Dein Glück stirbt in 4 Tagen - Marcus Ehrhardt - E-Book
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Dein Glück stirbt in 4 Tagen E-Book

Marcus Ehrhardt

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Beschreibung

"Hallo George, Zeit für ein neues Spiel." Als George Franklin in Chicago Punkt Mitternacht die Stimme des Anrufers erkennt, weiß er sofort: Der Killer ist wieder da. Bereits vor drei Jahren trieb dieser ein perfides Spiel mit ihm und ermordete seine Frau. Vier Tage Zeit gibt ihm der Entführer, seine in Frankfurt versteckt gehaltene Tochter aufzuspüren. Anders als damals bei seiner Frau, darf er dieses Mal nicht versagen. Dieses Mal darf er keinen Fehler begehen. Dieses Mal wird er seine Tochter rechtzeitig finden. Dieses Mal wird er dem Ganzen ein Ende bereiten. ****** Unter dem Pseudonym Rachel Callaghan gibt es die Vorgeschichte der beiden Protagonisten George und Vanessa. Titel dieser Romance-Story ist "Chicago Moments". ****** Chicago, die Wiege Al Capones, dem größten Mafia-Paten aller Zeiten, ist auch Jahrzehnte später von Gewalt und Kriminalität gezeichnet. Die Reihe "Chicago Crime" erzählt fiktive, spannende Storys, in denen sich Detective Miller vom Chicago Police Department Serienmördern und anderen Gewaltverbrechern mit aller Entschlossenheit in den Weg stellt. Nimmt er in Band 1 noch eine kleine Nebenrolle ein, wächst sein Anteil und der seines Kollegen Rosenthal, bis sie ab Band 3 schließlich zu den dominierenden Protagonisten werden. Später erhalten die beiden Cops Unterstützung von der FBI-Profilerin Amber Raven. Die Titel sind chronologisch geordnet, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.

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Dein Glück stirbt in 4 Tagen

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

Impressum:

 

© 2019 Marcus Ehrhardt

Herstellung und Verlag der Printausgabe:

BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN:9783749422104

Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

unter Verwendung von Motiven

von FinePic/shutterstock

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erlaubt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagung

Leseprobe Chicago Moments

Kapitel 1

Kapitel 2

Über den Autor

Eine Bitte am Schluss

 

Kapitel 1

 

 

Dieser Tag hatte das Zeug dazu, einer der besten seines Lebens zu werden.

Um kurz vor 7 Uhr war George Franklin geweckt worden – Vanessa hatte sich unter der Bettdecke mal wieder selbst übertroffen, sie konnte einfach die unglaublichsten Dinge mit ihrem Mund anstellen. Nach einer gemeinsamen Dusche, bei der er sich revanchierte, verabschiedete er sich nach dem Frühstück von seiner brünetten Freundin, mit der er seit genau einem Jahr eine Beziehung führte.

»Und sei heute Abend pünktlich, verstanden?«, hauchte sie ihm ins Ohr, bevor er zur Tür hinausging.

Den Weg von ihrem Apartment am Lake Shore Drive, einer der besten Wohngegenden der am Lake Michigan gelegenen Metropole, die fast 3 Millionen Einwohner beherbergte, bis ins Büro schaffte er in Rekordzeit. Selbst der für Chicago typische Stau auf der Interstate 95 in Höhe der Alexander Hamilton Bridge schien sich einen Tag Urlaub genommen zu haben, und somit fühlte sich der zähfließende Verkehr für ihn an wie freie Fahrt. Er las jüngst in einem Artikel der Chicago Tribune, dass dieser Streckenabschnitt seit Ewigkeiten zu den staureichsten in den ganzen USA zählte und man hier um die hundert Stunden im Jahr mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nicht einmal 25 Meilen in der Stunde verbrachte – wenn er denn auf der täglichen Route lag. Doch wie von Zauberhand gesteuert fand Georges SUV jede Lücke und durch geschickten Spurwechsel durchflog er geradezu dieses schwarze Loch der Lebenszeit.

Kaum in der Firma angekommen – er war Teilhaber der Illinois Security Union, kurz ISU, einem Unternehmen, das sich auf Personen- und Objektschutz spezialisiert hatte und in dessen Kundendatei sich namhafte Mandanten aus der Wirtschaft und der besseren Gesellschaft fanden – überraschte ihn ein leitender Mitarbeiter mit der Meldung, dass ihnen ein weiterer Großkunde ins Netz gegangen wäre.

Vor fünf Jahren hatte er das Angebot angenommen, dort Partner zu werden. Dank seiner guten Beziehungen zum Militär, wechselte er doch direkt aus der Offizierslaufbahn in die Firma, nutzten auch zahlreiche Einrichtungen Uncle Sam´s immer häufiger das Know-How und die Technologie der ISU.

Die turnusmäßige, morgendliche Besprechung verlief aufgrund dieser guten Nachricht äußerst entspannt. Sowohl George als auch seine beiden Partner und die anwesenden Abteilungsleiter sahen einen neuen Rekordumsatz für das kommende Geschäftsjahr voraus, und das bereits zum vierten Mal in Folge. Beschwingt von diesen Erkenntnissen machte sich die Arbeit fast von allein, daran änderte auch die überraschende Kündigung seiner Sekretärin nichts, die der Liebe wegen an die Ostküste nach New York ziehen wollte.

