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Leblos blicken ihre schönen blauen Augen in den Sonnenaufgang ...
Im Morgengrauen wird eine junge Frau tot an einem einsamen weißen Sandstrand in Palm Beach gefunden - alles deutet auf einen Ritualmord hin. Das FBI wird zu dem Fall hinzugezogen und die Agentin Tess Winnett beginnt zu ermitteln. Bald schon stellt sich heraus, dass es sich um einen Serienkiller handelt, der seine Opfer tagelang gefangen hält, vergewaltigt und auf grausame Art und Weise foltert. Als noch eine junge Frau verschwindet, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wird Tess den Mörder rechtzeitig finden? Auf der Suche nach dem Killer muss sie sich auch ihren eigenen Dämonen stellen und gerät selbst in tödliche Gefahr ...
Ein atemberaubender Serienmörder-Thriller - jetzt als eBook bei beTHRILLED.
"Unser Urteil: Ein phänomenaler Thriller, der Sie unaufhaltsam in seinen Bann ziehen wird. Sehr empfehlenswert!" KWNY Publicity
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Seitenzahl: 404
Mein ist die Angst
Im Morgengrauen wird eine junge Frau tot an einem einsamen weißen Sandstrand in Palm Beach gefunden – alles deutet auf einen Ritualmord hin. Das FBI wird zu dem Fall hinzugezogen und die Agentin Tess Winnett beginnt zu ermitteln. Bald schon stellt sich heraus, dass es sich um einen Serienkiller handelt, der seine Opfer tagelang gefangen hält, vergewaltigt und auf grausame Art und Weise foltert. Als noch eine junge Frau verschwindet, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wird Tess den Mörder rechtzeitig finden? Auf der Suche nach dem Killer muss sie sich auch ihren eigenen Dämonen stellen und gerät selbst in tödliche Gefahr …
Leslie Wolfe ist eine erfolgreiche amerikanische Krimi- und Thrillerautorin, die mit über 400.000 verkauften eBooks regelmäßig in den Amazon-Bestsellerlisten vertreten ist – sie wurde im Februar und März 2018 zur Kindle All-Star Autorin ernannt. In ihren Krimireihen erschafft sie unvergessliche, starke und brillante Ermittlerinnen und begeistert ihre Leser mit rasanten Spannungsplots und einem umfangreichen psychologischen Hintergrundwissen.
LESLIE WOLFE
DEIN ist der SCHMERZ
Aus dem Amerikanischen von Kerstin Fricke
Deutsche Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Leslie Wolfe
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Dawn Girl«
Originalverlag: Italics Publishing Inc., Gulf Breeze, Forida, USA
Translated and published by Bastei Lübbe AG, with permission from Italics Publishing. This translated work is based on Dawn Girl by Leslie Wolfe. © 2016 Leslie Wolfe. All Rights Reserved. Italics Publishing is not affiliated with Bastei Lübbe AG or responsible for the quality of this translated work. Translation arrangement managed RussoRights, LLC on behalf of Leslie Wolfe and Italics Publishing.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Illustrationen © Shutterstock: Attitude | Eky Studio | Reinhold Leitner | Protasov AN
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-7892-4
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Aber ihre Augenlider spielten nicht mit. Sie schluckte schwer und kämpfte gegen die Übelkeit an. Ihre Kehle war rau und trocken. Verwirrt und benommen rang sie darum, einen klaren Kopf zu bekommen. Wo war sie? Sie fühlte sich wie betäubt, so als würde sie aus tiefem Schlaf oder einem Koma erwachen. Als sie versuchte, die Arme zu bewegen, stellte sie fest, dass es nicht ging. Irgendetwas hinderte sie daran. Aber es tat nicht weh. Möglicherweise konnte sie den Schmerz aber auch einfach nicht mehr spüren.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Am Ende des Raums konnte sie den Umriss eines Manns erkennen. Seine Silhouette bewirkte, dass ihr Gehirn von einer Flut an Erinnerungen überschwemmt wurde. Sie keuchte auf und spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte und ihr eine Träne über die geschwollenen Wangen lief.
Je wacher sie wurde, desto mehr Adrenalin strömte durch ihre Adern, und sie versuchte verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien. Aber das war unmöglich. Mit jeder nutzlosen Bemühung keuchte sie heftiger und rang nach Luft. Die Angst raubte ihr den Atem und mit jeder Sekunde, in der sie hilflos an ihren Fesseln rüttelte, würde sie schwächer. Erneut drohte die Dunkelheit über sie hereinzubrechen, aber sie versuchte dagegen anzukämpfen. Ihr Körper durfte sie jetzt nicht im Stich lassen.
Die Geräusche, die sie dabei machte, erregten die Aufmerksamkeit des Mannes.
