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Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten?
Nobelpreisträger Eric Kandel hat mit »Das Zeitalter der Erkenntnis« ein brillantes Buch geschrieben, das uns in das Wien Sigmund Freuds, Gustav Klimts und Arthur Schnitzlers entführt. Dort setzten um 1900 die angesehensten Köpfe der Naturwissenschaft, Medizin und Kunst eine Revolution in Gang, die den Blick auf den menschlichen Geist und seine Beziehung zur Kunst für immer verändern sollte.
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Seitenzahl: 947
Eric Kandel
DAS ZEITALTER DERERKENNTNIS
Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute
Aus dem amerikanischen Englisch von Martina Wiese
Siedler
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel The Age of Insight. The Quest to Understand the Unconscious in Art, Mind, and Brain from Vienna 1900 to the Present bei Random House, New York.
Erste Auflage
Copyright © 2012 by Eric R. KandelCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg Covermotiv: © Gian Paul LozzaLektorat: Ursula Kiausch, MannheimSatz: Ditta Ahmadi, Berlin Bearbeitung Grafiken: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-641-09985-5V003
www.siedler-verlag.de
Pour Denise – toujours
INHALT
Vorwort 11
TEIL EINS
Eine psychoanalytische Psychologie und Kunst der unbewussten Gefühle
KAPITEL 1Die Wendung nach innen: »Wien 1900«
KAPITEL 2Die Erforschung der Wahrheit unter der Oberfläche: Ursprünge einer wissenschaftlichen Medizin
KAPITEL 3Wiener Künstler, Autoren und Wissenschaftler geben sich im Salon Zuckerkandl ein Stelldichein
KAPITEL 4Die Erforschung des Gehirns unter dem Schädel: Ursprünge einer wissenschaftlichen Psychiatrie
KAPITEL 5Die gleichzeitige Erforschung von Geist und Gehirn: Die Entwicklung einer gehirnbasierten Psychologie
KAPITEL 6Die getrennte Erforschung von Geist und Gehirn: Ursprünge einer dynamischen Psychologie
KAPITEL 7Die Suche nach dem Innenleben in der Literatur
KAPITEL 8Die Darstellung der weiblichen Sexualität in der Kunst
KAPITEL 9Die Darstellung der Psyche in der Kunst
KAPITEL 10Die Verknüpfung von Erotik, Aggression und Angst in der Kunst
TEIL ZWEI
Eine kognitive Psychologie der visuellen Wahrnehmung und der emotionalen Reaktion auf Kunst
KAPITEL 11Die Entdeckung der Relevanz des Betrachters
KAPITEL 12Betrachten bedeutet Erfinden: Das Gehirn als Kreativitätsmaschine
KAPITEL 13Der Weg zur Malerei des 20. Jahrhunderts
TEIL DREI
Die Biologie der visuellen Reaktion auf Kunst
KAPITEL 14Die Verarbeitung visueller Bilder durch das Gehirn
KAPITEL 15Die Dekonstruktion des visuellen Bildes: Bausteine der Formwahrnehmung
KAPITEL 16Die Rekonstruktion der Welt, die wir sehen: Sehen ist Informationsverarbeitung
KAPITEL 17Sehprozesse der oberen Ebene und die Wahrnehmung von Gesicht, Händen und Körper durch das Gehirn
KAPITEL 18Top-down-Verarbeitung von Informationen: Auf der Suche nach Bedeutungen helfen Erinnerungen
KAPITEL 19Die Dekonstruktion von Gefühlen: Auf der Suche nach emotionalen Urformen
KAPITEL 20Die künstlerische Darstellung von Gefühlen: Gesichter, Hände, Körper und Farbe
KAPITEL 21Unbewusste Emotionen, bewusste Gefühle und ihre Äußerung durch den Körper
TEIL VIER
Die Biologie der emotionalen Reaktion auf Kunst
KAPITEL 22Die Top-down-Steuerung kognitiver emotionaler Informationen
KAPITEL 23Die biologische Reaktion auf Schönheit und Hässlichkeit in der Kunst
KAPITEL 24Der Anteil der Betrachter: Zugang zur Gedankenwelt eines anderen Menschen
KAPITEL 25Die Biologie des Anteils der Betrachter: Modelle fremder Gedankenwelten
KAPITEL 26Wie das Gehirn Emotion und Empathie steuert
TEIL FÜNF
Die Entwicklung eines Dialogs zwischen bildender Kunst und Wissenschaft
KAPITEL 27Künstlerische Universalien und die österreichischen Expressionisten
KAPITEL 28Das kreative Gehirn
KAPITEL 29Das kognitive Unbewusste und das kreative Gehirn
KAPITEL 30Hirnschaltkreise im Dienste der Kreativität
KAPITEL 31Talent, Kreativität und die Entwicklung des Gehirns
KAPITEL 32Selbsterkenntnis: Der neue Dialog zwischen Kunst und Naturwissenschaft
DankAnmerkungenLiteraturBildnachweisRegister
VORWORT
Als Auguste Rodin im Juni 1902 Wien besuchte, lud Berta Zuckerkandl den großen französischen Bildhauer zusammen mit Gustav Klimt, Österreichs berühmtestem Maler, zu einer Jause ein, einem typischen Wiener Nachmittag mit Kaffee und Kuchen. Berta, ihrerseits eine renommierte Kunstkritikerin und Grande Dame eines der distinguiertesten Wiener Salons, erinnert sich in ihrer Autobiografie an diesen denkwürdigen Nachmittag:
Neben Klimt saßen zwei wunderschöne Frauen, die auch Rodin entzückten. … Alfred Grünfeld [der in Wien lebende frühere Hofpianist von Kaiser Wilhelm I.] hatte sich in dem großen Saal, dessen Flügeltüren weit offen standen, ans Klavier gesetzt. Klimt schlich sich zu ihm. »Ich bitte, spielen’s uns Schubert!« Und Grünfeld, die Zigarre im Mund, träumte Schubert vor sich hin.
Da beugt sich Rodin zu Klimt hinüber. »So etwas wie bei Euch hier habe ich noch nie gefühlt! Ihre Beethoven-Freske, die so tragisch und so selig ist; Eure tempelartige unvergeßliche Ausstellung und nun dieser Garten, diese Frauen, diese Musik! Und um Euch, in Euch diese frohe kindliche Freude. Was ist das nur?!«
Ich übersetzte Rodins Worte. Klimt neigte seinen schönen Petrus-Kopf und sagte nur ein Wort:
»Österreich!«1
Dieser idealisierte, romantische Blick auf das Leben in Österreich, den Klimt mit Rodin teilte und der nur sehr entfernt etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte, hat sich auch mir unauslöschlich eingeprägt. Ich musste Wien schon als Kind verlassen, doch das Geistesleben vom Wien der Jahrhundertwende liegt mir im Blut – mein Herz schlägt im Dreivierteltakt.
Die Quellen für Das Zeitalter der Erkenntnis waren meine spätere Faszination von der intellektuellen Entwicklung Wiens zwischen 1890 und 1918 und mein Interesse an der österreichischen Kunst der Moderne, Psychoanalyse und Kunstgeschichte sowie an der Gehirnforschung, der ich mich verschrieben habe. In diesem Buch untersuche ich den zwischen Kunst und Wissenschaft andauernden Dialog, dessen Wurzeln im Wiener Fin de Siècle liegen, und dokumentiere seine drei wichtigsten Phasen.
Die erste Phase begann als ein Austausch von Erkenntnissen über unbewusste geistige Prozesse zwischen den Künstlern der Moderne und Vertretern der Wiener Medizinischen Schule. Die zweite Phase wurde in den 1930er-Jahren von der Wiener Schule der Kunstgeschichte angestoßen und führte den Dialog als Interaktion zwischen Kunst und einer Kognitionspsychologie der Kunst fort. In der dritten Phase, die vor 20 Jahren begann, legte der Austausch zwischen dieser Kognitionspsychologie und der Biologie den Grundstein für eine emotionale Neuroästhetik, die versucht, unsere perzeptuellen, emotionalen und empathischen Reaktionen auf Kunstwerke zu ergründen.
Dieser Dialog und die fortlaufenden Untersuchungen aus dem Bereich der Gehirnforschung und der Kunst sind nach wie vor lebendig. Sie haben uns erste Erkenntnisse darüber beschert, welche Vorgänge im Gehirn von Menschen ablaufen, die ein Kunstwerk betrachten.
DIE ZENTRALE HERAUSFORDERUNG für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Biologie des menschlichen Geistes zu ergründen. Das Werkzeug für diese Herausforderung bot das ausgehende 20. Jahrhundert, als die Kognitionspsychologie – die Wissenschaft des Geistes – mit der Neurowissenschaft – der Wissenschaft des Gehirns – fusionierte. Das Ergebnis war eine neue Wissenschaft des Geistes, die uns in die Lage versetzt hat, eine Reihe von Fragen über uns selbst zu formulieren: Wie nehmen wir etwas wahr, lernen und erinnern uns? Was ist das Wesen von Gefühl, Empathie, Denken und Bewusstsein? Wo liegen die Grenzen des freien Willens?
Diese neue Wissenschaft des Geistes ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie uns tiefere Einsichten über die Ursprünge unseres ureigenen Wesens vermittelt, sondern auch, weil nun eine wichtige Abfolge von Zwiegesprächen zwischen der Gehirnforschung und anderen Wissensgebieten in Gang gesetzt werden kann. Solche Zwiegespräche könnten uns die Mechanismen im Gehirn ergründen helfen, die Wahrnehmung und Kreativität ermöglichen – sei es in der Kunst, in der Natur- und Geisteswissenschaft oder im täglichen Leben. In einem weiteren Sinne könnte dieser Dialog dazu beitragen, Wissenschaft zu einem Teil unserer gemeinsamen kulturellen Erfahrung zu machen.
