Die Tote von Nikosia - Hannah Essing - E-Book

Die Tote von Nikosia E-Book

Hannah Essing

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen Zypressen und Mord: ein packender Krimi auf Zypern Die warme Sommerluft trägt den Duft von Zypressen, Honig und Jasmin durch die Straßen Nikosias. Doch der Fund einer Leiche überschattet die Idylle der Insel. Die junge Frau liegt erschlagen in der UN-Pufferzone, dem Übergang zwischen dem geteilten Zypern. Schnell entbrennt ein Machtkampf um die Ermittlungen zwischen türkischen und griechischen Zyprioten, und die deutsche Polizistin Monika Marx wird als Beraterin eingesetzt. Sie verlebt ihre Rente auf der Insel und weiß, wie heikel die ganze Angelegenheit ist. Gemeinsam mit dem Journalisten Noah Liebig taucht sie in die tiefen Schatten der Zypressen ein, die Geheimnisse und Intrigen verbergen … ++ Gewinner des Krimipreises HARZER HAMMER 2024 ++ »Viel mehr als ein Urlaubskrimi. Ein Buch mit Tiefe, über die letzte geteilte Hauptstadt der EU. Genial erzählt und bis zum Schluss spannend. Aber Achtung: Man bekommt beim Lesen großen Appetit auf Halloumi.« Andreas Gruber »Überraschend, spannend, atmosphärisch dicht und voller raffinierter Täuschungen« Remy Eyssen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Die Tote von Nikosia

HANNAH ESSING kommt aus dem Ruhrgebiet, zum Studium zog es sie aber in die Ferne. Nach einigen Stationen im Ausland, wie etwa Zypern und Armenien, lebt sie nun mit ihrem Freund in Bonn. Sie publizierte bereits Kurzgeschichten und Lyrik in diversen Literaturmagazinen. Die Tote von Nikosia ist ihr erster Roman.

»Überraschend, spannend, atmosphärisch dicht und voller raffinierter Täuschungen«Remy EyssenDie warme Sommerluft trägt den Duft von Zypressen, Honig und Jasmin durch die Straßen Nikosias. Doch der Fund einer Leiche überschattet die Idylle der Insel. Die junge Frau liegt erschlagen in der UN-Pufferzone, dem Übergang zwischen dem geteilten Zypern. Schnell entbrennt ein Machtkampf um die Ermittlungen zwischen türkischen undgriechischen Zyprioten, und die deutsche Polizistin Monika Marx wird als Beraterin eingesetzt. Sie verlebt ihre Rente auf der Insel und weiß, wie heikel die ganze Angelegenheit ist. Gemeinsam mit dem Journalisten Noah Liebig taucht sie in die tiefen Schatten der Zypressen ein, die Geheimnisse und Intrigen verbergen …

Hannah Essing

Die Tote von Nikosia

Ein Zypernkrimi

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: www.buerosued.deAutorenfoto: © privatE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-3142-3

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Epilog

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

»Mach doch nicht so ein Gesicht, Liebes«, pflegte ihr Vater zu sagen, wenn sie wütend war. Und sie war oft wütend. Manchmal fühlte sie sich, als wäre etwas in ihr gewachsen, stetig, seit dem Tag, als sie auf die Welt gekommen war. Sie hatte so lang versucht, es zu unterdrücken, doch es entfaltete sich viel zu gern, brach aus ihr heraus, erhitzte ihre Wangen und ihr Gemüt. Es war schon immer so gewesen, seit sie denken konnte.

Wut konnte eine soziale Kraft sein, ein Antrieb für Veränderung, so hatte sie es in einer Vorlesung gelernt, aber ihre Wut fühlte sich nicht an, als könnte sie etwas verändern: Wut fühlte sich nur nach reiner Zerstörung an. Und gerade wünschte sie sich nichts mehr als das. Sie wollte zerstören, sie wollte allem ein Ende setzen. Denn wenn die Welt nicht nach ihren Regeln spielte, wollte sie kein Teil davon sein.

Frauen waren genauso wütend wie Männer, auch das hatte sie gelernt, doch sie konnten aufgrund sozialer Strukturen ihre Wut weniger zeigen, als Männer es taten. Eine wütende Frau war verpönt, schon die Stimme zu heben zeugte von schlechtem Charakter. Heute kümmerte es sie kaum. Ihr Hals kratzte, trocken von den Beschimpfungen, die sie ausgestoßen hatte, in einer Lautstärke, in der sie sich selbst kaum wiedererkannte. Aber was brachte es schon, man selbst zu sein? Sollte das Selbst doch untergehen, es war ohnehin nicht stark genug, sich dem Zorn entgegenzusetzen.

Sie stapfte die Treppen hinunter in die Dunkelheit. Es war warm, doch sie zitterte in ihrem dünnen Oberteil. Eine Fledermaus flatterte über ihren Kopf hinweg. Sie ignorierte die Rufe hinter ihr, wollte nichts davon wissen. Sie bequemte sich nicht zu einer Antwort, wusste, dass nichts Gutes dabei entstehen konnte. Es war vorbei. Alles war vorbei. Vor allem das Gute. Sie würde nicht als Verliererin dastehen, dies verboten ihr Stolz und ihre Bitterkeit.

Die letzte Treppenstufe lag vor ihr, ihr Fuß berührte bereits die glatte Steinfläche. Da erschütterte ein Schlag sie, ließ ihren Schädel vibrieren. In ihren Ohren summte es, noch viel lauter, als ihre Schreie es gewesen waren. Es war ein dumpfer Schmerz, so schnell vergangen, wie er da gewesen war.

