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Jede Frau kennt ihn, jede Frau fürchtet ihn: Den dunklen und einsamen Heimweg Eine Frau wird auf ihrem Nachhauseweg grausam überfallen und ermordet. Ein Schock, der Emmy bis ins Mark trifft: Denn bei der Frau handelt es sich um ihre Arbeitskollegin aus dem erfolgreichen Start-Up, in dem sie erst vor Kurzem angefangen hat. Als Reaktion auf das Verbrechen entwickelt ihr charismatischer Chef eine App, die den Heimweg von Frauen sicherer machen soll. Doch Emmy ahnt, dass sich hinter der glänzenden Fassade der Firma eine düstere Realität verbirgt. Dann geht ein Protest unter #meinheimweg viral, und Emmy findet sich plötzlich im Zentrum einer gefährlichen Suche nach der Wahrheit – bereit, alles zu riskieren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Dein Heimweg
HANNAH ESSING, geboren 1993, wuchs im Ruhrgebiet auf, zum Studium zog es sie aber in die Ferne. Nach einigen Stationen im Ausland, wie etwa Zypern und Armenien, lebt sie nun mit ihrem Freund in Bonn. Mit ihrem Debütroman, einem Urlaubskrimi, gewann sie den Krimipreis Harzer Hammer 2024.
JEDE KENNT IHN, JEDE FÜRCHTET IHN: DEN DUNKLEN HEIMWEG.Es ist spät, die Straßen sind leer. Doch plötzlich spürt sie es – das beängstigende Gefühl, verfolgt zu werden. Ein Schatten kommt immer näher, dann sticht er zu. Brutal. Ohne Warnung. Die Polizei findet die Leiche, aber keine Spur vom Täter. Emmy ist fassungslos – das Opfer war eine Kollegin aus dem Start-up, in dem sie erst vor Kurzem angefangen hat. Als eine Online-Bewegung unter #meinheimweg viral geht, reagiert ihr Chef schnell: mit einer App, die den Heimweg von Frauen sicherer machen soll. Doch nach einem zweiten Mord findet sich Emmy plötzlich im Fadenkreuz einer gefährlichen Jagd nach der Wahrheit – bereit, alles zu riskieren.
Hannah Essing
Thriller
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für Alina
@rosarotewolken auf X:
#meinheimweg gehört nicht mir.
Heute
Ich kralle meine abgekauten Nägel in das Lenkrad, lehne meinen Kopf erschöpft dagegen. Das flaue Gefühl in meinem Magen weicht auch nach wenigen Minuten nicht, also raffe ich mich auf und steige aus. Auch wenn ich nichts mehr will, als den Motor anzuwerfen und den Parkplatz zu verlassen.
Der frische Wind streicht durch mein Haar, als ich die Autotür hinter mir zuschlage. Das Geräusch klingt von den Wänden des Hinterhofs wider. Der Januar ist lieblicher als erhofft, und dennoch liegt ein feiner Nebel wie ein kaltnasser Schleier in der Luft. Ich atme tief durch, sauge den Geruch des frischen Morgens ein, ehe ich das Auto abschließe.
Der Bewegungsmelder am Eingang ist seit Monaten kaputt, und so bahne ich mir den Weg durch die Dunkelheit; jeder Schritt zögerlich, langsam, und doch genug Muskelerinnerung von den vielen Malen, die ich in den frühen Morgenstunden auf dem dunklen Parkplatz gewandelt bin.
Meine Schritte hallen über den Asphalt, im Takt zu meinem aufgeregt pochenden Herzen. Heute Morgen singt kein Vogel. Hier bin nur ich. Und meine Sehnsucht nach einem der weichen Sessel im Konferenzraum, um einige Stunden Schlaf nachzuholen.
Die Umrisse des Gebäudes liegen vor mir, und für einen Moment fühle ich mich ganz allein auf der Welt, so allein, in diesem Augenblick, in dem alle um mich herum noch schlafen. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken, weiter im Selbstmitleid versinken kann, wie ich es sonst so gerne tue, fühle ich etwas Weiches unter meinen Füßen nachgeben und finde mich plötzlich auf allen vieren wieder.
Meine Handballen brennen. Der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen, während ich mich aufrapple. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich den dunklen Haufen auf den Pflastersteinen, der mich zu Fall gebracht hat.
