleme aufzeigen werden. Im Grunde geht es in diesem Buch darum, die Kraft und das Potenzial von Innovationen, die Welt zu verändern, zu feiern. Trotzdem hoffen wir sehr, dass dieses Buch nur der Anfang eines lohnenden Meinungsaustauschs ist.

2 INNOVATION IST NICHT GLEICH INNOVATION

Was viele Menschen nicht begreifen: Märkte sind Schöpfungen. Man kann sie nicht [einfach] finden. Ein Markt muss geschaffen werden.1

– RONALD COASE, TRÄGER DES NOBELPREISES FÜR WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN 1991

Worum geht es?

Viele verstehen, wie wichtig es ist, starke Institutionen aufzubauen und die Infrastruktur eines Landes zu entwickeln. Welche Rolle Innovation dabei spielt, ist indes nicht so eindeutig. Dass sie wichtig ist, wissen wir. Da Innovation jedoch für jeden etwas anderes bedeutet, ist nicht allgemein bekannt, wie sich verschiedene Arten von Innovation auf die Wirtschaft auswirken können. In diesem Kapitel beschreiben wir die Einteilung von Innovation in drei Arten: erhaltende Innovationen, marktschaffende Innovationen und Effizienzinnovationen. Zudem erläutern wir die unterschiedlichen Auswirkungen jeder einzelnen Form auf Organisationen und die Wirtschaft. Obwohl alle Innovationen wichtig sind, um für eine anhaltend dynamische Wirtschaft zu sorgen, kommt einer Art, der marktschaffenden Innovation, eine zentrale Rolle zu, denn sie ist das Fundament für dauerhaften wirtschaftlichen Wohlstand. Wenn es innerhalb der Grenzen eines Landes trotz scheinbar erheblicher Aktivitäten nicht zu einer Vermehrung des Wohlstandes kommt, hat dieses Land möglicherweise gar kein Wachstumsproblem. Stattdessen könnte unserer Ansicht nach ein Innovationsproblem vorliegen.

Seit Erscheinen des Buches The Innovator’s Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, in dem ich erklärte, dass führende Unternehmen gelegentlich blind für die von Neueinsteigern ausgehenden Bedrohungen sind, habe ich Hunderte Konzerne dabei unterstützt, ihre eigenen Dilemmata zu bewältigen. Im Mittelpunkt jener Arbeit steht dabei meine Theorie der disruptiven Innovationen,2 die beschreibt, wie ein Unternehmen mit weniger Ressourcen durch die Einführung von einfacheren, geeigneteren und erschwinglicheren Innovationen in überversorgten oder übersehenen Kundensegmenten etablierte Unternehmen herausfordern und so letztlich die Branche neu definieren kann.

In den Jahrzehnten seit der Veröffentlichung meiner Ansichten hat sich diese Theorie in der Wirtschaft und in anderen Bereichen, wie der Bildung und dem Gesundheitswesen, etabliert. Daher werde ich regelmäßig mit Fragen zu meiner Theorie und ihrer Anwendung auf die eine oder andere Branche konfrontiert. Auch wenn mir bewusst ist, dass ich niemals ein Experte für sämtliche Branchen sein kann, habe ich doch festgestellt, dass ich mich stets meines Instrumentariums an Theorien bedienen kann, um Menschen zur Neubewertung von Problemen einen anderen Blickwinkel zu ermöglichen.

Vor einigen Jahren machte eine Führungskraft nach einer Rede, die ich auf einem CEO-Gipfel bei dem von mir mitbegründeten Beratungsunternehmen Immosight gehalten hatte, eine Beobachtung, die mich daran erinnerte, wie wichtig es ist, zur Lösung eines Problems die richtige Brille aufzusetzen. „In unserem Unternehmen deklarieren wir alles aus dem Bereich Forschung und Entwicklung als ‚Innovation‘“, bemerkte sie. „Aufgrund Ihrer Präsentation ist mir nun bewusst geworden, dass verschiedene Arten von Innovationen existieren, die offenbar verschiedene Ziele erreichen. Wir müssen unsere Forschung und Entwicklung so umstrukturieren, dass sie dem entsprechen, was wir zu erreichen versuchen. Wenn unsere Innovationen jemals Wachstum generieren sollen, dürfen wir sie nicht als etwas Homogenes betrachten.“