In Das Zeitalter der Erkenntnis stelle ich mich dieser zentralen wissenschaftlichen Herausforderung, indem ich mein Augenmerk auf die frühesten Verflechtungen der neuen Wissenschaft des Geistes mit der Kunst richte. Um die Anfänge dieses immer neu entfachten Dialogs pointiert darstellen zu können, konzentriere ich mich hier bewusst auf eine bestimmte Kunstform – Porträtmalerei – und eine bestimmte Kulturepoche – die Moderne im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Ich tue dies nicht nur, um einige zentrale Themen in den Blickpunkt der Diskussion zu rücken, sondern auch, weil diese Kunstform und diese Epoche von einer Reihe bahnbrechender Versuche gekennzeichnet waren, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verknüpfen.
PORTRÄTMALEREI EIGNET SICH SEHR GUT für eine wissenschaftliche Untersuchung. Wir besitzen mittlerweile – in kognitionspsychologischer wie auch biologischer Hinsicht – erste zufriedenstellende Erkenntnisse darüber, wie wir perzeptuell, emotional und empathisch auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen anderer Personen reagieren. Die Porträtmalerei der Moderne in »Wien 1900« bietet sich dabei besonders an, weil die Auseinandersetzung der Künstler mit unter der Oberfläche verborgenen Wahrheiten von der parallel dazu auftretenden Beschäftigung mit unbewussten geistigen Prozessen in medizinischer Forschung, Psychoanalyse und Literatur begleitet und beeinflusst wurde. Somit illustrieren die Porträts aus der Wiener Moderne mit ihrem bewussten und dramatischen Bemühen, die inneren Befindlichkeiten ihrer Modelle darzustellen, auf ideale Weise, inwiefern psychologische und biologische Erkenntnisse unsere Beziehung zur Kunst bereichern können.
In diesem Zusammenhang untersuche ich den Einfluss des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens und des weiteren intellektuellen Umfelds von Wien um 1900 auf drei Künstler: Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele. Ein charakteristisches Merkmal des Wiener Lebens jener Zeit war die fortgesetzte, freie Kommunikation von Künstlern, Autoren und Denkern mit Wissenschaftlern. Die Interaktion mit Medizinern und Biologen sowie mit Psychoanalytikern beeinflusste die Porträtmalerei dieser drei Künstler maßgeblich.
Auch aus anderen Gründen bieten sich die Vertreter der Wiener Moderne für diese Untersuchung an. Zunächst einmal erlauben sie eine tiefgreifende Analyse, weil es nur so wenige – drei Hauptvertreter – gibt, die jedoch für die Kunstgeschichte als Kollektiv wie auch als Individuen von großer Bedeutung sind. Als Gruppe versuchten sie, das unbewusste, triebhafte Streben der Menschen in ihren Zeichnungen und Gemälden festzuhalten, wobei aber jeder Einzelne seine ganz eigene Art und Weise entwickelte, seine Einsichten mithilfe von Gesichtsausdrücken sowie Hand- und Körpergesten darzustellen. Dabei leistete jeder der Künstler einen unabhängigen konzeptuellen und technischen Beitrag zur modernen Kunst.
In den 1930er-Jahren trugen die Dozenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte maßgeblich zur Weiterentwicklung des an der Moderne ausgerichteten Programms von Klimt, Kokoschka und Schiele bei. Sie betonten, dass Künstler der Moderne nicht Schönheit, sondern neue Wahrheiten präsentieren müssten. Darüber hinaus bereitete die Wiener Schule der Kunstgeschichte, teils unter dem Einfluss von Sigmund Freuds psychologischen Arbeiten, den Boden für eine wissenschaftlich fundierte Kunstpsychologie, die sich ursprünglich auf die Rezipienten der Kunst konzentrierte.
Heute ist die neue Wissenschaft des Geistes so weit ausgereift, dass sie einen erneuten Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft eröffnen und beleben kann, in dessen Mittelpunkt wieder die Rezipienten stehen. Um die Verbindung zwischen der heutigen Hirnforschung und den Malern von »Wien 1900« aufzuzeigen, skizziere ich in groben Zügen – für das allgemeine Lesepublikum und Studenten der Kunst und Geistesgeschichte gleichermaßen – unser derzeitiges Wissen über die kognitionspsychologische und neurobiologische Grundlage von Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl, Empathie und Kreativität. Danach untersuche ich, welche Erkenntnisse uns die Verknüpfung von Kognitionspsychologie und Hirnbiologie darüber gebracht hat, wie Menschen Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren. Meine Beispiele stammen zwar aus der Malerei der Moderne, insbesondere dem österreichischen Expressionismus, doch die Prinzipien der Reaktion auf Kunst sind auf alle Epochen der Malerei anwendbar.
WARUM SOLLTEN WIR EINEN DIALOG ZWISCHEN Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen befördern? Hirnforschung und Kunst repräsentieren zwei verschiedene Blickwinkel auf den menschlichen Geist. Die Wissenschaft lehrt uns, dass unser gesamtes geistiges Leben auf unserer Hirnaktivität beruht. Wenn wir also diese Aktivität ergründen, beginnen wir die Prozesse zu verstehen, die unseren Reaktionen auf Kunstwerke zugrunde liegen. Wie wird aus den von den Augen gesammelten Informationen »Sehen«? Wie verwandeln sich Gedanken in Erinnerungen? Was ist die biologische Grundlage unseres Verhaltens? Demgegenüber ermöglicht die Kunst Einblicke in die flüchtigeren, real erlebten Merkmale des menschlichen Geistes, in die Art und Weise, wie wir eine spezifische Erfahrung empfinden. Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression enthüllen, aber eine Sinfonie von Beethoven enthüllt uns, wie sich die Depression anfühlt. Beide Sichtweisen sind notwendig, wenn wir das Wesen des menschlichen Geistes ganz erfassen wollen, doch nur selten werden sie vereint.
Das intellektuelle und künstlerische Umfeld von Wien um 1900 stand für einen frühen Austausch zwischen den beiden Sichtweisen und brachte die Erkenntnisse über den menschlichen Geist einen gewaltigen Schritt voran. Wie ließe sich heute von einem solchen Austausch profitieren und wer wären die Nutznießer? Der Nutzen für die Hirnforschung ist klar: Eine zentrale Frage der Biologie lautet, wie das Gehirn sich seiner Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gefühle bewusst wird. Aber genauso gut ist vorstellbar, dass auch Kunstbetrachter, Kunst- und Geistesgeschichtler sowie die Künstler selbst davon profitieren könnten.
Erkenntnisse über die Prozesse der visuellen Wahrnehmung und emotionalen Reaktionen könnten durchaus neue Begrifflichkeiten für die Kunst generieren, neue Kunstformen und möglicherweise sogar neue Ausdrucksformen künstlerischer Kreativität. Genau wie Leonardo da Vinci und andere Künstler der Renaissance die Erkenntnisse über die menschliche Anatomie nutzten, um den Körper präziser und überzeugender darzustellen, werden vielleicht auch viele zeitgenössische Künstler als Reaktion auf Erkenntnisse der Hirnforschung neue Darstellungsformen entwickeln. Die Biologie hinter künstlerischen Einsichten, der Inspiration und den Reaktionen der Betrachter auf Kunst zu verstehen, könnte von unschätzbarem Wert für Künstler sein, die ihre Kreativität steigern möchten. Auf lange Sicht liefert die Hirnforschung vielleicht auch Hinweise auf das Wesen der Kreativität selbst.
Die Wissenschaft versucht komplexe Vorgänge zu verstehen, indem sie sie auf ihre wesentlichen Ereignisse reduziert und das Wechselspiel dieser Ereignisse untersucht. Dieser reduktionistische Ansatz gilt auch für die Kunst. Tatsächlich ist meine Konzentration auf eine Schule der Kunst mit nur drei Hauptvertretern ein Beispiel hierfür. Einige Stimmen befürchten, dass eine reduktionistische Analyse unsere Faszination von Kunst vermindert, dass sie die Kunst trivialisiert und ihrer besonderen Kraft beraubt, während der Anteil des Betrachters auf eine gewöhnliche Hirnfunktion schrumpft. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass der Reduktionismus, wenn man zu einem Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst sowie zur Konzentration auf jeweils nur einen geistigen Prozess ermuntert, unseren Horizont erweitern und uns neue Erkenntnisse über die Natur und die Schöpfung von Kunst verschaffen kann. Diese neuen Erkenntnisse werden uns in die Lage versetzen, unerwartete Aspekte der Kunst wahrzunehmen, die den Beziehungen zwischen biologischen und psychologischen Phänomenen entspringen.
Weder negieren der Reduktionismus und die Hirnbiologie Reichtum und Komplexität der menschlichen Wahrnehmung, noch schmälern sie unsere Wertschätzung von Gestalt, Farbe und Emotionen menschlicher Gesichter und Körper. Wir verfügen mittlerweile über eine fundierte wissenschaftliche Vorstellung vom Herzen als einem muskulären Organ, das Blut durch Körper und Gehirn pumpt. Demzufolge betrachten wir das Herz nicht mehr als Sitz der Gefühle. Doch diese neue Erkenntnis führt nicht dazu, dass wir das Herz weniger bewundern oder seine Bedeutung für uns weniger zu schätzen wissen. Entsprechend kann die Wissenschaft Aspekte der Kunst erklären, doch ersetzt dies nicht die von der Kunst ausgehende Inspiration, die Freude der Betrachter an der Kunst oder die Impulse und Ziele von Kreativität. Ganz im Gegenteil – die Biologie des Gehirns zu verstehen, trägt höchstwahrscheinlich zu einer Erweiterung des kulturellen Rahmens für Kunstgeschichte, Ästhetik und Kognitionspsychologie bei.
Vieles von dem, was wir an einem Kunstwerk interessant und spannend finden, lässt sich mit der derzeitigen Wissenschaft des Geistes nicht erklären. Doch alle bildenden Künste, von den urzeitlichen Höhlenmalereien aus Lascaux bis zu heutigen Performances, besitzen wichtige visuelle, emotionale und empathische Komponenten, die wir nun von einer neuen Ebene aus begreifen können. Ein besseres Verständnis dieser Komponenten bringt uns nicht nur den konzeptuellen Gehalt der Kunst näher, sondern erklärt auch, wie die Rezipienten ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu einem Kunstwerk in Beziehung setzen und damit Aspekte der Kunst in einen weiteren Wissenshorizont integrieren.