Ist es ein Tier? Ein streunender Hund oder ein Fuchs? Eine eiskalte Gewissheit ergreift mich, lässt mich erschaudern. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als ich auf die Knie sinke und den Schatten einer menschlichen Gestalt erkenne.
»Hallo?« Es ist das erste Wort, das ich heute Morgen spreche. Meine Stimme ist rau. Keine Antwort. Vorsichtig rüttle ich an der Schulter der Person und zucke zurück, als ich etwas Feuchtes berühre.
Ich verstehe sofort, was die klebrige Substanz an meinen Fingern ist. Meine Nase füllt sich mit einem metallischen Geruch. Mit zitternden Händen taste ich nach meinem Handy, ziehe es aus meiner Tasche, die neben mir liegt. Das Touchpad reagiert zunächst nicht, ist zu verschmiert von dem Blut. Blut, hallt es in meinen Kopf – Blut, Blut, Blut, so viel davon. Ich habe es mir flüssiger vorgestellt, weniger schmierig, mehr wie Wasser als Matsch.
»Emmy König«, flüstere ich, als sich der Notruf am anderen Ende der Leitung meldet. »Saalfelder Straße …« Meine Stimme versagt auf der letzten Silbe. »Kommen Sie schnell. Jemand ist tot. Schon wieder.«
Im schwachen Licht meines Handys sehe ich auf den reglosen Körper, die weit aufgerissenen Augen, die verkrampften Hände. Wieder ein Mord, schießt es mir durch den Kopf. Nicht du, denke ich. Mein Puls rast, und ich reiße den Mund auf und schreie.
Agata Makris auf LinkedIn:
Schlüssel zwischen den Fingern halten, laut telefonieren. Was sind eure Tricks für einen sicheren Heimweg? #meinheimweg
Damals: Oktober
»Wir sind hier wie eine Familie«, sagte sie mit einem Lächeln, sodass ihre gebleachten Zähne funkelten. Ich hatte den Satz in bereits so vielen Vorstellungsgesprächen gehört, dass er mir körperlich zusetzte. Statt eines wohligen Gefühls breitete sich Übelkeit in meiner Magengegend aus. »Familie« in einem Unternehmen bedeutete in der Regel unbezahlte Überstunden, toxische Arbeitsplatzbeziehungen und im besten Fall einen Obstkorb. Das war immerhin mehr, als ich von meiner tatsächlichen Familie bekam.
»Wir haben natürlich auch einen Obstkorb«, bestätigte sie meine Gedanken. »Tischtennisplatte, Sitzsäcke in einer Ruhezone und einen Kühlschrank mit Bier. Alles, was einen modernen Arbeitsplatz ausmacht.« Sie lachte laut und hell, dann zeigte sie auf eine bronzene abstrakte Statue, die auf einem Podest stand. »Wir haben sogar einen Preis dafür bekommen. Start-up des Jahres. Darauf sind wir sehr stolz.«
»Das ist toll«, erwiderte ich, und zusammen schritten wir weiter durch die umgebaute Turnhalle. Ich sah sie von der Seite an, ein Lächeln auf den Lippen. »Und gegen Bier habe ich echt nichts.« Ich bemühte mich um einen lockeren Tonfall, der mir nicht ganz gelingen wollte. Ich war nervös. Nervös wegen des neuen Jobs, wegen der fremden Menschen. Nervös zuzulassen, dass jemand mich kennenlernte. Nervös, weil wieder alles schiefgehen konnte. Nervös, dass die Scherben meines Lebens, die ich verzweifelt versuchte aufzulesen, mir erneut aus den Fingern gleiten würden.
»Ich auch nicht. Aber Tampons auf den Toiletten und weniger dämliche Kommentare von Kollegen wären mir noch lieber.« Sie sah mein Stirnrunzeln und ruderte zurück. »Sorry, ich will dich nicht an deinem ersten Tag schon verschrecken. Die meisten sind in Ordnung. Aber du weißt ja, wie das ist, oder?« Sie musterte mich, und ich fragte mich, was genau sie sah. In dem grellen Licht war meine Bluse sehr viel durchsichtiger, als ich es beim Anziehen bedacht hatte. Das passierte, wenn man sich im Halbdunkel anzog und am Abend vor dem ersten Arbeitstag zur Beruhigung zwei kleine Fläschchen von der Supermarktkasse trank. Ich konnte nur hoffen, dass mein Atem nicht nach billigem Wodka stank.
