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Vier Außenseiter auf der Flucht: Staci, Ray, Ernie und Coral hauen mit geklautem Drogengeld ab nach Texas, wo sie in einem abgelegenen Haus etwas finden, das sie nie zu träumen gewagt hätten: Zugehörigkeit, Vertrauen und Liebe. Und je länger sie in dieser vom Schicksal zusammengewürfelten Gemeinschaft leben, desto mehr wächst jede und jeder über sich hinaus. Doch die Tage ihres zerbrechlichen Glücks sind schon lange gezählt.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jardine Libaire
roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Regul
Diogenes
Dies ist eine Liebesgeschichte, nebenbei gesagt.
Niemand im Camp hatte das Mädchen erwartet, denn ihr Cousin hatte sie nicht angekündigt. Er arbeitete an dem Tag zusammen mit Ernie, und vielleicht hatte er Schiss vor den Bienen gekriegt und es vergessen. Später, beim Abendessen, frotzelte Ernie über Vick, den bösen Cousin.
An jenem Morgen brodelte das Leben sowieso schon, es war heißer als sonst zu dieser Jahreszeit. Die rechtwinklig angeordneten Bungalows kauerten sich unter den Rot-Eschen zusammen wie die Tiere, die hier in Oklahoma im Frühling ganz instinktiv träge und faul im Schatten blieben. Die meisten Bewohner der Anlage schliefen noch, aber vier Männer in Carhartt-Shorts und mit nacktem Oberkörper – Jared, Vick, Carlos und Ernie, der die Unternehmung leitete – versetzten den wild summenden Bienenstock von seinem Platz in der Nähe von Tims Privatbaracken weiter weg auf die Wiese.
Mann, sind die nervös, sagte Ernie.
Ernie war erst vierunddreißig, aber sein Gesicht war abgewetzt wie ein Stein in einem Fluss und seine langen rötlichen Haare von der Sonne ausgebleicht. Er war groß und dünn, ein schräger Vogel, ein Original. Er hatte mandelförmige Augen, seine Nase war mehr als einmal gebrochen gewesen. Abgesplitterte Zähne, rotblonde Armbehaarung, die in der Sonne leuchtete – Ernie sah aus wie ein Stricher-Jesus von einem anderen Planeten, aber vermutlich hatte er einfach einen mexikanischen oder Choctaw-Großelternteil.
(Man hatte ihn als Baby, vielleicht eine Woche alt, in einer Tankstellentoilette gefunden, eingewickelt in ein blau-schwarz kariertes Flanellhemd. Er hatte den Zeitungsartikel gesehen. Na ja, eigentlich war es kein Artikel, nur zwei Zeilen in der El Reno Tribune vom 16. Januar 1962, und aufgeklärt worden war das Rätsel nie.)
Ernie spürte, wie Tim sie durch die Fliegengittertür seines Hauses beobachtete, mit undurchdringlicher Miene, die muskulösen Arme verschränkt. Tim hatte letzte Nacht geträumt, es würde Unglück bringen, wenn der Bienenstock so nah am Zimmer stand, in dem er und seine Frau (hochschwanger mit ihrem gemeinsamen Kind) schliefen, und deshalb müsste das jetzt mal schleunigst erledigt werden.
Die Sache war die: Der Traum stimmte. Wenn Tim bloß kapiert hätte, was er wirklich bedeutete, dann wäre vielleicht alles anders abgelaufen, dann hätten vielleicht alle überlebt. Aber er kapierte es nicht.
Mann, sind die laut, bemerkte Tim, nutzlos wie immer. Seid ihr sicher, dass ihr das richtig macht?
Sie wollen halt nicht versetzt werden, sagte Ernie genervt. Das bringt sie durcheinander.
Na ja, ich glaube nicht, dass man ihnen die Laune verderben kann, erwiderte Tim in seinem Boss-Tonfall und suchte die Blicke der anderen Jungs, um zusammen mit ihnen Ernie auszulachen. Es sind nur Bienen.
Vorsichtig, sanft, auf Zehenspitzen schoben die Männer den Bienenstock über den holprigen Boden, bis sie ungefähr hundertfünfzig Meter von den Haupthäusern entfernt waren. Dann stellten sie die Sackkarre ab und schoben den Stock ins hohe Gras.
Und jetzt?, fragte Jared und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe.
Wir lassen sie raus, sagte Ernie und entfernte ganz langsam den Fluglochkeil. Okay, immer mit der Ruhe. Er bekam drei Stiche in den Nacken – bam bam bam – und hüpfte vor Schmerz. Oh, fuck!
Alles in Ordnung?, fragte Vick besorgt.
Jared verzog das Gesicht. Mann, ich glaub, sie haben dich dreimal erwischt.
Ist nicht schlimm, grummelte Ernie und schlich zurück zu den Häusern.
Tims Zähne leuchteten hell im Türschatten, aber er sagte: Was? Ist nicht lustig, ich lache nicht.
Wortlos ging Ernie an ihm vorbei und riss die Fliegengittertür zur Küche auf. Cupid, wie immer mit Beanie und Lippenring, schälte gerade Kartoffeln, und er schnitt eine rohe Zwiebel auf, damit Ernie sie sich auf die rot angeschwollenen Stiche halten konnte.
Danke, Kumpel, sagte Ernie.
Kein Problem, sagte Cupid, ohne eine Miene zu verziehen, aber dann lächelte er: Sieht aus wie ein Knutschfleck.
Wenn du meinst, grinste Ernie.
Er checkte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und stellte sich vor, die Schwellung wäre ein Knutschfleck. In seinem Innern tobte ein wohlbekanntes Chaos. Er bekam kaum einen Gedanken zu Ende – es war ein einziger wilder Wirbel aus Wut, Hass, Scham und Sehnsucht. Und alles wegen Tim. Ernie hatte sich nützlich machen wollen. Und wie üblich endete es damit, dass Tim sich über ihn lustig machte. Wer war Tim denn schon? Die Anlage gehörte doch in Wirklichkeit seinen Onkeln, er wohnte hier nur, der Schmarotzer.
Aber jedes Mal, wenn Ernie länger darüber nachdachte, kriegte er schlechte Laune, denn in dieser Welt hatte Tim nun mal trotzdem das Sagen über das Gelände und die Häuser, auch wenn er es überhaupt nicht verdiente. Wenn die Realität Ernie so erwischte wie in diesem Moment, war er manchmal wie gelähmt. Er stand da und starrte auf den Küchenfußboden, und er wusste genau, wie bescheuert er aussah – als hätte ihm jemand für zehn Minuten den Stecker gezogen. Als es vorbei war, wollte er nur noch ins Bett, schweißglänzende, tätowierte Brust, lange, ungekämmte Haare, sein ganzes jämmerliches Dasein. Für mehr als das reichte seine Energie nicht. Aber in diesem Moment kreuzte sie auf.