Während die Hirnforschung und die Geisteswissenschaften weiterhin ihre spezifischen Schwerpunkte verfolgen, möchte ich in diesem Buch einen Weg aufzeigen, wie die Wissenschaft des Geistes und die Geisteswissenschaften ihren jeweiligen Fokus auf ganz bestimmte gemeinsame Herausforderungen richten und in den künftigen Jahrzehnten den Dialog fortsetzen könnten, der als Suche nach einer Verknüpfung von Kunst, Geist und Gehirn in Wien um 1900 seinen Anfang nahm. Diese Aussicht hat mich darin bestärkt, Das Zeitalter der Erkenntnis mit einer weiter gefassten historischen Betrachtung zu beschließen, in der ich zeige, wie Wissenschaft und Kunst einander in der Vergangenheit beeinflusst haben und wie diese interdisziplinären Einflüsse in Zukunft unsere Kenntnisse und unsere Freude über die Wissenschaft wie auch über die Kunst bereichern könnten.
1 Szeps-Zuckerkandl, B., Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte, Stockholm 1939, S. 179.
TEIL EINS
Eine psychoanalytische Psychologie und Kunst der unbewussten Gefühle
Abb. 1-1. Gustav Klimt, Adele Bloch-Bauer I (1907). Öl, Silber, Gold auf Leinwand.
KAPITEL 1
DIE WENDUNG NACH INNEN: »WIEN 1900«
Im Jahre 2006 erwarb Ronald Lauder, ein Sammler österreichischer expressionistischer Kunst und Mitbegründer der Neuen Galerie, einem Museum für Expressionismus in New York City, für die stolze Summe von 135 Millionen Dollar ein einziges Gemälde – Gustav Klimts faszinierendes vergoldetes Porträt von Adele Bloch-Bauer, einer Angehörigen der Wiener Schickeria und Kunstmäzenin. Lauder sah Klimts Gemälde von 1907 zum ersten Mal im Museum des Oberen Belvedere, als er mit 14 Jahren Wien besuchte. Sofort zog ihn das Bildnis in seinen Bann. Es schien das Wien der Jahrhundertwende zu verkörpern – seinen Reichtum, seine Sinnlichkeit und seine Fähigkeit zur Innovation. Im Laufe der Jahre reifte in Lauder die Überzeugung, dass Klimts Porträt von Adele (Abb. 1-1) eine der großen Darstellungen des Mysteriums der Frau sei.
Wie die Elemente von Adeles Kleid belegen, war Klimt wahrhaftig ein versierter dekorativer Maler des Jugendstils im 19. Jahrhundert. Das Gemälde hat aber noch eine weitere, historische Bedeutung: Es ist eines der ersten Bilder Klimts, das mit der traditionellen Dreidimensionalität bricht und die Entwicklung zu einem modernen flächenhaften Raum vollzieht, den der Künstler mit leuchtenden Ornamenten schmückt. Das Gemälde offenbart Klimt als einen Erneuerer und maßgeblichen Vorreiter der österreichischen Moderne. Die Autoren Sophie Lillie und Georg Gaugusch beschreiben Adele Bloch-Bauer I folgendermaßen:
[Klimts] Gemälde gab nicht nur Bloch-Bauers unwiderstehliche Schönheit und Sinnlichkeit wieder. Seine komplizierte Ornamentik und exotischen Motive kündeten vom Aufdämmern der Moderne und einer Kultur, die bereit war, sich radikal eine neue Identität zu formen. Mit diesem Gemälde schuf Klimt eine säkulare Ikone, die im Wien des Fin de Siècle für die Hoffnungen einer ganzen Generation stehen sollte.2
Mit diesem Gemälde verabschiedet sich Klimt von dem seit der frühen Renaissance immer intensiver verfolgten Bestreben der Maler, die dreidimensionale Welt möglichst realistisch auf eine zweidimensionale Leinwand zu bannen. Wie andere moderne Künstler, die sich mit der Erfindung der Fotografie konfrontiert sahen, suchte Klimt neuere Wahrheiten, die sich nicht von der Kamera einfangen ließen. Er und insbesondere seine jüngeren Protegés Oskar Kokoschka und Egon Schiele wandten den Blick nach innen – fort von der dreidimensionalen Außenwelt, hin zum multidimensionalen inneren Selbst und zum Unbewussten.
Über diesen Bruch mit der künstlerischen Vergangenheit hinaus zeigt uns das Gemälde den Einfluss der modernen Forschung, vor allem der modernen Biologie, auf Klimts Kunst und in erheblichem Maße auch auf die Kultur von »Wien 1900«, der Epoche von 1890 bis 1918. Wie von der Kunsthistorikerin Emily Braun dokumentiert, las Klimt Darwin; ihn faszinierte die Struktur der Zelle – des wichtigsten Bausteins allen Lebens. So sind die kleinen ikonografischen Bilder auf Adeles Kleid nicht einfach dekorativ, wie andere Bilder der Jugendstil-Epoche. Sie sind vielmehr Symbole männlicher und weiblicher Zellen – rechteckiger Spermien und ovoider Eizellen. Diese biologisch inspirierten Fruchtbarkeitssymbole sollen eine Verbindung zwischen dem verführerischen Gesicht des Modells und ihrer voll erblühten Fähigkeit zur Fortpflanzung herstellen.
2 Lillie, S. und G. Gaugusch, Portrait of Adele Bloch-Bauer, New York 1984, S. 13.
Abb. 1-2. Hans Makart, Kronprinzessin Stephanie (1881). Öl auf Leinwand.
DASS ADELE BLOCH-BAUERS PORTRÄT großartig genug war, um 135 Millionen Dollar zu erzielen – was zu dem Zeitpunkt die höchste je gezahlte Summe für ein einzelnes Gemälde war –, ist umso bemerkenswerter, als Klimts Arbeiten zu Beginn seiner Laufbahn zwar sehr gekonnt, aber ansonsten unspektakulär waren. Er war ein guter, aber konventioneller Maler, ein Dekorateur von Theatern, Museen und anderen öffentlichen Gebäuden, der sich an dem prachtvoll-historistischen, konventionellen Stil seines Lehrers Hans Makart orientierte (Abb. 1-2). Genau wie der talentierte Farbenkünstler Makart, den die Wiener Kunstmäzene voll Verehrung den neuen Rubens nannten, malte Klimt große Porträts mit allegorischen und mythologischen Themen (Abb. 1-3).
Abb. 1-3. Gustav Klimt, Fabel (1883). Öl auf Leinwand.
Erst 1886 nahm Klimts Werk eine mutige, originelle Wendung. In jenem Jahr wurden er und sein Kollege Franz Matsch beauftragt, den Zuschauerraum des alten Burgtheaters, der abgerissen und modern gestaltet werden sollte, im Bild festzuhalten. Matsch malte den Blick auf die Bühne vom Eingang aus und Klimt die letzte Aufführung im alten Theater. Doch statt die Bühne oder die Schauspieler in Aktion darzustellen, malte Klimt individuelle, identifizierbare Zuschauer, wie sie von der Bühne aus zu sehen waren. Diese Zuschauer verfolgten nicht das Stück, sondern hingen ihren eigenen Gedanken nach. Das eigentliche Drama Wiens, so schien Klimts Gemälde zu sagen, fand nicht auf der Bühne statt – es spielte sich im privaten Theater, in der Gedankenwelt des Publikums ab (Abb. 1-4 und 1-5).
Abb. 1-4. Gustav Klimt, Zuschauerraum im alten Burgtheater (1888). Öl auf Leinwand.
Kurze Zeit nachdem Klimt das alte Burgtheater gemalt hatte, begann der junge Neurologe Sigmund Freud, Patienten, die an Hysterie litten, mit einer Kombination aus Hypnose und Psychotherapie zu behandeln. Während seine Patienten den Blick nach innen richteten, frei assoziierten und über ihr privates Leben und Denken sprachen, stellte Freud eine Beziehung zwischen ihren hysterischen Symptomen und Traumata in ihrer Vergangenheit her. Den Anstoß zu dieser völlig neuartigen Behandlungsmethode lieferte Josef Breuer, der eine intelligente junge Wienerin, genannt »Anna O.«, untersucht hatte. Breuer, ein älterer Kollege Freuds, hatte bei Anna einen »in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie« diagnostiziert, der »das habituelle Wachträumen« erzeugt habe – was Anna als ihr »Privattheater« bezeichnete.3
Die bemerkenswerten Einsichten, die Klimts spätere Arbeiten kennzeichnen, fielen zeitlich mit Freuds psychologischen Studien zusammen und kündeten bereits von der Wendung nach innen, die in »Wien 1900« alle Forschungsbereiche bestimmen sollte. Charakteristisch für diese Epoche, die die Wiener Moderne einläutete, war der Versuch, mit der Vergangenheit zu brechen und in Kunst, Architektur, Psychologie, Literatur und Musik neue Ausdrucksformen zu erforschen. Sie war die Geburtsstunde des bis heute anhaltenden Bestrebens, diese Disziplinen miteinander zu verknüpfen.
Abb. 1-5. Detail des Zuschauerraums. Abgebildet sind Theodor Billroth, der führende Chirurg Europas, Karl Lueger, der zehn Jahre später Wiens Bürgermeister wurde, und die Schauspielerin Katharina Schratt, die Geliebte Kaiser Franz Josephs.
