Die vergessenen Mädchen vom Lake Michigan - Marcus Ehrhardt - E-Book
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Die vergessenen Mädchen vom Lake Michigan E-Book

Marcus Ehrhardt

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Beschreibung

WENN DER SCHLÜSSEL ZUR ZUKUNFT IN DER VERGANGENHEIT ZU FINDEN IST ... Spaziergänger finden die Leiche eines rothaarigen Mädchens am Ufer des Lake Michigan. Es vergeht wertvolle Zeit, bis die Zuständigkeit für diesen Fall geklärt ist. Detective Miller vom CPD traut seinen Augen kaum, als er die Akte auf den Schreibtisch bekommt. Vor sieben Jahren bearbeitete er eine Mordserie mit unübersehbaren Ähnlichkeiten. Wie das aktuelle Opfer waren auch diese drei Teenager weiblich, rothaarig und auch sie trugen grüne Kleider und gleichfarbige Schuhe, als man sie am See auffand. Amy Porter, dem vierten damaligen Opfer, gelang die Flucht vor dem Serienmörder. Das traumatisierte Mädchen war jedoch nicht in der Lage, den Ermittlern entscheidende Hinweise zu geben. Auch nach Monaten war Amy zu keiner konkreten Aussage zu bewegen. Da auch weitere Spuren im Sande verliefen, wurden die Untersuchungen schließlich erfolglos eingestellt. Jetzt ist Miller sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Täter erneut zuschlägt. Wenn er es nicht bereits getan hat. In der Hoffnung, sie würde endlich ihre Sprache wiedergefunden haben, macht sich Miller auf die Suche nach Amy. Doch sie scheint vom Erdboden verschluckt.

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Die vergessenen Mädchen

vom Lake Michigan

 

 

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Impressum

Danksagung

 

Über das Buch

 

 

WENN DER SCHLÜSSEL ZUR ZUKUNFT IN DER VERGANGENHEIT ZU FINDEN IST ...

 

Spaziergänger finden die Leiche eines rothaarigen Mädchens am Ufer des Lake Michigan. Es vergeht wertvolle Zeit, bis die Zuständigkeit für diesen Fall geklärt ist.

Detective Miller vom CPD traut seinen Augen kaum, als er die Akte auf den Schreibtisch bekommt. Vor sieben Jahren bearbeitete er eine Mordserie mit unübersehbaren Ähnlichkeiten. Wie das aktuelle Opfer waren auch diese drei Teenager weiblich, rothaarig und auch sie trugen grüne Kleider und gleichfarbige Schuhe, als man sie am See auffand.

Amy Porter, dem vierten damaligen Opfer, gelang die Flucht vor dem Serienmörder. Das traumatisierte Mädchen war jedoch nicht in der Lage, den Ermittlern entscheidende Hinweise zu geben. Auch nach Monaten war Amy zu keiner konkreten Aussage zu bewegen. Da alle weitere Spuren im Sande verliefen, wurden die Untersuchungen schließlich erfolglos eingestellt.

Jetzt ist Miller sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Täter erneut zuschlägt – wenn er es nicht bereits getan hat. In der Hoffnung, sie würde endlich ihre Sprache wiedergefunden haben, macht sich Miller auf die Suche nach Amy. Doch sie scheint vom Erdboden verschluckt.

 

 

Wie die ersten drei Bände der Chicago-Crime-Reihe ist auch dieser vierte Teil unabhängig von den Vorgängern zu lesen und erzählt eine eigenständige, in sich abgeschlossene Story.

 

Kapitel 1

 

 

Juli 2015

 

Amy zitterte am ganzen Körper. Sie wusste nicht genau, was jetzt passieren würde, nur, dass es nichts Gutes wäre.

Mit einer Hand krallte sie sich an der abgenutzten Matratze fest, auf der sie gerade saß. Ein quälend ziehender Schmerz kroch ihren Arm hinauf.

Gedanklich ratterten die letzten Tage – oder waren es Wochen – durch ihren Kopf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie viele Nächte sie auf dieser durchgelegenen und versifften Unterlage verbracht hatte. Wie viele andere Mädchen wohl schon auf dem speckigen, nach Urin und Erbrochenem stinkenden Teil gelegen hatten? Wobei Amy nicht genau einordnen konnte, ob diese Gerüche tatsächlich von der Matratze herrührten oder ob ihr Verlies sie ausströmte. So jedenfalls kam ihr das karge, fensterlose, aus groben Steinen gebaute Zimmer vor. Wie in den Burgkerkern alter Ritterfilme, die sie früher zusammen mit ihren Eltern gesehen hatte. Ihre erste Nacht hier war ihr noch im Gedächtnis geblieben, wenn die Erinnerung daran auch langsam verblasste. In jeder weiteren Nacht durchlebte sie erneut einen Albtraum: Sie erduldete, wie sich ihr Entführer über sie hermachte. Fühlte die Ohnmacht, den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, wenn er in sie eindrang. Roch seinen Schweiß, der auf ihren nackten Körper tropfte, hörte sein stoßweises, abgehacktes Stöhnen, bis er endlich fertig war. Bis er schließlich genausoschnell aus ihrer spärlich ausgestatteten Behausung verschwand, wie er ohne Vorwarnung darin aufzutauchen pflegte.