Die Führungskraft hatte recht. Innovation ist nicht gleich Innovation. Im Laufe der Jahre hat unsere Forschung gezeigt, dass es drei Arten von Innovation gibt: die erhaltende Innovation, die Effizienzinnovation und die marktschaffende Innovation. Keine der genannten Innovationsarten ist von Haus aus gut oder schlecht. Für Unternehmen, die ihren Wachstumskurs fortsetzen wollen, leistet jede einzelne einen wesentlichen Beitrag.3

Während ich über die Feststellung dieser Führungskraft bezüglich der Wahl des richtigen Innovationstyps für die Zukunftssicherung ihres Unternehmens nachdachte, wurde mir bewusst, dass diese Erkenntnis viel weitreichender war. Denn wir neigen dazu, das Gleiche zu tun: Wenn wir über die Innovationsaktivitäten in einer Volkswirtschaft diskutieren, kategorisieren wir sämtliche Innovationsaktivitäten auf dieselbe Weise. Um die Innovationskraft eines Landes zu beurteilen, ziehen wir stellvertretend Patentanmeldungen, Investitionen in Forschung und Entwicklung und die Qualität seiner wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen zurate.4 Wenn sich aber nun verschiedene Arten von Innovationen auf Organisationen unterschiedlich auswirken, leuchtet es dann nicht ein, dass ebendiese auch eine unterschiedliche Wirkung auf Volkswirtschaften ausüben?5

Schließlich werden Länder größtenteils von den in ihnen ansässigen (öffentlichen und privaten) Unternehmen definiert.6 Und Innovationen – im Sinne unserer Definition im letzten Kapitel, nämlich als Veränderung der Prozesse, durch die eine Organisation Arbeit, Kapital, Rohstoffe und Informationen in Produkte und Dienstleistungen größeren Werts umwandelt – sind das, was die meisten Unternehmen schaffen. Zu beachten ist hierbei, dass Innovation nicht mit Erfindung gleichzusetzen ist, denn Letzteres beschreibt den Prozess, etwas völlig Neues, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. Innovationen hingegen sind oft entliehen, von Land zu Land, von Unternehmen zu Unternehmen, und werden dann verbessert. Folglich legen wir die Innovation als Analyseeinheit zugrunde und versuchen nachzuvollziehen, wie sich deren Art, Größenordnung und Wirkung auf ein Unternehmen auf die Wirtschaft als Ganzes auswirken.7

Geht es hier um eine akademische Abgrenzung, auf die es in der Realität nicht ankommt? Keineswegs. Im Unterricht betone ich stets, wie wichtig es ist zu verstehen, welche Ursache welches Ereignis bewirkt und warum.

Diesen Punkt verdeutliche ich meinen Studenten, indem ich jedes Semester mit einem Stift oder einem Stück Kreide in der Hand vor der Klasse stehe. Ich lasse den Gegenstand fallen und beobachte, wie er zu Boden fällt. Während ich mich vornüber beuge, um ihn aufzuheben, nörgle ich: „Ich hasse die Schwerkraft. Was der Schwerkraft egal ist. Sie zieht dich immer nach unten.“ Die Sache ist doch die: Ob wir uns bewusst darüber Gedanken machen oder nicht, die Schwerkraft ist immer am Werk. Wenn wir nun aber bewusst darüber nachdenken und die Funktionsweise der Schwerkraft verstehen lernen, können wir sie für unsere Ziele nutzbar machen. Gleiches gilt für Innovationen. Wenn wir verstehen, welche Art von Innovation was bewirkt, können wir sie für unsere eigenen Ziele nutzen. Das Wissen um diese Unterschiede ist ein entscheidender Schritt für das Verständnis, was zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung führt.8