»Ich weiß, wie das ist«, antwortete ich und beschloss, mich von ihrem Blick nicht entmutigen zu lassen. »Bei meiner letzten Stelle hat es einen Hausmeister gegeben, der uns manchmal an den Arsch gegrapscht hat.« Ich verdrehte die Augen, und sie fiel mit einem Kopfschütteln ein.
»Und deine letzte Stelle hast du verlassen, weil …?«
»Ich brauchte einfach Veränderung«, sagte ich. »Ein neues Abenteuer.« Es war eine Lüge, aber am ersten Tag sollte man wohl kaum davon erzählen, wie einem mit Pauken und Trompeten fristlos gekündigt wurde. Schon zum zweiten Mal. Aber der Wunsch nach einer neuen Herausforderung hatte in meinem Vorstellungsgespräch gezogen, genau wie das begeisterte Empfehlungsschreiben meiner früheren Chefin. Es beschrieb in ausschweifenden Details, was für ein Wunderkind ich war und wie hart ich arbeitete. Und war von oben bis unten erstunken und erlogen. Wenn man seine Empfehlungsschreiben fälschte, konnte man nämlich schreiben, was man wollte. Ein echter Lifehack, der mir nach ewiger Suche endlich diese Stelle verschafft hatte.
»Die findest du hier sicher!«, lächelte die Frau mit den perfekt frisierten Haaren, und ich hoffte, dass irgendwer im Laufe des Tages noch mal ihren Namen sagen würde. Ich hatte ihn in dem Moment wieder vergessen, kaum dass sie ihn ausgesprochen hatte. Namen wollten in meinen Hirnwindungen einfach nicht hängen bleiben. Ich hatte es schon mit allen möglichen Gedächtnistricks versucht, aber es nützte nichts.
»Ich bin froh, bei euch zu sein«, sagte ich und meinte es. Nicht weil ich das Start-up-Leben für mich entdeckt hatte, sondern weil ich irgendeine Stelle brauchte – und zwar dringend.
»Emmy, wo wohnst du eigentlich? Hier in Ehrenfeld?«
Ich nahm eine weitere vorbereitete Lüge aus meiner Sammlung. »In einem Airbnb, so lange, bis ich eine Wohnung gefunden habe.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht perfekt, aber du kennst ja den Wohnungsmarkt in Köln. Ich bin leider wegen Eigenbedarf aus meiner letzten Bleibe geflogen.« Eine blumige Umschreibung für den Umstand, dass mein Ex mich aus unserer gemeinsamen Wohnung gekickt hatte. Ich war beinahe überrascht, wie leicht mir die Lügen von den Lippen gingen. Ich seufzte tief, mitleiderregend, wie ich hoffte.
Sie nickte verständnisvoll. »Dann hoffe ich, dass du schnell etwas findest. Du kannst eine Suche im Slack-Channel posten, dann sieht es jeder hier in der Firma, und irgendwer kennt immer irgendwen. So habe ich es gemacht, als Tim und ich nach etwas Größerem gesucht haben, und innerhalb von zwei Wochen hatten wir einen unterschriebenen Mietvertrag. Wunderschöner Altbau, und Tim hat alles frisch renoviert. Er würde alles für mich tun!« Sie strahlte.
Wie ihr Freund hieß, wusste ich nun. Leider war ich damit immer noch nicht schlauer, was ihren Namen anging. Lisa? Lea? Laura?
»Aber genug von mir.« Sie winkte ab und führte mich weiter durch die ehemalige Turnhalle. »Ich zeig dir jetzt deinen Arbeitsplatz, und danach stelle ich dich den Kollegen vor. Du wirst sehen, alle sind supernett.« Sie zog das Wort in die Länge, betont beide Silben einzeln, su-per. Ich nickte nur, ließ sie weiterreden. »Und wenn du Glück hast, schenkt Aaron dir später noch was von seiner kostbaren Zeit. Als ich hier angefangen habe, hat es eine knappe Woche gedauert, bis ich den Chef überhaupt mal zu Gesicht bekommen habe.« Ein Schatten legte sich über ihr Strahlen, doch er war so schnell wieder verschwunden, dass ich glaubte, es mir eingebildet zu haben. Dieses Mal hatte ich mir fest vorgenommen, mich aus allem rauszuhalten, keinem Office Gossip zuzuhören und niemandem meine Meinung zu sagen – ein Fähnchen im Wind. Die Tatsache, dass ich mich mit ebendieser nur schwer zurückhalten konnte, hatte mich schon viel zu oft in die Scheiße geritten.