»Pass auf, du verschüttest die Hälfte und versaust das Kleid!«, fuhr der Mann neben ihr sie an und holte sie damit zurück ins Hier und Jetzt. In der anderen Hand hielt sie unruhig ein mit einer trüben Flüssigkeit gefülltes Glas, das er ihr gereicht hatte. Es erinnerte sie an den Apfelsaft, den ihre Grandma im Herbst frisch presste. Was würde sie darum geben, jetzt mit ihr auf der Veranda zu sitzen und von den bevorstehenden Ferien zu schwärmen.

Stattdessen befand sie sich in der Hölle mit diesem Monster. Er war groß und seine breiten Schultern verdeckten die Leuchte an der gegenüberliegenden Wand, sodass er einen bedrohlichen Schatten auf sie warf. Wie ein unnachsichtiger Lehrer aus dem letzten Jahrhundert hatte er sich vor ihr aufgebaut, nur der Rohrstock fehlte. Er sah auf sie hinab und schlug unvermittelt mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf. Amy zuckte zusammen, bemüht darum, das Glas ruhig zu halten. Sie wollte nicht noch mehr davon verschütten. Auch ohne den Rohrstock durchfuhr sie ein stechender Schmerz vom Kopf bis zum Nacken.

Unter anderen Umständen hätte sie von sich aus darauf geachtet, das wirklich wunderschöne Sommerkleid mit den hell- und dunkelgrünen Diagonalstreifen, dem herzförmigen Ausschnitt und den kurzen Ärmeln nicht zu ruinieren. Auch die dazu passenden grasgrünen, flachen Schuhe hätte sie freiwillig angezogen. Sie hätte sogar den weißen Strohhut vom letzten Urlaub aus dem Kleiderschrank geholt und aufgesetzt, der das Outfit abgerundet hätte. Jedoch bereitete sich die 17-Jährige gerade nicht auf ein Date mit einem attraktiven jungen Mann vor, sondern durfte ihren gewalttätigen Entführer auf einen ›netten Ausflug‹ begleiten, wie er es hämisch grinsend ausdrückte. Im Glas wäre lediglich etwas zur Beruhigung, damit sie die Fahrt über keine Dummheiten machen würde. Als ob sie das wagen würde. Zu eindrücklich hatte er sie gleich zu Beginn spüren lassen, welche schmerzhaften Konsequenzen es für sie hatte, wenn sie ihm widersprach, wenn sie seinen Anweisungen nicht sofort Folge leistete.

»Warum muss ich das denn trinken? Ich verspreche, dass ich Ihnen keine Schwierigkeiten machen werde.« Sie sprach sehr schnell, in der Hoffnung, dass er sich nicht allzu sehr aufregte. Erneut erklang das dumpfe Geräusch, als seine Hand ihren Kopf traf.

»Entweder du kippst dir das Zeug jetzt rein und kannst vorn mitfahren, oder ich verpasse dir ordentlich ein paar in die Fresse und werfe dich in den Kofferraum. Trinkst du jetzt endlich?«

»Ja«, erwiderte Amy tonlos und atmete tief durch. Ein wenig entspannte sich daraufhin tatsächlich ihre Muskulatur und sie hielt das Glas ruhig. Obwohl zur Entspannung oder gar Entwarnung überhaupt kein Anlass bestand, denn sie ahnte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie von diesem ›netten Ausflug‹ niemals lebend zurückkehren würde. Doch welche Wahl blieb ihr? Sollte sie sich dem einen Kopf größeren Mann entgegenstellen und kämpfen? Selbst wenn sie nicht von der äußerst kargen und zudem einseitigen Ernährung der letzten Tage geschwächt gewesen wäre, ihre extreme körperliche Unterlegenheit erstickte sowieso jede noch so winzige Hoffnung im Keim. Die ihr in den vergangenen Tagen zugefügten Verletzungen taten ihr Übriges. So führte sie das Glas mit ihrer verbundenen Hand erneut zum Mund. Die Bewegung verstärkte die unaufhörlichen und pochenden Schmerzen in ihrer Hand, die sie seit Tagen quälten. Genaugenommen, seitdem er ihr lächelnd mit einer ruckartigen Bewegung die Finger überstreckt und wahrscheinlich einige Gelenke dabei ausgekugelt hatte, und so innerhalb einer Sekunde ihre komplette Karriere als Meistergeigerin zerstörte. Doch daran verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Die Geige, das Orchester, das Stipendium, das alles war so weit weg. Aus und vorbei. Das war Vergangenheit. Sie wollte nur hier raus. Zurück nach Hause zu ihren Eltern, ihrer Schwester, ihrer besten Freundin. Auf ihren Augen bildete sich ein Tränenfilm. Würde sie sie jemals wiedersehen?

Das Glas erreichte ihre Lippen. Die Flüssigkeit breitete sich mit einer leicht bitteren Note in Amys Mundraum aus, bevor sie kühl ihren Rachen hinunterrann. Es schmeckte nach stark verdünntem Grapefruitsaft. Sie trank erst langsam, dann immer schneller und schaffte es schließlich, das Glas in einem Zug zu leeren.

