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Was heißt es, Mensch zu sein? Nobelpreisträger Eric Kandel über die Grundlagen unserer Identität
Was geschieht, wenn unser Gehirn nicht mehr »normal« funktioniert? Wenn es durch Störungen oder Krankheiten wie Alzheimer und posttraumatischen Stress in Unordnung geraten ist? Eric Kandel, einer der führenden Experten der Gehirn- und Gedächtnisforschung, hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern komplexe menschliche Verhaltensweisen biologische Ursachen haben. In seinem Buch zeigt er, von Angstzuständen bis zur Schizophrenie, von Sucht bis Bipolarität, wie sehr biologische Prozesse unsere Identität prägen. Denn gerade die Störungen machen auf beeindruckende Weise sichtbar, was es heißt, Mensch zu sein.
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Seitenzahl: 464
Zum Buch
Was heißt es, Mensch zu sein? Nobelpreisträger Eric Kandel über die Grundlagen unserer Identität
Was genau geschieht, wenn unser Gehirn nicht mehr »normal« funktioniert? Wenn es in Unordnung geraten ist, durch Störungen oder Krankheiten wie Alzheimer, Depression oder posttraumatischen Stress? Eric Kandel, einer der weltweit führenden Experten der Gehirn- und Gedächtnisforschung, hat sich in seiner Arbeit immer wieder mit der Frage beschäftigt, inwiefern komplexe menschliche Verhaltensweisen biologische Ursachen haben. In seinem neuen Buch zeigt er an vielen Beispielen, von Angstzuständen bis zur Schizophrenie, von Sucht bis Bipolarität, wie sehr biologische Prozesse unsere Identität prägen. Denn gerade die Störungen, die Abweichungen und Anomalien machen auf beeindruckende Weise sichtbar, was es heißt, Mensch zu sein.
Zum Autor
Eric Kandel, geboren 1929 in Wien, ist einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 1939 emigrierte er mit seiner jüdischen Familie in die USA. Kandel studierte Geschichte und Literatur an der Harvard University und danach Medizin an der New York University. Seit 1974 ist er Professor an der Columbia University in New York. Für seine Forschung erhielt Eric Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Unter dem Titel »Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes« erschien Kandels Lebens- und Forschungsgeschichte, die zwei Jahre später unter dem gleichen Titel auch verfilmt wurde. Für »Das Zeitalter der Erkenntnis« kehrte der begeisterte Kunstsammler und weltbekannte Naturwissenschaftler zurück in die Stadt seiner Kindheit.
Eric R. Kandel
Was ist der Mensch?
Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Siedler
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Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel »The Disordered Mind. What Unusual Brains Tell Us About Ourselves« bei Farrar, Straus and Giroux, New York, erschienen.Copyright © by Eric Kandel, 2018
© 2018 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, nach einem Entwurf von Designbüro Lübbeke Naumann Thoben
Umschlagfoto: © Eve Vagg, Columbia University
Redaktion: Susanne Warmuth
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22859-0V004www.siedler-verlag.de
Für Denise, meine treue Gefährtin, meine härteste Kritikerin und meine ständige Quelle der Inspiration
Die Psyche gleicht einem Eisberg: Nur ein Siebtel ihrer Masse schwimmt über Wasser.
Sigmund Freud zugeschrieben
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1 Was uns Störungen des Gehirns über die menschliche Natur verraten
Kapitel 2 Unsere höchst soziale Natur: der autistische Formenkreis
Kapitel 3 Emotionen und die Integrität des Ichs: Depression und bipolare Störung
Kapitel 4 Die Fähigkeit, zu denken, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen: Schizophrenie
Kapitel 5 Das Lagerhaus des Ichs: Gedächtnis und Demenz
Kapitel 6 Unsere angeborene Kreativität: psychische Störungen und Kunst
Kapitel 7 Bewegung: Parkinson- und Huntington-Krankheit
Kapitel 8 Das Wechselspiel zwischen bewussten und unbewussten Gefühlen: Angst, posttraumatischer Stress und falsche Entscheidungsprozesse
Kapitel 9 Lustprinzip und Wahlfreiheit: Suchterkrankungen
Kapitel 10 Sexuelle Differenzierung des Gehirns und Geschlechtsidentität
Kapitel 11 Bewusstsein: das letzte große Rätsel des Gehirns
Zum Schluss: Der Kreis schließt sich
Anmerkungen
Danksagung
Personenregister
Sachregister
Bildnachweis
Einleitung
W ährend meiner ganzen Berufslaufbahn habe ich mich darum bemüht, die innere Funktionsweise des Gehirns und die Motive des Verhaltens von Menschen zu verstehen. Nachdem ich als kleiner Junge kurz nach der Besetzung durch Hitler aus Wien geflohen war, faszinierte mich eines der größten Rätsel im Dasein der Menschen: Wie kann eine der am höchsten entwickelten und kultiviertesten Gesellschaften auf Erden sich so abrupt dem Bösen zuwenden? Wie treffen Einzelne ihre Entscheidungen, wenn sie vor einem moralischen Dilemma stehen? Lässt sich das gespaltene Ich durch geschickte Interaktionen mit anderen Menschen heilen? Ich wurde Psychiater, weil ich hoffte, solche schwierigen Fragen zu verstehen und entsprechend handeln zu können.
Als mir jedoch bewusst wurde, wie schwer die Probleme des menschlichen Geistes zu fassen sind, wandte ich mich Fragen zu, die mit wissenschaftlicher Forschung eindeutiger zu beantworten waren. Ich konzentrierte mich auf kleine Ansammlungen von Neuronen bei einer sehr einfachen Tierart und entdeckte dabei schließlich einige grundlegende Prozesse, die hinter den elementaren Formen von Lernen und Gedächtnis stehen. Meine Arbeit machte mir viel Spaß und wurde auch von anderen überreichlich gewürdigt, aber mir ist klar, dass meine Befunde nur einen kleinen Schritt auf dem Weg darstellen, mit dem wir am Ende das komplexeste Gebilde im Universum verstehen wollen: den Geist des Menschen.
Es ist ein Vorhaben, das Philosophen, Dichter und Ärzte seit Anbeginn der Menschheit beschäftigt. Am Eingang des Apollotempels in Delphi war das Motto »Erkenne dich selbst« in Stein gehauen. Seit Sokrates und Platon erstmals über das Wesen des menschlichen Geistes nachdachten, haben sich Denker in jeder Generation aufs Neue darum bemüht, die Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, Erinnerungen und kreativen Kräfte zu verstehen, die uns zu dem machen, was wir sind. In früheren Zeiten beschränkten sich solche Bestrebungen auf den intellektuellen Rahmen der Philosophie, beispielhaft verkörpert im »Ich denke, also bin ich« des französischen Gelehrten René Descartes im 17. Jahrhundert. Descartes ging von der Leitidee aus, dass unser Geist vom Körper getrennt ist und unabhängig von ihm funktioniert.1
Einer der großen Fortschritte der Neuzeit war die Erkenntnis, dass Descartes das Pferd von hinten aufgezäumt hatte: In Wirklichkeit muss es heißen »Ich bin, also denke ich«. Diese Umkehr wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts vollzogen, als eine philosophische Schule, die sich mit dem Geist beschäftigte (mit John Searle und Patricia Churchland als wichtigsten Vertretern), mit der Kognitionspsychologie2, der Wissenschaft des Geistes, verschmolz; anschließend verschmolzen beide mit der Neurowissenschaft, das heißt der Wissenschaft vom Gehirn. Das Ergebnis war eine neue, biologische Herangehensweise an den Geist. Es war eine ganz neue Art, den Geist zu erforschen. Sie basiert auf dem Konzept, dass unser Geist ein System von Prozessen ist, die vom Gehirn vollzogen werden, und das Gehirn ist seinerseits eine erstaunlich komplizierte Rechenmaschine, die unsere Wahrnehmung der Außenwelt konstruiert, unsere inneren Erlebnisse erzeugt und unsere Tätigkeiten steuert.
Die neue Biologie des Geistes ist der letzte Schritt in einer intellektuellen Entwicklung, die 1859 mit Darwins Erkenntnissen über die Evolution unserer körperlichen Gestalt begann. In seinem klassischen Werk On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) formulierte Darwin den Gedanken, dass wir keine einzigartigen Wesen sind, die von einem allmächtigen Gott erschaffen wurden, sondern biologische Lebewesen, die durch Evolution aus einfacheren Tieren – unseren Vorfahren – hervorgegangen sind und mit ihnen eine Kombination instinktiver und erlernter Verhaltensweisen gemeinsam haben. Genauer arbeitete Darwin diesen Gedanken in seinem 1872 erschienenen Buch The Expression of the Emotions in Man and Animals (Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren)3 aus. Darin formulierte er einen noch radikaleren, tiefgreifenderen Gedanken: Unsere geistigen Prozesse sind durch Evolution mehr oder weniger auf die gleiche Weise aus Vorstufen bei unseren tierischen Vorfahren hervorgegangen wie unsere morphologischen Merkmale. Das heißt, unser Geist ist nichts Ungreifbares; man kann ihn mit biologischen Begriffen erklären.