Hinter einer Ecke erwartete mich eine Arbeitsinsel aus mehreren Schreibtischen. Innerlich seufzte ich. Ich vermisste es jetzt schon, in einem eigenen Raum zu arbeiten, die Tür zu schließen und meine Ruhe zu haben. Scheiß Start-ups, die Großraumbüros als Co-Working Spaces wieder hip sein ließen, als wären sie nicht schon immer ein Instrument zur Überwachung der Mitarbeitenden gewesen.
»Die meisten kommen erst so ab zehn, wir sind da ganz relaxed. Solang du beim Daily um elf dabei bist, ist das total entspannt. Nur der große Jour fixe ist jeden Montag schon um zehn. Da geht’s darum, wo wir als Firma hinwollen und ob unsere Arbeit zu unserer Wertematrix und Mission passt.«
Ein stechender Kopfschmerz bildete sich über meiner linken Augenbraue, und ich presste den Daumen fest dagegen. Ob der Schmerz vom Alkohol oder von der Erwähnung der Wertematrix kam, war schwer zu sagen. »Im Laufe der Woche haben die einzelnen Teams dann jeweils ihren Jour fixe. Da du im Marketing allein bist, fällst du raus, aber ich würde vorschlagen, dass du dir regelmäßige Check-ins mit Sophie, unserer Grafikerin, einstellst. Uns ist wichtig, dass die verschiedenen Teams regelmäßig zusammenkommen, damit wir holistisch arbeiten und nicht als getrennte Posten. Zum Beispiel IT, Entwicklung und Business Development oder Marketing und HR.« Sie strahlte mich erneut mit ihrem Zahnpastalächeln an. »Das wäre dann ich.«
Ich war versucht zu fragen, warum sie als einzige HRlerin nicht bei meinem Bewerbungsgespräch dabei gewesen war, aber ich wollte keinen womöglich wunden Punkt treffen.
Ein Kerl mit Man Bun und Segelschuhen tauchte hinter ihr auf und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen. »Hey Süße«, sagte er, und ich fluchte innerlich, da ich immer noch nicht ihren Namen kannte. »Und du musst die Neue sein«, sagte er und hielt mir eine Hand hin. Ich ergriff sie. »Emmy.«
»Ich bin Valentin.«
Valentin, Valentin, Valentin. Ich versuchte, mir den Namen einzuprägen.
»Ich bin drüben beim Business Development.« Er deutete mit dem Kopf auf die Arbeitsinsel, an der auch Vielleicht-Laura arbeitete. »Wir werden uns sicher noch öfter sehen.« Er zwinkerte mir zu.
»Das bleibt nicht aus, so ganz ohne Wände«, sagte ich trocken, und Vielleicht-Luisa lachte laut auf.
»Sie ist witzig, oder? Ich finde, sie ist witzig!«
Valentin schien mich weniger lustig zu finden, er grinste gezwungen. »Schön, dich im Marketing zu haben. Dann kannst du den ganzen Tag Memes posten.«
»Mach dir nichts aus ihm«, sagte Vielleicht-Lena, nachdem Valentin sich abgewandt hatte. »Er sieht aus wie ein Golden Retriever, aber er kann etwas bissig sein. Aber man gewöhnt sich daran.«
Ich sah sie schweigend von der Seite an. Sie wirkte nicht wie jemand, der sich an so was gewöhnte, vor allem nicht nach ihrem spitzen Kommentar über die Männer in dem Unternehmen.
»Ich stell dir unsere Entwickler vor.« Sie führte mich zu einer geschlossenen Tür, und ich trauerte ein bisschen darum, nicht in genau dieser Abteilung zu arbeiten, die als einzige in einem Büro mit Tür arbeitete. Neben dem Chef natürlich. Diese Trauer war sogleich vorbei, als wir den Raum betraten und eine Wolke aus Deo, Schweiß, Yum-Yum-Nudelsuppe und stickiger Luft mir entgegenflog. Dieser Geruch schien wohl eine Berufskrankheit zu sein, genau wie die heruntergelassenen Rollläden. Vier Köpfe sahen auf. Einer davon flauschig und mit großen Ohren.