Der total verbeulte silberne Minivan holperte über die lange, unbefestigte Einfahrt wie ein Kleinstadt-Leichenwagen. Heraus sprang ein verklemmtes Pärchen. Oder vielleicht wirkten die zwei nur so verklemmt, weil ihr Vorhaben sie nervös machte. Später erfuhr Ernie, dass dies die Halbschwester war, die sich nach dem Tod der Großmutter Inez um das Mädchen gekümmert hatte. (Vorher hatte es jahrelang bei der Großmutter gelebt.) Aber jetzt wollte die Halbschwester einen mexikanischen Cowboy aus Ojinaga heiraten – einen sehr katholischen, sehr strengen, sehr langweiligen Mann –, und in ihrem Mobile Home war kein Platz für das Mädchen. Was irgendwie nicht besonders christlich klang, aber nun waren sie jedenfalls da und schienen fest entschlossen, die Kleine hier abzugeben.
Der Cowboy hatte einen dicken Schnurrbart und trug Bundfaltenjeans. Das Pärchen wartete am Wagen, bis die hintere Tür des Vans endlich aufgeschoben wurde und Coral ausstieg. Sämtliche Bewohner der Anlage beobachteten sie, aus ihren Schlafzimmern, aus der Garage, wo immer sie gerade waren.
Holiday Ray stand mit einer Zigarette am Fenster, und er sagte zu Staci, die noch im Bett fläzte: Neuzugang. Jahre später sollten die beiden diesen Moment noch einmal aus der Versenkung holen, um zu begreifen, was passiert war. Aber als das Mädchen ankam, rechnete Ray nicht eine Sekunde lang damit, dass dieser Teenie Einfluss auf ihr Leben haben würde – klar, auf das Leben von anderen vielleicht, aber doch nicht auf seins und Stacis. Er interessierte sich mehr für die nächste Zigarette. Komm her, Baby, sagte Staci, die sich mehr für Ray interessierte.
Das Mädchen hatte eine weiße, hier und da vergilbte Reisetasche mit abgenutztem Griff dabei, die ihrer verstorbenen Großmutter gehört hatte, außerdem einen Discman mit riesigen Kopfhörern und einen anscheinend mit Klamotten vollgestopften Müllsack. Das Pärchen redete mit Tim, der seine Willkommen-in-meiner-Welt-Miene aufgesetzt hatte, aber die Kleine machte den Mund nicht auf. Sie sagte kein einziges Wort. Die vier standen mit verschränkten Armen unter der Lebenseiche und wippten auf den Absätzen, dann drückte der Cowboy Tim einen Umschlag in die Hand.
Für Ernie, der das Ganze heimlich von der Küchentür aus beobachtete, sah das Mädchen nicht aus wie eines der Kids, die nach Sauftouren bei ihnen landeten oder nachdem sie eine Zeit lang in Albuquerque oder Dallas auf der Straße gelebt hatten, aus dem Heim geflogen oder auf Kaution draußen waren. Sie hatte glatte blonde Haare, nicht kurz, aber auch nicht richtig lang, blaue Augen, und mit ihren schwarzen Socken mitten im Sommer, dem Hanes-T-Shirt und der abgeschnittenen schwarzen Jeansshorts konnte sie zwölf und sehr groß für ihr Alter sein, aber genauso gut zweiundzwanzig und noch nicht kaputt vom Leben. In Wirklichkeit war sie siebzehn. Sie war nicht einfach ein Klumpen Lehm. Das Licht pulsierte durch sie hindurch wie durch eine Yuccablüte oder einen Spinnenkokon. Durch die Zellulose. Vielleicht wollte Ernie in ihrem Gesicht Angst erkennen, aber da war keine, und vielleicht konnte er sie deshalb zuerst nicht leiden.
Die Halbschwester sagte: Das ist Coral, ähm, sie ist ein braves Mädchen, meistens zumindest, jedenfalls ist sie nicht besonders schlimm. Sie hatte einen Unfall, als sie klein war, und ihr Gehör ist hinüber, aber normalerweise erkennt sie, was man sagt. Na ja, und reden tut sie eigentlich auch nicht. Aber sie kann gut putzen und Unkraut jäten und Wäsche falten, solche Sachen.
Tim nickte. Alles klar. Willkommen.
Coral gab ihm nicht die Hand und hielt sie auch nicht hoch, um Hi zu sagen. Sie lächelte mit dem Mund, aber nicht mit den Augen. Ihre vorderen Schneidezähne waren zueinander geneigt, was frech oder unbekümmert aussah, aber vielleicht stimmte das gar nicht.
Tim nickte die ganze Zeit, als versuchte er, sie einzuschätzen. Wir haben hier so einige komische Gestalten, sagte er in aufgesetzt albernem Obermacker-Ton. Sind aber alle sehr anständig. Ein paar echt nette Spinner.
Sie redeten noch eine Weile, dann seufzte die Halbschwester und umarmte Coral zum Abschied. Das Mädchen ließ es über sich ergehen. Die Halbschwester und der Cowboy sahen die Kleine ein letztes Mal lange an und wurden rot, schuldbewusst, als würden sie einen Konzertflügel am Highway im Regen stehen lassen. Dann fuhren sie weg, und Ernie versuchte, all die Jesus-Aufkleber auf dem Heck ihres Autos zu entziffern.
Tim und Coral verschwanden in einer der blauen Baracken, wo er ihr ein Zimmer zuwies und wartete, während sie die fleckige Matratze mit einem verschlissenen, fast schon durchsichtigen Laken bezog und ihren Müllsack in die Ecke schmiss.
Okey-dokey, dann zeig ich dir mal alles, sagte Tim.
Er führte sie durch die Anlage und wies mit großer Geste auf die vierzig Hektar, aber bis in den Wald oder so ging er nicht mit ihr. Alle wussten, dass Tim kein Naturliebhaber war wie Ernie; er hockte lieber am Picknicktisch und belehrte alle um sich herum über die Illuminati oder saß mit seiner Frau vor dem Fernseher. Jetzt zeigte er Coral die Küche, die Badezimmer und Duschen, den Wäscheschuppen und die Wäscheleine. Sie sah sich alles genau an, und ihre blauen Augen waren am Rand ein bisschen gerötet, nicht so, als hätte sie geweint, eher als wäre sie müde und wollte vielleicht lieber allein sein und sich hinlegen.
Ehrlich, es schlaucht mich dermaßen, hier den Laden zu schmeißen, ich mache das echt nur aus Liebe zur Sache, erzählte Tim und hielt ihr eine Tür auf. In Wirklichkeit kochten und putzten die anderen, während er von morgens bis abends Talkradio hörte und auf der Veranda Hanteltraining machte, aber egal.