»Wie ich sehe, bist du wach. Hervorragend«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Sie beobachtete, wie er eine Spritze auf ein kleines Metalltablett legte. Dem Klappern folgte ein weiteres Geräusch, der vielsagende Klang eines Glasfläschchens, das geöffnet wurde, gefolgt von einem Ploppen. Der Mann nahm die Spritze, zog die Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf und ließ dann die Luft entweichen, indem er den Kolben herunterdrückte, bis einige Tropfen aus der Nadel drangen.
Ihr wurde schwindlig, und sie schloss kurz die Augen.
»Verdammt«, murmelte der Mann, zog eine Schublade auf und kramte hektisch darin herum.
Er ging zu ihr und sie spürte, wie die Nadel tief in ihren Oberschenkel eindrang. Aber es war, als würde das einer anderen Person passieren. Obwohl sie es fühlen konnte, schien alles sehr weit weg zu sein. Es brannte, als er die Flüssigkeit in den Muskel injizierte, aber das verschwand, sobald er die Nadel herauszog. Sie schloss die schweren Augenlider und zerrte erneut an ihren Fesseln.
Der Mann hielt ihr ein Behältnis mit Riechsalz unter die Nase, wodurch sie schlagartig in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Sofort war sie hellwach, wachsam und wütend. Eine Sekunde lang versuchte sie mit ganzer Kraft, sich zu befreien, nur um zu erstarren, als sie den Blick auf den Mann vor sich richtete.
Er hielt ihr ein Skalpell dicht vors Gesicht. An und für sich war dieses kleine, glänzende silbrige Objekt durchaus dazu in der Lage, heilende Dinge zu bewirken. Aber es konnte auch schrecklichen Schmerz hervorrufen. Entscheidend war die Hand, die es führte. Und sie wusste, dass sie keine Heilung, sondern nur Schmerz zu erwarten hatte.
»Nein. Bitte nicht …«, flehte sie. Heiße Tränen liefen ihr aus den verquollenen Augen und rannen über ihre Wangen. »Bitte nicht. Ich … Ich tue alles, was du willst.«
»Ich bin bereit«, sagte der Mann. Er wirkte ruhig und gefasst. »Bist du bereit?«
»Nein, nein, bitte nicht …«, wimmerte sie.
»Ja«, murmelte er leise, fast schon flüsternd und ganz dicht vor ihrem Gesicht. »Bitte sag weiter Nein. So mag ich das.«
Sie verstummte vor Angst. Diesmal war es anders. Er war anders.
»Und wenn wir erwischt werden?«, flüsterte das Mädchen, das hinter dem Jungen herlief.
Sie rannten die schmale Wohnstraße entlang, die ins Dunkel getaucht war, und hielten sich in der Straßenmitte. Es gab keine Bürgersteige. Auf beiden Straßenseiten erhoben sich schicke Häuser, die höchstwahrscheinlich Außenlampen mit Bewegungssensor hatten, der nicht ausgelöst werden sollte.
Sie zerrte an seiner Hand, aber er blieb nicht stehen. »Dir ist das wahrscheinlich egal, Carl, aber mir nicht. Wenn wir erwischt werden, kriege ich ewig lange Hausarrest!«
Der Junge marschierte weiter und umklammerte fest ihre Hand.
»Carl!« Ihre Stimme wurde schriller.
Endlich blieb er stehen und sah sie an. Als er ihr ängstliches Gesicht sah, runzelte er kurz die Stirn, lächelte dann und strich ihr eine lockere Haarsträhne aus dem Gesicht, die unter der Kapuze ihres Sweatshirts hervorlugte.
»Hier ist niemand, Kris. Keiner wird uns sehen. Schau dich doch mal um. Nirgendwo brennt Licht. Die schlafen alle tief und fest. Es ist fünf Uhr morgens.«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Aber …«
Er gab ihr einen sanften Kuss auf den Schmollmund, leicht zögernd und etwas unbeholfen.
»Uns wird nichts passieren, das verspreche ich dir«, sagte er und nahm wieder ihre Hand. »Komm, wir sind fast da. Es wird dir gefallen.«
Nach einigen Schritten endete die schmale Straße auf dem gepflasterten Parkplatz eines Grundstücks, auf dem demnächst gebaut werden sollte, vermutlich ein Einkaufszentrum. Danach mussten sie den Highway überqueren. Sie hockten sich an den Straßenrand und warteten, bis weit und breit kein Auto zu sehen war. Sie durften nicht riskieren, dass man sie entdeckte. Im richtigen Moment rannten sie Hand in Hand über die Straße in Richtung Strand. Nun mussten sie nur noch den Ocean Drive überqueren und sich durch einige Meter voller Büsche und Bäume den Weg zum Sandstrand bahnen.