ALS WEGBEREITER DER MODERNE ÜBERNAHM »Wien 1900« vorübergehend die Rolle der Kulturhauptstadt Europas – in gewisser Hinsicht vergleichbar mit Konstantinopel im Mittelalter und Florenz im 15. Jahrhundert. Wien war seit 1450 das Zentrum der Habsburgischen Erblande gewesen und festigte seine Vormachtstellung ein Jahrhundert später, als es zum Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde. Das Reich umfasste nicht nur die deutschsprachigen Staaten, sondern auch den Staat Böhmen und das Königreich Ungarn-Kroatien. In den darauffolgenden 300 Jahren blieben diese ungleichen Länder ein Flickenteppich aus Nationen ohne einen gemeinsamen Namen oder eine alle verbindende Kultur. Das einzige Bindeglied war die dauerhafte Herrschaft der Habsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. 1804 nahm Franz II., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als Franz I. den Titel Kaiser von Österreich an. 1867 bestand Ungarn auf seiner Gleichberechtigung, und so wurde aus dem Habsburgerreich die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Im 18. Jahrhundert, auf dem Zenit seiner Macht, wurde das Habsburgerreich in der Größe seiner europäischen Ländereien nur noch vom Russischen Reich übertroffen. Überdies konnte es auf eine lange Geschichte administrativer Stabilität verweisen. Eine Reihe militärischer Verluste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und innere Unruhen zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwächten die politische Macht des Reiches jedoch. Daraufhin verabschiedeten sich die Habsburger widerstrebend von ihren geopolitischen Ambitionen und richteten den Fokus auf die politischen und kulturellen Sehnsüchte ihres Volkes, insbesondere der Mittelschicht.
1848 erhob sich Österreichs liberale Mittelschicht und zwang die absolute, nahezu feudale Monarchie mit Kaiser Franz Joseph an der Spitze, demokratischere Wege einzuschlagen. Die anschließenden Reformen sahen Österreich als eine progressive, konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild Englands und Frankreichs und waren von einer kulturellen und politischen Partnerschaft zwischen der aufgeklärten Mittelschicht und der Aristokratie geprägt. Diese Partnerschaft sollte den Staat reformieren, das weltliche kulturelle Leben der Nation fördern und eine freie Marktwirtschaft begründen – alles unter der modernen Prämisse, dass Vernunft und Wissenschaft an die Stelle von Glauben und Religion treten würden.
In den 1860er-Jahren spürten die meisten Österreicher, dass ihre Nation in einem Wandlungsprozess begriffen war. In Verhandlungen mit dem Kaiser war es der Mittelschicht gelungen, Wien in eine der schönsten Städte der Welt zu verwandeln. Als Weihnachtsgeschenk für die Bürger Wiens ordnete Franz Joseph 1857 an, die alten Mauern und Befestigungen um das Stadtzentrum einzureißen, um Platz für die Ringstraße zu schaffen, einen prächtigen Boulevard, der das Zentrum umschließen sollte. Zu beiden Seiten der Ringstraße sollten prachtvolle öffentliche Gebäude errichtet werden – Parlament, Rathaus, Oper, altes Burgtheater, Kunsthistorisches Museum, Naturhistorisches Museum und Wiener Universität – sowie Palais für die Aristokratie und große Wohngebäude für die wohlhabendere Mittelschicht. Zugleich sorgte die Ringstraße für eine bessere Anbindung der umgebenden Stadtteile – mit Geschäftsinhabern, Händlern und Arbeitern – an das Zentrum.
Besonders tiefgreifende Auswirkungen hatten die progressiven Ansichten von Mittelschicht und Kaiser auf die jüdische Gemeinde. Im Jahre 1848 wurden jüdische Gottesdienste legalisiert und die Sondersteuern für Juden abgeschafft. Darüber hinaus durften Juden erstmalig berufliche und politische Karrieren einschlagen. Mit den Staatsgrundgesetzen von 1867 und dem Interkonfessionellen Gesetz von 1868 erhielt die jüdische Gemeinde einen zivilrechtlichen Status, der sie auf eine Stufe mit den anderen, meist katholischen, Österreichern stellte. Während dieser kurzen Epoche der österreichischen Geschichte war Antisemitismus gesellschaftlich inakzeptabel. Neben der neuen Freiheit religiöser Praktiken führten diese Gesetze auch die staatliche Bildung ein und erlaubten standesamtliche Trauungen zwischen Christen und Juden, die zuvor verboten waren.
Zuletzt wurden staatlich verordnete Reisebeschränkungen innerhalb des Habsburgerreiches, die für jeden galten, 1848 gelockert und 1870 abgeschafft. Das pulsierende kulturelle Leben und die wirtschaftlichen Möglichkeiten Wiens zogen begabte Menschen, vor allem Juden, aus allen Teilen des Reiches an. Demzufolge stieg die Zahl der Juden in Wien zwischen 1869 und 1890 von 6,6 Prozent der Stadtbevölkerung auf 12 Prozent, was eine gewaltige Bedeutung für die Entwicklung der Moderne hatte. Die Abschaffung der Reisebeschränkungen verbesserte auch die soziale und kulturelle Mobilität von Gelehrten und Wissenschaftlern. Wien profitierte von einem Zufluss talentierter Personen mit unterschiedlichem religiösen, gesellschaftlichen, kulturellen, ethnischen und schulischen Hintergrund. Dies führte gemeinsam mit der Modernisierung der Bildung dazu, dass sich die Universität Wien zu einer großen Forschungsuniversität entwickelte. Die daraus resultierende Umwälzung in Wissenschaft und Technik schuf eine mitreißende, sich wechselseitig beeinflussende intellektuelle Atmosphäre, die maßgeblich zum späteren Aufkommen der Moderne in Wien beitrug.
IM JAHRE 1900 WAR WIEN DIE HEIMAT von fast zwei Millionen Menschen. Viele fühlten sich von der Stadt deswegen angezogen, weil intellektuelle Brillanz und kulturelle Leistungen dort einen so hohen Stellenwert besaßen. Eine bemerkenswert große Zahl von ihnen waren Pioniere ganz unterschiedlicher Bewegungen der Moderne. Im Bereich der Philosophie gab es den Wiener Kreis, eine Gruppe um Moritz Schlick, zu dem später auch Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Philipp Frank, Kurt Gödel und vor allem Ludwig Wittgenstein gehörten. Diese Gruppe versuchte, alles Wissen in eine einheitliche standardisierte Wissenschaftssprache zu kleiden. Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk und Ludwig von Mises gründeten die Wiener Schule der Ökonomie. Der große Komponist Gustav Mahler war Wegbereiter für den Übergang von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms, der Ersten Wiener Schule der Musik, zu einer neuen Generation von Komponisten, angeführt von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern, der Zweiten Wiener Schule der Musik.
Die Architekten Otto Wagner, Joseph Maria Olbrich und Adolf Loos reagierten auf die majestätischen öffentlichen Gebäude an der Ringstraße – stilistisch der Gotik, der Renaissance und dem Barock nachempfunden – mit der Schöpfung eines klaren, funktionalen Architekturstils, der der deutschen Bauhaus-Schule der 1920er-Jahre den Weg ebnete. Nach Wagner musste Architektur modern und originell sein, und er erkannte die Bedeutung von Verkehrsmitteln und Stadtplanung. Dies bezeugen die Gestaltung von über 30 wunderschönen Haltestellen der Wiener Stadtbahn sowie das Design von Viadukten, Tunneln und Brücken. Bei all diesen Projekten bemühte sich Wagner um die Harmonisierung von Kunst und Funktion. Demzufolge besaß Wien eine der fortschrittlichsten Infrastrukturen aller europäischen Großstädte.
Die Wiener Werkstätte – das von Josef Hoffmann und Koloman Moser geleitete Kunst- und Designinstitut – verlieh mit der eleganten Gestaltung von Schmuck, Möbeln und anderen Objekten dem Alltagsleben mehr Schönheit. In der Literatur formten Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal Jung-Wien, eine moderne Schule für Prosa, Drama und Lyrik. Am bedeutendsten aber war, wie wir noch sehen werden, dass eine Reihe von Wissenschaftlern von Carl von Rokitansky bis zu Freud einen neuen, dynamischen Blick auf die menschliche Psyche etablierten, der das Denken über den menschlichen Geist revolutionierte.
Die kreativen Aktivitäten in Kunst, Kunstgeschichte und Literatur fanden eine Parallele in den Fortschritten der Naturwissenschaft und Medizin, während der Optimismus der medizinischen, biologischen und physikalischen Forschung das Vakuum füllte, das durch ein Schwinden religiöser Spiritualität entstand. In der Tat bot das Leben in Wien zur Jahrhundertwende Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern Gelegenheit, sich in der zugleich inspirierenden, optimistischen und politisch engagierten Atmosphäre von Salons und Kaffeehäusern miteinander auszutauschen. Die Fortschritte in Biologie, Medizin, Physik, Chemie und den damit verwandten Gebieten der Logik und Ökonomie gingen mit der Erkenntnis einher, dass die Wissenschaft nicht länger der eng gesteckte und begrenzte Kompetenzbereich von Forschern war, sondern sich zu einem wesentlichen Bestandteil der Wiener Kultur entwickelt hatte. Diese Haltung förderte Interaktionen, die Geistes- und Naturwissenschaften näher zusammenbrachten und bis zum heutigen Tag ein Musterbeispiel dafür sind, wie ein offener Dialog entstehen kann.
Zudem unterstützten der liberale intellektuelle Geist von »Wien 1900« und die progressive Haltung der naturwissenschaftlichen Universitätsdozenten die politische und gesellschaftliche Befreiung der Frauen, für die Schnitzlers Werke und die Arbeiten der drei Künstler Klimt, Schiele und Kokoschka eintraten.
Deren Gemälde sowie Freuds Theorien und Schnitzlers Werke waren von einer gemeinsamen Erkenntnis über das Wesen der menschlichen Triebe geprägt. In der Epoche von 1890 bis 1918 trugen die Einblicke dieser fünf Männer in die Irrationalität des Alltagslebens dazu bei, dass Wien zum Zentrum von Denken und Kultur der Moderne wurde. Diese Kultur umgibt uns noch heute.
MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS ENTWICKELTE sich die Moderne als Antwort nicht nur auf die Beschränkungen und Heucheleien des täglichen Lebens, sondern auch auf die Vehemenz, mit der die Aufklärung die Rationalität menschlichen Verhaltens hervorhob. Die Aufklärung, oder das Zeitalter der Vernunft, war gekennzeichnet von der Idee, dass mit der Welt alles in Ordnung ist, weil menschliches Handeln von der Vernunft geleitet wird. Durch die Vernunft gelangen wir zur Aufklärung, weil unser Verstand unsere Emotionen und Gefühle kontrolliert.