Ernie kam um die Ecke und tat überrascht. Hey, was geht? Ich bin Ernie.
Tim sagte zu Coral: Und er hier kann dein persönlicher Diener sein.
Oh, wow, wahnsinnig komisch, sagte Ernie sarkastisch.
Wieso?, meinte Tim. Du wärst bestimmt gut.
Er macht Witze, sagte Ernie zu der Kleinen.
Aber Coral hatte den Blick auf die Veranda gerichtet.
Tja, wir müssen dann mal weiter, Ernie, sagte Tim mit geheuchelter Höflichkeit, denn es kam ihm gerade recht, dass das Mädchen Ernie schon nicht mehr beachtete.
Ernie setzte sich an den Picknicktisch und zündete sich eine Zigarette an, während Tim seine Besitztümer zur Schau stellte, Coral den Garten voller Kohlköpfe und Zucchinipflanzen und den Hühnerstall zeigte. Weißt du, ich habe immer davon geträumt, in einer Kommune zu leben. Ich bin verdammt stolz auf das Ganze hier.
Er verschwieg, dass er nur über das Gelände verfügte, weil seine beiden Onkel Axe und Jay wegen Waffenhandels im Knast saßen. Als die zwei noch als freie Männer in Fort Smith gelebt hatten, waren sie nur zum Scheibenschießen und Jagen hier rausgekommen. Sie hätten gelacht, wenn sie die Wohngemeinschaft gesehen hätten, die ihr Neffe auf die Beine gestellt hatte, denn sie waren einigermaßen unsoziale Menschen. Aber Tim hatte ihnen von seinen Plänen nie erzählt, er hatte einfach vor ein paar Jahren ein, zwei Freunde eingeladen, mit der Zeit wurden es mehr, irgendwann fingen sie an, Gemüse anzubauen und Regenwassertonnen aufzustellen, sie taten sich mit Bikern aus der Gegend zusammen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sie weckten Obst ein und diskutierten über alle möglichen Ideen für ein Manifest, und dieses Leben war ihre Art, auf die Regierung zu scheißen. Dabei hatte niemand eine wirklich schlüssige Philosophie, Einfälle schwebten durch die Luft wie Asche von einem Lagerfeuer. Allen gefiel die Idee, Ideen zu haben, aber über die Ideen selbst wurden sie sich nie ganz einig.
Vor Jahren, in den Siebzigern und frühen Achtzigern, war die Ansammlung klappriger Baracken, die man weder aus der Luft noch vom Highway aus sehen konnte, ein Jugendcamp gewesen. Eine Feuerstelle unter freiem Himmel, lang gestreckte Hütten mit jeweils ein paar Zimmern, dazu ein Gemeinschaftshaus mit einem Großküchenherd, einem Tisch für zwanzig Leute und einigen verblichenen Cordsofas. Linoleumböden und offene Schränke. Als Tims Familie die Anlage geerbt hatte, stand in einem der Häuser sogar noch eine Schultafel, auf die jemand Pferde gemalt hatte.
Geister von Pferden.
Die Campkinder mussten inzwischen erwachsen sein, die Pferde alt oder tot, die Betreuer kaum noch miteinander in Kontakt, alle inzwischen in einem anderen Leben. Es war eine evangelikale Einrichtung gewesen, und im Licht, das zu einer bestimmten Zeit durch die Bäume fiel, griff immer noch Gott nach einem wie eine Hand, die in eine Schachtel fasst.
Als Tim und Coral über die Wiese zurück zu Corals Zimmer gingen, stellte er ihr die Leute vor, denen sie begegneten, und tippte sich als Erklärung ans Ohr: Das ist Coral, sie ist ein bisschen taub.
Alle hoben kurz die Hand, setzten ein schiefes, düsteres Grinsen auf oder zwinkerten ihr zu. Die Campbewohner waren wie ein Pulk von Schülern, die eigentlich nicht befreundet waren, aber durch Zufall zusammen nachsitzen mussten. Ihre Gemeinschaft würde nicht mehr lange Bestand haben, doch das wusste an diesem himmelblauen Tag noch niemand. Alle bildeten sich ein, dass sie aus gutem Grund hier waren und dass dieser Grund sie zusammenhalten würde. Bisher wohnten sechzehn Leute hier.
Shayna, Tim und das Baby, das bald kommen sollte, waren die königliche Familie, so viel war klar.
Holiday Ray und Staci waren erst vor ein paar Monaten dazugestoßen. Ray kannte Jared flüchtig aus Michigan und hatte ihn aufgespürt, weil das Pärchen einen Platz zum Ausruhen suchte. Ray und Staci waren vorher in Florida gewesen, aber eigentlich kamen sie von überall und nirgendwo. Immer hatten sie entweder zu lange an einem Ort geklebt, wenn sie sich besser vom Acker gemacht hätten, oder waren zu früh abgehauen, wenn sie besser geblieben wären. Sie standen oft nebeneinander, eine Hand in der Gesäßtasche des anderen. Staci war sonnengebräunt, blondiert und ausgebrannt, hatte Narben und unverkennbar Silikonbrüste. Ray war vom harten Bikerleben genauso abgekämpft wie sie. Zwei, die sich magnetisch anzogen.
Ernie hatte sein Leben in allen möglichen Heimen und Einrichtungen in Texas und Oklahoma verbracht und war irgendwann hier gelandet. Er war eine Leseratte, ein einsamer Wolf wider Willen, ein Quasi-Biker, und er konnte unglaublich dramatisch sein, zuerst manische Freude und anschließend Depressionen ausleben, wochen- oder monatelang gut drauf sein und dann wieder völlig am Boden, und keiner der ausgelaugten, unterbezahlten Ärzte in all den drittklassigen Krankenhäusern, in denen er im Laufe seines Lebens gewesen war, hatte ihm so richtig helfen können. So eine Überraschung.
Cupid war ein Ausreißer aus Louisiana, ein asexuelles Milchgesicht und ab und zu auf Speed.
Dann gab es noch Brandy mit den weißen Dreadlocks und ihre Liebste, Trick. Immer bei Vollmond prügelten sie sich, und hinterher hatte eine von ihnen eine blutige Lippe. Brandy war Spezialistin für homöopathische Tinkturen, Homemade-Tattoos und das Yijing-Orakel.
Die drei Jungs, Vick, Jared und Carlos, waren alle kriminell. Sie arbeiteten für einen Mobilfunkanbieter, installierten Satellitenanlagen und aßen Schinkensandwiches, während sie in luftiger Höhe an einem Funkmast hingen.