»Oh, hi«, rutschte es mir begeistert heraus, und ich hockte mich hin, um den großen Hund zu streicheln. Er winselte begeistert und drehte sich auf den Rücken, die Pfoten in die Höhe gestreckt, sodass ich keine andere Wahl hatte, als ihn am Bauch zu kraulen. »Du bist ja ein Hübscher«, murmelte ich.
»Es ist eine sie«, riss mich eine Stimme aus meinem Moment des Friedens. Ich sah auf und schaute in die zusammengekniffenen Augen eines Mannes, an dem alles schrie, dass ich mich besser von ihm fernhalten sollte.
»Wie heißt sie?«, fragte ich, während ich die Hündin weiter kraulte. Ihr Fell war weich und warm, und ich wollte mein Gesicht hineindrücken.
»Arya.«
Ich hob eine Augenbraue. Den Namen würde ich mir zur Abwechslung merken können. »Wie bei Game of Thrones?«
Er zuckte mit den Schultern, wandte den Blick ab. »Das ist Filip«, sagte Lina. »Lass dich von seiner Grimmigkeit nicht abschrecken. Er hat einen weichen Kern.« Das zu glauben, fiel mir schwer, wenn ich den Totenkopf auf seinem Unterarm betrachtete, die Haare, die ihm in die Augen fielen und die er mit einer unwirschen Geste zur Seite schob, ehe er sich am Bart kratzte. Ich hatte eine Schwäche für Männer wie ihn. Männer, die mich weniger gut behandelten, als sie sollten. Nach meiner letzten gescheiterten Beziehung hatte ich mir geschworen, die Finger von ihnen zu lassen. Also stand ich auf und ging einen Schritt von dem Hund weg, auch wenn es mir im Herzen wehtat. »Ich bin Emmy, hi in die Runde.«
Ein anderer Entwickler stand auf, reichte mir die verschwitzte Hand. Er hatte einen nervösen Tick, bei dem sein rechtes Auge in regelmäßigen Abschnitten zuckte, und sein T-Shirt spannte über seinem Bauch. Er stellte sich als Johnny vor. Neben seiner Arbeit als Entwickler kümmerte er sich auch um die IT, erklärte er, weil es sich nicht lohnte, extra jemanden dafür einzustellen. Sollte ich also mal Computerprobleme haben, wäre er mein Mann.
Der Dritte im Bunde, mit Brille und dunklen Locken, sah auf und nickte kurz. Sein Name war Hakim.
»Freut mich«, lächelte ich tapfer. »Ich bin seit heute fürs Marketing verantwortlich. Noch muss ich mich etwas orientieren, aber wenn ich erst mal richtig angekommen bin, würde ich mich freuen, wenn ihr mir mehr über eure Arbeit erzählt. Nur so kann ich dabei helfen, das Unternehmen angemessen nach außen zu repräsentieren.« Der mit dem zuckenden Augenlid nickte eifrig, der Bebrillte sah nicht einmal auf, und der Tätowierte hob die Augenbrauen. »Klar. Aber wir haben viel zu tun.« Er sah wieder auf seinen Bildschirm, und ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Meine Begleiterin und ich warfen uns einen kurzen Blick zu, dann verschwanden wir aus dem Büro.
Ich lernte weitere Menschen – alles Männer – kennen, deren Namen ich mir natürlich nicht merken konnte, bevor wir gemeinsam zu meiner Arbeitsinsel zurückkehrten.
»Wie ich sehe, sind endlich die beiden wich-tig-sten Personen angekommen.« Lisa/Luisa grinste und hob den Zeigefinger scherzend. »Und nein, Aaron meine ich nicht.«
Zwei Frauen waren miteinander ins Gespräch vertieft. Die größere trug das Haar in einem smarten Bob, an den Füßen glänzende DocMartens. Ihre Körperhaltung war lässig und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das die kleinere Blondine mit der Brille neben ihr nicht hatte. Doch sie war die Erste, die auf mich zukam und mir sanft die Hand gab. »Ich bin Sophie. Wir werden ganz eng zusammenarbeiten, ich bin die Grafikdesignerin hier. Richtig schön, dass du da bist.«
»Alana«, sagte die größere Frau und drückte meine Finger so fest, dass ich glaubte, meine Knochen knacken zu hören.