Schwindel überkam sie, dann Übelkeit, und auf einmal fand sie sich auf dem Boden wieder, die Arme ausgebreitet, die Handflächen nach oben gerichtet, als wollte sie die Welt umarmen. Die Beine von sich gestreckt, unwissend, dass sie gerade ihre letzten Schritte gemacht hatte.

Über ihr funkelten die Sterne. Die Fledermaus flog erneut vorbei, oder vielleicht war es eine andere, auf der Jagd nach Insekten, von denen es viele gab, wenn der Frühling kam. Der Schmerz in ihrem Kopf pochte unaufhörlich. Machte alle Gedanken zunichte. Nahm ihr die Wut. Der Zorn verflog. Sie war so müde. Als hätte sie Jahre nicht geschlafen. Sie würde die Augen schließen, nur einen Moment. Nur ganz kurz. Liebes, hörte sie ihren Papa sagen, ganz nah an ihrem Ohr. Liebes.

Ihr Körper verkrampfte sich, doch das bemerkte sie kaum noch. Sie spürte keinen Schmerz mehr. Sie spürte nichts mehr. Alles ging unter in einem Nebel aus Schmerz und Traurigkeit, bis es nichts weiter gab als die Dunkelheit, die sie verschluckte.

1

Der Mai roch nach Zypressen und Honig, einer Note Jasmin und langen Nächten in den Straßen Nikosias, gefüllt mit Gelächter, Alkohol und Reue. Der süße Dessertwein Commandaria, der typisch auf der Insel war, schmeckte zwar köstlich, sorgte aber für pochende Kopfschmerzen am nächsten Morgen für all die, die über die Stränge geschlagen hatten.

Moni lebte seit bald vier Jahren auf Zypern, und die Folgen, die der Commandaria hatte, waren nicht sanfter geworden. Im Gegenteil, mit jedem Jahr, das verging, schien das Aufstehen nach einer durchwachten Nacht schwerer zu sein. Dazu kam die Tatsache, dass sie im Grunde nicht einmal trinken durfte, zumindest wenn es nach ihrer Rheumatologin ging. Alkohol vertrug sich nicht mit ihren Medikamenten. Moni hingegen war der festen Überzeugung, dass ein gutes Glas Wein zur mediterranen Diät gehörte und die Menschen, die dieser folgten, gesünder und länger lebten. Irgendwo hatte sie einmal einen Artikel dazu gelesen.

Das gute Essen war, neben dem hervorragenden Wetter, einer der Gründe, warum sie ihre regnerische Heimat verlassen hatte. In der feuchten Kälte der Köln-Bonner Bucht hatten die Finger und Knie täglich geschmerzt, jedes Gelenk war geschwollen und schwerfällig gewesen, aber in der trockenen Hitze der Insel fühlte sie sich wie neugeboren. Außerdem mochte sie die Zyprioten: die Leichtigkeit des Mediterranen, in Verbindung mit der Gastfreundlichkeit des Mittleren Ostens, gepaart mit einer Anpassungsfähigkeit, die sich durch Jahrhunderte des Lebens unter verschiedenen Schirmherrschaften entwickelt hatte, und einer Ernsthaftigkeit, die aus dem Trauma entstanden war, das die Mittelmeerinsel in zwei Hälften gebrochen hatte.

In ihrer linken Hand hielt Moni eine orangene Plastiktüte, bis zum Rand gefüllt mit frischer Petersilie, Koriander, sonnengereiften Tomaten und Gurken, mit der rechten Hand drückte sie sich das Telefon ans Ohr. »Ich habe noch nichts gehört«, rief sie ihrem Ex-Mann entgegen. »Ich dachte, der Junge meldet sich, wenn er ankommt.«

Mit einem Kopfschütteln gab sie dem Verkäufer am Marktstand zu verstehen, dass sie nicht noch mehr Feigen brauchte, und als er ihr eine weitere Tüte entgegenstreckte, klemmte sie das Handy zwischen Ohr und Schulter und drückte ihm ein paar Euro in die Hand, ehe sie die süßen Früchte entgegennahm. In Deutschland waren Feigen nicht nur viel teurer, sie waren auch nicht mal ansatzweise so geschmackvoll wie auf der Mittelmeerinsel.

»Der Junge ist sechsundzwanzig, ich bin also unsicher, wie gut diese Bezeichnung zutrifft«, antwortete Tommy und lachte. Ihr erster Instinkt war, das Handy von sich zu schleudern: nicht, weil es ihr nicht gefiel, ihren Ex-Mann glücklich zu erleben, sondern viel eher, weil es ihr so gut gefiel. Es erinnerte sie an die Vergangenheit; ein Thema, dem sie sich ungern widmete. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie gemeinsam glücklich gewesen waren, nur lagen diese inzwischen so lang zurück, dass sie sich manchmal fragte, ob sie nicht längst Einbildung waren. Doch seine Stimme brachte die Gefühle zurück. Lieben war wie Fahrradfahren, hatte sie eines Abends festgestellt, den Flaschenhals eines Rotweins fest umklammert, man kam vielleicht aus der Übung, doch man verlernte es nie.

»Er ist so alt wie Lola«, antwortete sie, während sie den gepflasterten Straßen folgte und den mittelalterlichen Stadtkern verließ. »Und da sie für immer meine Kleine sein wird, ist für mich jeder in diesem Alter ein Kind. Auch dein Protegé.«

Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Er möchte eine Reportage schreiben. Über deine Insel. Dass du ihn ein bisschen dabei an die Hand nimmst, ist ein Gefallen, den du mir tust, nicht ihm.« Es gab genug Gefallen, die sie ihm schuldete, genug, was sie wiedergutmachen musste, doch er war nett genug, um sie nicht mit der Nase drauf zu stoßen.