»Folgen Sie Ihren Gefühlen, May«, hatte er ihr geraten und damit ein Lächeln auf das runde Gesicht der Mittfünfzigerin gezaubert, die sich mit einem Aktenberg auf den Armen zurück in ihr Büro verzog. Würdest du so einen Quatsch auch schwafeln, wenn du nicht selbst gerade im siebten Himmel schweben würdest?, fragte er sich gedanklich, schüttelte den Kopf und griff zum Telefon. Nach einem kurzen Gespräch mit einem der bekanntesten Juweliere der Stadt strahlte er umso mehr. Nichts würde ihm den heutigen Tag jetzt noch verderben können, davon war er in diesem Moment überzeugt.

Die Stunden verflogen wie aufsteigender Rauch eines Lagerfeuers in der texanischen Prärie, der vom Südwestwind fortgeweht wurde.

»Verdammt, ich muss los!«, entfuhr es ihm, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. Im Hinauslaufen griff er nach seinem Jackett und spurtete die Treppen hinab, bis er nach fünf Etagen in der Tiefgarage angekommen war.

Auch der abendliche Verkehr schien ihm wohlgesonnen, so erreichte er sein Ziel einige Minuten früher als gedacht.

»Guten Abend, Mr. Franklin«, begrüßte ihn der hagere Mann, der gerade den Inhalt der Glasvitrine neu sortierte, die als Tresen fungierte.

»Guten Abend, Mr. Harper«, erwiderte George den Gruß. »Ich bin schon sehr gespannt, was Sie für mich haben.« Der Angesprochene lächelte und ging ins Hinterzimmer, aus dem er nach einem Augenblick zurückkehrte, ein schwarzes, samtenes Kästchen in seiner Hand haltend. Er stellte es zwischen ihnen ab, drehte es um und hob den Deckel.

»Hier ist das gute Stück. Was sagen Sie?« Das Licht der Deckenstrahler brach sich tausendfach in dem Stein, der spielerisch in den Weißgoldring eingearbeitet war. George starrte darauf, nahm ihn vorsichtig, als würde er jeden Moment zerbrechen können, aus dem Etui und besah ihn sich von allen Seiten.

»Sie haben sich selbst übertroffen, Mr. Harper. Er sieht fantastisch aus.«

»Nun, Mrs. Garcia hat mich hervorragend instruiert.«

»Ja, May ist klasse. Aber ich muss mich leider um Ersatz für sie kümmern, sie verlässt bald das Unternehmen.«

»Das betrübt mich zu hören, hervorragendes Personal ist schwierig zu finden.«

»Das bekommen wir schon in den Griff. Unsere Scoutingabteilung ist gut besetzt.« Der Juwelier lächelte ihn an.

»Freut mich zu hören. Dann hoffen wir gemeinsam, dass die zukünftige Mrs. Franklin unsere Auffassung teilen wird, was den Ring betrifft.«

»Das wird sie – ganz sicher.« Er legte den Ring zurück in die Schachtel, holte darauf seine Geldbörse hervor, zückte seine American Express Card und reichte sie dem Juwelier. Dieser nahm sie, zog sie durch das Lesegerät und übergab George die Quittung zusammen mit dem eingepackten Schmuckstück.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück mit diesem Kleinod. Richten Sie Vanessa einen lieben Gruß von mir aus.« Sie schüttelten sich die Hände und George wandte sich zum Gehen.

»Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal«, erwiderte er und wenige Minuten später befand er sich auf dem Weg nach Hause.

Vanessa erwartete ihn bereits mit einem frisch zubereiteten 3-Gänge-Menü. Er wollte sie zur Feier des Tages ursprünglich in eines der vielen Luxusrestaurants der Stadt ausführen, doch sie hatte vorgeschlagen, den Abend daheim zu verbringen, weil es ihr in den letzten Tagen häufiger nicht gut ging und sie nicht riskieren wollte, ein Hundertdollar-Essen direkt nach dem Verzehr wieder auszukotzen, wie sie es wörtlich sagte. Er liebte sie für ihre direkte Art – darüber hinaus für viele andere Dinge. Und in Anbetracht des kleinen Vermögens, das er gerade für den Verlobungsring hatte zahlen müssen, nahm er diese Kostenersparnis gerne mit. Zwar waren ihm in den letzten Jahren Geldsorgen fern, doch er wuchs in einem Arbeiterhaushalt auf und ihm war bewusst, welche Privilegien sie genossen, die jedoch schnell der Vergangenheit angehören könnten, sollte es mit der Firma mal bergab gehen. Daher wusste er den Wohlstand zu schätzen, solange er währte, und achtete darauf, regelmäßig etwas für Notzeiten auf die hohe Kante zu legen.

»Hallo Schatz«, begrüßte sie ihn und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. »Das Essen ist in einer halben Stunde soweit.«

»Passt, dann kann ich in Ruhe vorher duschen.« Er grinste sie an. »Willst du nicht mitkommen?« Sie stieß ihn spielerisch von sich.

»Du bekommst wohl nie genug, was?« Sanft bugsierte sie ihn aus der Küche. »Das verschieben wir auf später, sonst werde ich hier nie fertig.«

Sie hatten gerade den Hauptgang beendet – seine Freundin servierte nach der Hummercremesuppe Steak mit geschmorten Bohnen – da erhob sich George plötzlich, ging um den Tisch und kniete sich zu Vanessas Füßen. Sie sah auf ihn hinab und lachte unsicher.