Lynn und Judy, ein halbseidenes Pärchen, waren ein Jahr zuvor aus Arizona gekommen – oder aus Houston? Niemand wusste es mehr genau, denn ihre Geschichte hatte nicht viel Eindruck gemacht. Sie taten, als würden sie sich lieben, aber warum?
Mister Plenty trug oft einen ochsenblutroten Anzug, der gut zu seinem weißen Cadillac mit den aufgemalten geschwungenen Linien passte. Er hatte so viel LSD eingeworfen, dass er seinen eigenen Herrn im Himmel hatte, der angesichts des fantastischen Possenspiels, das Mister Plenty aufführte, allezeit bewundernd applaudierte. Mister Plenty ist mein Strippername, erklärte er gern, während er in eine ganze, ungewaschene Möhre biss.
Und dann noch Cousine Sherry-Ann, hundertfünfzig Kilo schwer und diabeteskrank, mit ihrer vierjährigen Tochter Ashleigh, die Angst vor Dämonen hatte und vor der Dunkelheit und vor Pumas und Erwachsenen und Seen und Fledermäusen und Aliens.
Coral war Nummer siebzehn. War siebzehn einfach zu viel? War sie das Zünglein an der Waage, diejenige, die das kosmische Gleichgewicht durcheinanderbrachte, oder war das Unheil schon vor Jahrzehnten durch den Flügelschlag eines Schmetterlings ausgelöst worden? Tim beendete den Rundgang, brachte sie zurück zu ihrem Zimmer und hob zum Abschied an der Türschwelle die Hand.
Mach’s dir gemütlich, sagte er.
Das Abendessen hatte das Mädchen wohl verschlafen, denn am nächsten Morgen sah Ernie, wie Brandy mit einem Willkommensfrühstück an ihre Tür klopfte: Porridge mit fermentiertem Knoblauch oder so was Ähnliches, dazu Mate-Tee und eingemachte Brombeeren vom letzten Sommer.
Coral, sagte Brandy bedeutungsschwer, dies ist zu Ehren deiner Ankunft bei uns, damit du deinen Körper nähren und kräftigen kannst.
Die Neue saß auf ihrem Bett und bohrte ein bisschen in der Nase – unbewusst, aber nicht eklig. Heute trug sie ein Slayer-T-Shirt.
Brandy lächelte ihr Zen-Lächeln und sagte im Bewusstsein, die Ältere zu sein: Du musst nicht antworten, Coral, ich begegne dir mit offenem Herzen und möchte dir eine Freude machen.
Trotzdem schien Brandy auf ein Dankeschön zu warten, aber Coral sah nur aus dem Fenster. Schließlich machte Brandy eine Namaste-Geste, drehte sich um und ging, die Haremshose in der Arschritze eingeklemmt.
So begannen sie, Coral zu umwerben, allerdings eher halbherzig und nicht besonders lange. Weil Tim immer sagte, alles im Leben sei ein Geben und Nehmen, versuchten sie, bei jedem Neuankömmling als Erstes herauszufinden, ob der- oder diejenige nützlich für sie sein konnte. Ist das vielleicht jemand, dem ich helfen kann, sodass ich gut dastehe? Oder jemand, der mir helfen kann? Verlieben wir uns vielleicht ineinander? Oder freunden wir uns an und werden cooler als die anderen? Gibt die Coolness uns Macht über die anderen? Werden die anderen uns beneiden? Aber das waren alles keine bewussten Überlegungen, nur Unterströmungen.
Beim Abendessen, als Coral ein Erdnussbuttersandwich mampfte – den Eintopf, den die anderen aßen, hatte sie verschmäht –, waren alle Augen auf sie gerichtet. Ab und zu hob sie den Kopf und sah in die Gesichter am Tisch. Ihr Blick war nicht oberflächlich oder dumm, sondern unergründlich – was lag dahinter? Wer diesem Blick begegnete, zuckte unwillkürlich zusammen und schlug die Augen nieder. Man konnte es gar nicht verhindern.
Sherry-Ann flüsterte Trick zu: Sie ist noch ein Kind, bestimmt ist sie nicht gern von zu Hause weg, und dann noch das ungewohnte Essen.
Kann sein. Oder sie ist mäkelig, erwiderte Trick.
Weißt du, wie lange sie bleibt?, fragte Sherry-Ann leise.
Trick schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.
Sie beobachteten sie, als würden sie abwarten, ob ein umgepflanzter Baum Wurzeln schlägt oder eingeht.
Man wird nicht so recht schlau aus ihr, meinte Trick.
Stimmt – eigentlich überhaupt nicht, sagte Sherry-Ann.
Corals hellrosa Zunge huschte über ihre Hand und leckte ein bisschen Erdnussbutter auf.
Früh am nächsten Morgen schlich sie unter den Blicken der anderen herum, fand die Dusche, zog sich in der Kabine um und kam mit nassen Haaren und schon feuchtem Slayer-T-Shirt wieder raus. Die Geschichte über ihren »Unfall, als sie klein war« sickerte durch (es war kein Unfall gewesen, sondern etwas Schlimmeres), denn Vick hatte sie ein paar Leuten erzählt, und die hatten sie ein paar anderen weitererzählt. Gerüchte verbreiteten sich im Camp normalerweise rasant, aber diese Geschichte war ein bisschen zu traurig, ein bisschen zu eklig, und so verflüchtigte sie sich wieder, bevor die meisten sie mitbekommen hatten.
Tim jedoch hatte sie mitbekommen. Und als er mit Vick allein am Picknicktisch saß, fragte er ihn aus – obwohl Coral ihren Cousin kaum eines Blickes würdigte.
Ich bin nur neugierig, sagte Tim. Was genau ist denn los mit ihr? Ich meine – was war mit ihr, nachdem – das alles passiert ist?
Vick sagte: Ehrlich, Mann, ich weiß eigentlich nicht so viel darüber, aber ich habe in der Nähe von Grams’ Farm gewohnt, als sie das Sorgerecht gekriegt hat, und als die Kleine da hinkam, war sie schon stumm.
Hm, machte Tim. Sie hat wirklich gar nicht geredet?
Na ja. Als sie kam, war sie vielleicht vier oder so? Ihre Haare waren total verfilzt und haben von Läusen gewimmelt, sie war abgemagert wie ein Skelett und hat sich in die Hosen geschissen. Keiner wollte sie haben, alle hatten Angst, dass sie draufgeht, und keiner wollte derjenige sein, bei dem es passiert. Verstehst du? Aber Grams hatte keinen Schiss. Hat sie in die Badewanne gesteckt und ihr die Haare abrasiert. Hat sie aufgepäppelt. Wenn Grams arbeiten musste – sie hat Häuser gestrichen –, dann hat sie die Kleine einfach mitgenommen und auf eine Decke in die Sonne gesetzt, und damit hatte sich’s. Grams hat einfach der Natur ihren Lauf gelassen, so war sie halt drauf.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und verdüsterte Gras und Bäume.