»Ist ja schon gut«, sagte Moni schließlich. »Ich mach’s ja, aber ich meckere dabei.« Sie verabschiedete sich von ihrem Ex-Mann und steckte das Handy in die Hosentasche.

Der Ochi-Markt war voll und laut, und sie musste sich mit ihren Tüten an Marktschreiern, Müttern mit Kindern und entschlossenen Omas vorbeidrängen. Aber das war es wert: In der ganzen Stadt gab es nirgends so gutes Obst und Gemüse wie auf dem Markt innerhalb der Stadtmauern. Im Schatten der Bayraktar-Moschee verkauften Bauern ihre regionalen Schätze. Der besondere Name, Ochi, was auf Griechisch »Nein« bedeutete, erinnerte an das berühmte »Nein« des griechischen Premierministers Ioannis Metaxas im Zweiten Weltkrieg, ausgesprochen auf das italienische Ultimatum, sich zu ergeben. Ein Zeichen des Stolzes, wie so vieles in diesem Land.

Vom Stadtkern brauchte Moni nur wenige Minuten zu Fuß nach Hause, und sie genoss den kurzen Spaziergang. Noch war das Wetter angenehm, schon in wenigen Wochen würde es auch um diese Uhrzeit brütend heiß sein. Dann wäre Nikosia zwar noch grün, das umliegende Land aber vertrocknet. Für viele Touristen war es im Sommer daher ein Schock, wenn sie vom Flughafen in ihre Ferienresorts fuhren und sie statt eines farbenfrohen Paradieses nur eine braune Steppe begrüßte. Die sanften Hügel und weiten Täler sorgten auch dann noch für eine wunderschöne Landschaft, wenn man Moni fragte, nur eben ganz anders als erwartet.

Nikosia außerhalb der Stadtmauern war kaum mit dem Stadtkern zu vergleichen, dessen Gebäude historisch waren, koloniale Architektur mit geschmiedeten, verschnörkelten Balkonen und bunten Türen, wie einer Postkarte entsprungen. Im Rest von Nikosia mischten sich moderne Bauwunder mit mehrstöckigen Gebäuden, die kraftlos gegen die Zeit ankämpften. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung, die sich irgendwo zwischen beiden Extremen bewegte, lief sie an ihrem liebsten Gebäude vorbei, dem Tower 25, einem modernen Turm mit Hunderten von Fenstern, aus denen zahlreiche Pflanzen quollen, als hätten sie das Gebäude übernommen. Wenn man vorbeiging und genau hinhörte, vernahm man Affengeschrei. Moni wusste nicht, ob dieses von einem Band abgespielt wurde oder ob wirklich Tiere dort ein Zuhause gefunden hatten.

Nach nur wenigen Minuten bog Moni in ihre Straße ab und öffnete mit etwas Anstrengung die schwere Haustür. Das Schloss war rostig und damit vermutlich ein Sicherheitsrisiko, vor allem sorgte es aber dafür, dass der Schlüssel nicht leicht zu drehen war, gerade mit ihren vom Rheuma geschwächten Handgelenken ein lästiges Problem. Sie trug ihre Einkaufstüten die Treppen hoch und in ihre Wohnung. Die Sonne schien durch die Balkontüren in den Wohnraum, in ihre heiligen fünfzig Quadratmeter. Mit dem Ruhegehalt, das die Polizei ihr zahlte, war nicht viel mehr drin. Auch wenn sie manchmal von einer Villa am Strand träumte.

Moni schüttelte ihre Sandalen von den Füßen und schob ein anderes Paar Schuhe beiseite, damit sie nicht wieder da­rüber stolperte, und bahnte sich den Weg durch ihr Chaos in die Küche. Ihr Ex-Mann war immer der Ordentliche in der Beziehung gewesen, in den Jahren seit ihrer Trennung war es bergab gegangen. Alle zwei Wochen kam daher ihre Putzkraft, Rima, die kein Wort Englisch oder Griechisch sprach, aber einen hervorragenden Job machte. Und so musste Moni sich mit ihr durch Handzeichen verständigen und konnte auf Small Talk verzichten. Auch wenn sie es dann und wann genoss, wenn eine zweite Person in ihrer Wohnung war und geschäftig herumwuselte.

Auch die unausgeräumte Spülmaschine und der eingebrannte Fleck auf dem Herd ließen darauf schließen, dass dringend mal wieder jemand putzen sollte. Moni stellte die Einkaufstaschen auf der Anrichte ab und wusch sich die Hände, ehe sie eine kleine Dose aus dem Schrank holte, den Inhalt in eine Schüssel gab und diese auf den Balkon stellte. Sofort kam ein dünner Kater mit rot gestreiftem Fell angerannt und machte sich über das Katzenfutter her. »Lass es dir schmecken, kleines Flohbündel«, sagte Moni zu dem Gast, der sie so oft besuchen kam, ehe sie die Tür wieder hinter sich schloss. In der Wohnung wollte sie die Straßenkatze nicht haben. Egal, wie süß sie war.

Sie hatte gerade damit begonnen, ihre Einkäufe in den Kühlschrank zu räumen, als ihr Handy zum zweiten Mal an diesem Tag ein lautes Klingeln von sich gab. Es war wie verhext: Oft war tagelang Stille, aber heute schien die ganze Welt sich verschworen zu haben, ihr innerhalb kürzester Zeit größtmöglich auf die Nerven zu gehen.