Erhaltende Innovationen

Erhaltende Innovationen sind Verbesserungen von Lösungen, die bereits auf dem Markt vorhanden sind, und sie richten sich in der Regel an Kunden, die sich eine bessere Produkt- oder Serviceleistung wünschen. Freunde, die in der Konsumgüterindustrie arbeiten, haben einen Spruch dafür: „SKUs für News“ – wenn sie neue Geschmacksrichtungen oder Farben oder Eigenschaften eines bestehenden Produkts entwickeln, um Kunden zu begeistern, die ihr Produkt bereits kaufen. Nehmen wir die Teemarke Lipton von Unilever. Heute gibt es beinahe so viele Lipton-Sorten wie Menschen auf dem Planeten. Zumindest kann man diesen Eindruck gewinnen. Mit Geschmacksrichtungen wie Grüner Tee mit Matcha und Minze oder Grüner Ice Tea entwickelt die Marke neue und aufregende Produkte, über die ein größerer Anteil am existenten Teegetränke-Markt gewonnen oder zumindest der Marktanteil gehalten werden soll. Das sind erhaltende Innovationen. Sie sind nicht per se darauf ausgelegt, neue Teetrinker als Kunden zu gewinnen, sondern sind substitutiver Art. Zwar sind sie für die Marke Lipton und auch für die Kunden wichtig, die daran erkennen können, dass das Unternehmen nicht stehen geblieben ist. Die neue Geschmacksrichtung Berry Hibiscus dürfte dennoch nicht zwangsläufig einen Markt neuer Teetrinker erschließen.9

Erhaltende Innovationen können teurer und mit höherer Marge verkauft werden. So ist die Sitzheizung in Autos eine gute Idee, insbesondere wenn Automobilhersteller ihre Fahrzeuge zu einem höheren Preis verkaufen können. Allerdings sind im Allgemeinen existierende Autokäufer die Zielgruppe dafür. Diese Innovation ist aber nicht der Grund dafür, weshalb Menschen das Pferd als Transportmittel aufgegeben haben.

Erhaltende Innovationen sind allgegenwärtig und tatsächlich eine wichtige Komponente unserer Wirtschaft. Durch sie bleiben Unternehmen und Länder wettbewerbsfähig. Sie wirken sich jedoch grundlegend anders auf die Wirtschaft aus als die beiden anderen Innovationsarten, die marktschaffende und die Effizienzinnovation. Nur selten müssen Unternehmen neue Vertriebs-, Distributions-, Marketing- und Fertigungswege aufbauen, wenn sie in einem gesättigten Markt erhaltende Innovationen entwickeln. Denn diese werden einer relativ gut bekannten Bevölkerungsschicht auf weitgehend etabliertem Wege verkauft. Infolgedessen üben erhaltende Innovationen, im Vergleich zu marktschaffenden, einen ganz anderen Einfluss auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Entwicklung des Gewinns und den Wandel der Kultur in einer Region aus.

Betrachten wir die drei konzentrischen Kreise: Jeder einzelne Kreis steht für einen anderen Markt, der sich aus verschiedenen Mitgliedern einer Gesellschaft zusammensetzt. Anhand dieser einfachen Grafik (Abbildung 2) hoffen wir, unseren Standpunkt nachvollziehbar zu machen.

EINE EINFACHE DARSTELLUNG DER MÄRKTE

Abbildung 2: Erhaltende Innovationen verbessern bestehende Produkte und richten sich an Menschen, die sich das Produkt in einem bestimmten Segment der Wirtschaft bereits leisten können. Nähert sich dieses Segment allmählich der Sättigung, wirken sich erhaltende Innovationen oftmals substitutiv auf den Verbrauch aus.