Schon bald wurde den Gehirnforschern, darunter auch mir, eines klar: Wenn einfachere Tiere ähnliche Emotionen haben wie wir und beispielsweise auf die Gefahr körperlicher Schädigungen oder eine schlechtere soziale Stellung mit Furcht und Angst reagieren, sollten wir in der Lage sein, Aspekte unserer eigenen Gefühlszustände an solchen Tieren zu studieren. Im weiteren Verlauf wurde durch Forschungsarbeiten an Tiermodellen klar, dass sogar unsere kognitiven Prozesse – einschließlich primitiver Formen des Bewusstseins – durch Evolution aus Vorstufen bei unseren tierischen Vorfahren entstanden sind, wie Darwin es vorausgeahnt hatte.
Dass wir manche Aspekte unserer mentalen Vorgänge mit einfacheren Tieren gemeinsam haben, sodass wir die Funktionsweise des Geistes auf einer elementaren Ebene an solchen Tieren studieren können, ist ein Glück, denn das Gehirn des Menschen ist erstaunlich komplex. Am deutlichsten – und rätselhaftesten – zeigt sich diese Komplexität in unserem Ichbewusstsein.
Das Ichbewusstsein führt uns zu der Frage, wer wir sind und warum wir existieren. Unsere unzähligen Schöpfungsmythen – Geschichten, die jede Gesellschaft über ihren Ursprung erzählt – entstanden aus dem Bedürfnis, das Universum und unseren Platz darin zu erklären. Antworten auf solche existenziellen Fragen zu suchen, ist ein wichtiger Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Und die Frage, wie die komplizierten Wechselbeziehungen der Gehirnzellen das Bewusstsein und unsere Selbstwahrnehmung entstehen lassen, ist das letzte große Rätsel der Gehirnforschung.
Wie erwächst das Wesen des Menschen aus der physischen Materie des Gehirns? Das Gehirn kann ein Bewusstsein für das Ich herstellen und seine bemerkenswert schnellen, genauen Rechenleistungen ausführen, weil seine 86 Milliarden Nervenzellen – die Neuronen – untereinander über sehr präzise Verknüpfungen kommunizieren. Im Laufe meiner Berufslaufbahn konnten meine Kollegen und ich an einem einfachen wirbellosen Tier, der Meeresschnecke Aplysia,zeigen, dass sich diese Verknüpfungen, auch Synapsen genannt, durch Erfahrungen verändern. Das ist der Grund, warum wir lernen, uns an Veränderungen unserer Umwelt anzupassen. Die Verknüpfungen zwischen den Neuronen können aber auch durch Verletzungen oder Erkrankungen verändert werden; und manche Verknüpfungen bilden sich schon während der Entwicklung nicht normal oder überhaupt nicht. In solchen Fällen ist eine Störung der Gehirnfunktion die Folge.
Die Erforschung von Störungen und Erkrankungen des Gehirns liefert uns heute wie nie zuvor neue Erkenntnisse über die normalen Funktionen unseres Denkorgans. Was wir über Autismus, Schizophrenie, Depressionen und Alzheimer in Erfahrung bringen, kann uns nicht nur helfen, solche Erkrankungen zu verstehen, sondern es liefert auch neue Aufschlüsse über die Neuronenschaltkreise, die an Gedanken, Gefühlen, (Sozial-)Verhalten, Gedächtnis und Kreativität mitwirken. Ganz ähnlich wie Computerkomponenten, deren wahre Funktion erst deutlich wird, wenn sie defekt sind, so werden in einem umfassenderen Sinn auch die Funktionen der Neuronenschaltkreise im Gehirn auf dramatische Weise klar, wenn sie versagen oder nicht mehr richtig funktionieren.
Dieses Buch geht der Frage nach, wie die Prozesse im Gehirn, die unseren Geist entstehen lassen, durcheinandergeraten können, was dann zu den verschiedenen schweren Krankheiten führt, von denen die Menschheit heimgesucht wird: Autismus, Depression, bipolare Störung, Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson und posttraumatische Belastungsstörung. Es erklärt, warum Wissen über solche fehlgeleiteten Prozesse nicht nur unentbehrlich ist, wenn wir neue Therapien für die Krankheiten finden wollen, sondern auch, um die normale Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen. Außerdem macht es deutlich, dass wir unsere Kenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns erweitern können, wenn wir normale Varianten der Gehirnfunktion untersuchen, beispielsweise die Vorgänge, durch die sich das Gehirn in der Entwicklung differenziert und so unsere sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität festlegt. Und schließlich zeigt es, wie wir mit einer biologischen Herangehensweise an den Geist nach und nach auch die Geheimnisse von Kreativität und Bewusstsein lüften können. Insbesondere werden wir bemerkenswerte Fälle von Kreativität bei Menschen mit Schizophrenie und bipolarer Störung kennenlernen, und wir werden feststellen, dass ihre Kreativität aus den gleichen Verknüpfungen zwischen Gehirn, Geist und Verhalten hervorgeht, die auch bei allen anderen Menschen vorhanden sind. Aktuelle Untersuchungen am Bewusstsein und seinen Störungen lassen darauf schließen, dass das Bewusstsein keine einzelne, einheitliche Funktion des Gehirns ist; vielmehr besteht es in unterschiedlichen Zusammenhängen aus unterschiedlichen Geisteszuständen. Ähnliches hatten schon frühere Wissenschaftler entdeckt, und insbesondere Sigmund Freud hatte darauf hingewiesen: Unsere bewussten Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen sind von unbewussten mentalen Prozessen durchdrungen.
In einem umfassenderen Sinn ist die biologische Erforschung des Geistes mehr als nur ein Wissenschaftszweig, der gewaltige Aussichten auf die Erweiterung unserer Erkenntnisse über das Gehirn und auf die Entwicklung neuer Therapien für Menschen mit Störungen und Erkrankungen des Gehirns bietet. Die Fortschritte in der biologischen Erforschung des Geistes eröffnen auch die Möglichkeit eines neuen Humanismus: In ihm verschmelzen die Naturwissenschaften, die sich mit der Welt der Natur befassen, und die Geisteswissenschaften, deren Gegenstand der Sinn menschlichen Erlebens ist. Dieser neue wissenschaftliche Humanismus, der seine Grundlage zu einem beträchtlichen Teil in biologischen Erkenntnissen über Unterschiede der Gehirnfunktion hat, wird unsere Sichtweise für uns selbst und füreinander grundlegend verändern. Schon heute fühlt sich jeder von uns dank seines Ichbewusstseins einzigartig, aber eines Tages werden wir auch die biologische Bestätigung unserer Einzigartigkeit haben. Das wiederum wird zu neuen Einsichten über das Wesen des Menschen führen, aber auch zu einem tieferen Verständnis und einer neuen Wertschätzung für unser gemeinsames und individuelles Menschsein.
Kapitel 1
Was uns Störungen des Gehirns über die menschliche Natur verraten
W ie erwachsen die Geheimnisse der menschlichen Natur – die sich in unserem individuellen Welterleben widerspiegeln – aus der physischen Materie des Gehirns? Diese Frage zu beantworten, ist die größte Herausforderung der gesamten Wissenschaft. Wie lassen codierte Signale, die in unserem Gehirn von Milliarden Nervenzellen abgegeben werden, Bewusstsein, Liebe, Sprache und Kunst entstehen? Wie bringt ein unvorstellbar komplexes Netz von Verknüpfungen unser Gefühl der Identität hervor, ein Ich, das sich entwickelt, wenn wir heranreifen, und doch über alle unsere Lebenserfahrungen hinweg bemerkenswert konstant bleibt? Diese Rätsel des Ichs beschäftigen Philosophen schon seit Generationen.
Ein Ansatz zur Lösung solcher Rätsel besteht darin, die Frage anders zu formulieren: Was geschieht mit unserem Ichgefühl, wenn das Gehirn nicht ordnungsgemäß funktioniert, sondern von einem Trauma oder einer Krankheit heimgesucht ist? Die dabei entstehende Auflösung oder der Verlust des Ichgefühls wurde von Ärzten beschrieben und von Dichtern beklagt. In jüngerer Zeit sind Neurowissenschaftler der Frage nachgegangen, was mit dem Ich geschieht, wenn das Gehirn geschädigt wird. Ein berühmtes Beispiel ist Phineas Gage, ein Eisenbahnarbeiter aus dem 19. Jahrhundert, dessen Persönlichkeit sich drastisch veränderte, nachdem ein Eisenstab durch den vorderen Teil seines Gehirns gedrungen war. Wer ihn vor seiner Verletzung gekannt hatte, sagte nur: »Gage ist nicht mehr Gage.«
Ein solcher Ansatz setzt voraus, dass es sowohl für den Einzelnen als auch für Menschen im Allgemeinen eine Reihe »normaler« Verhaltensweisen gibt. Die Trennlinie zwischen »normal« und »anormal« wurde im Laufe der Geschichte an verschiedenen Orten und von verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gezogen. Menschen mit geistigen Abweichungen wurden manchmal als »(mit einer besonderen Gabe) gesegnet« oder »heilig« angesehen, häufiger aber hielt man sie für »abartig« oder »besessen«, und dann wurden sie zu Opfern entsetzlicher Grausamkeit und Stigmatisierung. In der modernen Psychiatrie bemüht man sich darum, psychische Störungen zu beschreiben und in Kategorien einzuteilen, doch der Umstand, dass verschiedene Verhaltensweisen vom Normalen zum Gestörten »gewandert« sind, ist ein Beleg dafür, dass die Trennlinie unscharf ist und sich verschieben kann.