Der unmittelbare Auslöser für den Durchbruch der Aufklärung im 18. Jahrhundert war die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts, zu der drei bahnbrechende astronomische Entdeckungen gehörten: Johannes Kepler formulierte die Regeln, nach denen sich die Planeten bewegen, Galileo Galilei stellte die Sonne in den Mittelpunkt des Universums, und Isaac Newton entdeckte die Schwerkraft, erfand die Differentialrechnung (was Gottfried Wilhelm Leibniz unabhängig von ihm zur gleichen Zeit gelang) und beschrieb mit ihrer Hilfe die drei Bewegungsgesetze. Dabei verknüpfte Newton Physik und Astronomie und verdeutlichte, dass sich selbst die tiefsten Wahrheiten des Universums mit naturwissenschaftlichen Verfahren aufdecken ließen.
Diese Leistungen wurden 1660 mit der Gründung der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt gefeiert – der »Royal Society of London for Improving Natural Knowledge«, die Isaac Newton 1703 zu ihrem Präsidenten wählte. Für die Gründer der Royal Society war Gott ein Mathematiker, gemäß dessen Planung das Weltall nach logischen und mathematischen Prinzipien funktionierte. Die Aufgabe des Wissenschaftlers – des Naturphilosophen – bestand darin, mit wissenschaftlichen Verfahren die dem Universum zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien zu entdecken und auf diese Weise den Code zu entschlüsseln, nach dem Gott den Kosmos erschaffen hatte.
Die Erfolge auf dem Gebiet der Wissenschaft brachten Denker des 18. Jahrhunderts zu der Annahme, dass sich andere Aspekte menschlichen Verhaltens, darunter politisches Handeln, Kreativität und Kunst, durch Einsatz von Vernunft verbessern ließen, was letztlich zu einer besseren Gesellschaft und angenehmeren Lebensbedingungen für alle Menschen führen würde. Dieses Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft beeinflusste alle Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Europa und breitete sich bald auch auf die nordamerikanischen Kolonien aus. Dort förderten wohl die Ideen der Aufklärung, wonach Vernunft zu einer besseren Gesellschaft beitragen kann und rational denkende Menschen ein Naturrecht auf das Streben nach Glück besitzen, die von Thomas Jefferson begründete Demokratie, die die Vereinigten Staaten bis heute auszeichnet.
DIE MODERNISTISCHE REAKTION AUF die Aufklärung erfolgte in den Nachwehen der Industriellen Revolution, deren verrohende Auswirkungen bezeugten, dass das moderne Leben nicht so mathematisch perfekt oder so verlässlich, rational und aufgeklärt war, wie die Fortschritte im 18. Jahrhundert die Menschen hatten hoffen lassen. Die Wahrheit war weder immer schön, noch war sie stets leicht zu finden. Häufig lag sie im Verborgenen. Und außerdem wurde das menschliche Denken nicht nur von Vernunft geleitet, sondern auch von irrationalen Gefühlen.
So wie Astronomie und Physik die Aufklärung inspirierten, inspirierte die Biologie die Moderne. Darwins Buch Die Entstehung der Arten von 1859 verkündete die Idee, dass die Menschen nicht als einzigartige Wesen von einem allmächtigen Gott erschaffen worden seien, sondern sich als biologische Kreaturen aus weniger komplexen tierischen Vorfahren entwickelt hätten. In seinen späteren Büchern spezifizierte Darwin diese Behauptungen und führte aus, dass die vorrangige biologische Funktion jedes Organismus darin bestehe, sich zu reproduzieren. Da wir aus einfacheren Tieren hervorgegangen seien, müssten wir über das gleiche triebhafte Verhalten wie andere Tiere verfügen. Demzufolge müsse auch der Geschlechtstrieb ein zentrales Merkmal menschlichen Verhaltens sein.
In der Kunst führte diese neue Sichtweise zu einer neuen Betrachtung der biologischen Natur menschlicher Existenz. Das zeigt sich in Édouard Manets Das Frühstück im Grünen von 1863, dem in Thema und Stil vielleicht ersten echten Gemälde der Moderne. Manets Bild offenbart in seiner zugleich schönen und schockierenden Darstellung ein für die Moderne zentrales Thema: die komplexe Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Der Künstler zeigt zwei vollständig und konventionell bekleidete Männer, die in einem bewaldeten Park im Gras sitzen und sich beim Essen unterhalten, während eine nackte Badende neben ihnen sitzt. In der Vergangenheit waren nackte Frauen in Gemälden als Göttinnen oder mythische Figuren dargestellt worden. Hier bricht Manet mit der Tradition und malt eine reale, lebendige, zeitgenössische Pariserin im Evaskostüm – sein Lieblingsmodell Victorine Meurent (Abb. 1-6). Ungeachtet der Attraktivität von Victorines üppigem Körper scheint sie den beiden Männern gleichgültig zu sein, und umgekehrt. Während die Männer offenkundig miteinander reden, wendet sich die nackte Frau, die Leugnung der Sexualität mit den Männern teilend, ausschließlich dem Betrachter zu. Neben seinem verblüffend modernen Thema weist das Gemälde auch faszinierend moderne Stilmerkmale auf. Mehrere Jahrzehnte, bevor Cézanne begann, drei Dimensionen zu zweien zu verschmelzen, erweckte Manet hier bereits einen Eindruck von Flächenhaftigkeit, weil er seinem Bild nur wenig Tiefe oder Perspektive verlieh.
Abb. 1-6. Édouard Manet, Das Frühstück im Grünen (1863). Öl auf Leinwand.
Zu den späteren Errungenschaften der Wiener Kunst der Moderne äußerte sich Ernst Gombrich folgendermaßen:
Kunst ist eine Institution, der wir uns immer dann zuwenden, wenn wir uns schockieren lassen wollen. Dieses Bedürfnis empfinden wir, weil wir spüren, dass ein gelegentlicher heilsamer Schock uns guttut. Sonst würden wir allzu leicht in einen Trott geraten und neuen Herausforderungen, die das Leben uns stellt, nicht mehr gewachsen sein. Die Kunst hat also, anders gesagt, die biologische Funktion einer Probe, eines Trainings in mentaler Gymnastik, das uns hilft, mit dem Unerwarteten umzugehen.4
Die Moderne in Wien war durch drei Hauptmerkmale gekennzeichnet. Das erste war die neue Sichtweise, den menschlichen Geist im Grunde als von Natur aus irrational zu betrachten. In einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit stellten die Wiener Vertreter der Moderne die Vorstellung infrage, dass die Gesellschaft auf dem rationalen Verhalten rationaler Menschen aufbaue. Vielmehr, so behaupteten sie, seien die alltäglichen Handlungen jedes Einzelnen von unbewussten Konflikten geprägt. Indem sie diese Konflikte an die Oberfläche holten, konfrontierten die Modernisten konventionelle Einstellungen und Werte mit einer neuen Art zu denken und zu fühlen und fragten sich, was die Wirklichkeit ausmachte, was unter der oberflächlichen Erscheinung von Menschen, Objekten und Ereignissen verborgen lag.
Zu einer Zeit, in der man anderswo eine noch größere Kontrolle über die äußere Welt, die Produktionsmittel und die Verbreitung von Wissen erlangen wollte, wandten die Wiener Vertreter der Moderne also ihren Blick nach innen und versuchten, die Irrationalität der menschlichen Natur zu ergründen und zu verstehen, inwiefern sich irrationales Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt. Sie entdeckten, dass die Menschen unter ihrer eleganten, schönen Politur nicht nur unbewusste erotische Gefühle verbergen, sondern auch unbewusste aggressive Impulse, die sich gegen die eigene Person, aber auch gegen andere richten. Freud nannte diese dunklen Impulse später den Todestrieb.
Die Entdeckung der großenteils irrationalen Natur unseres Geistes rief die möglicherweise radikalste und einflussreichste der drei geistigen Revolutionen hervor, die, wie Freud festhielt, bestimmten, wie wir uns selbst und unseren Platz im Universum sehen. Die erste dieser Revolutionen, die im 16. Jahrhundert erfolgte kopernikanische Revolution, offenbarte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern ein kleiner Satellit, der die Sonne umkreist. Die zweite, die Darwin’sche Revolution des 19. Jahrhunderts, offenbarte, dass wir nicht gottgleich oder einzigartig erschaffen wurden, sondern uns im Prozess der natürlichen Selektion aus niederen Tieren entwickelt haben. Die dritte große Revolution, die in Wien um 1900 erfolgte Freud’sche Revolution, offenbarte, dass wir unsere Handlungen keineswegs bewusst steuern, sondern vielmehr von unbewussten Motiven getrieben werden. Aus dieser dritten Revolution ging später die Vorstellung hervor, dass sich die menschliche Kreativität – jene Kreativität, die Kopernikus und Darwin zu ihren Theorien führte – aus dem unbewussten Zugang zu fundamentalen, unbewussten Kräften speist.
Anders als die kopernikanische und die Darwin’sche Revolution kam die Erkenntnis, dass unsere geistigen Prozesse großenteils irrational sind, mehreren Denkern zur gleichen Zeit, unter ihnen Mitte des 19. Jahrhunderts Friedrich Nietzsche. Freud, der von Darwin wie auch von Nietzsche stark beeinflusst wurde, wird mit der dritten Revolution am häufigsten in Verbindung gebracht, weil er ihr profundester und eloquentester Vertreter war. Dennoch machte er die Entdeckung nicht allein – seine Zeitgenossen Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele entdeckten und erforschten ebenfalls neue Aspekte unseres unbewussten Geisteslebens. Sie verstanden Frauen besser als Freud, insbesondere die Natur der weiblichen Sexualität und des Mutterinstinkts, und sie erkannten deutlicher als er, wie wichtig die Bindung eines Säuglings an seine Mutter ist. Und sie erkannten sogar die Bedeutung des Aggressionstriebs früher als Freud.