»Du willst doch wohl nicht –«, doch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, hielt er bereits ihre Hand und es folgte eine gut einstudierte, mehrminütige Rede, während der er das Kästchen hervorholte und öffnete. Vanessa hielt die Luft an, als sein Antrag mit den Worten endete:

»... und darum frage ich dich jetzt: Willst du meine Frau werden?« Sie strahlte und blickte zwischen den stahlgrauen Augen Georges und dem Diamantring hin und her. Es war um sie geschehen. Sie ließ den Gefühlen freien Lauf und die Tränen rannen über ihre Wangen.

»Natürlich will ich das!« Sie zog ihn zu sich und sie küssten sich. »Ich krieg keine Luft mehr«, sagte sie kurz darauf und befreite sich sanft aus seiner Umarmung.

»Sorry, aber das musste sein.« Er löste sich von ihr, eilte zum Kühlschrank und kehrte mit einer Flasche Champagner zurück. Gekonnt öffnete er sie und wollte gerade zwei Gläser befüllen, da bedeckte sie eines davon mit ihrer Hand.

»Es ist besser, wenn wir keinen Alkohol trinken.« Klar, dachte er, wie dumm von mir, schließlich kämpfte sie seit einiger Zeit mit Magenbeschwerden. »Aber du darfst natürlich gern ein Glas trinken.« Er schaute sie verdutzt an und wusste nicht, ob es an seinem grenzdebilen Gesichtsausdruck lag, dass ihr Lächeln immer breiter wurde, oder ob sie einfach wegen des Heiratsantrags glücklich war. Doch langsam dämmerte es ihm.

»Wir, ihr, du? Du bekommst, ich meine, wir bekommen –?«

»Ja, du Blitzmerker. Laut Dr. Benson bin ich im dritten Monat.«

Jetzt war es um George geschehen. Vanessa ergriff die Gelegenheit, nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer, wo sie das fortsetzten, was sie heute Morgen unterbrechen mussten. Erschöpft ließ sie sich neben ihn aufs Bett sinken, nachdem sie fast eine Stunde lang übereinander hergefallen waren. Nun lagen sie nebeneinander und schauten zur stuckverzierten Zimmerdecke. Viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, doch einer drängte die anderen in den Hintergrund: George Franklin, du bist im Moment wahrscheinlich der glücklichste Idiot des ganzen Landes. Womit hast du das verdient? Bevor er sich seine Frage beantworten konnte, nickte er ein.

Der Klingelton seines Smartphones weckte ihn. Er drehte sich um und nahm es vom Nachtschrank. Genau Mitternacht, eine unterdrückte Nummer – soll ich trotzdem rangehen? Ok, jetzt bin ich eh schon wach. Er drückte auf das grüne Telefonsymbol.

»Ja?«, nuschelte er und gab sich gar nicht erst die Mühe, munter zu klingen. Erst vernahm er ein Rauschen und nach einem Knacken hörte George die blechern verzerrte, dennoch vertraute Stimme des Anrufers:

»Guten Morgen, George, bist du bereit für ein neues Spiel?« Ein frostiger Schauer lief über seinen Rücken, riss ihn dieser Satz doch binnen einer Sekunde brutal zurück in seinen schlimmsten Albtraum. Jegliche Müdigkeit fiel von ihm ab wie nach einem Tauchbad im Eiswasser.

Kapitel 2

 

 

Was ist denn mit dem los?, fragte sich Vanessa, als sich George mit dem Handy in der Hand aus dem Bett wuchtete und die Treppe hinunterlief. Sie amüsierte sich darüber, dass es scheinbar wichtigen Kunden immer wieder gelang, ihren Freund – nein, ihren Verlobten – von dem einen auf den anderen Moment komplett zu vereinnahmen. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass er nach einer kräftezehrenden Liebeseinheit noch zu so einer Energieleistung in der Lage war, der es bedurfte, in diesem Tempo in die untere Etage ihres zweigeschossigen Apartments zu gelangen.

Sie setzte sich auf und lauschte den Geräuschen. Ganz sicher war sie nicht, doch sie meinte am Schlagen der Tür erkannt zu haben, dass er ins Büro gelaufen sein musste.

»Wenn ich das geahnt hätte, mein Lieber, wärst du um eine Extraschicht nicht herumgekommen«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Na ja, du wirst mich schon aufklären, was so wichtig gewesen ist. Sie zuckte mit den Schultern, ging ins Bad, welches durch eine Nebentür vom Schlafzimmer aus zugänglich war, und gönnte sich eine Dusche.

Als sie nach einigen Minuten fertig und George noch nicht zurückgekehrt war, warf sie sich einen Morgenmantel über und stieg ebenfalls die Stufen, die von der Galerie nach unten führten, hinab. Sie verharrte vor dem Büro und horchte hinein. Als sie ihn weder sprechen noch sonstige Geräusche hören konnte, klopfte sie zaghaft an. Da keine Reaktion erfolgte, öffnete sie die Tür und warf einen Blick ins Zimmer. Das Deckenlicht brannte und auf dem Schreibtisch, der gewöhnlich stets aufgeräumt war, lagen mehrere Zettel wild durcheinander. Von George hingegen fehlte jede Spur.

»George?«, rief sie, doch er antwortete nicht. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Was zum Himmel war hier los? Wo bist du? »George?«, rief sie erneut, nur diesmal deutlich lauter. »Siri, Küche und Wohnzimmer: Deckenlicht an«, sagte sie und im selben Moment war es im kompletten Wohnbereich taghell. Sie blinzelte etwas, gewöhnte sich jedoch schnell an das Licht und schaute in jedes Zimmer, doch nirgendwo fand sie ihn. Erst jetzt sah Vanessa den Zettel an der Eingangstür. Er klebte neben dem Steuerungsgerät für die Alarmanlage. Sie las leise die mit schwarzem Edding geschriebenen Zeilen: »Musste weg. Geh nicht aus der Wohnung und lass den Alarm aktiv. Bin bald zurück. George.«

Kapitel 3

 

 

Die Stimme des Anrufers fraß sich in seine Eingeweide wie hungrige Hyänen in den Bauch eines erlegten Zebras. Er hielt den Atem an und war für eine Sekunde lang keiner Bewegung fähig.