Das Display wies den Anrufer als Giorgos Savvidis aus, den örtlichen Polizeichef. Sie war versucht, den Anruf zu ignorieren, doch ihr war klar, dass der Mann nicht lockerlassen würde. »Monika«, rief er ins Telefon, und sie verdrehte die Augen. Savvidis hatte die unangenehme Angewohnheit, so laut zu sprechen, als wäre jeder um ihn herum schwerhörig. Er verwechselte Lautstärke mit Autorität.

»Am Apparat«, gab sie zurück und schloss den Kühlschrank. Sie stellte sich ans Fenster, wo die Verbindung besser war.

»Wir brauchen dich sofort, es ist wichtig«, bellte er ihr ins Ohr. Sie mochte Giorgos Savvidis nicht. Er war ein Choleriker, dessen Geltungsdrang und Ehrgeiz – und diese Vermutung beruhte nicht nur auf ihrer Intuition, sondern auch auf ihrer ausgezeichneten Menschenkenntnis – ihm selbst und jedem, mit dem er arbeitete, eines Tages zum Verhängnis werden würden. Und da sie selbst nun seit beinahe drei Jahren regelmäßig als freie Beraterin von ihm zu Fällen hinzugezogen wurde, um die hiesige Polizei zu unterstützen, gehörte sie zu ebendiesem Personenkreis.

Ursprünglich hatte sie auf Zypern ihre Frührente genießen wollen, doch es hatte sich relativ schnell herauskristallisiert, dass sie nicht für ein Leben gemacht war, in dem sie nur an den Stränden von Limassol entspannte und durch das Troodos-Gebirge wanderte. Ihr fehlte ihr Beruf, ihr fehlte es, ihr Gehirn anzustrengen – für mehr als nur Kreuzworträtsel oder Sudokus. Oder griechische Deklinationen, auch wenn sie den Versuch, die Sprache zu lernen, schon nach einem halben Jahr aufgegeben hatte. Zum Glück hatten die Zyprioten nicht nur den Linksverkehr der Briten behalten, sondern auch eine Affinität für die englische Sprache.

»Wärst du etwas freundlicher, Savvidis, wäre ich gewillt, Ja zu sagen«, unterbrach sie ihn, und er machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge.

Er klang gehetzt. »Es ist ernst, Monika, es gibt eine Leiche.«

Ein Schweißtropfen bahnte sich den Weg von ihrem Haaransatz bis hin zur Nase. Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg. Ein Taxi bog in ihre Straße ein, am Steuer ein Fahrer mit einem dunklen Schnurrbart. Sie beobachtete das Fahrzeug, ehe sie sich wieder auf den Anruf konzentrierte.

»Wo?«, fragte sie, mit einem Mal komplett ernst.

»In der Pufferzone«, antwortete er, und er musste geahnt haben, dass ihr Herz für den Bruchteil einer Sekunde stehen bleiben würde, denn er machte eine Pause, in der sie die Information verdauen konnte.

Die Pufferzone: Das Niemandsland, kontrolliert von der Friedenstruppe der Vereinten Nationen, trennte die Insel in zwei Teile; im Norden das De-facto-Gebiet der Türkischen Republik Nordzypern, im Süden die Republik Zypern. Seit Beginn des Zypernkonflikts war die Pufferzone neutraler Boden, der einzige Ort, an dem die Präsidenten der beiden Nationen zusammenkamen. Die Pufferzone zog sich quer über die Insel, und viele der Bereiche waren komplett gesperrt, es gab nur einige seltene Videoaufnahmen, etwa vom verlassenen Flughafen, der in der Zone lag. Berichten zufolge standen im Sperrgebiet Autos mit offenen Türen und gedeckte Tische in leeren Häusern. Es glich einer Geisterstadt. Seit 2003 gab es einige Grenzübergänge und zudem einen Bereich, der sehr aktiv genutzt wurde. In diesem Teil der Pufferzone befanden sich einige NGOs, ein Community-Center und ein altes Hotel, in dem inzwischen UN-Soldaten unterkamen.

Savvidis’ Worte lagen ihr noch immer schwer im Magen, als er weitersprach. »Wir brauchen deine Hilfe hier vor Ort. Wann kannst du da sein?«

Moni betrachtete das Taxi, das vor der Tür zum Stehen kam. Ein schlaksiger, junger Mann mit einer großen Brille, der genau auf Tommys Beschreibung von dem Jungreporter Noah Liebig passte, stieg aus und kramte in seinem Portemonnaie. Sie war verwundert, dass er offenbar gleich vom Flughafen zu ihr gekommen war, statt erst ins Hotel zu fahren, aber jetzt passte ihr der Zufall sehr gut. »In zehn Minuten«, antwortete sie Savvidis und legte auf, ehe sie in ihre Turnschuhe schlüpfte und die Treppe hinunterrannte.

Noah wollte gerade die Autotür schließen, als Moni aus dem Haus trat. »Stopp!«, rief sie und sah in zwei Paar überraschter Augen. »Ich brauche das Taxi«, verkündete sie.

»Ich …« Der junge Mann zögerte. »Ich bin Noah?«, sagte er, und es klang wie eine Frage.

»Noah, ich brauche das Taxi, gehen Sie zur Seite.«

Er zögerte. »Ich … kann noch nicht in mein Hotel.« Seine Stimme klang verunsichert.

»Dann steigen Sie wieder ein«, meinte sie schroff. »Wir müssen an einen Tatort.«

Er tat wie geheißen, rutschte auf den Platz hinter dem Beifahrersitz, Moni platzierte sich neben ihm und wies den Fahrer an, wohin es gehen sollte. Er wirkte zufrieden bei der Aussicht, weitere Einnahmen durch die merkwürdigen Deutschen auf seiner Rückbank zu verzeichnen.