Überdies war Freud nicht der Erste, der über die Rolle unbewusster mentaler Prozesse in unserem Geistesleben nachdachte. Philosophen hatten sich bereits jahrhundertelang mit diesem Problem auseinandergesetzt. Im 4. Jahrhundert v. Chr. erörterte Platon unbewusstes Wissen und wies darauf hin, dass ein Großteil unseres Wissens latent in unserer Psyche schlummert. Im 19. Jahrhundert schrieben Arthur Schopenhauer und Nietzsche, der sich selbst als »den ersten Psychologen« bezeichnete, über Unbewusstheit und unbewusste Triebe, und zu allen Zeiten haben sich Künstler mit der männlichen und weiblichen Sexualität beschäftigt. Hermann von Helmholtz, der große Physiker und Physiologe aus dem 19. Jahrhundert, der auch Freud beeinflusste, entwickelte die Theorie, dass das Unbewusste eine zentrale Rolle bei der visuellen Wahrnehmung des Menschen spielt.
Ihre Sonderstellung verdankten Freud und die Wiener Intellektuellen ihrem erfolgreichen Bestreben, diese Ideen weiterzuentwickeln und zu verknüpfen, sie in eine verblüffend moderne, kohärente und dramatische Sprache zu kleiden und der Öffentlichkeit auf diesem Wege eine neue Sicht auf den menschlichen, insbesondere den weiblichen, Geist nahezubringen. So wie Otto Wagner die klaren Linien schuf, die die moderne Architektur von früheren Formzwängen befreiten, vereinten und erweiterten Freud, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele die Ideen ihrer Vorgänger über unbewusste Triebe und stellten sie in einem überzeugenden, modernen Licht dar. Sie trugen zur Befreiung des Gefühlslebens von Männern wie Frauen bei und bereiteten im Grunde der sexuellen Freiheit, die wir heute im Westen genießen, den Weg.
DAS ZWEITE MERKMAL DER WIENER MODERNE war die Selbstbetrachtung. Bei ihrer Suche nach den Gesetzmäßigkeiten, denen die Natur der menschlichen Individualität unterliegt, legten Freud, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele Wert darauf, nicht nur andere zu untersuchen, sondern vor allem sich selbst in Augenschein zu nehmen – nicht nur, was die äußere Erscheinung betraf, sondern auch die Eigentümlichkeiten ihrer Gedanken und Gefühle. Freud ergründete seine eigenen Träume und lehrte Psychoanalytiker die Auseinandersetzung mit der Gegenübertragung (den Gefühlen und Reaktionen, die der Patient beim Therapeuten auslöst); geradeso erforschten Schnitzler und die Künstler, insbesondere Kokoschka und Schiele, unerschrocken ihre eigenen instinkthaften Triebe. Mithilfe der Selbstanalyse schauten sie tief in ihre eigene Seele, um daraufhin die Triebe anderer sowie die von ihnen selbst erfahrenen Gefühle darzustellen. Diese Selbstbetrachtung machte »Wien 1900« aus.
DAS DRITTE MERKMAL DER WIENER MODERNE war der Versuch, Wissen zu vernetzen und zu vereinen, was durch die Naturwissenschaft vorangetrieben wurde und von Darwins nachdrücklicher Botschaft inspiriert war, dass Menschen auf die gleiche Weise wie andere Tiere biologisch zu erforschen seien. »Wien 1900« eröffnete neue Perspektiven für Medizin, Kunst, Architektur, Kunstkritik, Design, Philosophie, Ökonomie und Musik. Es ermöglichte einen Dialog zwischen den Biowissenschaften und Psychologie, Literatur, Musik und Kunst und somit eine Vernetzung von Wissen, an der wir bis zum heutigen Tage arbeiten. Darüber hinaus veränderte es die Wiener Forschung, vor allem in der Medizin. Unter der Leitung von Rokitansky, der ein Anhänger Darwins war, stellte die Wiener Medizinische Schule die ärztliche Praxis auf eine systematischere wissenschaftliche Basis – sie kombinierte die klinische Untersuchung eines lebenden Patienten routinemäßig mit den Ergebnissen einer Autopsie nach dem Tode des Patienten, was den Krankheitsverlauf erhellte und eine genaue Diagnose erlaubte. Dieser wissenschaftliche Ansatz in der Medizin lieferte eine Metapher für die von der Moderne propagierte Betrachtung der Realität: Nur wenn wir unter das oberflächliche Äußere schauen, gelangen wir zur Wirklichkeit.
Schließlich verbreiteten sich Rokitanskys Ideen über die Medizinische Schule hinaus und wurden zu einem wesentlichen Bestandteil der Kultur, in der die Wiener Intellektuellen und Künstler lebten und arbeiteten. Auf diese Weise erstreckte sich die Wiener Auseinandersetzung mit der Realität von den Kliniken und Sprechzimmern bis hin zu den Künstlerateliers und letztlich bis zu den Laboren der Neurowissenschaft.
Freud hatte zwar kaum direkten Kontakt mit Rokitansky, begann aber seine medizinische Ausbildung an der Universität Wien im Jahre 1873, als der Einfluss Rokitanskys am größten war. Demzufolge scheinen Freuds frühe Theorien in wichtigen Aspekten vom Rokitansky’schen Geist jener Zeit geformt worden zu sein. Dieser Geist lebte auch noch nach Rokitanskys Ausscheiden aus der Medizinischen Schule weiter: Ernst Wilhelm von Brücke und Theodor Meynert, zwei von Freuds Mentoren, wurden von Rokitansky berufen, und Freuds Kollege Josef Breuer studierte bei ihm.
Schnitzler, der in den letzten Jahren von Rokitanskys Leitung ebenfalls Student an der Medizinischen Schule war und mit Rokitanskys Assistenten Emil Zuckerkandl zusammenarbeitete, berief sich in seinen literarischen Werken auf unbewusste mentale Prozesse. Schnitzlers analytische Beschreibungen seiner lebhaften, nahezu unersättlichen sexuellen Lust hatten einen großen Einfluss auf das Denken der jungen Wiener Männer seiner Generation. Ganz ähnlich wie Freud erforschte Schnitzler die unbewusste Psychologie der Sexualität wie auch der Aggression.
Die gleiche Faszination vom Unbewussten zeigt sich auch in den Zeichnungen und Gemälden von Klimt, Kokoschka und Schiele. Sie standen ebenfalls unter Rokitanskys Einfluss, als sie mit der künstlerischen Vergangenheit brachen und Sexualität und Aggression auf eine neue Weise darstellten. Während Freud und Schnitzler von der Medizinischen Schule geprägt wurden, studierte Klimt bei Zuckerkandl inoffiziell Biologie. Schiele wurde indirekt über Klimt von Rokitansky beeinflusst. Kokoschka brachte sich selbst bei, tief unter der Oberfläche zu forschen, und demonstrierte dies mit gefeierten, durchdringenden Darstellungen der innersten Gedanken und Bedürfnisse seiner Modelle.
OBWOHL FREUD, SCHNITZLER und die Künstler der Moderne gleichermaßen von unbewussten Trieben fasziniert waren, die sie als Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens betrachteten, arbeiteten sie nicht als Gruppe. Freud und Schnitzler hatten die Künstler zweifellos geprägt, doch unter dem Einfluss von »Wien 1900« ging jeder seinen ganz eigenen Weg.
Freud dachte sehr viel systematischer als die anderen vier. Er fasste den Rokitansky’schen Zeitgeist in eine einfache, elegante Sprache und wandte ihn auf die Erforschung der menschlichen Seele an, indem er tief unter die Oberfläche geistiger Erscheinungen drang und bis zu dem darunterliegenden psychologischen Konflikt vorstieß. Vor allem aber nutzte er diese Sicht, um eine kohärente, detaillierte und reichhaltige »Theorie des Geistes« zu entwickeln, mit deren Hilfe er sowohl normales als auch abnormes Verhalten erklärte. Freuds Theorie unterschied sich insofern von der Sichtweise Schnitzlers und der Künstler, ja sogar von der Nietzsches, als sie den menschlichen Geist als eine Domäne der empirischen Forschung behandelte und nicht als eine Plattform für philosophische Spekulationen. Freuds Theorie des Geistes gilt als der erste Versuch, etwas zu entwickeln, das später Kognitionspsychologie genannt werden sollte – ein Versuch, die Komplexität des menschlichen Denkens und Fühlens systematisch mithilfe der mentalen Repräsentationen der Außenwelt zu erklären. Und schließlich entwickelte Freud, teilweise gestützt auf seine kognitive Theorie des Geistes, eine Therapie zur Linderung persönlicher Leiden.
Paul Robinson, ein Philosoph unserer Zeit, betont Freuds geistiges Vermächtnis in der Sprache der Rokitansky-Generation:
Er ist der Hauptgrund für unsere moderne Neigung, unter der Oberfläche des Verhaltens nach dem eigentlichen Sinn zu suchen – immer aufmerksam nach der »wahren« (und vermutlich verborgenen) Bedeutung unseres Handelns auszuspähen. Außerdem nährt er unsere Überzeugung, dass sich die Rätsel der Gegenwart besser klären lassen, wenn wir sie zu ihren Ursprüngen in der Vergangenheit, vielleicht sogar in der frühesten Vergangenheit, zurückverfolgen. … Und schließlich hat er uns für die Erotik sensibilisiert, insbesondere für ihr Auftreten in Bereichen …, in denen frühere Generationen nie nach ihr gesucht hätten.5
Freud verwies mit Nachdruck darauf, dass ein großer Teil des geistigen Lebens unbewusst bleibt – es wird uns nur in Gestalt von Wörtern und Bildern bewusst. Und genau dies haben er, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele mit ihren Texten und Gemälden vollbracht. Sie setzten sich nicht nur mit ähnlichen Themen der sie umgebenden Kultur auseinander, sondern teilten in ihrer jeweiligen Arbeit auch das wissenschaftliche Interesse an Gedanken und Gefühlen, das für »Wien 1900« charakteristisch war.
3 Breuer, J., »Beobachtung I. Frl. Anna O...«, in: S. Freud und J. Breuer, Studien über Hysterie, Leipzig/Wien 1895, S. 33.