Alle diese Verhaltensvarianten – von solchen, die als normal gelten, bis zu jenen, die man für anormal hält –, ergeben sich aus individuellen Unterschieden in unseren Gehirnen. Genau genommen ist jede Tätigkeit, die wir verrichten, jedes Gefühl und jeder Gedanke, der uns unser Gefühl der Individualität vermittelt, eine Folge unserer Hirntätigkeit. Wenn wir einen Pfirsich schmecken, eine schwierige Entscheidung treffen, uns melancholisch fühlen oder uns beim Anblick eines Gemäldes eine Welle freudiger Emotionen durchströmt, erleben wir ausschließlich den biologischen Apparat unseres Gehirns in Aktion. Unser Gehirn macht uns zu dem, was wir sind.
Die meisten Menschen vertrauen wahrscheinlich darauf, dass sie die Welt so sehen, wie sie ist – dass der Pfirsich, den sie sehen, schmecken und berühren, so ist, wie sie ihn wahrnehmen. Wir verlassen uns darauf, dass unsere Sinne uns zutreffende Informationen vermitteln, sodass unsere Wahrnehmung und unsere Handlungen sich auf eine objektive Realität gründen. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Sinne liefern uns zwar die Informationen, die wir brauchen, um zu handeln, sie präsentieren dem Gehirn aber keine objektive Realität. Vielmehr liefern sie dem Gehirn die Information, die es braucht, um die Realität zu konstruieren.
Jede Sinneswahrnehmung entspringt einem anderen System im Gehirn, und jedes dieser Systeme ist fein darauf abgestimmt, einen bestimmten Aspekt der Außenwelt wahrzunehmen und zu interpretieren. Die bei den Sinnesorganen ankommenden Informationen werden von Zellen aufgenommen, die so gestaltet sind, dass sie noch das schwächste Geräusch, die leichteste Berührung oder Bewegung aufnehmen, anschließend werden sie über eine dafür vorgesehene Leitungsbahn in eine Gehirnregion weitergeleitet, die auf das jeweilige Sinnesorgan spezialisiert ist. Das Gehirn analysiert die Eindrücke, zieht einschlägige Emotionen und Erinnerungen an frühere Erfahrungen hinzu und konstruiert aus alledem eine innere Abbildung der Außenwelt. Diese – teils unbewusst, teils bewusst – selbst erzeugte Realität bildet den Leitfaden für unsere Gedanken und unser Verhalten.
In der Regel überschneidet sich unsere innere Abbildung der Welt in hohem Maße mit der der anderen Menschen, denn das Gehirn unseres Nachbarn hat sich in der Evolution so entwickelt, dass es die gleichen Aufgaben erfüllt wie unser eigenes; oder anders gesagt: Im Gehirn jedes Menschen bilden die gleichen neuronalen Schaltkreise die Grundlage der gleichen geistigen Prozesse. Ein Beispiel ist die Sprache: Die Nervenschaltkreise, die für das Hervorbringen von Sprache verantwortlich sind, liegen in einem bestimmten Gehirnareal, die für das Verstehen von Sprache in einem anderen. Wenn sich diese Schaltkreise während der Entwicklung nicht normal ausbilden oder später geschädigt werden, geraten unsere geistigen Prozesse für Sprache durcheinander, mit der Folge, dass wir die Welt anders erleben als andere Menschen – und auch anders handeln.
Störungen der Gehirnfunktion können beängstigend und tragisch sein – das kann jeder bestätigen, der schon einmal Zeuge eines epileptischen Grand-Mal-Anfalls geworden ist oder die Düsternis einer tiefen Depression gesehen hat. Schwere psychische Erkrankungen können sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Angehörigen verheerende Folgen haben, und weltweit verursachen solche Krankheiten unermessliches Leid. Aber manche Störungen in den Gehirnschaltkreisen können auch positive Wirkungen entfalten und die Individualität eines Menschen verstärken. Erstaunlich viele Menschen, die in den Augen anderer an einer Störung leiden, würden – wenn sie die Wahl hätten – diesen Aspekt des eigenen Ichs keineswegs aufgeben wollen. Unser Ichgefühl kann für uns so wichtig und so machtvoll sein, dass wir selbst auf diejenigen Teile davon nicht verzichten mögen, die uns leiden lassen. Eine Therapie solcher Zustände beeinträchtigt häufig das Ichgefühl. Medikamente können unseren Willen, unsere Aufmerksamkeit und unsere Denkprozesse erheblich dämpfen.
Störungen und Erkrankungen des Gehirns bieten uns einen Einblick in das typische gesunde Gehirn. Je mehr Wissenschaftler und Ärzte – durch die Beobachtung von Patienten, aber auch durch neurowissenschaftliche und genetische Forschung – über solche Funktionsstörungen wissen, desto besser verstehen sie, wie der Geist funktioniert, wenn alle Gehirnschaltkreise ordnungsgemäß funktionieren, und desto eher sind sie dann auch in der Lage, wirksame Behandlungsmethoden zu entwickeln, wenn manche dieser Schaltkreise versagen. Je mehr wir über den ungewöhnlichen Geist wissen, desto eher sind wir als Einzelne und als Gesellschaft in der Lage, Menschen zu verstehen, die anders denken als wir, und Mitgefühl mit ihnen zu haben. Entsprechend weniger werden wir sie stigmatisieren oder ausgrenzen.
Pioniere der Neurologie und der Psychiatrie
Bis ungefähr 1800 galten nur Krankheiten, die auf sichtbare, das heißt bei der Obduktion nachweisbare, Schäden des Gehirns zurückzuführen waren, als medizinische Störungen; solche Krankheiten bezeichnete man als neurologisch. Für Störungen von Denken, Fühlen und Stimmung war jedoch ebenso wie für Drogensucht kein Zusammenhang mit Gehirnschäden erkennbar, und deshalb betrachtete man sie als moralische und charakterliche Mängel. Die Behandlungsmethoden für solche gemüts- und geisteskranken oder »schwachsinnigen« Menschen sollten dazu dienen, sie zu »stärken«; dazu isolierte man sie in Irrenhäusern, schmiedete sie mit Ketten an die Wände und setzte sie Entbehrungen oder sogar der Folter aus. Wie nicht anders zu erwarten, war diese Methode medizinisch nutzlos und psychologisch zerstörerisch.
Im Jahr 1790 begründete der französische Arzt Philippe Pinel offiziell das Fachgebiet, das wir heute als Psychiatrie bezeichnen. Er behauptete, psychische Störungen seien keine Charakterschwäche, sondern Krankheiten, deshalb solle man die Psychiatrie als Teilgebiet der Medizin betrachten. Am Hôpital de la Salpêtrière, dem großen psychiatrischen Krankenhaus in Paris, befreite Pinel die Patienten von ihren Ketten und führte humane, psychologisch orientierte Methoden ein, die Vorläufer der heutigen Psychotherapie.
Pinel vertrat die Ansicht, psychische Störungen würden Menschen betreffen, die eine erbliche Veranlagung dazu haben und dann übermäßigen gesellschaftlichen oder psychologischen Belastungen ausgesetzt sind. Diese Sichtweise ist der, mit der wir heute seelische Erkrankungen betrachten, erstaunlich nahe.
Pinels Ideen hatten große moralische Auswirkungen auf das Fachgebiet der Psychiatrie, weil die Patienten nun menschlicher behandelt wurden; weitere Fortschritte im Verständnis psychischer Störungen machte man aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als der große deutsche Psychiater Emil Kraepelin die moderne wissenschaftliche Psychiatrie begründete. Kraepelins Einfluss kann man nicht hoch genug einschätzen, und ich werde seine Geschichte so in dieses Buch hineinweben, wie sie sich durch die gesamte Geschichte der Neurologie und Psychiatrie zieht.
Kraepelin war ein Zeitgenosse von Sigmund Freud, aber während Freud glaubte, seelische Erkrankungen hätten zwar ihre Grundlage im Gehirn, würden aber durch Erlebnisse – oftmals traumatische Erlebnisse in der Kindheit – verursacht, vertrat Kraepelin eine völlig andere Sichtweise. Nach seiner Ansicht haben alle Erkrankungen des Geistes eine biologische Ursache, das heißt eine genetische Grundlage. Deshalb, so seine Überlegung, lassen sich psychische Krankheiten ebenso voneinander unterscheiden wie andere gesundheitliche Störungen: durch Beobachtung ihrer anfänglichen Ausdrucksformen, ihres klinischen Verlaufs und ihrer langfristigen Folgen. Diese Überzeugung veranlasste Kraepelin, ein modernes System zur Einteilung geistiger Krankheiten aufzustellen, und dieses System ist noch heute in Gebrauch.
Die Anregung, Erkrankungen des Geistes aus biologischer Sicht zu betrachten, bezog Kraepelin von den beiden Ärzten Paul Broca und Carl Wernicke, die als Erste deutlich gemacht hatten, dass wir bemerkenswerte Erkenntnisse über uns selbst gewinnen können, wenn wir Störungen des Gehirns studieren. Broca und Wernicke entdeckten, dass man bestimmte neurologische Störungen auf einzelne Gehirnareale zurückführen kann. Ihre Untersuchungen führten zu der Erkenntnis, dass sich auch die mentalen Funktionen, die hinter normalen Verhaltensweisen stehen, in bestimmten Arealen und Arealgruppen des Gehirns lokalisieren lassen. Damit legten sie die Grundlagen für die moderne Gehirnforschung.