Nachdem er die Starre durchbrochen hatte, sprang George aus dem Bett. Er achtete weder auf Vanessa, die ihm verwundert hinterher sah, noch darauf, dass er nackt die Treppenstufen hinab eilte. Seine Finger schlossen sich fest um das Handy, als könnte er nicht nur das Gerät zerquetschen, sondern auch den grausamen Menschen darin, dessen Stimme ihm gerade das Adrenalin durch die Blutbahn jagte.

»Was willst du Schwein von mir?«, raunte er ins Handy. George hatte die Tür zum Büro hinter sich geschlossen und ging vor dem Schreibtisch hin und her. Sich in Ruhe hinzusetzen und seinem Anrufer zu lauschen war unvorstellbar.

»Na na, George, begrüßt man so einen alten Freund?« Das folgende Gelächter des Mannes klang durch den Stimmenverzerrer absurd, fast komisch. Doch George war absolut nicht zum Lachen zu Mute.

»Fick dich! Was willst du?«

»Ich will nur spielen. Du erinnerst dich sicher noch an unsere Regeln. Ich hoffe, du hältst dich diesmal daran.« Wieder folgte ein Kichern. George atmete tief durch, irgendwie müsste er die Kontrolle über sich behalten.

»Das sind deine Regeln, du Schwein! Komm raus und zeig dich, dann spielen wir mal ein richtiges Spiel!«

»Ach George, das verschieben wir auf später. Jetzt habe ich erstmal eine neue Aufgabe für dich.« Die Gedanken rasten durch seinen Kopf wie die bunten Strahlen einer nächtlichen Lasershow durch die Finsternis. Sollte er einfach auflegen? Oder wäre es ratsam, den Ausführungen dieses Irren zuzuhören? Da er zu keinen klaren Überlegungen fähig war, antwortete er:

»Was zum Teufel willst du noch von mir?«

»So gefällst du mir schon besser«, schnarrte es. »Du bekommst gleich als ersten Hinweis ein Foto und ich rate dir: Schau es dir ganz genau an. Und George?« George wusste einfach nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, daher stammelte er nur:

»Ja, was?«

»Denk an das letzte Spiel: Keine Polizei! Und lass dein Handy an, sonst heißt es sofort: Game over.«

Es klickte einmal, dann war das Gespräch unterbrochen. George legte das Handy auf die Schreibtischplatte, blickte, immer noch nackt vor dem Schreibtisch stehend, von oben auf das Display wie ein Mungo auf die Schlange: jederzeit bereit in sekundenschnelle auf die kleinste Bewegung zu reagieren. Er zuckte zusammen, als ein Brummen den Eingang einer MMS ankündigte. Wie in Zeitlupe näherte sich seine Hand dem Gerät und er zögerte kurz, bevor er die kühle, glänzende Oberfläche berührte. Innerhalb weniger Sekunden materialisierte sich das von einer unbekannten Nummer gesendete Bild auf dem Touchscreen.

Es war wie ein Déjà-vu. Nicht unbedingt das, was er auf dem Foto sah, eher das Gefühl, welches er empfand, während sich das erst verpixelte Bild langsam scharfstellte. Ungläubig neigte er den Kopf, bis dieser nur noch etwa 30 Zentimeter vom Handy entfernt war, und zoomte das Foto mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand größer, damit er erkennen konnte, was es zeigte. Er stutzte, doch je länger er das Bild betrachtete, umso mehr wühlte es ihn auf.

Ich muss hier raus, an die Luft!, schrie es in ihm, während er wütend einen Stapel Dokumente in die Luft warf. Er schnappte das Handy und merkte erst jetzt, da er es in die Hosentasche stecken wollte, dass er immer noch keine Kleidung trug. Er hastete nach oben ins Schlafzimmer und nahm erleichtert das Rauschen der Dusche wahr. Er zog sich die erstbesten Sachen über, die er fand, und rannte wieder nach unten, wo er in seine Sneakers schlüpfte und die Autoschlüssel aus der Schale neben dem Sofa angelte. George war bereits aus der Wohnung, da kehrte er nochmal um und schrieb Vanessa eine Nachricht, die er neben die Alarmanlage klebte. Dann fiel hinter ihm die Wohnungstür ins Schloss.

 

***

 

Vanessa saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und starrte auf den Zettel, der neben dem Tee lag, den sie sich gerade zubereitet hatte. Sie hielt ihr Smartphone in der Hand, als würde es eher klingeln, wenn es nicht auf dem Tisch lag. Über eine Stunde war vergangen, seitdem George verschwunden war, und er hatte auf keinen ihrer zehn Anrufversuche reagiert. Was ist nur los und warum schreibt er, ich soll in der Wohnung bleiben?, fragte sie sich zunehmend besorgt.

Sie kannte ihren Verlobten seit 18 Monaten und noch nie hatte sie etwas Vergleichbares erlebt. Klar, er musste immer mal wieder spontan zu einem Kunden, wenn es dort Schwierigkeiten gab, doch bislang fand er jedes Mal die Zeit, ihr kurz zu erklären, was los war und wohin er fahren würde.