Markt A repräsentiert das kleinste, reichste und qualifizierteste Verbrauchersegment. Markt B bildet eine größere, aber weniger reiche und weniger qualifizierte Verbrauchergruppe ab. Entsprechend stellt Markt C das größte Segment dar, umfasst aber die am wenigsten Wohlhabenden und Qualifizierten. In allen konzentrischen Kreisen sind erhaltende Innovationen – unabhängig von der Größe des Marktes – im Allgemeinen darauf ausgerichtet, denselben Kunden in diesem speziellen Markt mehr Produkte zu verkaufen.

Verständlicherweise zielen viele Unternehmen mit ihrem Absatz auf die wohlhabenderen Segmente der Wirtschaft ab, weil sie hoffen, ihren Absatz und die Profitabilität zu steigern, indem sie neue Funktionen und Vorteile einem bestehenden Produkt (oder einer Dienstleistung) hinzufügen. Erhaltende Innovationen führen zwar zu einem gewissen Wachstum und ermöglichen eine gewisse Entwicklung, allerdings ist dieses Wachstum durch die Anzahl der Verbraucher im Zielsegment begrenzt. Zudem herrscht im reicheren Segment ein intensiver Wettbewerb um Kunden, da zahlreiche andere Unternehmen ebenfalls um diese Kunden wetteifern dürften. Wenn erhaltende Innovationen mitunter neue Kunden gewinnen, geschieht das in erster Linie zufällig, denn Unternehmen müssen für Kunden in einem anderen Segment oder Kreis eine andere Strategie entwickeln.10

Lassen Sie uns anhand eines Beispiels detaillierter darauf eingehen.

Die Strategie der erhaltenden Innovation beim meistverkauften Auto Amerikas

Kaum ein Auto hat sich in den Vereinigten Staaten so gut verkauft wie der Toyota Camry. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Kapitels war der Camry in 19 der vergangenen 20 Jahre der Bestseller in Amerika.11 Trotz des bemerkenswerten Erfolgs blieben die Verkaufszahlen des Camry jedoch seit dem Jahr 2000 weitgehend konstant. Obwohl Toyota durch die in den letzten 20 Jahren am Camry vorgenommenen Innovationen seine Wettbewerbsfähigkeit, Relevanz und Profitabilität gesichert hat, hatten diese Neuerungen keinen besonders großen Effekt auf den Absatz des Fahrzeugs: So verkaufte Toyota im Jahr 1997 394.397 Camrys und 20 Jahre später, also 2017, betrug der Absatz 387.081 Fahrzeuge. (Für den Camry war 2007 das beste Jahr, damals wurden 473.108 Einheiten umgesetzt.12)

Für Toyota und den Camry sind erhaltende Innovationen entscheidend. Nur deshalb konnte sich das Fahrzeug in 19 von 20 Jahren an der Spitze behaupten. Doch stabile Umsätze beim Camry sind für Toyota kein neuer Wachstumstreiber, noch bieten sie der Wirtschaft großes Wachstumspotenzial. Diese Umsätze werden mit der „Konsumwirtschaft“ erzielt, sprich mit Kunden, die Toyota und andere Automobilhersteller bereits erkennen, erfassen und über vorhandene Distributionskanäle erreichen können. Jahr für Jahr generiert der Camry stetige Erlöse. Oftmals geschieht dies aufgrund der Bindung existierender Kunden, die sich einfach ein neueres Modell dieses Fahrzeugtyps gönnen.

Selbst mit einem verlässlichen Bestseller muss Toyota nicht zwingend ein neues Automobilwerk bauen und eine völlig neue Belegschaft einstellen, sobald die Entscheidung fällt, ein neues Modell des Camry auf den Markt zu bringen. Bei der Arbeit am neuen Modell wird kein neues Vertriebsteam eingestellt, kein neuer Vertriebskanal aufgebaut und auch nicht in ein völlig neues Konstruktionsteam investiert. Stattdessen werden, wie bei den meisten Unternehmen, vorhandene Ressourcen genutzt. Im Ergebnis muss Toyota für die Entwicklung neuer Camry-Modelle nicht viel Kapital oder Personal aufwenden, denn es werden keine neuen Fabriken gebaut und nur wenige Arbeitskräfte neu eingestellt.