Anfang der 1860er-Jahre fiel Broca auf, dass einer seiner Patienten – er hieß Leborgne und litt an Syphilis – eine besondere Sprachstörung hatte. Leborgne verstand Sprache ausgezeichnet, konnte sich aber selbst nicht verständlich machen. Er nahm auf, was man ihm sagte – dies zeigte sich daran, dass er Anweisungen buchstabengetreu ausführte –, aber wenn er sprechen wollte, kam nur ein unverständliches Murmeln heraus. Die Stimmbänder des Mannes waren nicht gelähmt: Er konnte ohne Weiteres eine Melodie summen, sich aber nicht mit Worten ausdrücken. Auch schriftlich konnte er sich nicht äußern.
Nachdem Leborgne gestorben war, obduzierte Broca sein Gehirn und suchte nach Anhaltspunkten für die Störung. Im vorderen Teil der linken Hirnhälfte fand er eine Region, die offensichtlich durch eine Krankheit oder Verletzung in Mitleidenschaft gezogen war. Am Ende fand Broca noch acht weitere Patienten mit der gleichen Sprachstörung und stellte fest, dass bei allen die gleiche Region auf der linken Seite des Gehirns geschädigt war – das Areal wurde später als Broca-Zentrum bezeichnet (Abbildung 1.1). Die Befunde veranlassten ihn zu der Schlussfolgerung, dass unsere Fähigkeit zu sprechen in der linken Gehirnhälfte angesiedelt ist, oder, wie er es formulierte: »Wir sprechen mit der linken Hemisphäre.«4
Wernicke beobachtete 1875 das Spiegelbild zu Leborgnes Defekt. Er traf auf einen Patienten, dem die Worte aus dem Mund strömten, ohne dass er aber Sprache verstand. Wenn Wernicke ihm sagte, er solle »den Gegenstand A auf den Gegenstand B stellen«, hatte der Mann keine Ahnung, was von ihm verlangt wurde. Wernicke führte das mangelnde Sprachverständnis auf Schäden im hinteren Teil der linken Gehirnhälfte zurück, einem Areal, das man heute Wernicke-Zentrum nennt (Abbildung 1.1).
Abb. 1.1: Der anatomische Weg für Sprachverständnis (Wernicke-Zentrum) und Sprachproduktion (Broca-Zentrum). Die beiden Areale sind durch den Bogenstrang (Fasciculus arcuatus) verbunden.
Wernicke hatte eine wichtige Erkenntnis: Ihm wurde klar, dass komplexe geistige Funktionen wie die Sprache nicht in einem einzigen Gehirnareal angesiedelt sind, sondern mehrere miteinander verknüpfte Regionen erfordern. Diese Schaltkreise bilden die neuronale »Verdrahtung« unseres Gehirns. Wernicke zeigte nicht nur, dass Sprachverständnis und Sprachbildung getrennt verarbeitet werden, sondern auch, dass sie durch eine Leitungsbahn verbunden sind, den Fasciculus arcuatus oder »Bogenstrang«. Die Information, die wir beim Lesen aufnehmen, wird von den Augen an die Sehrinde übertragen, und akustische Information fließt von den Ohren zur Hörrinde. Anschließend fließen die Informationen aus den beiden Rindenarealen im Wernicke-Zentrum zusammen und werden dort in einen neuronalen Code zum Sprachverständnis übersetzt. Erst danach wird die Information zum Broca-Zentrum weitergeleitet, das uns in die Lage versetzt, uns auszudrücken (Abbildung 1.1).
Wernicke prophezeite, eines Tages werde jemand eine Sprachstörung finden, bei der die beiden Areale einfach nicht gekoppelt sind. Die Vorhersage erwies sich als richtig: Menschen, bei denen der Bogenstrang zwischen den beiden Arealen geschädigt ist, können Sprache verstehen und ausdrücken, aber beide Funktionen arbeiten unabhängig voneinander. Es ist ein wenig wie bei einer Pressekonferenz des Präsidenten: Information kommt herein, Information geht hinaus, aber zwischen beiden besteht keine logische Verbindung.
Wie wir heute wissen, setzen auch andere komplexe kognitive Fähigkeiten die Mitwirkung mehrerer abgegrenzter, aber miteinander verknüpfter Gehirnareale voraus.
Zwar hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Schaltkreise für die Sprache noch komplexer sind, als Broca und Wernicke geglaubt hatten, aber ihre ursprünglichen Entdeckungen bildeten die Grundlage unserer heutigen Sicht auf die neurologischen Ursachen von Sprache und damit letztlich auch auf neurologische Störungen. Dass beide die Bedeutung der Lage eines Areals betonten, führte zu wichtigen Fortschritten in der Diagnose und Therapie neurologischer Krankheiten. Außerdem sind die Schäden, die von typischen neurologischen Krankheiten verursacht werden, im Gehirn leicht zu sehen; deshalb erkennt man sie weitaus einfacher als die meisten psychischen Störungen, bei denen die Schäden viel subtiler sind.
Auf recht drastische Weise vorangebracht wurde die Suche nach der Lokalisierung von Gehirnfunktionen in den 1930er- und 1940er-Jahren durch den angesehenen kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield. Er studierte Menschen, die an Epilepsie litten, weil sich im Gehirn nach einer Kopfverletzung Narbengewebe gebildet hatte. Penfield versuchte, eine Aura auszulösen, die Empfindung, die viele Epilepsiepatienten vor einem Anfall erleben. Wenn ihm das gelang, wusste er recht genau, welchen winzigen Teil des Gehirns er entfernen musste, um die Anfälle seiner Patienten zu lindern, ohne dass er dabei andere Funktionen wie Sprache oder Bewegungsfähigkeit beeinträchtigte.
Penfields Patienten waren während der Operation wach – das Gehirn besitzt keine Schmerzrezeptoren – und konnten ihm sagen, was sie empfanden, wenn er verschiedene Gehirnareale reizte. Im Laufe der nächsten Jahre und im Rahmen von fast 400 Operationen kartierte Penfield die Gehirnareale, die für die Berührungs-, die Seh- und die Hörempfindung sowie für die Bewegungen einzelner Körperteile verantwortlich sind. Seine Karten der sensorischen und motorischen Funktionen sind heute noch in Gebrauch.
Wahrhaft verblüffend war aber eine andere Entdeckung von Penfield: Wenn er den Schläfenlappen – den Gehirnteil, der unmittelbar über dem Ohr liegt – stimulierte, sagte sein Patient unter Umständen plötzlich: »Mir fällt etwas ein, als wäre es eine Erinnerung. Ich höre Töne, Lieder, Teile von Sinfonien.« Oder: »Ich höre das Schlaflied, das meine Mutter mir immer vorgesungen hat.« Nun fragte sich Penfield, ob es wohl möglich ist, einen so komplexen, rätselhaften mentalen Prozess wie die Erinnerung in bestimmten Regionen des physischen Gehirns zu lokalisieren. Am Ende konnten er und andere feststellen, dass es so war.
Neuronen: die Bausteine des Gehirns
Dank der Entdeckungen von Broca und Wernicke war klar, wo bestimmte mentale Funktionen im Gehirn angesiedelt sind, aber noch konnten sie nicht erklären, wie das Gehirn sie ausführt. Ihnen fehlten die Antworten auf grundlegende Fragen: Wie ist das Gehirn aufgebaut? Wie funktioniert es?
Die Biologen wussten bereits, dass der Körper aus vielen einzelnen Zellen zusammengesetzt ist, aber das Gehirn schien anders zu sein. Als Wissenschaftler mit ihren Mikroskopen das Gehirngewebe studierten, sahen sie eine verworrene Masse, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Deshalb hielten viele Wissenschaftler das Nervensystem für ein einziges, ununterbrochenes Netz aus verflochtenem Gewebe. Ob es so etwas wie einzelne abgegrenzte Nervenzellen gibt, war nicht geklärt.
Dann aber, im Jahr 1873, machte der italienische Arzt Camillo Golgi eine Entdeckung, die für das Wissen über das Gehirn eine Revolution darstellte. Er spritzte Silbernitrat oder Kaliumdichromat in Gehirngewebe und beobachtete, dass ein winziger Teil der Zellen – aus Gründen, die wir bis heute nicht verstehen – den Farbstoff aufnahm und sich deutlich schwarz färbte. Plötzlich trat in einem undurchdringlichen Block von Nervengewebe die feine, elegante Struktur einzelner Neuronen deutlich hervor (Abbildung 1.2).
Abb. 1.2: Mit der Golgi-Methode gefärbtes Neuron
Der erste Wissenschaftler, der sich Golgis Entdeckung zunutze machte, war ein junger Spanier namens Santiago Ramón y Cajal. Er wandte Ende des 19. Jahrhunderts die Golgi-Färbung auf das Gehirngewebe neugeborener Tiere an. Das war eine kluge Entscheidung: Im Frühstadium der Entwicklung enthält das Gehirn weniger Neuronen, und ihre Form ist einfacher, sodass man sie leichter sehen und untersuchen kann als die Neuronen eines ausgereiften Gehirns. Nachdem Cajal das unreife Gehirn der Golgi-Färbung unterzogen hatte, konnte er einzelne Zellen identifizieren und eine nach der anderen studieren.