»Mach dich nicht verrückt«, sagte sie sich, »es wird sich alles aufklären und hinterher lachst du wahrscheinlich über deine konfusen Gedanken.« Aber warum dann der Hinweis auf die Alarmanlage? Und dass ich die Wohnung nicht verlassen soll? Sie blickte zum Steuerungsgerät: Das grüne Lämpchen leuchtete, also war sie aktiv. »Siehst du, alles in Ordnung.«

Das komplette zehnstöckige Apartmenthaus war von Georges Firma mit aktuellster Überwachungssoft- und -hardware ausgestattet worden, was er ihr nicht ohne Stolz bei ihrem dritten Date erzählt hatte. Bislang hatte sie sich also absolut sicher gefühlt. Um in ihre Wohnung zu gelangen, musste man mit einer Schlüsselkarte den Haupteingang und den Lift entsperren und der Scanner vor ihrer Wohnung entriegelte das Türschloss nur, wenn neben der Karte auch der Daumenscan mit dem gespeicherten Abdruck übereinstimmte.

Vanessa wählte erneut Georges Nummer, doch abermals meldete sich nur seine Mailbox. Dort hatte sie bereits zweimal eine Nachricht hinterlassen, daher unterbrach sie die Verbindung. Genervt warf sie das Telefon in die Sofaecke und schaltete das TV an. Sie zappte sich durch ein Gewirr von Werbekanälen und verschiedenen Serien, doch nichts davon bescherte ihr die gewünschte Ablenkung.

Nach etwa einer Stunde des Wartens, die Uhr zeigte mittlerweile auf kurz vor zwei, entschied sich Vanessa, allein ins Bett zu gehen. Soll er mir halt morgen erzählen, weswegen er so Hals über Kopf abgehauen ist. In dem Moment, als sie das Gerät abschaltete, hörte sie Geräusche im Flur. Leise lief sie zur Wohnungstür und warf einen Blick durch den Spion. Sie erschrak, als sie den Mann auf der anderen Seite erblickte.

Kapitel 4

 

 

Warum noch einmal? Reicht es ihm nicht? Reicht es ihm überhaupt irgendwann? Womit habe ich das verdient, womit hat überhaupt jemand so etwas verdient? George konnte und wollte es nicht glauben. Die Gefühle spielten verrückt und wechselten sekündlich zwischen Angst, Zorn und Trauer. Doch über allem stand ein großes Fragezeichen.

Fast wäre er beim Herausfahren aus der Tiefgarage mit einem dunklen Van kollidiert, der neben der unbeleuchteten Ausfahrt parkte.

»Verdammter Idiot!«, entfuhr es ihm. Um wenige Zentimeter verfehlte er mit seinem Wagen dessen Heck. Doch im nächsten Augenblick war es wieder vergessen, seine gesamte Konzentration galt dem Telefonat. Er fluchte weiter vor sich hin, pfiff auf jedes Tempolimit. Zügig gelangte er durch das Lichtermeer aus Reklametafeln, Scheinwerfern anderer Wagen und Straßenbeleuchtungen durch die nächtliche City seiner Heimatstadt, bis es die letzte Meile, aus dem Zentrum heraus zum Firmensitz, merklich ruhiger wurde und die Beleuchtung deutlich abnahm. Entgegen der gemäßigten Verkehrslage tobte in ihm weiterhin ein Wirbelsturm der Emotionen.

Das änderte sich nicht, als er das Gebäude erreicht hatte, in dem die ISU drei Etagen gemietet hatte.

»Oh, Mr. Franklin, so früh im Dienst?« Mit einem kurzen Nicken reagierte er auf Pete, den Wachmann des Komplexes, der von seinen Monitoren aufsah, den Kopf schüttelte, sich aber sofort wieder seinen Geräten zuwandte, während George an ihm vorbeistürmte und im mittleren der drei Fahrstühle verschwand.

Er wippte mit dem Fuß, als würde das das Schließen der Aufzugstür und die anschließende Fahrt in den achten Stock beschleunigen können. George atmete geräuschvoll aus und verließ mit großen, schnellen Schritten den stählernen Käfig, kaum dass sich die Tür summend geöffnet hatte. Nur wenige Plätze des Großraumbüros, das eine Etage über der firmeneigenen Entwicklungsabteilung lag, waren beleuchtet. Kein Wunder, dachte er sich, es ist mitten in der Nacht, deshalb ist nur die Notbesetzung im Dienst.

Außer einem jungen Kollegen, den er fast über den Haufen gerannt hätte, nahm augenscheinlich niemand Notiz von ihm. Mittlerweile hatte er sein Jackett ausgezogen, denn trotz der büroüblichen Raumtemperatur, die von einer leise im Hintergrund surrenden Klimaanlage geregelt wurde, hatte er das Gefühl, aus allen Poren wahre Sturzbäche zu schwitzen. Zielsicher steuerte er auf das kleine, baulich abgetrennte Büro in der hinteren Ecke zu.

»Mein Gott, Mr. Franklin, was ist so dringend, dass Sie mich um diese Uhrzeit herzitieren?«, wollte Dave wissen, den er aus dem Auto heraus angerufen und zum Büro gebeten hatte, ohne ihm den Grund dafür zu verraten. George schloss die Tür hinter sich und ließ bei der Scheibe, durch die man den Hauptraum einsehen konnte, die Jalousien hinunter, nicht ohne sich zu vergewissern, dass niemand neugierig in seine Richtung schaute.