»Gut«, lobte er überschwänglich, als wäre sie ein Haustier, dem zum ersten Mal ein neu beigebrachter Trick gelang. »Und jetzt sei so gut und leg dich auf den Bauch.«

»Bitte nicht so fest«, wimmerte sie. So lief es immer. Er kam rein, herrschte sie an, meist von ein paar Schlägen begleitet. Dann befahl er ihr, sich den Slip herunter- und das Shirt über den Kopf zu ziehen, sich auf den Bauch zu drehen und still liegenzubleiben. Beim ersten Mal hatte Amy sich mit aller Kraft zu wehren versucht. Ihr Widerstand endete in einer Tracht Prügel, deren Ausmaß sie sich nicht hatte vorstellen können. So wären die Kids und Teenager in der Mitte des letzten Jahrhunderts noch gezüchtigt worden, hatte ihr Dad früher mal erzählt. Amy hatte sich immer gefragt, ob das denn wirklich so schlimm gewesen wäre oder ob ihr Vater damit nicht etwas dramatisierte. Jetzt wusste sie es.

»Halt den Mund!«

»Ja«, flüsterte sie und legte sich wie befohlen auf den Bauch. Doch sie trug noch ihren Slip und das Kleid reichte bis zur Mitte der Oberschenkel. Irgendetwas war anders. Vielleicht irrte sie sich und er wollte sie gehen lassen. Natürlich, das musste es sein. Sie könnte ihn eh nicht identifizieren, da er sein Gesicht stets hinter einer Skimaske verbarg und von Anfang an kam es ihr so vor, als würde er mit leicht verstellter Stimme zu ihr sprechen. Erst vermutete sie, er wollte streng klingen, um sie stärker einzuschüchtern. Als ob das nötig gewesen wäre! Jetzt klammerte sie sich daran, dass er das nur getan hatte, um nicht erkannt zu werden. Weil er sie gehen lassen wollte. Heute. Ein zarter Keim der Hoffnung spross in ihr.

»Dein Glück«, zischte er und packte ihren Unterschenkel. Er kniete sich neben Amy, woraufhin die Federn in der Matratze ächzten.

Seine Hand strich rau über ihre Haut. Sie spürte bei jedem seiner kräftigen Griffe, dass er entweder viel trainierte oder schwer arbeitete. Ganz anders als bei ihrem Dad, dessen Hände sich durch seine Arbeit im Büro und sein ambitioniertes Klavierspiel eher weich und zart angefühlt hatten. Als Amy im nächsten Moment ein metallisches Klirren hörte, befürchtete sie, er würde ihr mit dem Messer etwas antun, das er stets in einer Lederscheide am Gürtel trug. Mehrfach hatte er die furchteinflößende, glänzende Klinge gezogen und war mit dessen Spitze imaginäre Linien in Amys Gesicht und auf ihrem Oberkörper nachgefahren. Wiederholt fügte er ihr dadurch hauchdünne Schnitte zu, deren Schmerz sie wegen ihrer Angst kaum wahrnahm. Er könnte ihr binnen weniger Sekunden damit die Kehle aufschlitzen und sie jämmerlich verbluten lassen. Dazu fähig wäre diese Bestie mit Sicherheit.

Mitten im Gedanken gefangen löste sich das Rätsel, als sich nach einem Klicken der Eisenring von ihrem Knöchel löste und auf die Matratze fiel.

»Danke«, hauchte sie nur.

Der Mann wuchtete sich von der Matratze hoch, während er sie am Oberarm packte und mit sich hochzog.

»Halt die Klappe und beweg dich!«

Amy musste sich darauf konzentrieren, nicht hinzufallen. Allein schon, dass sie außer zwei Schritten täglich zum offenen Klo an der Wand gegenüber ihres Lagers und zwei Schritten wieder zurück seit Tagen nur gelegen hatte, sorgte für ein puddingähnliches Gefühl in ihren Oberschenkeln. Dass er sie unsanft in den Rücken stieß und damit in Richtung Tür lenkte, erschwerte es ihr zusätzlich, auf den Beinen zu bleiben. Schau einfach auf den Boden vor dir, sagte sie sich tonlos, dann wird er deinen guten Willen erkennen, dir nichts einprägen zu wollen.

Obwohl es nur ein paar Meter waren, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den stählernen Türgriff in der Hand hielt. Trotz der angenehmen Temperatur im Raum – eine Elektroheizung auf Rollen sorgte für bestimmt über 20 Grad Celsius – fühlte sich das Metall kalt auf der Haut an. Bevor sie selbst die Tür öffnen konnte, legte er seine Pranke auf ihre Hand und drückte die Klinke fest nach unten. Amy wurde von der Türkante fast im Gesicht erwischt, da ihr Peiniger sie ohne Rücksichtnahme aufzog.

»Au«, entfuhr es ihr unwillkürlich, eher aus Überraschung und der Erwartung, gleich einen Schmerz zu spüren. Doch der kam nicht. Im Gegenteil: Sie fühlte sich seltsam betäubt, fast, als würde sie jemand langsam in viele Lagen Watte einrollen.