Cajal sah Zellen, die an die verzweigten Kronen alter Bäume erinnerten, andere endeten in kompakten Büschen, und von wieder anderen gingen Zweige aus, die in unsichtbare Regionen des Gehirns liefen, und die Zellformen unterschieden sich völlig von den einfachen, gut abgegrenzten Zellen in anderen Teilen des Körpers. Aber trotz der verblüffenden Vielgestaltigkeit konnte Cajal feststellen, dass jedes Neuron die gleichen vier anatomischen Grundbestandteile besitzt (Abbildung 1.3): den Zellkörper, die Dendriten, das Axon und die präsynaptischen Endungen, die in den Synapsen enden, wie wir sie heute nennen. Der größte Bestandteil des Neurons ist der Zellkörper, er enthält den Zellkern (wo die Gene der Zelle aufbewahrt werden) und den größten Teil des Cytoplasmas. Die vielen dünnen Fortsätze des Zellkörpers, die wie schlanke Äste eines Baumes aussehen, sind die Dendriten. Sie nehmen Informationen von anderen Nervenzellen auf. Der einzelne dicke Fortsatz, das Axon, kann mehrere Meter lang werden. Das Axon überträgt Informationen an andere Zellen. An seinem Ende liegen die präsynaptischen Endplatten. Diese spezialisierten Strukturen bilden Synapsen mit den Dendriten von Zielzellen aus und übertragen die Informationen über eine kleine Lücke, den synaptischen Spalt, dorthin weiter. Bei den Zielzellen kann es sich um Nachbarzellen handeln, aber auch um Zellen in einem anderen Gehirnbereich oder um Muskelzellen in der Körperperipherie.
Abb. 1.3: Aufbau eines Neurons
Am Ende fasste Cajal seine vier Prinzipien in einer Theorie zusammen, die heute als Neuronenlehre bezeichnet wird (Abbildung 1.4). Das erste Prinzip lautet: Jedes Neuron ist ein abgegrenztes Element, das als Grundbaustein und Signalübertragungseinheit des Gehirns dient. Zweitens treten die Neuronen nur an den Synapsen in Wechselbeziehung. Auf diese Weise bilden sie die komplizierten Netzwerke oder neuronalen Schaltkreise, die sie in die Lage versetzen, Informationen von einer Zelle zur anderen zu übertragen. Das dritte Prinzip besagt, dass Neuronen solche Verknüpfungen nur mit ganz bestimmten Zielneuronen an ganz bestimmten Stellen ausbilden. Diese Verknüpfungsspezifität ist die Erklärung für die erstaunlich präzisen Schaltkreise, die hinter den komplexen Vorgängen von Wahrnehmung, Handeln und Denken stehen. Das vierte Prinzip schließlich leitet sich von den drei anderen ab: Information fließt stets nur in einer Richtung, nämlich von den Dendriten über den Zellkörper zum Axon und dann am Axon entlang zur Synapse. Diesen Informationsfluss im Gehirn bezeichnen wir heute als Prinzip der dynamischen Polarisierung.
Abb. 1.4: Die vier Prinzipien von Cajals Neuronenlehre
Beim Blick durch das Mikroskop hatte Cajal lediglich eine feste Anordnung von Neuronen gesehen, dass es ihm dann gelang, sich vorzustellen, wie das Nervensystem funktioniert, war eine außerordentliche Leistung wissenschaftlicher Intuition. Im Jahr 1906 erhielten er und Golgi den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin – Golgi für seine Färbemethode und Cajal dafür, dass er mit diesem Verfahren die Struktur und die Funktion der Neuronen aufgeklärt hatte. Erstaunlicherweise haben Cajals Erkenntnisse von 1900 bis heute Bestand.
Die geheime Sprache der Neuronen
Damit Neuronen Information verarbeiten und Anweisungen für das Verhalten geben können, müssen sie mit anderen Neuronen und dem übrigen Körper kommunizieren. Das ist unabdingbar, damit das Gehirn ordnungsgemäß funktioniert. Aber wie »sprechen« die Neuronen miteinander? Antworten auf diese Frage kristallisierten sich erst Jahre später allmählich heraus.
Im Jahr 1928 legte Edgar Adrian, ein Pionier der elektrophysiologischen Erforschung des Nervensystems, der 1932 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt, chirurgisch einen der vielen kleinen Nerven (ein Axonbündel) im Hals eines narkotisierten Kaninchens frei. Anschließend entfernte er alle Axone bis auf zwei oder drei und legte an diese eine Elektrode an. Daraufhin beobachtete Adrian jedes Mal, wenn das Kaninchen einatmete, eine Welle der elektrischen Aktivität. Als er an die Elektrode einen Lautsprecher anschloss, hörte er sofort Klickgeräusche, ein schnelles Tackern ähnlich einem Morsecode. Jedes Klickgeräusch entsprach einem elektrischen Signal, einem Aktionspotenzial, der Grundeinheit der Neuronenkommunikation. Adrian hörte der Sprache der Neuronen zu.
Wie wurden die Aktionspotenziale, die Adrian hörte, erzeugt? Die Membran, die ein Neuron einschließlich seines Axons umgibt, trägt auf ihrer Innenseite relativ zur Außenseite eine schwache negative elektrische Ladung. Sie entsteht durch eine ungleiche Verteilung von Ionen – elektrisch geladener Atome – beiderseits der Zellmembran. Wegen dieser Asymmetrie ähnelt jedes Neuron einer winzigen Batterie: Es speichert Energie, die jeden Augenblick freigesetzt werden kann.
Wenn das Neuron angeregt wird – beispielsweise durch ein Lichtphoton, eine Schallwelle oder die Aktivität anderer Neuronen –, öffnen sich überall auf seiner Oberfläche sogenannte Ionenkanäle, mikroskopisch kleine »Tore«, die den Ionen in beiden Richtungen den Durchtritt durch die Membran gestatten. Durch diesen ungehinderten Ionenstrom kehrt sich die elektrische Polarität der Zellmembran um: Die Ladung im Inneren des Neurons wechselt von negativ zu positiv, und die elektrische Energie der Zelle wird frei.
Durch die schnelle Energieentladung entsteht am Neuron ein Aktionspotenzial. Dieses elektrische Signal pflanzt sich schnell vom Zellkörper bis zur Spitze des Axons fort. Wenn Wissenschaftler sagen, Neuronen seien in einer bestimmten Gehirnregion aktiv, meinen sie damit, dass sie Aktionspotenziale »abfeuern«. Immer, wenn wir etwas sehen, berühren, hören oder denken, stehen am Anfang diese winzigen Elektrizitätswellen, die von einem Ende eines Neurons zum anderen rasen.
Als Nächstes zeichnete Adrian die elektrischen Signale einzelner Axone im Sehnerven einer Kröte auf. Er verstärkte die Signale so, dass er sie auf einem frühen Modell eines Oszilloskops als zweidimensionale Grafik darstellen konnte. Dabei entdeckte er, dass die Aktionspotenziale jedes Neurons in Größe, Form und Dauer recht konstant sind. Es sind immer die gleichen kleinen Spannungsspitzen. Außerdem stellte er fest, dass die Reaktion eines Neurons auf einen Reiz immer ein Alles-oder-nichts-Vorgang ist: Das Neuron erzeugt entweder ein vollständig ausgeprägtes Aktionspotenzial oder es feuert überhaupt nicht. Einmal in Gang gesetzt, wandert das Aktionspotenzial unaufhaltsam von den Dendriten der Empfängerzelle zum Zellkörper und von dort am Axon entlang zur Synapse. Das ist beispielsweise bei einer Giraffe eine beträchtliche Leistung, denn ihre Axone beginnen im Rückenmark und erstrecken sich über mehrere Meter bis zu den Muskeln an den Enden der Beine.
Die Tatsache, dass Aktionspotenziale Alles-oder-nichts-Ereignisse sind, wirft zwei interessante Fragen auf. Erstens: Wie signalisiert ein Neuron, das auf Sinnesreize reagiert, eine unterschiedliche Intensität des Reizes? Wie unterscheidet es zwischen einer leichten Berührung und einem kräftigen Schlag oder zwischen schwachem und hellem Licht? Und zweitens: Bedienen sich Neuronen, die Informationen von unterschiedlichen Sinnen – Seh-, Tast-, Hör-, Geschmacks- oder Geruchssinn – weiterleiten, unterschiedlicher Signaltypen?
Wie Adrian feststellte, signalisiert ein Neuron die Intensität nicht durch Änderungen in Stärke oder Dauer seiner Aktionspotenziale, sondern durch Schwankungen der Frequenz, mit denen es sie abfeuert. Ein schwacher Reiz veranlasst die Zelle dazu, nur wenige Aktionspotenziale abzugeben, ist der Reiz dagegen stärker, feuert sie wesentlich häufiger. Außerdem konnte er die Dauer des Reizes messen, indem er beobachtete, wie lange die Aktionspotenziale abgefeuert wurden (Abbildung 1.5).
Abb. 1.5: Häufigkeit und Dauer der Aktionspotenziale bestimmen die Stärke des nachgeschalteten chemischen Signals eines Neurons.
Als Nächstes zeichnete Adrian die Aktionspotenziale von Neuronen in Augen, Haut, Zunge und Ohren auf, weil er wissen wollte, ob sie unterschiedlich waren. Wie er dabei feststellte, fallen die Signale – unabhängig davon, woher sie kommen oder welche Art von Sinnesinformation sie transportieren – immer ähnlich aus. Dass sich das Sehen vom Tasten und der Geschmack vom Hören unterscheidet, liegt an der jeweiligen neuronalen Leitungsbahn, die das Signal weiterträgt, und an ihrem Bestimmungsort. Die Sinnesinformationen jedes Typs werden über einen eigenen neuronalen Weg zu einer entsprechenden Region im Gehirn geleitet.