Ist Coral zur Schule gegangen?, fragte Tim nach einer Weile.
Sie hat es ungefähr eine Woche lang ausgehalten, dann hat sie einen Lehrer gebissen. Aber Grams ging die Schule am Arsch vorbei.
Gut so, sagte Tim, als würde auch er jeden Tag nichts anderes tun als auf Regeln pfeifen. Scheint ein echter Kracher zu sein, deine Granny.
Vick lachte, und als Tim ihn erwartungsvoll ansah, redete er schließlich weiter. Ja, das war sie. Hat dem Nachbarn einmal ins Bein geschossen, weil sie die Nase voll davon hatte, dass er sein Pferd geschlagen hat. Dann hat sie ihm das Scheißpferd weggenommen und es einfach behalten! Die beiden haben gemacht, was sie wollten, sie und Coral. Hatten ihre eigenen Gesetze. Bisschen gruselig. Er zuckte die Schultern. Sie und die Kleine haben Beeren gesammelt und Ziegen gehalten, und sie haben Autos ausgeschlachtet, und ansonsten ist die Kleine einfach rumgestromert. Grams hat nicht viel geredet, sie haben also gut zusammengepasst.
Auf der Wiese stritten sich ein paar Vögel, und die Männer sahen ihnen zu.
Das war’s auch schon, meinte Vick und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart. Als sie zehn war oder so, bin ich nach Tulsa gezogen, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Halbschwester, die sie gebracht hat, hat mich hier aufgespürt.
Tim nickte wie ein Weiser, dem noch mehr Weisheit zuteilwurde, aber wahrscheinlich langweilte er sich in Wirklichkeit und war in Gedanken schon beim Abendessen.
Brandy zeigte Coral, wie Tim die Wäsche in der Sonne aufgehängt haben wollte. Wenn Coral ihre Aufgaben im Haushalt erledigt hatte, legte sie sich aufs Bett und drehte den Discman auf volle Lautstärke. Sie rollte sich zusammen wie eine Schnecke im Haus, knibbelte an ihrer Lippe und starrte aus dem Fenster. Niemand sprach sie an.
Nach dem Abendessen setzte sie sich ans Lagerfeuer, starrte in die Flammen, statt die anderen anzusehen, und ging immer als Erste schlafen. Staci hatte das Mädchen von oben bis unten gemustert und bei den schwarzen Socken und dem miserablen Haarschnitt große Augen gemacht. Coral war keine Konkurrenz. Null auf einer Skala von eins bis zehn. Staci war eine der wenigen, die die Geschichte des Mädchens von Vick gehört hatten. Sie vermutete, dass Menschen mit einem Kindheitstrauma als Erwachsene entweder superheiß wurden oder das genaue Gegenteil, und in diesem Fall war es eindeutig Letzteres.
Aber in der vierten Nacht nach Corals Ankunft stand ein großer Mond am wolkenlosen Himmel, der das Mädchen ins Freie zu locken schien. Sie schlüpfte aus dem Haus und wanderte umher, saugte sein Licht auf wie Milch, die in eine dicke Scheibe Brot zieht. In ihren Augen spiegelte sich die schimmernde Welt. Dinge, die bei Tageslicht unsichtbar waren, konnten jetzt Gestalt annehmen. Aber selbst wenn die Campbewohner zu ihren Gedanken vorgedrungen wären, hätten sie sie entschlüsseln können?
Als Ernie an seinem Fenster Coral im Wald verschwinden sah, ging er davon aus, dass er sie nie wieder zu Gesicht bekommen würde. So was passierte ständig. Jugendliche wurde hier abgeladen, hielten ein paar Tage durch, gekränkt und unbeholfen, bis sie irgendwann genug Kleingeld zusammengekratzt hatten, um in einen Bus zu steigen und zu verduften.
Aber Coral kam zurück, noch vor der Morgendämmerung, genauso ruhig, wie sie gegangen war.
An diesem Morgen, als Ernie Kaffee trank und sein Buch über Honig zu Ende las, überlegte er, welche Rolle sie spielen würde: Manche Bienen wurden als Arbeiterinnen geboren, andere als Königin, außerdem gab es Wächterinnen. Und bei einem winzigen Prozentsatz jedes Bienenvolks waren die klitzekleinen Hirne so verdrahtet, dass aus ihnen Bestatterinnen wurden, deren Aufgabe es war, tote Bienen aus dem Stock zu schaffen. Ernie fand das alles absolut faszinierend.
Als er selbst vor ein paar Jahren, Ende 1993, hier eingezogen war, hatte auch er eine klar definierte Rolle gehabt – er hatte im Knast gelernt, wie man Meth kochte, und damit konnte Tim die Rechnungen bezahlen. Verehrt wurde Ernie deswegen noch lange nicht. Er war nützlich für Team Tim, und damit hatte sich’s.
Aber vor ein paar Monaten waren sie von ihrer Ephedrin-Quelle abgeschnitten worden – bisher hatte eine Frau namens Thelma sie aus Mexiko beliefert –, und jetzt ließ Tim diesen Anfänger Lynn es aus Erkältungsmitteln herstellen. Rezeptfreies Zeug, das war dermaßen dumm und umständlich, aber Tim war fest davon überzeugt, dass Lynn wusste, was er tat. Der Typ faselte von Gleichungen und chemischen Bezeichnungen, dabei benutzte er in Wirklichkeit nur irgendeine Rezeptvariante, die er von jemandem hatte, der sie von jemandem hatte, der sie vom berüchtigten Methkoch Bob Paillet hatte. Ernie war nicht ganz klar, welche Aufgabe jetzt noch für ihn übrig blieb.
Coral war inzwischen fast eine Woche da. Als Ernie Holz für den Ofen hackte, sah er, wie Tim und Mister Plenty sich mit ihrem Kaffee einfach so zu ihr an den Picknicktisch bei den Magnolien setzten. Okay, sie starrte nur in den Himmel und beachtete die beiden nicht, aber trotzdem. Verdammte Scheiße, Ernie war schon fast drei Jahre hier, und die Typen hatten sich kein einziges Mal zu ihm gesetzt. Ach, egal, halt die Klappe, wen juckt’s, dachte er, als er später in der Küche Haferflocken aß und aus dem Fenster in eine hemmungslos blühende grüne Welt blickte. In diesem Moment erkannte er die Wahrheit: Das Mädchen würde bleiben.