4 Gombrich, E. H., Reflections on the History of Art, hg. von R. Woodfield, Berkeley 1987, S. 211.
5 Robinson, P., Freud and His Critics,Berkeley 1993, S. 271.
KAPITEL 2
DIE ERFORSCHUNG DER WAHRHEIT UNTER DER OBERFLÄCHE: URSPRÜNGE EINER WISSENSCHAFTLICHEN MEDIZIN
Die Wiener Medizinische Schule spielte eine zentrale Rolle bei dem für »Wien 1900« charakteristischen Versuch, Wissen zu vernetzen. Sigmund Freud und Arthur Schnitzler erhielten dort ihre Arztausbildung, und Klimts Denken über Kunst und Forschung wurde von der Schule beeinflusst. Über diese allgemeine kulturelle Leistung hinaus etablierte die Wiener Schule einen Standard der wissenschaftlichen Medizin, der die medizinische Praxis noch heute prägt.
Wenn ein Patient heutzutage zu einem Arzt geht und über Kurzatmigkeit klagt, passiert wohl fast überall auf der Welt das Gleiche: Der Arzt nimmt ein Stethoskop, legt das Kopfstück an den Brustkorb der Person und hört auf die Geräusche der Lunge, während die Person atmet. Hört der Arzt ein Rasseln – abnorme Geräusche, die von Flüssigkeit in den Lungen hervorgerufen werden –, vermutet er möglicherweise, dass die Person an einem Herzschaden leidet. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn der Arzt auf den Brustkorb klopft und die Echos dumpfer klingen als normal. Daraufhin benutzt der Arzt erneut das Stethoskop, um dieses Mal nach Extrasystolen zu horchen, die mögliche Anzeichen für einen abnormen Herzrhythmus sind, sowie nach Herzgeräuschen, die Defekte an der Mitral- oder Aortenklappe des Herzens anzeigen könnten. Auf diese Weise kann ein geschulter Arzt mit einfachen, leicht verfügbaren Werkzeugen Fehlfunktionen von Herz oder Lunge diagnostizieren.
Indem ein Arzt unserer Tage ein Stethoskop an die Außenseite des Körpers hält, um damit sorgfältig das darunter verborgene Innenleben zu untersuchen, folgt er wissenschaftlichen Richtlinien, die vor einem Jahrhundert an der Wiener Medizinischen Schule perfektioniert wurden. Das Erfolgsgeheimnis dieses modernen medizinischen Ansatzes besteht darin, hinter die äußeren Symptome zu schauen und zu den Krankheitsprozessen vorzustoßen, die unterhalb der Haut wirksam sind. Wie kam dieser Ansatz zustande?
FÜR MODERNE HISTORIKER LIEGEN die Ursprünge der systematischen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, sodass es nicht weiter überrascht, dass die europäische Medizin bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts noch weitgehend vorwissenschaftlich war. Die wichtigsten Hilfsmittel zum Erkennen von Krankheiten waren zu jener Zeit der Bericht des Patienten und die Beobachtungen des Arztes am Krankenbett. Damals gehörten Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht zwei verschiedenen Kulturen an; das Studium der Medizin war nicht nur wegen der heilenden Kräfte, die es verlieh, hoch angesehen, sondern auch wegen der umfassenden kulturellen Gelehrsamkeit, die es bot. Weil das Medizinstudium der beste Weg war, die natürliche Welt zu erforschen, studierten tatsächlich einige große Denker der französischen Aufklärung – Diderot, Voltaire und Rousseau – Medizin, um ihr humanistisches Wissen zu erweitern.
Dass sowohl Kultur als auch Naturwissenschaft Schwerpunkte des Studiums waren, lag daran, dass selbst noch im 18. Jahrhundert viele Ärzte weitgehend so praktizierten, wie es der griechische Arzt Hippokrates 2000 Jahre zuvor vorgegeben und der in Griechenland geborene einflussreiche Arzt Galen, der in Rom wirkte, um das Jahr 170 systematisch niedergeschrieben hatte. Galen sezierte Affen, um den menschlichen Körper zu ergründen, und kam auf diese Weise zu einigen bemerkenswerten biologischen Erkenntnissen, wie beispielsweise, dass die Nerven die Muskeln steuern. Er verfolgte jedoch auch eine Reihe falscher Ideen über Biologie und Krankheiten des Menschen. Insbesondere behauptete er, wie auch Hippokrates, dass Krankheiten nicht durch spezifische Fehlfunktionen des Körpers hervorgerufen würden, sondern durch ein Ungleichgewicht in den vier Körpersäften Schleim, Blut, gelber Galle und schwarzer Galle. Überdies glaubte er, dass die vier Säfte auch geistige Funktionen steuerten. So sollte ein Übermaß an schwarzer Galle eine Prädisposition zu Depressionen bewirken.
Dementsprechend konzentrierten sich Ärzte nicht auf die Stelle des Körpers, wo der Ursprung der Symptome lag, sondern auf den Körper in seiner Gesamtheit – vor allem darauf, das Gleichgewicht zwischen den vier Säften durch Behandlungen wie Aderlass und Entschlackung wiederherzustellen.6 Trotz wiederholter Kritik an diesen Ideen, zum Beispiel aufgrund der von Andreas Vesalius in den 1540er-Jahren vorgenommenen anatomischen Sektionen, experimenteller Beobachtungen wie William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1616 und der Gründung der wissenschaftlichen Pathologie durch Giovanni Battista Morgagni im Jahre 1750, hielt der Einfluss von Galens Ideen auf die medizinische Ausbildung und klinische Praxis bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an.
Ein großer Schritt hin zu einer eher systemischen, wissenschaftsbasierten Medizin gelang in Frankreich nach der Französischen Revolution, als eine Reihe königlich verordneter Beschränkungen der medizinischen Praxis und Durchführung von Autopsien aufgehoben wurden. Daraufhin reformierten französische Ärzte, Chirurgen und Biologen das Medizinstudium und die medizinische Praxis; die klinische Ausbildung in Krankenhaus oder Klinik wurde obligatorisch.
Die Pariser Schule der Medizin wurde zu jener Zeit von Jean-Nicolas Corvisart des Marets geleitet, Napoleons Leibarzt und einem Pionier der Diagnose durch Perkussion, oder Abklopfen des Brustkorbs, um zwischen einer Lungenentzündung und einem Herzfehler zu unterscheiden, die beide zu einem Lungenödem führen können. In den frühen Jahren der Pariser Schule der Medizin vollbrachten dort drei weitere Ärzte historische Leistungen – Marie François Xavier Bichat, René Laënnec und Philippe Pinel. Bichat verwies als einer der ersten Pathologen in Europa mit Nachdruck darauf, dass die Kenntnis der menschlichen Anatomie für die medizinische Praxis von grundlegender Bedeutung ist. Er entdeckte, dass jedes Körperorgan aus mehreren verschiedenen Gewebearten besteht, also aus Zellansammlungen, die eine gemeinsame Funktion ausüben. Die spezifischen Gewebe eines Organs, so behauptete Bichat, seien die eigentlichen Ziele von Krankheiten. Laënnec erfand das Stethoskop und nutzte es, um die verschiedenen Herztöne zu bestimmen und eine Verbindung zwischen ihnen und anatomischen Autopsiebefunden herzustellen.
Pinel begründete die medizinische Disziplin der Psychiatrie. Er führte humane, psychologisch orientierte Prinzipien in die Versorgung geisteskranker Patienten ein und versuchte, zu ihnen eine persönliche, psychotherapeutische Beziehung aufzubauen. Pinel ging davon aus, dass Geisteskrankheit eine medizinisch behandelbare Erkrankung sei, die auftrete, wenn Menschen mit einer erblichen Prädisposition für psychiatrische Störungen einer übermäßigen sozialen oder psychischen Belastung ausgesetzt seien. Diese Sichtweise kommt unserem derzeitigen Verständnis von der Ätiologie der meisten psychiatrischen Störungen sehr nahe.
Frankreichs Fähigkeit, neue Forschungsdomänen auszuweisen, fand Unterstützung durch ein zentralisiertes Bildungssystem mit hohen akademischen Standards sowie durch die nationalen Fortschritte in Biologie und Medizin. Die Pariser Schule der Medizin gab den Maßstab für medizinische Grundlagenforschung und klinische Praxis vor und bestimmte die Welt der europäischen Medizin von 1800 bis 1850.
Angesichts ihres brillanten Starts und der Präsenz wahrer Koryphäen der biologischen Forschung, wie Claude Bernard und Louis Pasteur, überrascht es, dass die klinische Medizin Frankreichs nach den 1840er-Jahren allmählich an Autorität einbüßte. Dies lag möglicherweise an dem politischen Konservatismus, der mit der Julimonarchie unter Louis-Philippe und dem Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. Einzug hielt. Das zentralisierte Bildungssystem Frankreichs erstarrte, was zu einer nachlassenden Kreativität und Qualität der Wissenschaft führte. 1850 hatte die französische Medizin, laut dem Historiker Erwin Ackerknecht, »ihr Pulver verschossen« und »sich in eine Sackgasse manövriert«.7
Die Erschöpfung des Pioniergeistes in Frankreichs klinischer Praxis und Ausbildung äußerte sich bald in einer massiven Abwanderung ausländischer Medizinstudenten von Paris nach Wien und anderen deutschsprachigen Städten, die sich immer mehr durch die Gründung neuartiger wissenschaftsorientierter Universitäten und Forschungsinstitute sowie die Entwicklung einer laborbasierten Medizin auszeichneten. In krassem Gegensatz zu ihren Pariser Pendants gehörten alle größeren Krankenhäuser in den deutschsprachigen Ländern bereits seit 1750 einer Universität an. In Wien war die gesamte klinische Ausbildung Teil des akademischen Auftrags der Universität und musste deren hohen Qualitätsstandards genügen. Im Jahre 1850 hatte sich die Universität Wien zur größten und bekanntesten deutschsprachigen Universität entwickelt, und ihre medizinische Fakultät war wohl – neben der von Berlin – die beste Europas.
DIE ERSTEN SCHRITTE ZU EINER WISSENSCHAFTSBASIERTEN Wiener Medizin waren ein Jahrhundert zuvor erfolgt, als Kaiserin Maria Theresia die Universität Wien umstrukturiert hatte. Sowohl sie als auch ihr Sohn Joseph II. förderten hoch qualifizierte Medizin auch finanziell, weil die medizinische Ausbildung und Versorgung für das Wohl des Staates in ihren Augen unabdingbar war.