»Ein Tatort?«, fragte Noah überrascht, und seine Stimme zitterte vor Begeisterung und Aufregung. Der Junge brauchte einen Haarschnitt, dachte sie, als sie seine kinnlangen braunen Wellen betrachtete, die ihren eigenen nicht unähnlich waren. »Das ist ja cool.«

Sie sah den jungen Mann ernst an. Auf den ersten Blick erkannte sie kaum, was Tommy in ihm sah. Auch wenn ihr Ex-Mann selten falschlag, wenn es um das Potenzial anderer ging. »Ein Mord ist niemals cool«, sagte sie streng, als sich das Auto in Bewegung setzte. »Das ist Lektion Nummer eins.«

2

Noah wollte nicht zugeben, dass er jetzt schon mit der Situation überfordert war. Er war das erste Mal allein im Ausland. Und das mit Mitte zwanzig. Das letzte Mal, als er Deutschland verlassen hatte, war einige Jahre her. Mit seinen Volontariatskollegen war er in Polen gewesen, also nur einen Katzensprung entfernt. Als Thomas, sein Redaktionsleiter und Mentor, vorgeschlagen hatte, dass er eine Auslandsreportage machen könne, war das die perfekte Gelegenheit für ihn gewesen. Vor allem, weil es eine Fahrt mit Stützrädern sein sollte, so hatte Thomas es genannt, da auf Zypern seine Ex-Frau wohnte und Noah notfalls unterstützen konnte.

Monika wirkte aber nicht wie jemand, der mit Stützrädern vergleichbar war. Eher mit Offroad-Mountainbiken. Er eilte hinter ihr her durch die Ledra-Straße, an deren Anfang der Taxifahrer sie rausgelassen hatte, und fragte sich, wann der richtige Moment gekommen war, ihr zu sagen, dass bei seiner Hotelreservierung etwas schiefgelaufen war und er heute Nacht eine Unterkunft brauchte. Bisher wirkte es nicht so, als würde dieser Moment kommen. Bei manchen Menschen gab es keine richtigen Zeitpunkte, es gab nur ein offenes Messer, in das man freiwillig lief.

Immerhin war das, was er bei ihrem Gewaltmarsch von Nikosia sah, schön. Die Gebäude waren hellgelb, und überall saßen Menschen vor Lokalen und aßen Gyros oder tranken Kaffee. Sein Magen knurrte, doch er wagte es nicht, nach einer Pause zu fragen. Er war irgendwie in dieser Situation gelandet, und nun musste er es aushalten wie ein, na ja, wie ein richtiger Journalist eben.

Die Sonne fiel durch die orangefarbenen Stoffdreiecke, die über der Straße gespannt waren, eine Dekoration, die der Stadt noch mehr Urlaubsfeeling verpasste. Wenn er doch nur genug Zeit hätte, sich umzuschauen.

»Wohin genau gehen wir?«, wagte er zu fragen, und Monika sah zu ihm. In ihren Augen war eine Ruhelosigkeit, ihr Kiefer war angespannt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie und Thomas einmal zusammen gewesen sein mussten; Thomas, der so ruhig und ausgeglichen war. Es wollte nicht ganz passen. Aber gut, vermutlich gab es Gründe dafür, warum sie nun schon einige Jahre getrennt waren. Er würde sich hüten, danach zu fragen.

»Wir nehmen den Checkpoint dahinten«, sagte sie und deutete auf einen kleinen Container, den er nur erahnen konnte. Er schob seine Brille zurecht. »Da geht es in die Pufferzone. Nach der Pufferzone kommt der nordzypriotische Teil. Darüber bist du aber informiert.«

Sie formulierte es nicht wie eine Frage, und trotzdem beeilte er sich, zu bejahen. Er hatte viel über die Insel mit der letzten geteilten Hauptstadt – seit Berlin – in der EU gelesen, auch wenn er noch immer nicht jede Facette davon begriffen hatte. Aber dafür war er ja hier. Das würde schon noch kommen.

»Krass, der Übergang ist ja echt direkt in der Innenstadt«, sagte er, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht für dumm verkaufen würde.

Doch sie nickte nur. »Ist nicht der einzige, aber ja, dieser ist sehr zentral. Man kann die Pufferzone nur zu Fuß betreten, es gibt aber auch einen Übergang in Nikosia, um mit dem Auto auf die andere Seite zu fahren, ohne Zwischenstopp in der Pufferzone. Alles Teil des Alltags. Zumindest seit 2003.«

Noah hob seinen Koffer, trug ihn über einige Meter Pflastersteine. Er war nicht vorbereitet auf einen Tatort, er war nicht mal darauf vorbereitet, durch eine fremde Stadt zu laufen. Er trug eine Jogginghose, weil er im Flugzeug gemütlich hatte sitzen wollen, und ausgelatschte Converse. Aber wenigstens waren es keine Sandalen. Mit Sandalen an einen Tatort zu gehen war sicher ein Fauxpas. Vielleicht war er, und der Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal, einfach nicht vorbereitet aufs Leben.

Schon immer hatte er den Eindruck, einfach in Situationen zu stolpern, statt sich selbst in sie zu begeben. Journalismus hatte er nur studiert, weil seine erste Freundin unbedingt Journalistin werden wollte. Während er seine Leidenschaft darin fand, brach sie ab und folgte ihrer neuen Bestimmung als Lehrerin. Nach dem Bachelor schickte seine Mutter ihm die Stellenanzeige für die Redaktion, die Thomas leitete, und nun war er auf Thomas’ Vorschlag hier. Bisher hatte ihn der Zufall immer in die richtige Richtung geweht, aber ob er auch diesmal recht behielt, stand noch aus.