»Mann, Carl«, protestierte Kris und blieb am Waldrand wie angewurzelt stehen. »Wer weiß, was da für Tiere leben. Da könnte es Schlangen geben. Oder Eidechsen. Igitt …«
»Ach, Quatsch«, erwiderte Carl. »Vertrau mir.«
Sie hielt den Atem an, zog den Kopf ein und klammerte sich noch fester an Carls Hand. Er schaltete die Taschenlampe seines Handys ein und ging ohne zu zögern voraus. Einige Sekunden später hatten sie den Strand erreicht, und Kris stieß die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte.
Das Licht des abnehmenden Mondes spiegelte sich auf den sanften Wellen, ließ überall Lichtspiegelungen aufflackern und tauchte den Strand in silbrige Schatten. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen. Die einzigen Kreaturen, die ihnen Gesellschaft leisteten, waren die blassen Krebse, die in Angriffsposition gingen, als Kris und Carl kichernd um sie herumstampften.
»Siehst du? Ich hab’s dir doch gesagt«, meinte Carl. »Hier wird uns niemand sehen. Wir können tun, was immer wir wollen«, fügte er verschmitzt hinzu.
Kris sah sich um. Sie standen direkt vor dem Turm der Strandwache. Tagsüber konnte man die strahlend gelb-orange Farbe auf dem von Touristen übervölkerten Sandstreifen stets deutlich erkennen, aber nachts wirkte die Struktur düster und beinahe wie eine bedrohliche Kreatur auf langen, insektenartigen Beinen.
»Das sieht aus wie eins der Aliens aus Krieg der Welten«, stellte Kris fest. Prompt rannte sie los und wedelte mit den Armen in der Luft herum, als würde sie fliegen.
Carl jagte ihr lachend und kreischend hinterher. Sie umkreisten den Turm und liefen zwischen den soliden Holzpfosten herum.
»Bäh«, rief Carl aus, ließ von der Verfolgung ab und entfernte sich ein Stück. »Hier stinkt’s nach Pisse. Lass uns woanders hingehen.«
»Igitt«, erwiderte Kris und folgte ihm. »Warum machen Männer so was?«
»Was? Pinkeln?«
»Jeder Mensch pinkelt, du Genie«, spottete Kris noch immer keuchend.
»An Stellen pinkeln, wo es stinkt und andere stört, meine ich. Frauen pinkeln in Büsche. Männer könnten doch wenigstens ins Wasser pinkeln, wenn es ihnen in den Büschen nicht gefällt.«
»Was? Das ist ja eklig.«
»Was glaubst du, wohin Fische pinkeln? Jedenfalls würden die Wellen die Pisse dann wegtragen und es würde nicht stinken und uns den Sonnenaufgang verderben.«
»Fische pinkeln?« Carl starrte sie ungläubig an.
»Wieso denn nicht?«
Sie gingen händchenhaltend weiter, um etwas Abstand zwischen sich und den Turm zu bringen. Auf einmal ließ sich Carl zu Boden fallen und zog Kris mit sich. Sie kreischte wieder auf und musste lachen.
»Setzen wir uns doch hierhin«, schlug er vor. »Die Show geht gleich los. Ich bin gespannt, wie es wird.«
Der Himmel wurde im Osten nach und nach heller. Händchenhaltend sahen sie zu, wie das Blau und Grau zunehmend in Dunkelrot- und Orangetöne überging. Der Horizont glich einer scharfen Kante, die das Meer vom Himmel trennte.
»Das wird super«, meinte Carl. »Keine Wolken und kein Dunst.« Er gab ihr einen schnellen Kuss, wandte sich dann aber wieder der Lichtshow am Himmel zu.
»Du bist ein seltsamer Junge, Carl.«
»Ach ja? Warum?«
»Andere Jungs hätten mich gebeten, mich nachts rauszuschleichen, damit wir knutschen können. Du willst dir den Sonnenaufgang ansehen, mehr nicht. Muss ich mir Sorgen machen?«
Carl grinste Kris breit an und kitzelte sie dann, bis sie nach Luft schnappend und gleichzeitig unkontrolliert lachend um Gnade bettelte.
»Hör auf damit! Lass das! Ich krieg keine Luft mehr!«
»Vielleicht will ich ja doch ein bisschen mit dir knutschen«, sagte Carl amüsiert.
»Nein, es wird schon hell. Jemand könnte uns sehen.« Kris rückte ein Stück von ihm ab und machte ein skeptisches Gesicht. »Oder hier vorbeikommen.«
Achselzuckend wandte sich Carl erneut dem Sonnenaufgang zu. Er nahm ihre Hand, hielt sie sanft fest und streichelte ihre Finger.