Am nächsten Tag fuhr Vick mit dem Pick-up in die Einfahrt, gefolgt von Tim auf einem aufgemotzten 1963er Panhead Chopper, den er in einem sauteuren Bikeshop gekauft hatte. Tim verpulverte das Camp-Geld für seine privaten Spielzeuge und gab sich nicht einmal Mühe, es zu verheimlichen. Ray saß auf einem klapprigen Gartenstuhl, rauchte eine Zigarette und beobachtete ihn. Mit pubertärem Grinsen ließ Tim den Motor ein paarmal aufheulen, bevor er anhielt.
Meine Güte, murmelte Ray, verzichtete aber lieber darauf, die Augen zu verdrehen.
Tim war einigermaßen attraktiv, er hatte ein kleines Grübchen am Kinn, eine sanfte Delle, wie alte Großtanten sie in die Teigränder ihrer Kuchen drückten. Er war eins fünfundsechzig und sah mit seinem engen weißen T-Shirt, das er wie immer in die Hose gesteckt hatte, aus wie die billige Plastikfigur eines Actionhelden. Wieder und wieder packte er die Lenkergriffe, als wollte er eine Kuh melken.
Sieh dir das geile Teil an, Kumpel, sagte er.
Ray zog ein letztes Mal an der Zigarette und trat die Kippe mit dem Stiefelabsatz aus. Dann drückte er sich aus dem Stuhl hoch und schlenderte mit klimpernder Hosenkette zu Tim. Erstklassige Arbeit. Der Lenker gefällt mir, und die Custom-Räder sind auch cool.
Hey – wenn du mal fahren willst, sag Bescheid –, aber nur du.
Ray war zwar tatsächlich der einzige Campbewohner, der sich je ein echtes Club-Abzeichen verdient hatte, aber eigentlich versprach Tim ihm das Bike nur, weil er Ray einen Grund geben wollte, ihn um etwas zu bitten. Wenn Ray nicht diese Pechsträhne gehabt hätte – er musste sich wegen ein paar blöden Haftbefehlen verkriechen –, hätte er Tim eins in die Fresse gegeben, einfach nur zum Spaß. Der Typ war so eine Nervensäge.
Aber Ray war daran gewöhnt, im Reich eines Alphamännchens zu leben, er wusste, wie das lief. Der Vorteil war, dass es weniger Anstrengung kostete, zur Meute zu gehören und nicht der Boss zu sein. Andererseits – wenn man jemandem wie Tim die Rolle des Organisators und Anführers überließ, weil man selbst viel zu faul dazu war, musste man sich im Gegenzug unterordnen. In letzter Zeit merkte Ray, dass seine Bereitschaft dazu nachließ.
Lolita, sagte Tim leise, halb im Spaß, und deutete mit dem Kinn nach links.
Fünfzehn Meter weiter lehnte Coral breitbeinig an einem Baum, die Augen im Halbschatten geschlossen, als wäre sie aus einer Kanone geschossen worden und dort gelandet. Ab und zu kratzte sie sich an der Nase, der einzige Hinweis darauf, dass sie wach war.
Ray hatte nichts gegen Teenagerinnen, aber trotzdem. Wenn du meinst.
Nur ein Witz. Aber ernsthaft – die wird sofort nervös, wenn ich in der Nähe bin, die starrt mich die ganze Zeit an, sagte Tim. Ist irgendwie niedlich.
Klar. Ray fand nicht, dass das Mädchen Tim besonders oft anstarrte, aber wenn ihm die Vorstellung gefiel, bitte sehr.
Tim ließ Ray auf dem Ledersitz mit Totenkopfprägung Platz nehmen.
Du solltest eine Runde mit der Kleinen drehen, schlug er vor.
Ich weiß nicht. Ein andermal vielleicht. Sie sieht ein bisschen fertig aus.
In diesem Moment drehte Coral sich zur Seite und legte sich ins Gras. Tim und Ray wandten gleichzeitig den Blick ab, als hätte sie etwas Verbotenes gesehen, und fingen wieder an, über das Bike zu reden.
Ray saß am Fußende des Bettes und versetzte die Matratze in leichte Schwingungen, gerade genug, um Staci zu wecken, aber ohne sie merken zu lassen, dass er es war. Es gab keinen Grund, weshalb sie hätte aufstehen müssen, er hatte nur Lust, mit ihr abzuhängen.
Hm?, machte sie benommen.
Durch das rostige Fliegengitter fielen die Schatten der Bäume, und Staci wachte den dreiundvierzigsten Tag in Folge nüchtern auf. (Nachdem sie den ganzen Scheißdreck in Miami hinter sich gelassen hatten, war es sinnvoll gewesen, erst mal auszunüchtern.) Im ersten Moment war sie perplex. Es haute sie nach wie vor um, so viel zu spüren, die Zeit, ihre Gefühle, all diese kleinen Nadelstiche.
Ah ja, sie ist hier, bei sich, in diesem Camp, aber warte mal, da ist noch jemand, sie sieht sich um – Trommelwirbel –, es ist Ray! Sie war also weder allein noch einfach nur bei sich, sie war bei der Version von sich, die sie mit Ray sein konnte. Dem beschissenen Himmel sei Dank.
Morgen, Sonnenschein, sagte er zärtlich und grinste schelmisch. Sie brachte nur ein Mmmmh raus.
Dann setzte sie sich an ihren improvisierten Schminktisch, einen auf ein paar Milchkisten gestellten Spiegel, und leckte ihren Augenbrauenstift an. Selbst nach sechs Jahren mit diesem Mann konnte sie ihr ungeschminktes Gesicht am Morgen nicht ertragen.
Hol uns doch schon mal einen Kaffee, sagte sie mit ihrem harten New-Jersey-Akzent.
Er stöhnte, stand auf und ging mit den wiegenden Hüften, für die er berühmt war, aus der Tür. Als er zurückkam, puderte sie sich gerade das Kinn.
Ray sagte: Heute gibt’s Wildkaninchen zum Abendessen.
Sie starrte ihn mit Spinnst-du-Blick an. Warum erzählst du mir das?, beschwerte sie sich.
Weil dieser Gesichtsausdruck es einfach wert ist.
In was für eine beschissene Bleibe hast du mich hier geschleift?, fragte sie und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Dieses Camp ist zum Kotzen.
Gott, jetzt reg dich doch nicht auf, sagte Ray. Ich habe dich nur verarscht. Komm mit raus, Kaffee trinken und die Vögel angucken.
Nein, jetzt bin ich total durcheinander, vielen Dank auch. Gerade hatte ich einigermaßen mein Gleichgewicht gefunden, jetzt muss ich mit dem ganzen Scheiß noch mal von vorn anfangen. Das mit dem Gleichgewicht war ein bisschen gelogen.