Nachhaltiges Wachstum in gesättigten und etablierten Märkten sichern

Die Innovationsgeschichte des Camry ist nicht ungewöhnlich. Die meisten Innovationen sind nachhaltiger Natur. Das kommt sowohl einem Unternehmen als auch dessen Kunden zugute, die sich möglicherweise ein besseres Produkt oder eine bessere Dienstleistung wünschen. Beispiele für erhaltende Innovationen sind unter anderem schnellere Prozessoren in unseren Computern oder der größere Speicher in unseren Mobiltelefonen. Das erste iPhone war eine marktschaffende Innovation, denn es stieß die Entstehung eines neuen Marktes für Smartphones und dazugehörige Apps an. Das iPhone X hingegen ist eine erhaltende Innovation. Die überwiegende Mehrheit der iPhone-X-Kunden, also Menschen, die 1.000 US-Dollar berappen konnten, haben ihr altes Mobiltelefon schlicht durch ein höherwertigeres ersetzt, das ihnen nun Gesichtserkennung, ein Super-Retina-Display und einen OLED-Bildschirm bietet. Oder nehmen wir den neuen Golfschläger P790 von TaylorMade. Das Unternehmen verspricht Golfern „eine Haptik, Fehlertoleranz und Praxistauglichkeit wie bei keinem anderen Eisen dieses Kalibers“. Im Handel ist es für 1.299,99 US-Dollar zu haben. Gewiss finden durch den Golfschläger P790 von TaylorMade nicht wesentlich mehr Verbraucher zu dem Sport, sodass nicht sehr viele neue Arbeitsplätze zu den bereits existierenden dazukommen. Wie beim iPhone X jedoch verdient TaylorMade dadurch mehr, das Unternehmen wird dynamischer und kann sich als bedeutender Player in der eigenen Branche platzieren. Wir können daher nicht genug betonen, wie wichtig erhaltende Innovationen sind.

Aber erhaltende Innovationen betreffen nicht nur Produkte, sie begegnen uns oftmals auch in Form von Dienstleistungen. So erhalte ich mindestens einmal im Monat ein Angebot von meiner Bank für eine neue Kreditkarte, eine Innovation, die seit 1950 existiert und heute ein gigantischer Markt ist: Die Kreditkartenforderungen in den USA belaufen sich aktuell auf knapp über eine Billion Dollar, einen Betrag, der höher als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Mexiko, der Türkei und der Schweiz ist. Dabei versucht meine Bank nicht unbedingt, einen neuen Markt für Kreditkarten zu schaffen. Vielmehr geht es darum, über zusätzliche Dienstleistungsangebote wie Reiseversicherungen, Garantieverlängerungen und Rückvergütungen bei all meinen Ausgaben zu profitieren. Dasselbe Prinzip verfolgt mein Mobilfunkanbieter mit dem Versuch, mir immer größere Datentarife zu verkaufen. Auch das sind erhaltende Innovationen, die darauf ausgelegt sind, zusätzliche Dienstleistungen zu verkaufen und an Kunden wie mir mehr zu verdienen.

Effizienzinnovationen

Wie der Name schon sagt, ist es Unternehmen durch Effizienzinnovationen möglich, mit dem Einsatz weniger Ressourcen mehr zu erreichen. Das heißt, während Unternehmen so viel wie möglich aus vorhandenen und neu erworbenen Ressourcen herausholen, bleiben ihr zugrunde liegendes Geschäftsmodell und die Zielgruppe für ihre Produkte unberührt. In zunehmend überlaufenen und wettbewerbsfähigeren Branchen sind Effizienzinnovationen für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen entscheidend. Effizienzinnovationen sind normalerweise Prozessinnovationen, deren Fokus darauf liegt, wie das Produkt hergestellt wird. Durch diese Art der Innovation können Unternehmen profitabler werden und – was wesentlich ist – Cashflow freisetzen.