»Weiter!«, herrschte der Mann sie an und versetzte ihr einen weiteren Stoß. Er trieb sie einen schmalen Gang entlang, dessen Wände aus den gleichen Steinen erbaut zu sein schienen, wie die in ihrem Verlies. Zu beiden Seiten sah sie geschlossene Türen.

»Mir ist schwindlig«, nuschelte Amy. Die Wände des Ganges kamen auf sie zu, wobei sich das hintere Ende immer weiter entfernte. Fühlt sich an wie ein Traum, schoss es ihr durch den Kopf und sie merkte, dass sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breitmachte. Genau, vielleicht ist das alles ein schlimmer Traum und gleich erwache ich daraus. Dann wurde es dunkel.

Kapitel 2

 

 

Heute

 

Die Sonne würde in etwa einer Stunde hinter dem Horizont verschwinden, daher holte Dayle die beiden Angelruten ein, die an den Bordwänden seines kleinen Bootes auslagen.

»Das war ja ein Reinfall«, grummelte der unrasierte, 72-jährige Mann, nachdem er einen Blick in den Eimer vor seinen Füßen geworfen hatte. Eine unterarmlange Brasse bewegte sich träge darin. Die anderen Fänge schwammen bereits wieder irgendwo im Lake Michigan und feierten ihren zweiten Geburtstag, da sie die Mindestmaße deutlich unterschritten. Dayle legte die Ruten längsseits, drehte sich mit dem Gesicht zum Bug und griff nach der Lenkstange, an deren Ende ein 2,5-PS-starker Außenborder für den Antrieb sorgte. Der ähnlich wie sein Eigentümer betagte Motor sprang auf Knopfdruck an und Dayle nahm Kurs auf den Steg am Westufer, von dem aus er seit Jahren zu seinen mehr oder weniger erfolgreichen Angelausflügen startete.

Der sanfte Wind wehte ihm den stinkenden Mief der einige Meilen südlich gelegenen Millionenmetropole Chicago in die Nase, woraufhin er verächtlich das wettergegerbte Gesicht verzog. Er hasste diese Stadt in Illinois, die ihm nie etwas schenkte, ihm jedoch umso mehr genommen hatte. Doch allen Schicksalsschlägen der letzten Jahrzehnte zum Trotz, würde er seine Farm in Wisconsin, in der Nähe zur Staatsgrenze nach Illinois, nur mit den Füßen voraus verlassen. Egal, wie viel ihm die Unternehmen der Hauptstadt noch anbieten würden, um ihre Industrieanlagen auf seinem Grundbesitz aus dem Boden stampfen zu können.

Etwa eine viertel Meile trennte ihn vom Ufer, als er ein anderes Boot bemerkte, das von seinem Steg losmachte und sich in Ufernähe in Richtung Norden entfernte. Für einen Moment wunderte sich Dayle darüber, dass neben ihm noch jemand von dort ablegte. Schließlich wirkte der Holzsteg zum einen echt mitgenommen aufgrund der wechselhaften Witterung und zum anderen wucherte um ihn herum ein mannshohes Schilfgeflecht. Außerdem konnte man den schmalen Trampelpfad zwischen den Pflanzen hindurch nicht sehen, nur erahnen.

Eine kreischende Möwe, die ihn ziemlich tief überflog, ließ ihn das andere Boot vergessen.

»Verpiss dich, Scheißvogel!« Dayle warf mit einer leeren Bierdose nach dem Tier, verfehlte es aber um Längen. »Hol dir deinen eigenen Scheißfisch!«

Eine Viertelstunde später machte Dayle vom Steg aus das Boot mit einem gekonnten Knoten fest und schob es mit dem Fuß unter die Dielen, sodass es vom Ufer aus gar nicht und vom See aus kaum zu erkennen war. Mit dem zweiten Seil sorgte er dafür, dass es unter dem Steg blieb.

Bevor er zu seinem Auto aufbrach, machte er seinem Fang artgerecht den Garaus, weidete ihn aus und warf die Innereien zurück ins Wasser. Kleines Abendessen für die in Ufernähe lauernden Raubfische, dachte er grinsend. Die Sonne war mittlerweile kaum noch zu sehen, sodass die Umgebung in Zwielicht getaucht wurde. Eine halbe Meile unübersichtliches Gelände lag zwischen ihm und seinem Pick-up, doch Dayle kannte hier jeden Grashalm und jedes Sandkorn.

Die Hälfte lag bereits hinter ihm, da fiel ihm etwas ins Auge. Vielleicht fünf, sechs Meter abseits seines Pfades. Etwas, das dort nicht hingehörte. Kurz überlegte Dayle, es zu ignorieren und einfach weiter zu gehen. Doch die Neugier überwog. Seufzend verließ er den Weg und näherte sich seinem Fund.

»Was zur Hölle?«, entfuhr es ihm einen Augenblick später.

 

***

 

Durch die Leuchtstrahler wirkte die Umgebung fast heller als bei Tageslicht. Der eben noch idyllische Sonnenuntergang wurde abgelöst von emsig herumwuselnden Menschen. Teils in Uniformen, teils in weißen Overalls tummelten sie sich in dem durch gelbes Band abgesperrten Bereich.