Wie setzt ein Aktionspotenzial in einem Neuron das Aktionspotenzial des nächsten Neurons in dem Schaltkreis in Gang? Wie die beiden jungen britischen Wissenschaftler Henry Dale und Wilhelm Feldberg beobachteten, geschieht etwas Erstaunliches, wenn ein Aktionspotenzial in der Zelle, die es ausgesandt hat, das Ende des Axons erreicht: Die Zelle setzt dort einen Schwall chemischer Substanzen in den synaptischen Spalt zwischen der sendenden präsynaptischen und der empfangenden postsynaptischen Zelle frei. Diese Substanzen, die man heute Neurotransmitter nennt, durchqueren den Spalt und binden an Rezeptoren auf den Dendriten der Zielzelle. Jedes Neuron ist über Tausende von Synapsen mit seinen Zielzellen verbunden und empfängt seinerseits Informationen über Tausende von Verknüpfungen, die von anderen Neuronen kommen. Das empfangende Neuron addiert alle Signale, die es über diese Verknüpfungen aufgenommen hat, und wenn sie stark genug sind, setzt es sie in ein neues Aktionspotenzial um, ein neues elektrisches Alles-oder-nichts-Signal. Das so entstandene Signal wird an alle Zielzellen weitergegeben, mit denen das empfangende Neuron verknüpft ist. Anschließend wiederholt sich der ganze Vorgang. Auf diese Weise können Neuronen fast augenblicklich Informationen an andere Neuronen und Muskelzellen weiterleiten, und das sogar über große Entfernungen.
Für sich betrachtet, mag dieser einfache Rechenvorgang nicht besonders beeindruckend wirken, aber wenn Hunderte oder Tausende von Neuronen zu Schaltkreisen verbunden sind und Signale von einem Gehirnareal zum anderen leiten, stehen am Ende Wahrnehmung, Bewegung, Denken und Gefühl. Die Tatsache, dass das Gehirn von seinem Wesen her eine Rechenmaschine ist, verschafft uns sowohl einen Plan als auch eine Logik, mit denen wir Störungen der Hirnfunktion analysieren können. Indem wir Fehler in den neuronalen Schaltkreisen untersuchen, können wir in die Rätsel des Gehirns vordringen und herausfinden, wie elektrische Schaltkreise Wahrnehmung, Erinnerung und Bewusstsein erzeugen. Darüber hinaus eröffnen uns solche Störungen die Möglichkeit herauszufinden, wie die Prozesse im Gehirn den Geist erschaffen und wie auch die meisten unserer anderen Erfahrungen und Verhaltensweisen in diesem Wunder der Rechenkunst verwurzelt sind.
Die Kluft zwischen Psychiatrie und Neurologie
Obwohl die Gehirnforschung im 19. Jahrhundert so große Fortschritte machte – Fortschritte, die zur Grundlage der modernen Neurologie wurden –, beschäftigten sich Psychiater und Suchtforscher nicht mit der Anatomie des Gehirns. Warum nicht?
Lange Zeit hielt man psychische Störungen und Suchtkrankheiten für etwas grundsätzlich anderes als neurologische Erkrankungen. Wenn Pathologen das Gehirn eines Patienten nach dessen Tod obduzierten und offenkundige Schäden fanden, wie etwa nach Schlaganfällen oder Kopfverletzungen, aber auch bei Syphilis und anderen Gehirninfektionen, ordneten sie die Krankheit als biologisch oder neurologisch ein. Waren solche eindeutigen anatomischen Schäden nicht zu erkennen, hielt man das Leiden für eine funktionelle oder psychische Erkrankung.
Den Pathologen fiel auf, dass die meisten psychischen Störungen – Schizophrenie, Depression, bipolare Störung und Angstzustände – nicht mit sichtbaren abgestorbenen Zellen oder Löchern im Gehirn einhergingen. Da sie keine offenkundigen Schäden erkannten, gingen sie davon aus, dass es sich entweder um nichtkörperliche Krankheiten handelte (das heißt um Krankheiten des Geistes, aber nicht des Körpers) oder dass die Schäden zu geringfügig waren und deshalb nicht nachgewiesen werden konnten.
Da psychische Störungen und Suchtkrankheiten keine erkennbaren Schäden im Gehirn verursachten, hielt man sie von ihrem Wesen her für Verhaltensstörungen, die der Kontrolle des Betroffenen unterliegen sollten – das war die moralistische, nichtmedizinische Ansicht, die Pinel beklagte. Ihretwegen zogen Psychiater den Schluss, dass die gesellschaftlichen und funktionellen Bestimmungsfaktoren seelischer Erkrankungen auf einer anderen »geistigen Ebene« wirken als die biologischen Determinanten neurologischer Störungen. Das Gleiche, so glaubte man zu jener Zeit, gelte für alle Abweichungen von den akzeptierten Normen des heterosexuellen Gefühlslebens und Verhaltensrepertoires.
Viele Psychiater hielten Gehirn und Geist für vollkommen getrennte Gebilde; deshalb suchten sie ebenso wie die Suchtforscher nicht nach einem Zusammenhang zwischen den Problemen ihrer Patienten auf Gefühls- und Verhaltensebene auf der einen Seite und Fehlfunktionen oder Abweichungen der neuronalen Schaltkreise im Gehirn auf der anderen. Entsprechend war für Psychiater jahrzehntelang kaum zu erkennen, wie die Erforschung elektrischer Schaltkreise ihnen helfen könnte, die komplexen Eigenheiten von Verhalten und Bewusstsein der Menschen zu erklären. Noch 1990 war es üblich, psychische Krankheiten entweder als organisch oder als funktionell zu klassifizieren, und manchmal wird diese veraltete Terminologie noch heute verwendet. Descartes’ Leib-Seele-Dualismus zu erschüttern, erwies sich als schwierig, weil er widerspiegelt, wie wir uns selbst erleben.
Neue Ansätze für das Verständnis von Störungen des Gehirns
Die neue Biologie des Geistes, die sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts herauskristallisierte, geht von der Annahme aus, dass alle unsere geistigen Prozesse vom Gehirn vermittelt werden. Das Spektrum reicht von den unbewussten Prozessen, die unsere Bewegungen steuern, wenn wir einen Golfball schlagen, über die komplizierten kreativen Vorgänge, die hinter der Komposition eines Klavierkonzerts stehen, bis hin zu den sozialen Abläufen, die uns in die Lage versetzen, miteinander in Wechselbeziehung zu treten. Entsprechend betrachten Psychiater unseren Geist heute als eine Reihe von Funktionen, die vom Gehirn ausgeführt werden, und alle Störungen in diesem Bereich, ob psychisch oder Sucht, werden als Erkrankungen des Gehirns eingestuft.
Diese moderne Vorstellung geht auf drei wissenschaftliche Fortschritte zurück. Der erste war die Erforschung der genetischen Grundlagen psychischer Störungen und Suchtkrankheiten. Hier leitete der in Deutschland geborene Psychiater Franz Kallmann, der 1936 in die Vereinigten Staaten auswanderte und an der Columbia University tätig war, Pionierarbeit. Kallmann dokumentierte die Rolle der Vererbung bei psychischen Krankheiten wie Schizophrenie und bipolarer Störung; damit war gezeigt, dass sie tatsächlich biologischer Natur sind.
Der zweite Fortschritt war die Darstellung des Gehirns mit bildgebenden Verfahren: Jetzt konnte man zeigen, dass bei verschiedenen psychischen Störungen unterschiedliche Gehirnsysteme beteiligt sind. Heute kann man beispielsweise erkennen, dass manche Areale des Gehirns bei Menschen mit Depression anormal funktionieren. Außerdem geben die bildgebenden Verfahren den Wissenschaftlern die Möglichkeit, die Wirkung von Arzneistoffen im Gehirn zu verfolgen und sogar zu sehen, welche Folgen es hat, wenn man Patienten mit Medikamenten oder mit Psychotherapie behandelt.
Der dritte Fortschritt schließlich war die Entwicklung von Tiermodellen für Krankheiten. Tiermodelle schafft man, indem man die Gene eines Tiers manipuliert und dann die Auswirkungen beobachtet. Solche Modelle haben sich für die Erforschung psychischer Erkrankungen als unschätzbar wertvoll erwiesen, denn sie liefern Erkenntnisse darüber, wie Gene, Umwelt und die Wechselwirkungen zwischen beiden Gehirnentwicklung, Lernen und Verhalten beeinträchtigen können. Besonders nützlich sind Mäuse und andere Tiermodelle, wenn man erlernte Furcht oder Angst studieren will, denn diese Zustände kommen auch bei Tieren von Natur aus vor. An Mäusen kann man aber auch Depression oder Schizophrenie erforschen, wenn man in ihr Gehirn veränderte Gene einschleust, die bekanntermaßen bei Menschen zu solchen Störungen beitragen.
Wir wollen nun nacheinander die genetischen Grundlagen psychischer Störungen, die Darstellung von Gehirnfunktionen mit bildgebenden Verfahren und schließlich die Tiermodelle betrachten.
Genetik
Obwohl es einem vorkommt wie das reinste Wunderwerk, ist und bleibt das Gehirn ein Organ unseres Körpers – und wie alle biologischen Strukturen wird es von Genen aufgebaut und gesteuert. Gene sind abgegrenzte Abschnitte der DNA, die zwei bemerkenswerte Eigenschaften haben: Sie liefern den Zellen die Anweisungen, mit denen sie einen neuen Organismus aufbauen können, und sie werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben, sodass auch die Nachkommen des Organismus über die gleichen Anweisungen verfügen. Jedes Gen ist in nahezu jeder unserer Körperzellen und auch in den Generationen, die nach uns kommen, mit einer Kopie vertreten.