Ach, komm schon, hör auf mit dem Quatsch, versuchte er, sie umzustimmen. Er blieb da, wie immer. Lockte sie, provozierte sie. Er konnte es nicht lassen, wie ein Welpe, der nicht aufhören wollte zu spielen.
Sie starrte ihn an, bis er den Blick senkte. Sei mal still, okay? Ich will nicht reden.
Aber dann war es zu still, und sie fing doch wieder an. Okay, die zwei Monate sind rum. Mehr sogar. Wie geht es weiter, Babe?
Was ist so schlimm daran hierzubleiben?
Aber du hast gesagt, zwei Monate.
Hast du sonst irgendwo was Dringendes vor?
Und wenn ich vielleicht auf die Kosmetikschule gehen will?, fragte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sieht nicht aus, als würde ich hier am Arsch der Welt in Oklahoma eine finden.
Sieht auch nicht aus, als würdest du danach suchen.
Sie verdrehte die Augen. Staci war eine Stadtlöwin, sie brauchte ein Revier, durchnummerierte Blocks, Nachtclubs mit Stroboskoplichtern, Parkhäuser, Stilettos, Fahrstühle, Müll, Verkehr, Prunk, Abgase, Glitzer. Sie liebte ihr flüchtiges, zerteiltes Spiegelbild in den glänzenden Fassaden der Bürogebäude, im Labyrinth der Stadt. Hier, auf dem Land, fühlte sie sich ungeschützt, zu sichtbar vor dem Hintergrund von Stille, Gras und Himmel.
Sie stand auf, um aus dem Zimmer zu gehen, aber er zog sie an sich und küsste sie. Als er ihr direkt in die Augen sah, spürte sie etwas, schmeckte sie etwas, und unvermittelt wurde sie misstrauisch. Das Blut gefror ihr in den Adern.
Warum tust du zurzeit ständig so, als würdest du jeden Moment mit mir genießen?
Du bist wunderschön, Staci, weißt du das? Obwohl du verrückt bist.
Halt die Klappe, sagte sie und versuchte, seinen Arm wegzuschieben.
Er ließ sie erst los, als er es wollte. Die letzte Trennung-und-Versöhnung hatte die beiden bis hierhin getragen, aber der Schwung ließ langsam nach. Inzwischen war jedes Mal ein größeres, krasseres Drama nötig, damit es so richtig krachte, und die Wut war nicht mehr so heiß wie am Anfang und schneller verraucht. Aber das war nun mal ihre Art, die Liebe lebendig zu halten. Eifersucht war ihr größtes Hobby.
Zum Abendessen aßen sie weiße Bohnen, Brot und Salat aus dem Garten. Abwasch und andere Haushaltsaufgaben waren auf einem Block notiert, jeder musste etwas übernehmen. Staci kam sich vor wie in einem Therapiezentrum in der Provinz oder in einem dieser freakigen alternativen Colleges in Upstate New York, in denen sie niemals einen Platz bekommen hätte. (Als sie sechzehn war, hatte ihr Freund, der älter war, manchmal an einem College namens Vassar Heroin verkauft, und sie hatte aus dem Auto diese Mädchen angestarrt mit ihren karierten Mänteln, Zöpfen und Schlafzimmerblick – verdammt noch mal! – wer waren die? – wo kamen die bloß her?)
Staci fegte die Küche, und Vick, der das Geschirr abtrocknete, bemühte sich, ihr dabei nicht auf den Hintern zu glotzen. Judy war in eine Tattoo-Zeitschrift vertieft und zwirbelte beim Lesen Strähnen ihrer Dauerwelle, Coral hatte sich in eine Ecke verkrochen und nahm von Zeit zu Zeit einen Salzstreuer oder eine Serviette in die Hand und roch daran.
Hast du deine Pflichten erledigt?, fragte Staci Judy. Sie war genervt von ihr und Coral, aber nicht sicher, ob sie die Kleine ermahnen konnte.
Judy verdrehte die Augen. Ja, Mom.
Autsch, sagte Vick und lachte. Jetzt wird’s ernst.
Unter Stacis wütendem Blick ging Judy plötzlich auf, was sie gesagt hatte, und sie klappte die Zeitschrift zu. Oh, klang das etwa gehässig?
Staci starrte sie weiter böse an, denn das war ihre Paradedisziplin.
Judy lachte mit trockenem Mund und legte die Hand an die Wange, dann sagte sie ernst: Sind wir nicht gleich alt, Stace? Das sollte kein Witz über dein Alter sein.
Was soll der Scheiß, du weißt genau, dass wir nicht gleich alt sind, Judy, erwiderte Staci.
Echt, das wusste ich nicht, ich habe gedacht – hä – bist du nicht zweiunddreißig oder so?
Staci grinste spöttisch, aber sie wurde langsam weich. Nicht ganz.
Du kannst doch nicht älter als dreiunddreißig sein, meinte Judy. Auf gar keinen Fall. Da würde ich drauf wetten.
Staci seufzte. Hielt kurz inne. Aber dann sagte sie: Ich habe schon immer jünger ausgesehen, als ich bin. Mein ganzes Leben lang.
Das glaube ich gern, sagte Judy, als würde sie mit einem Promi reden.
Beide versuchten zu ignorieren, dass Coral ihren Wortwechsel beobachtete wie ein Tennisspiel, mit ihren blauen Augen verfolgte sie ganz unverhohlen, wie die Bemerkungen hin- und herflogen. Aus irgendeinem Grund machte es Staci fertig, dass sie nicht erkannte, auf wessen Seite Coral stand. Aber wenn man sie nach ihrer Meinung über Coral gefragt hätte, hätte sie gesagt: Warte mal kurz, und dann hätte sie nach einer Antwort gesucht und gesucht wie nach einem Feuerzeug in einer Handtasche mit Zigaretten und Lippenstiften und Sonnenbrille und Kaugummi und Parktickets und Koksröhrchen und Schlüsselanhängern und Portemonnaie und Flyern und Kleingeld und Stiften und Polaroids und Bonbonpapier; sie war sicher, dass sie irgendwo in ihrem Kopf eine Meinung hatte, aber sie fand sie nicht.
Bald darauf, an einem Abend Ende März, war es warm im Kiamichi Valley, und ein paar aus der Crew wollten nach Tuskahoma fahren, um ein Bier zu trinken. Vick klopfte an Corals Zimmertür, rief ihren Namen, wartete, dann klopfte er noch mal. Nicht, dass sie mitkommen würde, aber er fühlte sich wohl irgendwie verpflichtet, sie wenigstens zu fragen. Auf der anderen Seite der Tür, wo Vick sie nicht sehen konnte, saß sie auf dem Fußboden und starrte aus dem Fenster in die rote Sonne. Wusste Coral, was sich am Horizont abzeichnete? War sie die Einzige, die an diesem Abend Blut roch?