Effizienzinnovationen gibt es in allen Branchen. Sie sind ein wichtiger Schalthebel für ein Unternehmen, um eine bessere Rentabilität und eine bessere Kundenbindung zu erreichen. So gut sie für die Produktivität eines Unternehmens sein mögen, für die vorhandene Belegschaft sind Effizienzinnovationen nicht immer positiv. Denken Sie nur an die Werke, die infolge von Outsourcing, einem der Erkennungsmerkmale für Effizienzinnovationen, geschlossen oder verlagert wurden. Von sich aus schaffen Effizienzinnovationen eigentlich keine Arbeitsplätze. (Es sei denn, das durch diese Innovationen freigesetzte Kapital wird in die Entwicklung marktschaffender Innovationen reinvestiert, worauf wir später noch eingehen werden.)

Betrachten wir die Branche der Rohstoffgewinnung genauer, die dank Investitionen in Effizienzinnovationen floriert.13 Da es sich bei Öl, Gas, Gold, Diamanten und vielen anderen Ressourcen, die wir fördern und aufbereiten, um Rohstoffe handelt, sucht der typische Manager in dieser Branche stets nach Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung, da sich dadurch Kapital freisetzen und Margen verbessern lassen. Dabei muss man sich nur ein beliebiges Land mit einem großen Rohstoffsektor genauer ansehen und prüfen, ob darin mit zunehmender Rohstoffgewinnung konsequent mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Nehmen wir zum Beispiel die Vereinigten Staaten.

Im Jahr 1980 waren etwa 220.000 Mitarbeiter in der Erdöl- und Erdgasförderung beschäftigt, die etwa 8,6 Millionen Barrel Öl förderten.14 Im Jahr 2017 war die Anzahl der Arbeitskräfte in diesem Sektor um über ein Drittel auf 146.000 gefallen. Die Förderung hatte indes auf über 9,3 Millionen Barrel Öl pro Tag zugelegt.15 Die Lage in Nigeria, einem der größten Erdölproduzenten der Welt, ist nicht viel besser. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde Nigerias beschäftigt der Öl- und Gassektor nur etwa 0,01 Prozent der nigerianischen Erwerbstätigen, obwohl er für über 90 Prozent der Exporteinnahmen des Landes und über 70 Prozent der Staatseinnahmen verantwortlich zeichnet.16 Ja, Effizienzinnovationen setzen Kapital frei, schaffen aber selten neue Arbeitsplätze in einer Volkswirtschaft. Meist werden dadurch eher mehr Stellen abgebaut denn geschaffen. Gerade weil die Ressourcengewinnung von Natur aus effizienzgesteuert ist, können sich Länder wie Nigeria, Venezuela, Saudi-Arabien, Südafrika, Katar und andere, die stark von der Rohstoffförderung abhängig sind, nicht auf diesen Sektor zur Schaffung von Arbeitsplätzen für ihre Bürger verlassen.

Das kann man nicht oft genug betonen. Dabei sind weder Effizienznoch erhaltende Innovationen grundsätzlich schlecht für ein Land. Im Gegenteil, sie sind gut für unsere Volkswirtschaften, trotzdem nehmen sie bei der Verbesserung des nachhaltigen Wirtschaftswachstums und der Arbeitsplatzschaffung verschiedene Rollen ein. Auch wenn sie unsere Volkswirtschaften dabei unterstützen, wettbewerbsfähig und dynamisch zu bleiben, und dringend benötigte Mittel für künftige Investitionen freisetzen, legen weder Effizienz- noch erhaltende Innovationen in gesättigten Märkten die Grundlagen für neue Wachstumstreiber. Das geschieht durch etwas völlig anderes, nämlich durch sogenannte marktschaffende Innovationen.