Jeder Mensch besitzt ungefähr 21000 Gene, und rund die Hälfte davon wird im Gehirn exprimiert. Wenn wir sagen, ein Gen werde »exprimiert«, meinen wir damit, dass es eingeschaltet ist und die Synthese von Proteinen steuert. Jedes Gen codiert ein bestimmtes Protein, das heißt, es enthält die Anweisungen für dessen Herstellung. Proteine wiederum bestimmen Struktur, Funktion und andere biologische Eigenschaften jeder unserer Körperzellen.
Gene verdoppeln sich in der Regel zuverlässig, aber wenn das einmal nicht geschieht, ist eine Mutation die Folge. Eine solche Veränderung eines Gens kann sich hin und wieder als nützlich für den Organismus erweisen, sie kann aber auch zur Überproduktion, zum Verlust oder zur Fehlfunktion des in diesem Gen codierten Proteins führen. Das wiederum beeinträchtigt Struktur und Funktion der Zellen und hat möglicherweise Krankheiten zur Folge.
Jeder Mensch besitzt zwei Kopien jedes Gens, eine von der Mutter und eine vom Vater. Die Genpaare sind auf 23 Chromosomenpaaren in einer präzisen Reihenfolge angeordnet. Deshalb können Wissenschaftler jedes Gen an seiner Lage, auch Locus genannt, auf einem bestimmten Chromosom erkennen.
Die mütterliche und die väterliche Kopie eines Gens werden als Allele bezeichnet. In der Regel sind die beiden Allele eines Gens nicht genau gleich: Jedes von ihnen besteht aus einer bestimmten Reihenfolge oder Sequenz von Nucleotiden, den vier Typen von Molekülbausteinen, aus denen sich der DNA-Code zusammensetzt. Die Nucleotidsequenz in den Genen, die wir von der Mutter geerbt haben, gleicht also nicht ganz genau der in den Genen vom Vater. Außerdem sind die Nucleotidsequenzen, die wir erben, auch keine genauen Kopien der elterlichen Sequenzen; sie enthalten einige Unterschiede, die zufällig aufgetreten sind, als das Gen des jeweiligen Elternteils kopiert wurde. Solche Unterschiede führen zu Abweichungen in Aussehen und Verhalten.
Aber trotz der vielen Abweichungen, die uns das Gefühl von Individualität vermitteln, ist die gesamte genetische Ausstattung, das Genom zweier Menschen, immer zu mehr als 99 Prozent identisch. Der Unterschied ergibt sich aus den zufälligen Abweichungen in einem oder mehreren Genen, die wir von den Eltern geerbt haben (allerdings gibt es seltene Ausnahmen, von ihnen wird in Kapitel 2 noch die Rede sein).
Nahezu alle Zellen in unserem Körper enthalten also sämtliche Anweisungen für alle Zellen. Wie kommt es dann, dass eine Zelle zur Nierenzelle wird, eine andere zu einem Teil des Herzens? Oder, wenn wir das Gehirn betrachten: Wie wird eine Zelle zu einem Neuron im Hippocampus, das am Gedächtnis mitwirkt, und eine andere zu einem Motoneuron im Rückenmark, das sich an der Bewegungssteuerung beteiligt? In allen diesen Fällen wurde in der Vorläuferzelle eine charakteristische Genausstattung aktiviert und setzte die Mechanismen in Gang, die der Zelle ihre besondere Identität verleihen. Welche Genkombination jeweils aktiviert wird, hängt von den Wechselwirkungen der Moleküle in der Zelle und den Wechselwirkungen der Zelle mit Nachbarzellen und der äußeren Umwelt des Organismus ab. Wir haben nur eine endliche Zahl von Genen, aber durch das Ein- und Ausschalten unterschiedlicher Gene zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergibt sich eine nahezu unendliche Komplexität.
Wenn Wissenschaftler eine Störung oder Erkrankung des Gehirns vollständig verstehen wollen, bemühen sie sich, die dahinterstehenden Gene zu ermitteln und herauszufinden, wie Abweichungen in diesen Genen und ihre Interaktionen mit der Umwelt die Krankheit entstehen lassen. Sobald wir eine ungefähre Vorstellung davon haben, was schiefgegangen ist, können wir nach Wegen suchen, einzugreifen und die Krankheit zu verhüten oder zu lindern.
Seit Kallmann in den 1940er-Jahren seine ersten Untersuchungen anstellte, haben genetische Studien an Familien immer wieder gezeigt, wie häufig genetische Einflüsse an psychiatrischen Erkrankungen beteiligt sind (Tabelle 1). Von genetischen »Einflüssen« sprechen wir, weil psychische Störungen auf komplexe Weise vererbt werden: Ein einzelnes Gen, das Schizophrenie oder eine bipolare Störung verursachen würde, gibt es nicht. Kallmann fand aber heraus, dass eine Person mit Schizophrenie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Elternteil oder ein Geschwister hat, das ebenfalls an der Krankheit leidet, als ein Gesunder. Noch überzeugender war sein zweiter Befund: Ein eineiiger Zwilling eines Menschen, der an Schizophrenie oder bipolarer Störung leidet, bekommt die gleiche Krankheit mit größerer Wahrscheinlichkeit als ein zweieiiger Zwilling. Da eineiige Zwillinge alle ihre Gene gemeinsam haben, zweieiige aber nur die Hälfte, belegt dieser Befund, dass nicht die gemeinsame Umwelt, sondern die gemeinsamen Gene der eineiigen Zwillinge die Ursache für die höhere Häufigkeit dieser Störungen sind.
Wie sich in solchen Zwillingsstudien gezeigt hat, gibt es auch beim Autismus eine starke genetische Komponente: Wenn ein eineiiger Zwilling Autist ist, besteht für den anderen eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent, ebenfalls die Krankheit zu bekommen. Bei einem anderen Geschwister aus derselben Familie, auch wenn es sich um einen zweieiigen Zwilling handelt, entwickelt sich der Autismus mit beträchtlich geringerer Wahrscheinlichkeit, und bei Personen aus der allgemeinen Bevölkerung besteht nur eine sehr geringe Chance, die Krankheit zu bekommen (Tabelle 1).
Tab. 1: Häufigkeit von Autismus und psychischen Störungen bei eineiigen Zwillingen und Geschwistern betroffener Personen
Krankheit
Eineiige Zwillinge
Geschwister
Gesamtbevölkerung
Autismus
90%
20%
1-3%
Bipolare Störung
70%
5-10%
1%
Depression
40%
<8%
6-8%
Schizophrenie
50%
10%
1%
Vieles von dem, was wir über die Mitwirkung der Gene bei medizinischen Störungen wissen, haben wir durch die Analyse von Familiengeschichten gelernt. Auf der Grundlage solcher Geschichten kann man genetisch bedingte Leiden in zwei Gruppen einteilen: einfache und komplexe Krankheiten (Abbildung 1.6).
Abb. 1.6: An einer einfachen genetisch bedingten Krankheit ist unter Umständen nur die Mutation eines einzigen Gens (A) beteiligt, an komplexen genetisch bedingten Krankheiten dagegen wirken mehrere Gene und auch Faktoren aus der Umwelt mit (B).
Eine einfache genetisch bedingte Störung (wie beispielsweise die Huntington-Krankheit) wird durch eine Mutation in einem einzigen Gen verursacht. Wer diese Mutation trägt, bekommt die Krankheit, und wenn ein eineiiger Zwilling sie hat, hat der andere sie auch. Die Anfälligkeit für komplexe genetisch bedingte Krankheiten wie bipolare Störung oder Depression beruht dagegen auf den Wechselbeziehungen mehrerer Gene miteinander und mit der Umwelt. Dass die bipolare Störung komplex ist, wissen wir, weil sie bei einem eineiigen Zwilling nicht unbedingt ausbrechen muss, wenn der andere sie hat. Demnach müssen Umweltfaktoren hier eine Schlüsselrolle spielen. Wenn sowohl die Gene als auch die Umwelt beteiligt sind, ist es in der Regel einfacher, zunächst Kandidatengene zu finden: Dazu ermittelt man mit groß angelegten Studien, welche Gene mit der Depression und welche mit der Manie in Verbindung stehen, und dann versucht man, den Beitrag der Umwelt zu entschlüsseln.
Bildgebende Verfahren und das Gehirn
Bis zu den 1970er-Jahren standen den Medizinern für die Untersuchung des lebenden Gehirns nur begrenzte Hilfsmittel zur Verfügung: Röntgenstrahlen zeigten den Knochenaufbau des Schädels, aber nicht das Gehirn selbst, die Angiografie sagte etwas über die Blutversorgung des Gehirns aus, und mit der Pneumoencephalografie konnte man die Gehirnventrikel (Hohlräume, die mit Hirnflüssigkeit gefüllt sind) erkennen. Mit solchen groben radiologischen Methoden und auch mit Obduktionen untersuchten Wissenschaftler jahrelang depressive und schizophrene Menschen, aber Schäden im Gehirn fanden sie dabei nicht. In den 1970er-Jahren führten dann zwei neue Kategorien bildgebender Verfahren dazu, dass sich unser Wissen über das Gehirn dramatisch veränderte: die strukturelle (anatomische) und die funktionelle Bildgebung.