Keine Antwort. Also ging Vick weiter zu Ernies Zimmer. Steh auf, sagte er, als er mit Carhartt-Weste und lila Bandana bei seinem Freund auf der Schwelle stand. Der blonde Schnurrbart leuchtete in seinem wie immer roten Gesicht, und er blickte Ernie finster an, als hätte er ihn bei einer Sünde erwischt, dabei lag der nur auf dem Bett und las ein Buch aus der Bücherei. Klapp das blöde Ding zu, und hab ein bisschen Spaß, du bist schon ewig nicht mehr mitgekommen.
Früher war Ernie immer dabei gewesen, wenn die Crew zusammen loszog. Und zwar bis zum Filmriss. In letzter Zeit aber hielt er sich zurück, als wäre er mit vierunddreißig schon ein alter Mann. Er machte gerade so eine Phase durch und hatte Mühe zu funktionieren. An diesem Abend aber ließ er sich überreden, schließlich meinte Vick, der große, tapsige Trottel, es nur gut. Ernie schlüpfte in seine Weste und zog die langen Haare heraus. Im Zwielicht gingen sie durchs feuchte Gras zur Garage, wo schon ein paar andere bei den Maschinen warteten. Sie schoben ihre Bikes ins Freie und ließen den Motorenschwarm aufheulen wie ein einziges großes Tier.
Das Camp zu verlassen fühlte sich immer an, als käme man aus einem Luftschutzbunker. Ernie ging voller Wünsche und lebendiger Sehnsucht in die Welt – wonach, wusste der Himmel. Und schon auf dem Weg, während die Straße in all ihrer Funkmasten-Müllcontainer-Fast-Food-Buden-Enttäuschung an ihm vorüberzog, wurde er missmutig, weil ihm klar war, dass er nichts bekommen würde. Tim nannte ihn gern eine selbsterfüllende Prophezeiung auf zwei Beinen. Du bist dein eigener Fluch, Ernie.
Im Bullet Pub in Tuskahoma spielten sie Pool, kauften bei Sad Wolf, der immer da war, Bison-Dörrfleisch in Ziplocktüten und ließen sich volllaufen. In der Öffentlichkeit wurden sie viel mehr zu einer Gemeinschaft, als sie es im Camp je waren. Ernie war der Schüchternste, aber die Energie der Crew ließ ihn schnell high werden, wie Lachgas aus Sahnekapseln. Er warf sich in Pose, hob das Kinn, um hier und da Leute zu grüßen, und hüpfte auf seinen Plattfüßen aufgekratzt hin und her wie ein batteriebetriebenes Spielzeug.
Vick reichte Ernie ein Bier und sagte: Mann, es tut gut, mal rauszukommen. Ich weiß nicht, was los ist, aber ich glaube, ich kriege Frühlingsgefühle.
Versteh ich gut, sagte Ernie.
Zum Glück gibt’s Tequila, meinte Vick und teilte schwere, kleine Gläser aus, randvoll mit dem tödlich klaren Schnaps.
Ernie tat nur so, als würde er ihn runterkippen. Er vertrug Alkohol inzwischen immer schlechter, deshalb trank er nur noch wenig. Es schlug ihm auf die Stimmung, und dann sagte er Sachen, die er besser für sich behalten hätte. Auf einmal quatschten ihn zwei Frauen mit schwarzen Cowboyhüten an, er solle Songs an der Jukebox aussuchen. Da er noch nie ein Held im Flirten gewesen war, sah er sich sofort suchend um, wer die beiden geschickt hatte.
Sei kein Schlappschwanz, Ernesto, sagte Ray an seinem Ohr. Er stand so plötzlich neben ihm, als wäre er in diesem Moment dort zur Welt gekommen.
Hast du ihnen etwa das Kleingeld für die Jukebox gegeben, Ray?, fragte Ernie und wäre am liebsten im Boden versunken.
Klar, Kumpel, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen mit der nervösen Bohnenstange eine Runde tanzen.
Vielen Dank für dein Vertrauen, Mann, erwiderte Ernie.
Er fühlte sich wie eine Katze, der Ray zur Belustigung ein Gummiband um den Schwanz gebunden hatte, aber er ging trotzdem zur Jukebox. Und hatte dann doch Spaß, mit den Ladys über Johnny-Cash-Hits zu streiten.
»I Walk the Line«, trällerte das erste Cowgirl. Komm, wir schmeißen hundert Münzen rein und lassen es in Dauerschleife laufen! Als wäre sie die Erste mit dieser Idee.
Und dann tauchte Lynn mit Judy auf. Ernie wollte, dass Lynn ihn mit den Frauen sah, deshalb rief er beim Tanzen laut Woo-hoo, aber Lynn ging ohne Umschweife zum Daytona-Spielautomaten in der Ecke. Lynns stattlicher Vokuhila wurde auf dem Kopf langsam dünn, und Ernie hatte den Eindruck, dass das einen ziemlichen Einfluss auf Lynns Verhalten hatte. Ernie versuchte, ihn zu ignorieren, aber Lynn hampelte am Spielautomaten so was von übertrieben herum. Loser, dachte Ernie.
Judy hockte auf einem Barhocker, als versuchte sie, jemand ganz anderes zu sein, lutschte an einem Cocktailstäbchen und sah Lynn beim Spielen zu. Ray feuerte Lynn an, bis Lynn verkackte, dann nervte er ihn mit blöden Sprüchen. Er wusste nichts mit sich anzufangen, weil Staci zu Hause geblieben war. Aber selbst wenn sie dabei war, überkam Ray oft eine dermaßen überirdische Langeweile, dass er allein durch seinen genervten Blick einen ganzen Wald in Brand setzen konnte.
Hast du da gerade schon wieder verloren?, schrie Ernie irgendwann zu Lynn rüber, aber niemand hörte ihn.
Also tanzte er weiter Two-Step.
Als Lynn den vierten Platz machte, reckte Judy die kleine Faust in die Höhe, ihr Goldarmbändchen klebte ihr schlaff an der Haut. Ernie sträubten sich die Nackenhaare. Dann steckte Lynn Judy die Zunge in den Mund, und Ernie hätte am liebsten gekotzt. Hatten die überhaupt Spaß, oder zogen sie nur eine Show ab, wir gehören dazu, ist das geil, außer Rand und Band mit den Kumpels, hahaha, total das Zeitgefühl verloren? Redeten die jemals miteinander, so im Ernst? Ihre Verlogenheit war fett und klebrig wie billiger Speck.
Ernie, sagte Ray. Du hast wieder mal diesen Blick.
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