»Hi Mary.«

»Da hinten sitzt der Mann, Sheriff«, erklärte der Deputy Sheriff ihrem Chef, der gerade am Tatort angekommen war. Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm zur Seite. »Ein Dayle Wensworth, 72, war beim Fischen draußen und hat sie auf dem Weg zu seinem Wagen gefunden.«

»Was wissen wir vom Opfer?«

»Sehr wenig, niemand von uns kennt sie. Sie trug auch keine Papiere bei sich und hat keine Auffälligkeiten wie Narben, verschiedenfarbige Augen oder Tattoos.« Mary räusperte sich und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter nach hinten. »Der Doc ist gerade weg. Bericht kommt morgen früh, nachdem er sie auf dem Seziertisch hatte. Sie ist noch keine 20, offenbar ertrunken. Keine äußerlichen Verletzungen.«

Sheriff Palmer brummte etwas und ging zu dem Mann, der das ermordete Mädchen vor knapp zwei Stunden hier gefunden hatte. Dayle lehnte an einem Baumstamm und trank einen Kaffee, den er von einem Beamten bekommen hatte.

»Na, Sheriff, dass wir uns nochmal wiedersehen, hier im Süden. Dachte, Sie wären längst in Pension.«

»Tja, Dayle, das hier hab ich mir nicht ausgesucht. Wenn es nach mir ginge, säße ich jetzt in einer Bar in Sacramento und würde mir den dritten Tequila gönnen.« Er hielt kurz inne. »Wie lange ist es jetzt her mit Sharon, fünfzehn Jahre?«

Obwohl der Sheriff zehn Jahre weniger auf dem Buckel hatte, wirkte er mindestens genauso alt wie Dayle.

»Genau zwölf Jahre und drei Monate«, erwiderte Dayle wie aus der Pistole geschossen.

Sheriff Palmer überraschte Dayles Reaktion nicht, denn er und sein Team hatten sich damals bei den Ermittlungen nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als Dayles Frau Sharon von einem aus Chicagos stammenden Durchreisenden ermordet worden war. Vieles hatte für Palmer und seine Leute darauf hingedeutet, dass sich dessen Frau einfach aus dem Staub gemacht hatte, weil sie sich nicht traute, sich offiziell von ihm zu trennen. Dayle hingegen beharrte von der ersten Minute an darauf, dass ihr etwas zugestoßen sein müsste, da sie sich niemals so lange nicht melden würde. Typischer Fall von Verdrängung, urteilte Palmer seinerzeit voreilig und verwarf die Einwände von Wensworth. Letztlich stellten sich Dayles Befürchtungen als wahr heraus. Hätte Palmer ihnen früher Bedeutung zugemessen, wäre Sharon möglicherweise noch lebend gefunden worden. Ihr Mörder hatte sie in einen verlassenen Schuppen abseits der Interstate verschleppt und sie vier Tage lang wieder und wieder vergewaltigt. Bis er sie schließlich mit bloßen Händen erwürgte. Als man sie fand, bezifferte der Arzt den Todeszeitpunkt auf wenige Stunden zuvor. Also etwa einen halben Tag, nachdem der Sheriff und sein Team eine große Suchaktion gestartet hatten. Zu spät, zu wenig. Das wusste Palmer und das wusste Dayle Wensworth. Der Sheriff verstand sehr gut, dass ihm der Mann das nicht verzeihen konnte. Wie auch! Schließlich konnte er selbst sich nicht wirklich verzeihen und hatte über Jahre hinweg mit seinem schlechten Gewissen zu kämpfen.

»Mh, aber das war früher. Was können Sie mir zu heute sagen?« Er deutete in Richtung des toten Mädchens, das etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt lag und von der Spurensicherung untersucht und fotografiert wurde.

»Tja«, erwiderte Dayle verbittert. Er atmete tief durch und erzählte dem Gesetzeshüter, wie er vom Steg hier entlanggelaufen und ihm die helle Kleidung des Mädchens ins Auge gesprungen war. »Mehr gibt es nicht zu sagen.«

»Haben Sie die Frau angefasst? Ihre Position verändert?«

»Nur ihren Puls gesucht und gehört, ob sie atmet.«

Seine Stimme klang nun ganz weich. Palmer spürte, dass es dem Mann an die Nieren ging. Wäre auch ein Wunder, hätte es ihn kalt gelassen. Nicht nur, dass seine Frau von einem Sexualstraftäter ermordet wurde, auch seine beiden Kinder verlor er. Zwei Töchter im Teenageralter, die auf dem Rückweg von einer Feier in Chicago von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergestürzt waren, wobei sich der Wagen mehrfach überschlug. Die Ältere starb noch an der Unfallstelle, deren jüngere Schwester erlag wenige Tage später ihren schweren Verletzungen. Kurzum: Dayle Wensworth war ein gebrochener Mann. Ein gemeinsamer loser Bekannter von ihm und Dayle brachte den Sheriff alle paar Monate auf den neuesten Stand. So wusste Palmer von den regelmäßigen Angelausflügen und es überraschte ihn nicht, ausgerechnet Dayle hier anzutreffen.