Mit der strukturellen Bildgebung betrachtet man die Anatomie des Gehirns. Bei der Computertomografie (CT) wird eine Reihe von Röntgenbildern aus verschiedenen Winkeln aufgenommen und dann zu einem Querschnittbild zusammengesetzt. Mit solchen Aufnahmen erkennt man die unterschiedliche Dichte verschiedener Gehirnteile, beispielsweise der Axonbündel, aus denen die weiße Gehirnsubstanz besteht, aber auch der Zellkörper und neuer Dendriten der Neuronen in der grauen Gehirnsubstanz der Hirnrinde.
Eine ganz andere Technik ist die Magnetresonanztomografie (MRT): Sie wertet die unterschiedlichen Reaktionen verschiedener Gewebe auf ein Magnetfeld aus. Das so entstehende Bild liefert detailliertere Informationen als die Computertomografie. Wie sich beispielsweise durch die MRT gezeigt hat, sind die seitlichen Gehirnventrikel bei Menschen mit Schizophrenie vergrößert, die Hirnrinde ist dünner und der Hippocampus ist kleiner.
Noch einen Schritt weiter geht die funktionelle Bildgebung: Sie bezieht die zeitliche Dimension mit ein. Mit der funktionellen Bildgebung können Wissenschaftler die Aktivität im Gehirn eines Menschen beobachten, der gerade eine kognitive Aufgabe ausführt, beispielsweise indem er ein Kunstwerk betrachtet, etwas hört, denkt oder sich erinnert. Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) weist man Veränderungen der Sauerstoffkonzentration in den roten Blutzellen nach. Wenn ein Gehirnareal aktiver wird, verbraucht es mehr Sauerstoff, und um den Bedarf zu decken, verstärkt sich die Durchblutung des betreffenden Bereiches. Mit der fMRT kann man »Landkarten« zeichnen, auf denen zu erkennen ist, welche Gehirnteile bei verschiedenen mentalen Tätigkeiten besonders aktiv sind.
Die funktionelle Bildgebung erwuchs aus Studien, mit denen Seymour Kety und seine Kollegen Pionierarbeit leisteten. Kety entwickelte 1945 die erste leistungsfähige Methode, um die Durchblutung im lebenden Gehirn zu messen. In einer Reihe klassischer Studien verfolgte er den Blutstrom im Gehirn von Menschen, die wach waren oder schliefen, und legte damit die Grundlagen für spätere Untersuchungen mit der funktionellen Bildgebung. Nach Ansicht von Marcus Raichle – auch er ein Pionier in der Untersuchung des Gehirns mit bildgebenden Verfahren – kann man die Bedeutung von Ketys Studien für unsere Kenntnisse über die Durchblutung und den Stoffwechsel des menschlichen Gehirns gar nicht hoch genug einschätzen.
Im weiteren Verlauf studierte Kety dann die normale und die gestörte Gehirnfunktion. Wie er feststellte, ist bei einem überraschend großen Spektrum verschiedener Zustände – vom tiefen Schlaf bis zum völligen Wachsein, vom Kopfrechnen bis zum mentalen Organisationsverlust bei Schizophrenie – in der Durchblutung des Gehirns keine Veränderung zu erkennen. Deshalb hegte er den Verdacht, dass sich wichtige Änderungen, die in einzelnen Gehirnarealen vielleicht stattfinden, nicht in der Durchblutung des gesamten Gehirns widerspiegeln. Deshalb suchte er nun nach Wegen, um die Durchblutung einzelner Gehirnregionen zu messen.
Im Jahr 1955 entwickelte Kety zusammen mit Louis Sokoloff, Lewis Rowland, Walter Freygang und William Landau ein Verfahren, um die Durchblutung in 28 verschiedenen Arealen des Katzengehirns sichtbar zu machen.5 Die Arbeitsgruppe machte eine bemerkenswerte Entdeckung: Visuelle Stimulation lässt die Durchblutung nur in den Bestandteilen des Sehsystems ansteigen, so in der Sehrinde, dem Areal der Hirnrinde, das der Verarbeitung visueller Informationen dient. Damit hatte man das erste Indiz, dass Veränderungen der Durchblutung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gehirnaktivität und vermutlich auch mit dem Gehirnstoffwechsel stehen. Sokoloff entwickelte 1977 eine Technik zur Messung der regionalen Stoffwechselaktivität und kartierte mit ihrer Hilfe die Lage einzelner Funktionen im Gehirn; damit hatte man einen unabhängigen Weg, mit dem Wissenschaftler die Gehirnfunktionen lokalisieren konnten.6
Sokoloffs Entdeckung wurde zur Grundlage für die Positronenemissionstomografie (PET) und die Einzelphotonen-Emissions-Computertomografie (SPECT), die bildgebenden Verfahren, mit denen man Gehirnfunktionen bei denkenden Menschen sichtbar machen konnte. Die PET brachte die Erkenntnisse über die chemischen Vorgänge im Gehirn voran, weil man nun bestimmte Neurotransmitter, die von Nervenzellen verschiedener Typen genutzt werden, ebenso markieren konnte wie die Rezeptoren auf den Zielzellen, auf die diese Transmitter wirken.
Mit solchen bildgebenden Verfahren zur Darstellung von Struktur und Funktion stand den Wissenschaftlern ein neuer Weg für die Untersuchung des Gehirns zur Verfügung. Heute können sie sehen, welche Gehirnareale – und manchmal auch, welche Nervenschaltkreise innerhalb dieser Areale – nicht ordnungsgemäß funktionieren.
Das sind unentbehrliche Informationen, denn in der heutigen Sichtweise sind psychiatrische Störungen auch Störungen der neuronalen Schaltkreise.
Tiermodelle
Ein Tiermodell einer Krankheit kann man auf zweierlei Weise erzeugen. Eine Methode haben wir bereits kennengelernt: Man identifiziert bei einem Tier die Gene, deren Entsprechungen beim Menschen zu einer Krankheit beitragen, verändert diese Tiergene und beobachtet dann die Auswirkungen auf das Tier. Zweitens kann man aber auch ein menschliches Gen in das Genom eines Tiers einschleusen und dann feststellen, ob es dort die gleichen Wirkungen hervorruft wie beim Menschen.
Tiermodelle wie Würmer, Fliegen und Mäuse sind für unsere Kenntnisse über Störungen und Erkrankungen des Gehirns von entscheidender Bedeutung. Solche Modelle haben uns Einblicke in den neuronalen Schaltkreis für Furcht ermöglicht, der hinter dem Stress steht und damit einen wichtigen Beitrag zu mehreren psychischen Störungen leistet. An Tiermodellen des Autismus konnten Wissenschaftler beobachten, wie die Expression menschlicher Gene, die an der Krankheit mitwirken, das Sozialverhalten der Tiere in verschiedenen Zusammenhängen verändert.
Mäuse sind die Tiere, die in den meisten Fällen als Modelle für Erkrankungen des Gehirns verwendet werden. An Mausmodellen konnte man wichtige Erkenntnisse darüber gewinnen, wie seltene Strukturveränderungen von Genen bei Autismus und Schizophrenie zu anormaler Gehirnaktivität führen. Außerdem erweisen sich gentechnisch veränderte Mäuse als höchst wertvoll, wenn man die kognitiven Defizite bei der Schizophrenie studieren will. Mit ihrer Hilfe kann man Risikofaktoren aus der Umwelt nachstellen: Dazu setzt man die Mäuse bereits vor der Geburt verschiedenen Gefahren wie Stress der Mutter oder Aktivierung des mütterlichen Immunsystems aus (die auftreten kann, wenn sich die Mutter eine Infektion zuzieht) und untersucht dann, wie sich solche Faktoren auf Entwicklung und Funktion des Gehirns auswirken. Tiermodelle machen kontrollierte Experimente möglich, mit denen man Zusammenhänge zwischen Genen, Gehirn, Umwelt und Verhalten aufdecken kann.
Die Kluft zwischen psychischen und neurologischen Krankheiten wird kleiner
Die Aufklärung der biologischen Grundlagen neurologischer Erkrankungen hat auch unser Wissen über die normale Gehirnfunktion – das heißt über die Art, wie das Gehirn den Geist entstehen lässt – erheblich erweitert. Über die Sprachfähigkeit haben wir durch die Broca- und die Wernicke-Aphasie etwas gelernt, über das Gedächtnis durch die Alzheimer-Krankheit, über Kreativität durch die frontotemporale Demenz, über Bewegungen durch die Parkinson-Krankheit und über die Verbindung zwischen Denken und Handeln durch Rückenmarksverletzungen.
Mittlerweile zeigen immer mehr Studien, dass manche Krankheiten, die sich mit unterschiedlichen Symptomen äußern, auf die gleiche Weise entstehen können, das heißt, sie haben einen gemeinsamen molekularen Mechanismus. So sind zum Beispiel sowohl die Alzheimer-Krankheit, die vorwiegend das Gedächtnis beeinträchtigt, als auch die Parkinson-Krankheit, die sich vorwiegend auf die Bewegungsfähigkeit auswirkt, und die Huntington-Krankheit, von der Bewegungen, Stimmungslage und Kognition betroffen sind, auf fehlerhafte Proteinfaltung zurückzuführen – mehr darüber werden wir in späteren Kapiteln erfahren. Die drei Krankheiten äußern sich durch verblüffend unterschiedliche Symptome, weil von der anormalen Faltung sowohl unterschiedliche Proteine als auch unterschiedliche Gehirnareale betroffen sind. Auch bei anderen Krankheiten werden wir zweifellos gemeinsame Mechanismen entdecken.