Sie näherten sich dem Grenzübergang, der gar nicht so dramatisch aussah, wie Noah sich ihn vorgestellt hatte; nur zwei Container, einige Menschen in einer Schlange und Polizeibeamte, die Pässe kontrollierten. Zu seiner Rechten stand eine grüne Bank, darüber ein Mosaik, auf dem ein einfaches Wort in Großbuchstaben stand: Peace. Die simple Schönheit dieses Ortes berührte ihn einen Moment. Dann hetzte er auch schon wieder hinter Moni her.

Zwei Personen standen in der Schlange vor ihnen, und die Beamten überprüften ihre Ausweise mit einer Langsamkeit, die Moni offensichtlich zum Brodeln brachte. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte damit so manchem Türsteher Konkurrenz. Ihre Oberarme waren erstaunlich muskulös, der Rest ihres Körpers drahtig. Geduld war nicht ihre Stärke, so viel stand fest, als sie schließlich an den Schalter trat und ihren Pass über die Theke schob.

»Wir sind hier, um Savvidis zu sehen«, erklärte sie, und der Mann nickte, ehe er einen Blick auf Noahs Pass warf und beide durchwinkte. Das Gleiche passierte am nächsten Container, diesmal besetzt von nordzypriotischen Beamten, nur dass Monika hier nicht den Namen nannte, den sie vorher erwähnt hatte.

»Was passiert jetzt?«, fragte Noah sie, und sie sah überrascht aus, als hätte sie fast vergessen, dass er sie begleitete. »Jetzt schaue ich, was der Tatort hergibt. Und du hältst dich im Hintergrund und bist still.«

»Monika«, begann er. »Ich find’s echt cool«, er unterbrach sich hastig, »spannend, dass ich mit dabei sein darf. Danke. Was ich noch sagen wollte –«

Sie winkte ab. »Erst mal am besten gar nichts. Still, du erinnerst dich?« Ihre Mundwinkel zuckten, und von ganz allein taten seine es ihr nach.

»Okay. Still«, wiederholte er und nickte, ehe er nervös seine Brille abnahm, sie mit dem Ärmel seiner Kapuzenjacke putzte und anschließend mit dem Zeigefinger wieder auf seine Nase schob.

Gleich hinter der Grenze begann ein Chaos, mit dem er nicht gerechnet hatte: Überall liefen Polizisten und Soldaten geschäftig herum, und ein Gewirr aus Sprachen erfüllte seine Ohren. Griechisch, Türkisch, Englisch konnte er identifizieren, aber er war sich beinahe sicher, dass auch noch die eine oder andere dabei war, vermutlich von den Blauhelmen, die sich unter die lokalen Autoritäten gemischt hatten. Sie waren gut zu erkennen – an den blauen Helmen mit der weißen UN-Aufschrift. Dagegen konnte er nicht bestimmen, zu welcher Seite welche Soldaten gehörten. Er zweifelte aber nicht daran, dass Monika genau wusste, um wen es sich bei ihnen handelte.

»Weißt du, wer die alle sind?«, fragte er sie trotz seines Sprechverbots, und sie zuckte mit den Schultern.

»Nicht bei allen. Wir haben die Blauhelme plus Polizei aus dem Norden und dem Süden. Aber die zypriotische Nationalgarde und das nordzypriotische Gegenstück kann ich aus der Entfernung kaum auseinanderhalten, dafür müsste ich schon die Epauletten und Abzeichen sehen. Vielleicht brauche ich auch eine Brille.« Er fragte nicht, was Epauletten waren. Stattdessen betrachtete er weiter den Trubel und blieb nah an Monikas Seite.

Ein großer, breiter Mann kam auf sie zu, schüttelte Monika die Hand, Noah aber ignorierte er. Moni fand, dass Polizeichef Savvidis ein attraktiver Mann war, trotz Glatze. Oder vielleicht deswegen. Er war nicht schlank, man sah ihm an, dass er gutes Essen genoss. Ihr ging es ebenso, sie war in den letzten Jahren weicher um die Hüfte geworden. Doch sich auf Kosten ihres Hedonismus der Askese zu widmen war kaum ihr Stil. Giorgos Savvidis schien es ebenso zu sehen, auch wenn er es vermutlich nicht zugeben würde. So wie sie niemals zugeben würde, dass sie ihn für attraktiv hielt. Seine Arroganz war schon jetzt kaum auszuhalten. Sie würde nicht noch mehr Öl in die Flamme gießen.

»Komm mit«, wies Savvidis Moni an, und Noah trottete hinter ihr her wie ein heimatloser Welpe.

»Was ist passiert?«, fragte Moni. Auf dem Weg hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen. Eine Prügelei, die außer Kontrolle geraten war? Eine Schießerei? Die Möglichkeiten waren endlos und doch begrenzt.

»Eine Tote«, sagte der Polizeichef. »Ein junges Mädchen.« Monis Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte es so oft gesehen in den Jahren im Polizeidienst: Überall auf der Welt verletzte man kleine Mädchen. Ob Norden oder Süden, das machte keinen Unterschied, egal, wohin man ging, es war das Gleiche. Moni schüttelte den Kopf. »Todesursache?«

»Pappas arbeitet dran«, sagte er. Nikolaos Pappas war der Kriminaltechniker, der in der Spurensicherung arbeitete, ein alter Grieche, der dem Stress in Athen entflohen war und hier auf seinen Ruhestand hinarbeitete. »Leider ist er nicht der Einzige, der den Tatort untersucht, daher kann das noch etwas dauern.« Er verzog das Gesicht. Monika schwieg. Sie hatte früh gelernt, sich nicht in die Streitigkeiten der geteilten Insel einzumischen. In ihre Verbrechen, ja. In ihre Historie nicht.