»Sie lag also genauso da?«

»Ja, Mann«, sagte Dayle schroff. »Spreche ich Spanisch oder was? Hab gerade gesagt, dass ich sie nicht angefasst habe.« Er hob den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand wie zum Schwur. »Außer mit den beiden an der Seite ihres Halses. Wenn ihr dort meine Fingerabdrücke findet, wisst ihr warum.«

»Okay, Dayle, tut mir leid«, beschwichtigte Palmer. »Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen oder jemand?«

»Nein.«

»Gut. Danke. Wir melden uns, falls wir noch etwas von Ihnen brauchen. Hat sich Ihre Adresse geändert oder leben Sie noch auf der Farm?« Zwar kannte Palmer die Antwort, doch Dayle wäre sicher nicht erfreut darüber gewesen, dass Palmer sich über ihn auf dem Laufenden hielt.

»Ja, mein Zuhause ist immer noch die Farm. Das wird sich auch nicht ändern.«

Sheriff Palmer sah dem Mann hinterher, der trotz seines Alters die Beweglichkeit eines jungen Kerls zu haben schien, wie er zielsicher durch die Büsche zum Pfad schritt und locker über einen toten Baumstamm sprang. Schulterzuckend wandte Palmer sich zum Fundort und ging auf das gelbe Absperrband zu.

»Wie weit sind sie?«

Deputy Mary Chambers drehte ihren Kopf nach rechts, wo zwei Leute in Overalls miteinander sprachen.

»Hank, wann können wir rein?«

»Gebt uns noch fünf Minuten, Mary.«

Palmer hob eine Hand und würgte seine Kollegin ab.

»Ich habe es gehört, Mary.«

»Klar«, sagte sie und fügte nach einer Pause hinzu: »Verdammt, sie war noch so jung. Ich bin vielleicht fünf Jahre älter.«

Palmer legte seine Hand auf die Schulter der Polizistin und drückte sie kurz. Normalerweise würde er sich so etwas nicht erlauben, Mary kannte er jedoch schon, seitdem sie laufen konnte.

»Daran wirst du dich leider gewöhnen müssen, erst recht, wenn du tatsächlich zum Chicago Police Department wechseln willst.«

»Vielleicht überlege ich es mir ja noch«, erwiderte die Tochter seines alten Schulfreundes, doch Palmer war bewusst, dass sie die Zeit bei ihm lediglich als eine Art Praktikum betrachtete. Das hatte sie transparent kommuniziert. Dennoch hoffte er, sie würde seinem Team erhalten bleiben.

»Wir sind jetzt fertig«, unterbrach Hank seine Gedanken und Palmer beobachtete die fünf Leute in den Overalls, wie sie ihre Sachen wieder in den Metallkoffern verstauten und schließlich hintereinander wie eine Entenfamilie den abgesperrten Bereich verließen.

»Dann wollen wir mal«, sagte der Sheriff und hob das gelbe Band.

»Danke«, sagte Mary und ging, vom Sheriff gefolgt, auf demselben Weg zum Opfer, auf dem die Leute von der Spurensicherung den Tatort gerade verlassen hatten. Trotz der wenigen Dienstmonate hatte sie es bereits verinnerlicht, an einem Tatort jede überflüssige Bewegung zu vermeiden. Schließlich war bei einem Mord die Chance groß, dass sie nur die Vorarbeit für die zuständigen Polizeibehörden oder gar das FBI leisteten. Und gerade die Feds konnten ziemlich pissig werden, wenn man die Tatorte kontaminierte.

»Das ist sie also«, sagte Palmer leise und kniete sich neben die junge Frau, die auf dem Rücken lag und die Hände vor ihrem Bauch gefaltet hielt. Ihre halb geöffneten Augen blickten friedlich in den Nachthimmel, fast schien sie zu lächeln. »Sie war sehr hübsch.«

»Was für ein perverses Schwein macht sowas?«, spuckte Mary fast aus. »Ich meine, sie erst zu ertränken, und sie dann hier zu drappieren, als wäre sie Schneewittchen in ihrem tausendjährigen Schlaf, die nur auf den Prinzen wartet.«

Palmer verstand und teilte Marys Bestürzung. Auch wenn er in den letzten vierzig Jahren viele – zu viele – Mordopfer gesehen hatte: Jedes Neue war eines zu viel. Und nicht erst der tragische Fall von Dayles Frau hatte ihm vor Augen geführt, dass meist noch eine Familie dahinterstand. Natürlich bemühte auch Palmer sich, keinen der Fälle zu nah an sich heranzulassen, doch trotz seiner langen Dienstzeit hatte er kein Patentrezept parat.

»Sie schien sich nicht gewehrt zu haben. Du hast doch gesagt, der Doc fand keine Blutergüsse, richtig?« Palmer deutete auf die rundumlaufende Rötung am Fußgelenk der Toten.

»Keine frischen äußerlichen Verletzungen, sagte er«, korrigierte sie ihn.

»Ach so, ja okay, passt trotzdem. Keine Würgemale, die Fingernägel sind wie frisch manikürt und das Kleid sieht aus wie neu.«

»Stimmt, weder Flecken noch irgendwelche Nähte gerissen. Würde bestimmt anders aussehen, wenn sie sich gewehrt hätte.«

Sheriff Palmer nickte seiner Kollegin zu.