Marktschaffende Innovationen

Wie der Name schon sagt, erschließen marktschaffende Innovationen neue Märkte – aber nicht irgendwelche neuen Märkte. Diese neuen Märkte dienen Menschen, für die bislang keine Produkte existierten oder für die vorhandene Produkte aus verschiedenen Gründen weder erschwinglich noch zugänglich waren. Durch diese Art der Innovation werden komplizierte und teure Produkte erschwinglich und zugänglich gemacht, sodass sehr viel mehr Menschen diese kaufen und nutzen können. Gelegentlich bringen sie sogar völlig neue Produktkategorien hervor. Das Unternehmen Celtel von Mo Ibrahim vereinfachte eine ehemals teure Lösung im Bereich Mobilfunk und machte sie für Millionen und Abermillionen von Neukunden bezahlbar. Marktschaffende Innovationen demokratisieren in gewisser Weise bislang exklusive Produkte und Dienstleistungen.

Auch wenn der Gesamteffekt des neuen Marktes von den Merkmalen der zu demokratisierenden Neuerung abhängt – nicht alle Innovationen werden beispielsweise die gleiche Auswirkung wie die Demokratisierung des Autos haben –, so sind die Auswirkungen marktschaffender Innovationen im Vergleich zu anderen Innovationsarten erheblich. Für viele der heute wohlhabenden Volkswirtschaften dienen sie kollektiv als Grundlage und sie haben dabei Millionen von Menschen aus der Armut befreit.17

Diese Art von Innovation erschließt nicht nur neue Märkte, sondern schafft darüber hinaus Beschäftigung. Aufgrund der Entstehung neuer Märkte mit neuen Verbrauchern müssen Unternehmen schließlich mehr Mitarbeiter einstellen, die das Produkt herstellen, auf den Markt bringen, vertreiben, verkaufen und warten. Marktschaffende Innovationen können die Beschäftigung lokal und global ankurbeln.

Lokale und globale Arbeitsplätze

Lokale Arbeitsplätze müssen geschaffen werden, um den lokalen Markt abzudecken. Kennzeichnend ist darüber hinaus, dass sie nicht so leicht übertragbar sind oder in andere Länder verlagert werden können. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Jobs in den Bereichen Design, Werbung, Marketing, Vertrieb und im Kundendienst. Im Vergleich zu den globalen Arbeitsplätzen handelt es sich häufig um besser bezahlte Jobs. Globale Arbeitsplätze sind zwar ebenso wichtig, können aber leichter in andere Länder verlagert werden, um den Vorteil niedrigerer Löhne zu nutzen. Hier sind die Bereiche Herstellung und Beschaffung von Rohstoffen als größte Übeltäter zu nennen. Durch die Fortschritte im globalen Supply Chain Management laufen globale Arbeitsplätze oft Gefahr, über nationale Grenzen hinweg in den nächsten „effizientesten“ Arbeitsmarkt, sprich in das nächste Niedriglohnland, verlegt zu werden. Im Gegensatz dazu sind lokale Arbeitsplätze für die Förderung von marktschaffenden Innovationen unabdingbar; sie sind weniger anfällig für den Reiz von andernorts niedrigeren Löhnen.18

Wenn Innovatoren einen neuen Markt erschließen, der sich auf eine große Bevölkerungszahl konzentriert, die sich traditionell das Produkt nicht leisten konnte – also Nichtkonsumenten –, müssen sie viel mehr Mitarbeiter einstellen. Nicht nur, um das Produkt oder die Dienstleistung herzustellen, sondern auch um es dem neuen Kunden zukommen zu lassen. Je größer der Nichtkonsum, desto größer der potenzielle Markt.

DER DEMOKRATISIERENDE EFFEKT MARKTSCHAFFENDER INNOVATIONEN

Abbildung 3: Marktschaffende Innovationen stellen den Kunden in einem neuen konzentrischen Kreis Produkte zur Verfügung.

Und je größer der Markt, desto größer die Wirkung. Diesem Fokus auf marktschaffende Innovationen sind die zugrunde liegende Infrastruktur – einschließlich Bildung, Transport, Kommunikation und Einrichtungen wie staatliche Politik und Richtlinien – sowie andere Komponenten vieler blühender Gesellschaften von heute zu verdanken. Aus diesem Engagement entsteht in Volkswirtschaften eine Aufwärtsdynamik, die die Entwicklung weiterer neuer Märkte zusätzlich begünstigt.