»Woher kam sie?«, fragte sie dennoch, und erneut legte sich ein Schatten über die Züge des hochgewachsenen Mannes. »Norden«, sagte er. »Aber wir überlassen den Tatort nicht Yilmaz und der UN-Polizei, wir haben genauso einen Anteil an der Aufklärung zu leisten.«

Moni widersprach nicht. »Kann ich den Tatort sehen?«, fragte sie stattdessen. Sie wollte der Spurensicherung nicht im Weg sein, aber sie konnte sich kaum in den Fall reindenken, wenn sie nicht gesehen hatte, was passiert war. Sonst fühlte es sich wie reine Theorie an, und darin war sie nie gut gewesen. Sie war zweimal durch die theoretische Führerscheinprüfung gefallen und hatte sich vor vielen Jahren mit dem Eignungstest für die Polizei schwergetan. Aber in praktischen Dingen, da hatte sie was drauf. Das stand außer Frage.

Und nur deswegen hatte Savvidis sie hergerufen, denn abgesehen von äußerster Professionalität und Respekt für die Arbeitsweise des jeweils anderen hatten sie nur eines gemein: eine außerordentliche Abneigung füreinander. Solange diese ihnen bei der Arbeit nicht in die Quere kam, und bisher tat sie das nicht, störte Moni sich nicht daran. Eine der wichtigsten Lektionen beim Älterwerden war, dass die Meinung anderer viel weniger zählte, als man dachte.

»Ich hab die Theorie –«, begann Savvidis, doch Moni winkte ab.

»Erspar mir deine Theorien.« Sie beobachtete, wie sein breiter Hals rot anlief. Es war sicher nicht das erste Mal an diesem Tag. Aber wenn sie das Mordopfer ansah, wollte sie nicht bereits den Kopf voller möglicherweise schwachsinniger Ideen haben und schlimmstenfalls etwas übersehen. Sie wollte unbefangen sein, denn nur dann konnte sie gut ermitteln. Damit musste Savvidis klarkommen, wenn er sie hierhaben wollte. Wo war überhaupt der Junge? Sie sah sich um und stellte überrascht fest, dass er direkt hinter ihr stand und seinen Koffer noch immer mit sich schleppte. Den konnten sie sicher irgendwo abstellen. Aber sie sollte dafür sorgen, dass er nicht zu nah an die Leiche herankam, damit er nicht gleich am ersten Tag Tommy anrief und ihm davon berichtete, dass sie ihm ein Trauma sondergleichen beschert hatte. Was war ihr überhaupt eingefallen, ihn mitzunehmen? Aber er hatte so verloren ausgesehen, und sie hatte ein Taxi gebraucht. Also war sie zur Babysitterin geworden. Eine absolute Übersprungshandlung. Und sie hatte nicht mal die Zeit gehabt, sich Socken anzuziehen. Sie spürte, wie eine erste Blase entstand, dort, wo ihre nackte Ferse am Inneren des Turnschuhs rieb.

»Kann ich sie sehen?«, fragte Moni, und Savvidis nickte. »Gleich. Erst muss ich dir noch jemanden vorstellen. Eine Landsfrau, ihr werdet euch sicher hervorragend verstehen.« Erst jetzt sah er Noah genauer an. »Und wer ist das eigentlich?«

»Das ist …« Moni zögerte. »Mein Assistent.«

Noahs Augen leuchteten auf, und er lächelte Savvidis höflich an. »Noah Liebig, aus Köln. Ich bin Journalist.« Savvidis kam so abrupt zum Stehen, dass es Moni nicht gewundert hätte, wenn seine Hacken sich in den Boden gegraben hätten.

»Du bringst einen Journalisten mit zu einem Tatort, Monika?!«, fragte er, und seine Stimme wackelte gefährlich, als müsste er sich bemühen, nicht zu schreien. Monika selbst hätte ihm gerne die Arbeit abgenommen und Noah an Ort und Stelle erdrosselt, aber ein zweites Mordopfer wäre zu viel für einen Tatort gewesen. Sie warf Noah einen Blick zu, der bedeutete, dass er ihr das Reden überlassen sollte.

»Er ist mein Neffe«, log sie. Es war eine Vereinfachung der parasitären Beziehung, die sie miteinander hatten. »Und er wird sicher nicht über diesen Fall berichten. Er ist nur hier, um mich zu unterstützen. Wenn du sichergehen willst, nimm ihm sein Handy ab, dann kann er nichts aufnehmen, was ihn nichts angeht. Aber ich verbürge mich selbstverständlich für ihn.« Eine Tatsache, die ihr sauer aufstieß. Sie kannte den Jungen ja nicht einmal.

Savvidis streckte die Hand aus, Noah zog sein Handy aus der Hosentasche und platzierte es in der riesigen Pranke. Der Polizeichef und Moni starrten gleichermaßen verwundert auf das alte Klapphandy, das kaum die Hälfte der Handfläche einnahm. Damit hätte Noah im schlimmsten Fall nicht mal ein Foto machen können.

»Ich versuche, nicht zu viel Zeit online zu verbringen«, sagte Noah zerknirscht, und die beiden Ermittler verdrehten gleichzeitig die Augen. Dann steckte Savvidis das alte Ding in seine Hosentasche und marschierte weiter. Die beiden Deutschen folgten ihm.