»Muss ich Sie auf Ihren Arbeitsvertrag hinweisen?«

»Nein, Mr. Franklin, tut mir leid. Es war nicht so gemeint«, lenkte der schlanke IT-Spezialist kleinlaut ein, was auch daran gelegen haben könnte, dass sein Vorgesetzter mit seinen 1,90 Meter fast einen Kopf größer und wesentlich besser in Form war. »Was kann ich für Sie tun?« George waren die Befindlichkeiten seines Mitarbeiters im Moment vollkommen egal, zumal alle Angestellten in ihrem Arbeitsvertrag eine Klausel akzeptiert hatten, jederzeit zum Dienst einbestellt werden zu können. Zwar galt dies ausschließlich für firmeninterne Belange, aber er musste Dave ja nichts über die wahren Hintergründe erzählen.

»Gut, zur Sache: Sie sind Entwicklungsleiter für die Catch-App. Wie weit sind Sie damit?« Dave schluckte und räusperte sich.

»Ja, nun, wir sind in der Beta-Phase. Es gibt noch kleinere Baustellen, aber ich bin mir sicher, dass wir das in den nächsten Monaten in den Griff bekommen.« George wusste um die Schwierigkeiten, mit denen sie seit etwa einem halben Jahr zu kämpfen hatten, doch im Moment hatte er alles – außer Zeit. Mit dieser App, die eher ein Spielzeug für Erwachsene darstellte, vorausgesetzt, sie würde irgendwann einwandfrei funktionieren, kämen dank Kontrollfreaks die nächsten Millionen Umsatz wie von allein. Die App würde unterdrückte Anrufe zurückverfolgen können und mittels Nutzung von GPS-Signalen und einer neuen Technologie innerhalb weniger Sekunden die Nummer und den Standort des Anrufers ermitteln. Derzeit musste man solche Daten über die Telekommunikationsunternehmen anfordern, was einerseits zeitaufwändig und andererseits bezogen auf Datenschutzaspekte rechtlich höchst fragwürdig war. Doch George und seine beiden Vorstandskollegen vertraten die Meinung, dass die Regierung paranoid genug wäre, die Nutzung der App, zumindest beschränkt auf hoheitliche Aufgaben, durch das Gesetzgebungsverfahren zu peitschen. Und sollte das in den USA scheitern, gab es im asiatischen und südamerikanischen Raum genügend Abnehmer, die das Verteidigen von Menschenrechten – insbesondere den Schutz der Privatsphäre – weit unten auf ihrer Agenda führten.

»Ziehen Sie sie rauf«, sagte George und legte sein Smartphone neben die blau leuchtende Tastatur des Computers. Zögerlich nahm Dave, der mittlerweile hinter seinem Schreibtisch saß, das Gerät in die Hand und schaute seinen Chef fragend an.

»Jetzt? Die Beta-Version?«

»Ja.« Wie begriffsstutzig kann man sein?, fragte er sich und stöhnte leise.

»Gut, na klar, wenn Sie wollen.« Er verband das Telefon und seinen Rechner mit einem USB-Kabel und tippte einige Befehle. »Soll ich Ihre Nummer mit in die Kontrollgruppe aufnehmen?« Nein, zum Teufel!, wollte George darauf erwidern, besann sich jedoch. Es musste schon seltsam genug für seinen Mitarbeiter anmuten, wegen so einer vermeintlichen Lappalie aus dem Schlaf geholt und in die Firma geordert zu werden, daher bemühte er sich, einen plausiblen Grund für sein Vorgehen hinterherzuschieben.

»Ja, nehmen Sie die auf. Ich erwarte heute Abend einen Anruf eines Interessenten aus Hong Kong für die App«, log er, »und dabei möchte ich aus erster Hand Informationen geben können. Das ist aber noch inoffiziell. Daher muss ich darauf bestehen, dass Sie absolutes Stillschweigen über diese Aktion hier bewahren.« George beobachtete Dave, der scheinbar nicht einzuordnen wusste, ob er gerade Teil einer wichtigen geschäftlichen Transaktion geworden war oder ob sein Boss zu viele schlechte Agententhriller gelesen hatte. Erleichtert stellte er fest, dass Dave keine Anstalten machte, irgendetwas zu hinterfragen. Natürlich nicht, dachte er, Dave will so schnell wie möglich wieder ins Bett.

»Selbstverständlich. Auch das steht ja in meinem Vertrag.« Er zog das Kabel aus dem Handy und aktivierte die App darauf. »Fertig«, sagte er und George nahm sein Gerät wieder entgegen. »Wenn Sie jetzt angerufen werden, öffnet die App nach kurzer Zeit ein Fenster mit der Nummer und den Koordinaten des Anrufers. Vorausgesetzt, sie funktioniert.«

»Danke«, sagte er und ging zur Tür. Bevor er das Büro verließ, drehte er sich noch einmal zu ihm um. »Und Dave, Sie machen hier einen hervorragenden Job.«

»Äh, danke, Mr. Franklin, ich arbeite auch wirklich gerne –.« Bevor er den Satz beenden konnte, hatte George bereits die Tür von außen geschlossen und war auf dem Weg zum Auto.

Langsam machte sich die Müdigkeit wieder bemerkbar, denn obwohl der Anruf weiterhin das Adrenalin durch seine Blutbahn jagte, ignorierte sein Körper nicht, dass er, mit Ausnahme der vielleicht 90 Minuten Schlaf nach dem Schäferstündchen mit Vanessa, seit fast 20 Stunden auf den Beinen war. Und in nicht einmal fünf weiteren Stunden würde ihn der Wecker erneut aus dem Bett holen – vorausgesetzt, er könnte überhaupt schlafen.