»Alana ist unsere CFO, bei ihr laufen alle Finanzen zusammen«, erklärte meine Begleiterin. »Sie ist die Einzige, auf die Aaron hört.«
»Zumindest manchmal. Wir sind alte Freunde«, erklärte Alana. »Danke, Lena.« Ding, ding, ding, dachte ich. Endlich kannte ich ihren Namen.
»Ich freu mich, hier zu sein«, log ich, und Lena klatschte freudig in die Hände. »Jetzt setz dich erst mal, und lies dich ein.«
Sie bewegte die Maus des Computers, und der Bildschirm leuchtete auf. »Dein Benutzername ist Emmy Punkt König, König mit oe.« Sie sah mich mit einer Neugier an, die ich gewöhnt war. »Ist Emmy eine Abkürzung? Emilia oder so?«
Ich zuckte mit den Schultern, nicht bereit zu erklären, dass meine Eltern das Vorurteil gegenüber Menschen aus der Arbeiterschicht wahr gemacht und sich für einen englischen Vornamen entschieden hatten. »Nein, einfach nur Emmy.« Kevinismus hieß das Phänomen, aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden.
»Schöner Name«, sagte sie, fragte aber zum Glück nicht weiter nach. »Die Passwörter sind alle nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, Vorname und Einstellungsmonat. Johnny ist nicht besonders kreativ.« Sie tippte mit ihren perfekt manikürten Fingern auf der Tastatur herum, und ich versteckte meine abgekauten Nägel in den hinteren Hosentaschen. Mit einem Pling erwachte das Gerät zum Leben. Lena lächelte mich an. »Willkommen bei AA.Mal.«
Bis zum Mittagessen lernte ich die anderen kennen, die für mich ein auswechselbarer Cast an sich ähnelnden Männern waren – so sehr, dass zwei von ihnen sogar die gleichen Namen besaßen. Mark M und Mark L bilden das Sales-Team, Oliver und Yannick unterstützten Alana in der Buchhaltung, und Henning war SCRUM-Master. Ich hatte sie alle schon wenige Sekunden, nachdem sie sich vorstellten, vergessen.
Beim Essen merkte ich schnell, dass Lena, Alana und Sophie unterschiedlicher nicht sein konnten und dennoch ein eingeschweißtes Team waren, ein eigener kleiner Hexenzirkel, der sich von den Männern abschottete. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten, wann immer sie unter sich waren, und ich war als Neue außen vor. Es erinnerte mich auf unangenehme Weise an die Schule, an den Club der coolen Mädchen, zu denen ich nie gehören konnte. Auch dann nicht, wenn meine Kleidung neu war und ich mir jedes Schimpfwort, jeden Fluch und jedes bisschen Dialekt, das noch in mir steckte, verkniff.
Wir saßen alle zusammen am Konferenztisch, und ich biss in mein mitgebrachtes Brötchen, versuchte, Valentin auszublenden. Alana hatte von ihrer Freundin Clara erzählt, die als Lehrerin arbeitete, und das Gespräch hatte mit einem Mal eine unangenehme Wendung genommen.
»Alles, was ich sagen will«, tönte Valentin laut, »ist, dass es etwas komplizierter ist als das. Der Gender-Pay-Gap hat viele Faktoren. Mehr Frauen sind in Teilzeit, mehr Frauen entscheiden sich für Berufe, die schlechter bezahlt sind.«
Lena stöhnte lautstark auf. »Wie kannst du ignorieren, dass beides strukturelle Probleme sind?«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. »Aber was wundere ich mich, dass ihr uns nicht ernst nehmt? Aaron schafft es ja nicht einmal, den Bewegungsmelder auf dem Parkplatz reparieren zu lassen.«
Sie bewegte sich auf einem emotionalen Grenzgebiet, das ich nur zu gut kannte: Die Wut war so groß, dass sie in Form von Tränen herauszuplatzen drohte. Was in einer Situation wie dieser absolut demütigend wäre. Ich sah auf mein angebissenes Brötchen, als würde ich nichts von dem Sturm merken, der aufbrauste.