»Demnach war sie narkotisiert. Womit erfahren wir bestimmt in ein paar Stunden.«

»Und wenn sie schon vorher tot war? Der oder die Täter uns nur Glauben machen wollen, dass sie ertrunken ist?«

»Wenn der Doc sagt, sie wäre ertrunken, ist sie ertrunken.«

Mary schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

»Ah, dann hat er sie irgendwie abgehört oder dabei festgestellt, dass Wasser in der Lunge ist.«

»Davon gehe ich aus, wobei meine medizinischen Kenntnisse auch eher rudimentär ausgebildet sind. Dazu haben wir den Doc schließlich«, sagte er zwinkernd und stand auf, um den Leuten Platz zu machen, die den Leichnam abholen wollten, um ihn zur Gerichtsmedizin zu überführen. Die hatten sich kurz zuvor am Absperrband bemerkbar gemacht.

»Können wir rein?«, fragten sie, woraufhin Palmer und seine Kollegin den Männern entgegengingen und der Sheriff ihnen mit einem Handzeichen den Zutritt zum Tatort gewährte.

»Seid vorsichtig mit ihr«, bat Mary die Männer, die sich schulterzuckend ansahen.

»Logo«, sagte einer von ihnen, doch der Ton klang eher belustigt.

Das wiederum belustigte Palmer, der sich gerade vorstellte, wie Mary in ein paar Jahren als Detective solchen Jungs in den Arsch treten würde.

Kapitel 3

 

 

Juli 2015

 

Amy hustete, als sie zu schreien versuchte. Statt eines Lauts kam nur Wasser aus ihrem Mund. Wasser, überall war Wasser. Sie strampelte wild mit den Beinen und den Armen, als würde sie sich vor dem Ertrinken retten müssen. Erst jetzt nahm sie wahr, dass sie zwar im Wasser lag, jedoch so nah am Ufer, dass sie den Kies des Grundes durch das Kleid hindurch an ihrem Rücken spürte.

Immer noch etwas benommen, wuchtete sie sich in den Sitz und unternahm Anstalten, sich hinzustellen. Doch erst im dritten Versuch konnte sie sich auf den Beinen halten und torkelte aus dem Wasser, bevor sie wenige Meter weiter zusammensackte. Sie spürte den feuchten Boden zwischen den Fingern. Hektisch wirbelte sie mit dem Kopf herum und sondierte die Umgebung, soweit die einsetzende Dämmerung es erlaubte. Wenigstens schien sie allein zu sein. Nirgends konnte sie jemanden sehen oder hören, auch wenn sie nicht sicher sein konnte, ob ihre noch benebelten Sinne ihr einen Streich spielten. Wäre schließlich nicht das erste Mal, wenn sie an den sich verändernden Flur zurückdachte. An die Wände, die sie zu zerquetschen drohten. Wie viel Zeit war wohl vergangen? Stunden? Tage? Amy wusste es nicht, auch nicht, um welchen Ort es sich handeln könnte, an dem sie sich gerade befand. Vor sich erkannte sie Bäume, vielleicht sogar einen Wald, und hinter ihr erstreckte sich das Gewässer so weit, bis es von der Dunkelheit verschluckt wurde. Es handelte sich um Süßwasser, das stand ausnahmsweise außer Frage, demnach müsste es ein See sein. Sonst hätte sie eine Strömung bemerkt. Ob es sich bei dem Gewässer um den ihr bekannten Lake Michigan handelte, ob sie sich überhaupt in der Nähe ihres Heimatstaates Illinois befand oder ganz woanders auf der Welt – Amy wusste auch das nicht.

Wie auch immer, auf jeden Fall wusste sie, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwinden musste. Vielleicht kehrte der Mann zurück, um sein Vorhaben zu Ende zu bringen. Erneut spähte sie in Richtung der Baumreihe nur wenig von ihr entfernt. Amy nahm ihren Mut und ihre Kraft zusammen, rappelte sich auf und schaffte es in die Sicherheit versprechende Schwärze des Waldes. Ständig damit rechnend, gegen einen Baumstamm zu laufen, einen tiefhängenden Ast ins Gesicht gewischt zu bekommen oder über eine Wurzel zu stolpern, tastete sie sich immer weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Von Minute zu Minute wurden ihre Schritte sicherer und ihr Kopf etwas klarer. Was, wenn dieser Wald größer ist, als du denkst?, fragte sie sich lautlos. Wegen der milden Temperaturen würde sie zwar trotz der triefnassen Klamotten, die ihr wie eine zweite Haut am Körper klebten, nicht erfrieren, die Gefahr, sich zu verlaufen, bestand natürlich dennoch. Doch welche Wahl blieb ihr? Sollte sie am See darauf warten, bis der Psychopath wiederkam? Oder sollte sie laut nach Hilfe schreiend am Ufer entlanggehen? Nein, diese Optionen klangen weder besser noch erfolgversprechender. Amy gab sich noch ein oder zwei Stunden, wollte sich dann irgendetwas wie ein Versteck suchen und bei Tagesanbruch weitergehen.