Die von Savvidis angekündigte Person war in ein Gespräch mit einem Blauhelm vertieft, als das Trio auf sie zukam. Sie war klein, und ihr rötlich blondes Haar war zu einem strengen Dutt im Nacken gebunden. Auf ihrem Kopf saß ein hellblaues Barett, das sie als Teil der UN-Polizei auswies. In der Pufferzone hatte seit 1974 jeder was zu sagen, der eine der blauen Kopfbedeckungen trug. Und in dieser besonderen Situation war es die überraschend junge Frau, die sich nun zu ihnen umdrehte und Moni fest die Hand schüttelte. »Officer Bruch«, stellte sie sich vor. »Hallo, Frau Marx, Chief Savvidis hat Sie bereits angekündigt.« Sie musterte Moni von oben bis unten. Sie konnten unterschiedlicher nicht sein: Bruch war keinesfalls älter als Mitte dreißig, jedes Haar saß perfekt, genau wie ihre Uniform. Monis Bluse hingegen war zerknittert von ihrem Einkauf und der Taxifahrt, und ihre Haare alles andere als frisch gekämmt. Zudem war sie mindestens zwanzig Jahre älter als Bruch.

Aber wer sich so früh in eine solche Position hochgearbeitet hatte, musste kompetent sein. Und vor Kompetenz hatte Monika Marx Respekt. Sie wollte, dass Bruch sich ihre eigene Meinung über sie bildete und nicht vom arroganten Polizeichef beeinflusst wurde.

»Freut mich«, sagte sie deswegen schlicht. »Ich hab in der Vergangenheit Savvidis und sein Team öfter unterstützt, zuletzt bei einem Vermisstenfall einer deutschen Touristin«, erklärte sie. »Ich helfe also gerne als freie Beraterin aus.«

»Ich leite diese vorübergehende Mordkommission«, erklärte Bruch. Sie schüttelte Noah die Hand, der sie mit großen Augen ansah und diesmal glücklicherweise seine Profession nicht erwähnte. »Aufgrund der politisch außergewöhnlichen Situation ist zudem Chief Savvidis dabei, und Chief Yilmaz von der türkisch-zypriotischen Polizei. Jeder von uns hat außerdem ein eigenes Team zusammengestellt. Ich bin also nicht sicher, ob Ihre Expertise, so langjährig diese auch sein mag, vonnöten ist oder ob wir mit einer Polizistin aus Deutschland nicht noch mehr Parteien haben, die sich einmischen.«

Savvidis öffnete den Mund, doch Moni war schneller. »Ehemalige Polizistin«, korrigierte sie und strich sich die Haare aus der Stirn. Es wurde warm, und die ersten Strähnen klebten an ihrer Haut. »Savvidis hat mich hinzugezogen, und ich will gerne unterstützen. Mir geht es um nichts anderes als einen gelösten Fall. Die politischen Verstrickungen gehen mich nichts an.«

Bruch kniff die Augen zusammen. »Ich bringe Sie zur Leiche. Dann können Sie sich ein Bild machen. Aber sobald ich das Gefühl habe, dass Sie Ihre Grenzen als Beraterin überschreiten, sind Sie raus.«

»Damit kann ich leben«, antwortete Moni. Es war nicht der richtige Moment, um zu diskutieren, vorerst musste sie Bruchs Skepsis hinnehmen. Sie sah Savvidis an. »Würdest du Noah einen Sitzplatz außerhalb der Sonne und ein Glas Wasser besorgen?« Es war schlimm genug, dass sie ihn an einen Tatort gebracht hatte, er würde sie nicht auch noch zu einem toten Mädchen begleiten müssen. Widerstrebend nickte Savvidis und führte Noah davon. Der junge Mann sah über seine Schulter zu Moni, blinzelte überfordert. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, ehe sie sich an Bruch wandte. »Ich bin bereit.«

Sie war nicht bereit. Es war nicht ihr Magen, der ihr zu schaffen machte, über das Stadium war sie schon lang hinaus. Außerdem war die Leiche nur wenige Stunden alt. Aber sie war ein junges Mädchen, nicht viel älter als ihre Tochter. Und sie wollte es sich nicht vorstellen: Lola, in der gleichen Position, am Fuße einer Treppe, die Arme von sich gestreckt. Die Augen starr in den Himmel gerichtet.

Ein Polizist, so jung, dass sein Gesicht Flaum und kein Bart zierte, bekreuzte sich beim Anblick der Leiche. Moni glaubte nicht an Gott, aber sie glaubte daran, dass symbolische Rituale tröstend sein konnten. Viele der griechischen Zyprioten waren sehr gläubig und Teil der orthodoxen Kirche. Nur die jüngeren Generationen waren weniger religiös – bis auf den Polizisten vor ihr, offenbar.

»Wollte sie rein oder raus?«, fragte sie Bruch.

Diese riss sich von dem Anblick der Toten vor ihnen los. »Wie bitte?«

Moni deutete auf die Treppe vor dem Haus des Friedens. »Ist sie gekommen oder gegangen?«

Das Haus war eine Begegnungsstätte für Nord- und Südzyprioten, ein Zeichen für den Frieden, im Bemühen, eine Brücke zu bauen. Und jetzt war es eine letzte Ruhestätte für das Mädchen vor ihnen geworden.

»Wir wissen es nicht«, antwortete Bruch.

»Wissen wir denn, wer sie ist?«, fragte Moni.

»Ihr Ausweis fehlt.« Moni runzelte die Stirn. Man konnte die Pufferzone nicht ohne Ausweis betreten oder verlassen. Wer auch immer ihr das angetan hatte, hatte also auch ihren Ausweis mitgenommen.

»Nicht nur das. Auch ihr Handy fehlt. Wir haben versucht, es zu orten, aber es ist ausgeschaltet.«

»Ein Raubüberfall?«