»Warum gehen nicht mehr Männer in Teilzeit? Warum werden Mädchen nicht schon früher bestärkt, technische Berufe zu ergreifen?«, fragte Alana mit ruhiger Stimme, ganz auf Lenas Seite, und schüttelte den Kopf. »Du machst es dir zu einfach, Valentin.«
Er setzte zu einer weiteren Tirade an, und ich stellte die Ohren auf Durchzug. Ich hatte keine Lust, seine Monologe mitzuverfolgen, aber genauso wenig wollte ich Teil dieser Diskussion sein. Ich hatte vor langer Zeit aufgegeben, mit Menschen zu diskutieren, die mich nicht respektierten. Und ich wollte nicht noch stärker mit Man Bun aneinandergeraten.
»Wie lange bist du schon bei AA.Mal?«, fragte ich stattdessen Johnny, der neben mir saß.
Das Zucken seines Auges wirkte noch nervöser als sonst. »Ähm«, begann er, unfähig, den Blick von Lena und Valentin abzuwenden. »Quasi von Anfang an.«
»Oh, das ist ja spannend«, sagte ich und blendete die Streithälse aus. »Kanntest du Aaron schon vorher?«
»Nein«, antwortete Johnny. »Aber Filip. Er war der Erste, der angefangen hat und mich ins Boot holte. Wir kennen uns noch von früher. Haben mal zusammen woanders gearbeitet.«
Ich sah zu Filip, der am Ende des Tisches saß. Ich verlor mich darin zu beobachten, wie er mit einer Hand Arya streichelte. Seine Finger waren lang und schlank, und ich verspürte den Wunsch, seine Tattoos aus der Nähe zu betrachten. Aus seinem rechten Ärmel lugte eine Schlange, die auf dem Handrücken endete, auf den Fingerknöcheln befand sich ein großes X. Auf dem untersten Fingerglied standen Buchstaben, doch ich konnte nicht erkennen, welches Wort sie bildeten. Er hob den Blick, als hätte er gemerkt, dass ich ihn anstarrte. Seine grünen Augen trafen meine, nur für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er sich wieder auf sein Essen konzentrierte. Meine Wangen brannten. Ich sollte mich von Männern wie ihm fernhalten, so viel stand fest. Männer wie er brachen mir das Herz.
»Und ist er schon immer so offen und freundlich?«, scherzte ich mit gesenkter Stimme, bereute es aber gleich wieder, als ich beobachtete, wie Johnnys Wangen sich röteten. »Er hat ein großes Herz«, beteuerte er. »Er hat nur Probleme damit, es zu zeigen. Aber er ist einer der Guten.« Sein Blick flackerte zu Valentin, dann sah er auf die Tischplatte.
»Du könntest etwas sagen, weißt du?«, sagte ich sanft, machte eine unauffällige Kopfbewegung zu den beiden Streithähnen. »Auf dich hört er vielleicht eher.«
»Das bezweifle ich«, gab Johnny zurück. »Aber du könntest doch auch.« Er hielt meinem Blick stand, als ich die Lippen schürzte. Er hatte recht. Ich richtete mich auf, hielt den Rücken gerade und wandte mich zu Valentin, Alana und Lena. »Ich denke –«, startete ich, wurde jedoch unterbrochen, als jemand meinen Namen sagte.
Schweigen breitete sich aus. Aaron stand vor mir und lächelte. In echt war er noch hübscher als auf meinem Bildschirm. In seinem Gesicht fand ich etwas, das mir schon bei meinem virtuellen Vorstellungsgespräch aufgefallen war: eine Selbstsicherheit, die ich selten bei anderen wahrnahm, eine Ruhe und das Wissen um den Charme, den er ausstrahlte. Aber auch ein beunruhigender Hunger nach mehr.
Aaron Mal war ein Wunderkind: Im Unterschied zu vielen anderen war er während der Corona-Lockdowns nicht in Schockstarre verfallen, sondern hatte die Veränderungen im Arbeitsmarkt als Chance gesehen. Er hob die Videotelefonie auf ein neues Level, entwickelte ein umfassendes Ökosystem für New Work. Gemeinsame Chaträume, neuartige Tools fürs Projektmanagement, Online-Konferenzräume; alles Angebote, um in der digitalen Welt zu kollaborieren. Er hatte den Zahn der Zeit getroffen.