Investiert man in marktschaffende Innovationen, hat das noch einen weiteren Vorteil: Wenn lokale Unternehmer Neuerungen entwickeln und die Früchte des Innovationserfolgs ernten, werden die Gewinne mit größerer Wahrscheinlichkeit vor Ort zur Finanzierung künftiger Innovationen eingesetzt.

WIE EIN PRODUKT ARBEITSPLÄTZE SCHAFFT

Abbildung 4: Marktschaffende Innovationen sorgen für lokale, nachhaltigere Arbeitsplätze.

Als Beispiel: Von den über 70 Billionen US-Dollar an global verwaltetem Vermögen sind weniger als zwei Billionen US-Dollar für ausländische Direktinvestitionen (FDI) bestimmt.19 Das meiste Geld bleibt im Land.

In Kapitel 1 erwähnten wir, dass Investitionen in marktschaffende Innovationen nicht hinreichend die Entwicklung jedes heute wohlhabenden Landes erklären. Länder unterscheiden sich zu sehr in puncto Größe, Fähigkeiten und anderen Parametern und wir möchten auch nicht behaupten, es gäbe nur eine einzige Entwicklungsstrategie. Allerdings geben uns marktschaffende Innovationen eine der zukunftsfähigsten Strategien zur Schaffung von Wohlstand in den heute armen Ländern an die Hand.

Fünf Schlüssel zur Fokussierung auf marktschaffende Innovationen

Da für marktschaffende Innovationen Weitblick erforderlich ist, um etwas zu erkennen, was sich anderen verschließt, ist es im Nachhinein immer einfacher, diese Art der Neuerung zu erkennen, als sie vorausschauend zu entwickeln. Bevor Autos, Computer und Bankkonten für die meisten von uns Normalität werden konnten, mussten erst Unternehmer neue Märkte für diese Produkte und Dienstleistungen erschließen. Wie sich herausgestellt hat, sind die meisten neuen Märkte zu Beginn ihrer Entstehung, insbesondere für Fachleute in der jeweiligen Branche, sinnlos. Beispielsweise schrieb 1939 ein Reporter der New York Times, der über die New Yorker Weltausstellung desselben Jahres berichtete: „[das] Fernsehen wird niemals eine ernstzunehmende Konkurrenz für das Radio, da die Menschen davor sitzen und die Augen auf einen Bildschirm richten müssen; dafür hat die amerikanische Durchschnittsfamilie keine Zeit.“20 Heute mögen wir diese irrige Annahme belächeln oder verzweifelt aufseufzen, wahrscheinlich hätten aber die meisten von uns dieser Aussage damals zugestimmt. Ebenso wie vor 20 Jahren viele vorhergesagt haben, dass Mobiltelefone in Afrika ausschließlich den Reichen vorbehalten seien und sich niemals etablieren würden.

Wie also geht man die Identifikation marktschaffender Innovationen an? Zunächst müssen sie anhand des richtigen Blickwinkels bewertet werden. Das gilt sowohl für Unternehmer, die das Potenzial erkennen, etwas von Grund auf neu aufzubauen, als auch für bestehende Organisationen, die marktschaffende Innovationen aktiv in ihr Innovationsportfolio einbringen möchten. Im Folgenden findet sich ein hilfreicher Bezugsrahmen mit fünf Attributen, nach denen Unternehmer und Manager bei der Erschließung neuer Märkte Ausschau halten sollten.

1. GESCHÄFTSMODELLE, DIE DEN NICHTKONSUM INS VISIER NEHMEN – Ein Großteil der heute existierenden Innovationen und Geschäftsmodelle ist auf bestehende Konsumenten ausgerichtet, also auf diejenigen, die sich die Produkte auf dem Markt bereits leisten können. Wenn in Analysen und Verbraucherberichten Begriffe wie aufstrebende Mittelschicht, steigendes verfügbares Einkommen und demografische Dividende