Die Nacht schritt voran und mit ihr auch Amy, die ihrer Meinung nach immer geradeaus gelaufen war, bis auf die wenigen Stürze, die sie trotz größtmöglicher Vorsicht nicht hatte vermeiden können. Zum Glück blieben diese ohne Folgen, wenn sie von ein paar Schrammen und Kratzern absah. Wie erhofft fand sie endlich einen Unterschlupf, in dem sie sich zumindest annähernd sicher fühlte. Darüber, welche Tiere hier nachts auf Beutezug gingen und ob sie möglicherweise deren Beuteschemata erfüllte, wollte sie nicht nachdenken. Sie zwängte sich tief unter einen querliegenden, von Moos überzogenen Baumstamm, bis sie mit dem Rücken an etwas Festes stieß. Ein anderer Baum oder der verfestigte Sandboden? Egal, Hauptsache, sie bot nicht so viel Angriffsfläche. Ein Wolf oder ein Kojote könnte ihr nur von Angesicht zu Angesicht entgegentreten und Amy hoffte, sich mit dem spitzen Ast, den sie auf dem Weg hierher gefunden und mitgenommen hatte, einem möglichen Angreifer zumindest den Respekt einflößen zu können, von ihr abzulassen. Sie schloss fröstelnd die Augen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Was war denn das? Sie spürte etwas an ihrem Bauch, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Ängstlich schob sie eine Hand unter das Kleid und erschrak. Ein fester Gegenstand in der Größe eines Feuerzeugs war mit einer Folie an ihrer Haut befestigt. Ein Sender! Verdammt, das war bestimmt ein Sender, damit ihr Peiniger sie orten konnte! Was für ein krankes Spiel spielte dieser Mann?

Kapitel 4

 

 

Heute

 

Vier Stunden waren Sheriff Palmer vergönnt, bis ihn eine Nachricht des Docs aus dem Schlaf riss. Schlecht gelaunt zog er seine Uniform an und fuhr ohne weitere Hygienemaßnahmen auf direktem Weg zum Institut für Rechtsmedizin nach Milwaukee. Sein Deputy Mary stieg auf halber Strecke zu, sie wohnte nur wenige Minuten entfernt.

»Guten Morgen, Sheriff«, sagte sie fröhlich.

Palmer bedachte seine blonde Kollegin mit einem Seitenblick. Sie hatte die Zeit genutzt, sich frischzumachen. Wie immer trug sie das Hemd faltenlos gestärkt und ihre schwarzen Lederschuhe glänzten in der Morgensonne, die durch das Beifahrerfenster schien.

»Dir auch, Mary«, erwiderte er und spürte, wie ihre Anwesenheit seine Laune verbesserte. Auch das war ein Grund, warum er sie gern in seinem Team gehalten hätte.

»Weißt du schon Näheres?«

Palmer zuckte mit den Schultern und deutete auf sein Smartphone. Mary griff danach und wischte über das Display. Die Nachricht des Docs erschien. »Hi, Sheriff, Obduktion ist abgeschlossen. Bin noch bis 8 Uhr im Haus. Falls Sie es nicht mehr schaffen, schicke ich die Mail mit den Ergebnissen rüber. Gruß, Dr. Smith«, las Mary halblaut.

»Zufrieden?«

»Womit? Dass dein Kenntnisstand genauso mager ist wie meiner?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf, bevor sie wieder ernst wurde. »Ich war noch im Büro heute Nacht und hab ein wenig recherchiert wegen des Mädchens.«

»Und?« Palmer hob die Augenbrauen, nicht nur wegen des Engagements seiner Kollegin. »Hast du was gefunden?«

Sie atmete hörbar aus.

»Auf die Schnelle nicht viel. Bei uns in Wisconsin liegen drei Vermisstenmeldungen junger Frauen vor. Die passen aber schon auf den ersten Blick nicht mit unserem Opfer zusammen. Zwei der Frauen sind deutlich kleiner und die dritte soll etwa vierzig Pfund mehr wiegen. Das hätte sie in den paar Tagen nicht einmal mit einer Null-Diät wegbekommen können. Ich hab bei der State Police angefragt und bei den Kollegen in Illinois. Von denen kam noch keine Rückmeldung. Das FBI wollte ich nicht informieren, bevor ich mit dir gesprochen habe.«

»Gut gemacht, auf dich ist Verlass. Lass uns abwarten, was der Doc gleich sagen kann. Das FBI können wir immer noch informieren.« Er grunzte verächtlich.

»Was ist?«, wollte Mary wissen.

»Ach, ich musste nur daran denken, wie sich die Zeiten geändert haben. Früher konnten wir gar nicht schnell genug gucken, da standen schon zwei von denen mit ihren Men-in-Black-Uniformen auf der Matte und deklarierten jeden Fall für sich, bei dem ein Tropfen Blut geflossen war.«

»Und was hat sich seitdem geändert?«

Palmer lachte auf.

»Die Politik. Und die Personalsituation. Heute haben die Feds oder die CIA Probleme, kompetente Leute zu bekommen. Die örtlichen Polizeibehörden, die Sheriffbüros und auch die städtischen Departments haben oft ein höheres Budget zur Verfügung und können mit der Bezahlung mithalten. Zudem fühlen sich immer mehr von denen als politische Spielbälle, was ja kein Wunder ist bei den Entwicklungen der letzten Jahre.

---ENDE DER LESEPROBE---