Maria Theresia suchte in ganz Europa nach einem hervorragenden Mediziner, der der führende Kopf dieser neuen Bestrebungen sein sollte, und verpflichtete 1745 den berühmten niederländischen Arzt Gerard van Swieten. Van Swieten gründete die Erste Wiener Medizinische Schule, wie sie heute genannt wird; mit ihr erlebte Wien die Wandlung medizinischer Quacksalberei auf der Basis humanistischer Philosophie und der Lehren von Hippokrates und Galen zu einer medizinischen Praxis, die auf den Naturwissenschaften aufbaute.
1783 gab Kaiser Joseph II. die Planung eines umfangreichen medizinischen Gebäudekomplexes in Auftrag und 1784 eröffnete van Swietens Nachfolger Andreas Joseph von Stifft das großartige Wiener Allgemeine Krankenhaus. Die kleineren Krankenhäuser im Umkreis von Wien wurden geschlossen und alle medizinischen Einrichtungen in diesem riesigen Komplex zentralisiert, der das Hauptgebäude, ein Gebärhaus, ein Findelhaus, ein Irrenhaus und das unmittelbar angrenzende Garnisonsspital umfasste. Als größte medizinische Einrichtung Europas wollte das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein Zentrum für moderne, wissenschaftliche Medizin sein. So wurde die Medizinische Schule der Universität Wien laut Rudolf Virchow aus Berlin, dem Vater der Zellpathologie, zum »Mekka der Medizin«.
Abb. 2-1.Carl von Rokitansky (1804–1878). Rokitansky stellte die Medizin auf eine solide wissenschaftliche Grundlage, indem er Korrelationen zwischen Symptomen und den zugrunde liegenden Erkrankungen herstellte. Vier Semester war er Dekan der Wiener Medizinischen Schule und wurde 1852 zum ersten frei gewählten Rektor der Universität Wien. (Aufnahme um 1805).
1844 wurde Stifft als Leiter der Wiener Medizinischen Schule von Carl von Rokitansky abgelöst (Abb. 2-1), mit dem die Moderne Einzug in die Biologie und Medizin hielt. Inspiriert von Darwins Forderung, dass Menschen auf die gleiche Weise wie andere Tiere biologisch zu erforschen seien, stellte Rokitansky die ärztliche Praxis an der nunmehr »Zweiten Wiener Medizinischen Schule« im Laufe der folgenden 30 Jahre auf eine neue, wissenschaftliche Grundlage und wurde dadurch international berühmt.
DIE NEUE WISSENSCHAFTLICHE AUSRICHTUNG der Medizin gelang Rokitansky, indem er klinische Beobachtungen systematisch zu pathologischen Ergebnissen in Beziehung setzte. In Paris war jeder Kliniker sein eigener Pathologe. Demzufolge führten die Ärzte zu wenig pathologische Analysen durch, um wirkliche Experten im Diagnostizieren von Krankheiten zu werden. Rokitansky machte aus der klinischen Medizin und der Pathologie verschiedene Abteilungen und übertrug ihre Leitung je einem voll ausgebildeten, äußerst kompetenten Fachmann. Jeder Patient wurde von einem Arzt und nach seinem Tod von einem Pathologen untersucht, und dann stellten die beiden Mediziner zwischen ihren Untersuchungsergebnissen eine Verbindung her.
Diese Entwicklung hatte zwei Ursprünge. Erstens wurde, wie erwähnt, jeder Patient, der im Wiener Allgemeinen Krankenhaus starb, unter Aufsicht einer bestens ausgebildeten Person, dem Chefpathologen, obduziert. Im Jahre 1844 übernahm Rokitansky diese Position. In einer Zeitspanne von über 30 Jahren führten er und seine Mitarbeiter rund 60000 Autopsien durch,8 die ihm enorme Kenntnisse über Erkrankungen der Organe und Gewebe verschafften. Zweitens arbeitete am Wiener Allgemeinen Krankenhaus ein großartiger Kliniker, Rokitanskys Student und Kollege Joseph Škoda. Škoda war in der klinischen Diagnose ebenso brillant wie Rokitansky in der pathologischen. In der Regel arbeiteten die beiden Männer zusammen, und zwischen ihnen entwickelte sich eine intensive Kollegialität, die die Kluft zwischen ihren Fachgebieten überbrückte.
Dank dieser strikten Kooperation konnte die Wiener Medizinische Schule nun effektiver als zuvor die am Krankenbett erlangten Erkenntnisse über eine Krankheit zu Erkenntnissen aus dem Autopsiesaal in Beziehung setzen und diese systematischen Korrelationen nutzen, um eine rationale, objektive Methode zum Verstehen der Erkrankung und somit zum Erreichen einer genauen Diagnose zu entwickeln. Das Verfahren ermöglichte ein neues Verständnis der klinisch-pathologischen Korrelation, die die moderne Medizin seitdem geprägt hat.
Rokitansky war in seinem Denken stark von dem großen italienischen Pathologen Giovanni Battista Morgagni beeinflusst, der im Gegensatz zu den Lehren Galens behauptet hatte, dass klinische Symptome von Schäden an einzelnen Organen hervorgerufen würden – Symptome seien die Schreie der leidenden Organe. Um eine Krankheit zu verstehen, müsse man zuerst den Herd der Krankheit im Körper finden.9 Morgagni zeigte auch, dass man anhand von Leichenöffnungen Vermutungen überprüfen konnte, die bei einer klinischen Untersuchung aufgestellt worden waren. Aus seinen Lehren entwickelte sich die radikale neue Idee, eine Störung nach ihrem biologischen Ursprung zu benennen – wenn möglich, sogar nach dem spezifischen Organ, das ihr Ursprung war, wie Blinddarmentzündung, Lungenkrebs, Herzversagen oder Magenschleimhautreizung.
Laut Rokitansky sollte ein Arzt vor der Behandlung eines Patienten eine genaue Diagnose der Erkrankung erstellt haben. Eine genaue Diagnose könne aber nicht allein aufgrund einer Untersuchung des Patienten und der Bewertung von Anzeichen und Symptomen erfolgen, weil ein und dieselben Anzeichen und Symptome von verschiedenen Teilen desselben Organs oder sogar von unterschiedlichen Krankheiten hervorgerufen werden könnten. Ebenso wenig könne man die Anzeichen und Symptome allein aufgrund einer pathologischen Untersuchung nach dem Tod des Patienten beurteilen. Pathologische Untersuchungen müssten also möglichst immer mit klinischen Untersuchungen koordiniert werden.
Glücklicherweise ging Škoda bereitwillig auf Rokitanskys wissenschaftlichen Ansatz ein und übernahm ihn bei seinen Untersuchungen lebender Patienten. Als Spezialist für Herz- und Lungenerkrankungen brachte er die praktische Anwendung und theoretischen Grundlagen von Perkussion und Auskultation einen großen Schritt voran. Unter Verwendung von Laënnecs Stethoskop führte Škoda detaillierte Studien der Töne und Geräusche durch, die er beim Abhorchen der Herzen seiner Patienten hörte, und stellte dann eine Verbindung zu den Erkenntnissen her, die Rokitansky nach dem Tod der Patienten über Schädigungen des Herzmuskels und der Herzklappen erlangt hatte. Um die physische Grundlage der Herztöne besser zu verstehen, führte Škoda außerdem Experimente an den Leichen durch. Daraufhin war er erstmalig in der Lage, normale Herztöne, die durch das Öffnen und Schließen der Herzklappen verursacht wurden, von Herzgeräuschen aufgrund defekter Klappen zu unterscheiden. Auf diese Weise lernte Škoda nicht nur hervorragend, die verschiedenen Herztöne akustisch zu differenzieren, sondern entwickelte sich auch zu einem bemerkenswerten Interpreten ihrer anatomischen und pathologischen Bedeutung, womit er den Maßstab für die heutige medizinische Praxis vorgab.
Bei der Untersuchung der Lunge verfolgte Škoda einen ähnlich strikten Ansatz. Mit dem Stethoskop hörte er auf die Atemzüge der Patienten und kombinierte diese Wahrnehmungen dann mit den Techniken der Auskultation, die Josef Leopold Auenbrugger schon früher in Wien entwickelt hatte: Man klopfte auf den Brustkorb und horchte nach abnormen Geräuschen, die möglicherweise von Ergüssen in den Pleurahöhlen zwischen Lungenfell und Brustfell herrührten. Die durch Škoda erfolgten Verbesserungen der diagnostischen Präzision verschafften ihm internationale Anerkennung als Begründer der modernen körperlichen Untersuchung – dem ersten ausgewogenen, wissenschaftlich fundierten Ansatz zur Feststellung von Krankheiten. »[Dank Škoda] war … eine Sicherheit in die ärztliche Diagnose … gekommen, von der man früherhin nicht einmal eine Ahnung hatte«,10 schreibt Erna Lesky. Bis heute werden die meisten Krankheiten, die auf Schädigungen der Herzklappen beruhen, zunächst am Krankenbett diagnostiziert, indem man den Patienten sorgfältig mit dem Stethoskop abhorcht und die Geräusche nach den von Škoda entwickelten Kriterien interpretiert.
Während seiner Zusammenarbeit mit Škoda erklomm Rokitansky den Gipfel seines Ruhms. Ab 1849 veröffentlichte er sein Hauptwerk, das Handbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie, das erste Lehrbuch über Pathologie. Es beschrieb die spezifische pathologische Anatomie der verschiedenen Organsysteme. Außerdem diente es Rokitansky als Plattform für die Verbreitung seiner Idee, dass ein Arzt den Ursprung und natürlichen Verlauf einer Krankheit erforschen müsse, um sie in voll entwickeltem Stadium verstehen und letztlich heilen zu können.
IM ZUGE DIESER FORTSCHRITTE an der Medizinischen Schule strömten unzählige ausländische Studenten nach Wien. Die stetig wachsende Reputation der Schule und die Möglichkeit, dort Leichen sezieren zu können, lockten insbesondere amerikanische Studenten an, weil in den USA