Je näher er seiner Wohnung kam, umso mehr Gedanken machte er sich, was und wie viel er Vanessa gleich erzählen sollte. Hoffentlich machte sie sich keine Sorgen, fiel ihm ein, denn die Nachricht, die er hinterlassen hatte, erschien ihm jetzt, da er darüber nachdachte, eher suboptimal. Vielleicht war sie nach dem Duschen aber auch einfach wieder ins Bett gegangen und schlief. Ja, so wird es sein. Natürlich, du Trottel, und die Anrufe auf dein Handy hat sie im Schlaf gemacht.

George bog auf die Zufahrt zur Tiefgarage, da fiel ihm der Van wieder ein, den er beim Herausfahren fast gerammt hätte. Er war fort. Hatte das etwas zu bedeuten oder schob er jetzt Paranoia? Genug Grund dazu hätte er gehabt. Doch er verdrängte den Gedanken daran, lenkte den Wagen auf seinen reservierten Stellplatz und fuhr mit dem Aufzug auf die Etage seiner Wohnung. Die Schlüsselkarte, die er bereits für den Aufzug brauchte, behielt er in der Hand. Er müsste sie eh gleich noch einmal benutzen. George trat aus dem Lift, schwenkte nach rechts und blieb kurz darauf vor dem Scanner neben der Türzarge stehen. Er zog die Karte durch den Schlitz, während er gleichzeitig seinen Daumen auf das dafür vorgesehene Feld legte. Es summte kurz, dann klickte es und das Türschloss entriegelte. George seufzte und schob sie auf.

»Was zur –«, rief er, als ihm die Tür fast aus der Hand gerissen wurde, er die Klinke jedoch festhielt, durch den Schwung nach vorn stolperte und beinahe stürzte.

Kapitel 5

 

 

Es roch muffig. Es war dunkel. Julia zitterte, als würde sie auf einer Vibrationsplatte stehen, die ihr mit 50 Herz Schwingungen durch den ganzen Körper jagte. Einiges würde sie im Moment dafür geben, wenn es so wäre: Dass sie in ihrem Fitnessstudio um die Ecke von Dirk, ihrem Trainer, zu Höchstleistungen gepusht und nach 60 Sekunden für eine halbe Minute durchatmen würde, um sich für den nächsten Durchgang zu erholen. Dass sie spürte, wie ihre Muskeln brannten und die Beine weich wurden.

Doch sie war nicht in ihrem Studio. Nur, wo war sie dann? Sie hob den Kopf und sah sich um, soweit es möglich war. Leichter gedacht als getan, denn ihr Schädel kam ihr zentnerschwer vor. Das schummrige Licht, das durch ein vergittertes Fenster von der Größe eines Pizzakartons in den Raum fiel, ließ sie vermuten, dass sie sich in einem Keller befand. Die Zelle, wie der Raum auf sie wirkte, hatte in etwa die Ausmaße einer Autogarage. Die Decke hing tief, vielleicht waren es zwei Meter vom Boden, und an der gegenüberliegenden Wand glaubte sie, die Umrisse einer Tür auszumachen. Die Mauer links von ihr konnte sie nicht ganz sehen, da sie zum großen Teil von etwas verdeckt wurde, das nach einem Öltank aussah. Zumindest ähnelte er dem, den sie im Haus ihrer Großmutter gesehen hatte.

Julia kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was sich hinter dem Fenster befand, doch sie sah nur grauen Himmel und dünne Zweige, die leicht im Wind wogten. Und die Spitze eines Turms. Oder eines Schornsteins? Julia war unsicher, zu sehr war sie benebelt von – ja, wovon eigentlich?

Ihr nächster Blick fiel auf ein Gestänge vor ihren Füßen. Erst jetzt registrierte sie, dass sie in einem Bett lag. Oder eher einer Pritsche, wie sie es aus Knastfilmen kannte. Dieses Gestänge war, sie blinzelte, tatsächlich, es war ein Stativ. Julia ächzte und wollte sich auf die Seite drehen, um aufzustehen, auch wenn ihr dämmernder Verstand ihr sagte, dass dies in ihrem körperlichen Zustand momentan die denkbar schlechteste Idee wäre. Die Lederriemen, die um ihre Arme, Beine und das Becken geschnallt und fest mit dem stählernen Bettgestell verbunden waren, nahmen ihr die Entscheidung ab.

Es schrie in ihr, dass sie in Panik ausbrechen, sich von den Fesseln befreien und aus diesem Gefängnis ausbrechen müsste. Doch sie fühlte keine Angst, keinen Schmerz, nur die Kälte spürte sie. Aus den Augenwinkeln sah sie zwei weitere Gestelle, die jeweils seitlich neben ihr standen. Von beiden führten Bänder, nein, es waren Schläuche, stellte sie beim zweiten Hinsehen fest, zu ihren Handgelenken. Sie nahm nochmal alle Kraft zusammen, hob erneut, trotz des gefühlten Felsbrockens auf ihrer Stirn, den Kopf und besah sich die Bescherung. Wer auch immer hatte ihr in jeden Arm eine Kanüle gelegt. Wozu auch immer. Sie hatte keine Ahnung, was ihr darüber verabreicht wurde. Doch halt, natürlich hatte sie eine Ahnung: Es musste irgendeine Droge sein – damit kannte sie sich schließlich bestens aus – denn nur dadurch konnte sich Julia erklären, dass ihre momentane Situation ihr relativ gleichgültig war.