Hunderte mittelständische Unternehmen nutzten die Lösungen, der erste Großkonzern liebäugelte bereits damit, wie Aaron mir im Vorstellungsgespräch verraten hatte. Mit gesenkter Stimme, als wäre es ein Geheimnis, das nur wir beide teilten. In dem SPIEGEL-Artikel, den ich über ihn gelesen hatte, hieß es, dass er wie Zuckerberg oder Musk in seiner Garage angefangen hatte. Nach kürzester Zeit hatte er drei Mitarbeitende. Inzwischen arbeiteten deutlich mehr Leute für seine Firma, und es wurde weiteres Wachstum vorhergesagt. Aaron Mal war der Golden Boy der deutschen Start-up-Szene und hatte bisher nicht nur einen, sondern schon zwei TEDx Talks gehalten, war für mehrere Preise nominiert und regelmäßiger Gast in Podcasts.
Aarons blonde Haare fielen ihm ins Gesicht, die Art, wie er sie mit gespitzten Lippen zur Seite pustete, war beinahe filmreif; dazu die blauen funkelnden Augen, mit denen er mich musterte. Ich hasste es, dass ich mir in diesem Moment wünschte, mir mehr Mühe mit meinem Make-up und meinen Haaren gegeben zu haben. Unbewusst strich ich eine Strähne hinters Ohr, dann stand ich unbeholfen auf. »Hi, Aaron. Schön, dass wir uns endlich live sehen.«
Er lachte, warm und weich. »Ich hätte dich gerne selbst begrüßt. Ich war leider superbusy.« Er sah auf seine Smartwatch. »Aber jetzt hätte ich eine halbe Stunde Zeit. Hast du Lust, mit in mein Büro zu kommen?«
In seinem Büro deutete er auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch und schloss die Tür hinter sich. Ich setzte mich und wartete. Schweigen füllte den Raum, und ich bemerkte erst nach wenigen Sekunden, dass sich meine Zehen schmerzhaft in die Sohlen meiner Schuhe krallten. Die Anspannung war real, denn wer fand sich schon gerne unvorbereitet in einem Gespräch mit dem Boss wieder? Ich atmete tief durch, bemühte mich, die Souveränität, die ich im Vorstellungsgespräch an den Tag gelegt hatte, erneut heraufzubeschwören.
»Es ist wirklich schön, dass du da bist«, sagte er, bevor er sich setzte. »Du warst meine absolute Favoritin bei den Vorstellungsgesprächen. Ich hatte wirklich gehofft, dass du unser Angebot annimmst, und bin froh, dass du es getan hast.« Er lehnte sich nach vorn, verschränkte die Hände unter dem Kinn. »Ich hoffe, du hattest einen guten Start. Lena arbeitet momentan noch an einem Onboarding, damit der Einstiegsprozess systematischer ist, dazu gehören dann auch regelmäßige Feedbackgespräche und all so ein Quatsch.« Er lachte laut auf, als hätte er die Unsicherheit in meinen Augen aufflackern sehen. »Versteh mich nicht falsch, das ist alles sehr wichtig. Aber ich bin froh, wenn ich mich nicht näher damit beschäftigen muss, sondern mich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren kann.« Er lehnte sich zurück. »Die Vision.«
»Ich weiß, du hast viel zu tun«, entgegnete ich. »Aber wenn es mal ruhiger ist, können wir uns vielleicht darüber unterhalten. Deine Vision für dieses Unternehmen zu hören und deine Leidenschaft selbst zu erleben, ist wichtig für meine Kommunikationsarbeit. Um herauszufinden, wie wir nach außen auftreten wollen.« Er nickte, dann stand er auf, lief um seinen Schreibtisch herum und lehnte sich gegen die Kante, die Finger um das Holz der Tischplatte gelegt. »Darüber können wir gerne reden, schick mir doch einfach einen Terminvorschlag. Aber erst einmal will ich mehr von dir hören.«
Ich durchwühlte den Koffer an Lügen, die ich in meinem Gehirn verstaut hatte. »Studiert habe ich –«, setzte ich an, doch er unterbrach mich harsch, wedelte mit der Hand, als würde er eine Fliege verscheuchen wollen. Ich verstummte. »Spar dir das. Ich kenne deinen Lebenslauf. Schließlich habe ich dich eingestellt. Also sag mir lieber, was dich bewegt.«
Hauptsächlich der Wunsch, endlich wieder meine Miete zahlen zu können, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Und der Wunsch, eines Tages einen Job zu finden, der mich erfüllte. Ich war so lange auf der Jagd nach der großen Karriere gewesen, hatte immer geglaubt, dass sie mich glücklich machen würde. Aber das hatte sie nicht. Jetzt suchte ich nur noch nach Sicherheit.