»Wo bin ich?«, glaubte sie, sich sagen zu hören. Schemenhaft liefen die Erinnerungen ab: Sie kam vom Einkaufen nach Hause in ihre billige Zweizimmerwohnung in Bahnhofsnähe. Sie räumte die Lebensmittel in den Kühlschrank und stellte die Getränke in den Abstellraum, der eher als größerer Wandschrank durchgehen würde. Dann ging sie duschen, während im Topf auf dem Herd langsam die Dosenravioli aufwärmten. Nachdem sie sich in ihren Jogginganzug geworfen hatte, der längst mal wieder in die Waschmaschine gehörte, schnappte sie sich den Kochtopf, goss sich ein Glas Mineralwasser ein und verzog sich damit auf ihr ramponiertes Sofa. Im TV lief irgendeine Serie, es war etwas Kitschig-romantisches, das brauchte sie nach dem Tag, der von vorn bis hinten einer Katastrophe glich. So hatte er sich jedenfalls angefühlt.

Sie kaute gelangweilt auf ihren Tomatennudeln und trank von ihrem Wasser. Es hatte irgendwie bitter geschmeckt, meinte sie, gedacht zu haben. Später hörte sie noch ihr Handy klingeln, doch sie ging nicht ran. Warum bin ich nicht rangegangen? Ich weiß es nicht, vielleicht war ich zu müde. Dann zog irgendwer oder irgendwas an ihr herum. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte.

Und nun lag sie fixiert auf diesem Feldbett in einem Kellerloch und hatte absolut keine Vorstellung davon, wo sie war oder welche Uhrzeit, geschweige denn, welcher Tag heute war. Und vor allem: Warum war sie hier?

Noch einmal unternahm sie den Versuch, sich von den Fesseln zu befreien und aufzustehen, doch ihre Glieder fühlten sich an wie mit Blei gefüllt. Sie sah, dass sie nicht mehr den Jogginganzug trug, sondern sich ein Kleid mit Blumenmuster angezogen hatte – oder es ihr angezogen worden war. Sicher das zweite, dachte sie noch, denn weder besaß sie ein solches Kleidungsstück, noch würde sie sich jemals freiwillig so etwas Scheußliches überwerfen. Ein Nebel legte sich über ihr Bewusstsein, wenig später schlief sie ein.

Kapitel 6

 

 

George hatte damit gerechnet, dass Vanessa wieder ins Bett gegangen oder wartend auf der Couch eingeschlafen wäre. Womit er nicht rechnete, war, dass sie ihm die Türklinke fast aus der Hand reißen würde.

»Was ist denn mit dir passiert?«, rief sie und half ihm durch einen beherzten Griff am Oberarm, dass er auf den Beinen blieb. »Du siehst aus, als ob du seit Tagen keinen Schlaf gehabt und drei Nächte durchgesoffen hättest.« So fühle ich mich auch, stimmte er ihr gedanklich zu, wandte sich von ihr ab und warf einen Blick in den Spiegel neben der Garderobe. Verdammt, sie hatte recht. Wie konnte das sein?

»Gib mir ein paar Minuten, dann erkläre ich dir alles.« Er stand ihr wieder zugewandt gegenüber, schob sie sanft zur Seite und ging an ihr vorbei. »Soweit ich es kann«, flüsterte er noch hinterher, dann lief er die Treppe hoch und verschwand im Bad. Bei einem erneuten Blick in den Spiegel, diesmal in den über dem Waschbecken, fiel ihm auf, dass er den Pullover auf links trug. Von den Flecken am Kragen mal abgesehen. »Kein Wunder, dass du aussiehst wie ein Penner.« Was musste Dave sich bei dem Anblick gedacht haben? Auch seine Augen schienen innerhalb der letzten Stunden dunkle Ränder bekommen zu haben, und seine dunklen mittellangen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. George schüttelte den Kopf. »Und so gehst du aus dem Haus.« Beinahe hätte er laut über sich selbst und das jämmerliche Bild gelacht, das er gerade abgab, doch die Situation war viel zu ernst.

Er entledigte sich der Klamotten und sprang unter die Dusche, in der er vereinzelte Tropfen von Vanessas Benutzung auf den Fliesen sehen konnte. Der harte Strahl aus dem Duschkopf wirkte belebend – und genau das brauchte er, fühlte er sich doch immer noch wie durchgekaut und ausgespuckt. Nach drei Minuten unter der Brause, die letzte davon prasselte eiskaltes Wasser auf seinen trainierten Körper, zog er seinen Pyjama über. Vanessa erwartete ihn auf dem Sofa. Er atmete tief durch und überlegte, während er die Stufen hinab ins Wohnzimmer wankte, wie er ihr erklären sollte, was gerade passiert war. Und vor allem, was noch passieren könnte.

George blickte in die Augen Vanessas, die ihn förmlich durchdrangen. Natürlich erwartete sie Antworten, das war ihm sonnenklar, doch immer noch war er unsicher, mit welchen Informationen er seine Verlobte belasten sollte – immerhin trug sie sein Baby in sich und er wollte keinesfalls ein Risiko eingehen.

»Du siehst schon wieder etwas besser aus«, sagte sie, nachdem er sich neben sie gesetzt hatte. Er rutschte zur Seite und drehte sich so, dass sie sich schräg gegenübersaßen.

»Okay, hör zu«, begann er, »du hast viele Fragen und verdienst auf jede einzelne davon eine Antwort.

---ENDE DER LESEPROBE---