Inzwischen leuchtete bereits der halbe Himmel, während der Mond noch immer am Himmel stand, dessen Licht sich jedoch kaum noch auf dem ruhigen Meer spiegelte.
Carl sah auf die Uhr an seinem Handy.
»Noch ein paar Minuten, dann kommt die Sonne raus«, erklärte er und klang so ernst, als würde er ein seltenes und bedeutendes Ereignis ankündigen. Er fotografierte mehrmals den Himmel, drehte sich abrupt um und schoss auch ein Foto von Kris.
»He … nicht«, protestierte sie. »Gib mir sofort dein Handy, Carl.« Sie nahm ihm das Handy aus der Hand und sah sich das Foto an, das er geschossen hatte. Darauf war ein junges Mädchen mit zerzaustem goldbraunem Haar, das das angespannte Gesicht verzog und die Stirn runzelte. Auf dem Schnappschuss knabberte Kris gerade gedankenverloren am Nagel ihres Zeigefingers und etwas Speichel tropfte ihr auf den Ärmel.
»Ein furchtbares Bild«, erklärte sie und lösche es.
»Nein!«, rief Carl und nahm ihr das Handy weg. »Mir gefällt es!«
»Daran kann einem doch nichts gefallen. So«, meinte sie, entspannte sich ein wenig und fuhr sich mit den langen, dünnen Fingern durchs Haar. »Ich werde für dich posieren.« Sie strahlte ihn an.
Carl machte einige Fotos. Sie sah vor dem feurigen Himmel, dem rosafarbenen Sand und dem türkisenen Wasser wunderschön aus. Er schoss ein Bild nach dem anderen, während sie richtig in Fahrt kam, Grimassen schnitt und lachend vor ihm herumtanzte und -wirbelte.
Der erste lodernde Sonnenstrahl schoss aus dem Meer und erhellte den Strand, als Kris plötzlich innehielt und mit einer zitternden Hand auf den Turm der Strandwache zeigte.
Carl drehte sich um und sah, was Kris so erschreckt hatte. Unter den Holzpfosten, die die erhöhte Struktur stützten, befand sich eine junge Frau. Sie war nackt und schien zu knien, als würde sie die aufgehende Sonne anbeten. Ihre Hände waren vor ihr zu der universellen, unverkennbaren Gebetspose verschränkt.
Carl und Kris hielten den Atem an und gingen langsam näher. Die Frau bewegte sich nicht. Sie war tot. Im zunehmenden Tageslicht wurden immer mehr Details sichtbar. Ihr Rücken war mit Prellungen und kleinen Schnitten übersät und mit Flecken aus getrocknetem Blut bedeckt. Ihre blauen Augen standen weit offen und starrten glasig ins Leere. Einige Sandkörner hingen an ihren langen dunklen Wimpern. Auch ihr wunderschönes, regloses Gesicht war von funkelndem Sand überzogen. Ihre Lippen standen leicht offen, als wollte sie ein letztes Mal ausatmen. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind und verdeckte fast vollkommen die tiefe Schnittwunde an ihrem Hals.
Aus der Verletzung quoll kein Blut; ihr Herz hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu schlagen. Dennoch blieb sie weiterhin in dieser betenden Position und im Sand, während sie den toten Blick auf den wunderschönen Sonnenaufgang richtete, der die beiden Teenager hierhergeführt hatte.
Detective Gary Michowsky vom Palm Beach Police Department fluchte leise, während er die Tür seines Dienstwagens, einem Ford Crown Victora, aufdrückte. Er biss die Zähne zusammen und spannte die schwachen Muskeln an, als er die Füße auf den Boden stellte und versuchte, aus dem Wagen auszusteigen. Wäre er für würdig erachtet worden, einen der neuen Ford-SUVs zu bekommen, die Polizisten im ganzen Staat erhalten hatten, hätte er vermutlich weniger Probleme beim Aussteigen gehabt. Aber nein, er hatte natürlich nicht zu den Glücklichen gezählt, jedenfalls noch nicht.
Er wartete, dass sein Partner Todd Fradella zuerst ausstieg, schließlich sollte sein schmerzender Ischias nicht das Gerede im Einsatzraum bestimmen. Auf dämliche Witze von oberschlauen Detectives und neunmalklugen Streifenpolizisten, die sich auf sein Alter, seine Fähigkeit, den Job auszuüben, und die dicke Fünfzig bezogen, konnte er nämlich gut verzichten. So alt war er noch gar nicht; gerade mal neunundvierzig. Erst in einigen Monaten drohte die dicke Fünfzig. Abgesehen davon gab es selbstverständlich keinen Grund für diese Ischias-Attacke, schließlich stemmte er die Hanteln noch immer wie mit zwanzig. Dass er jeden Tag mit seinem jungen Partner Fradella verbrachte, der mit seinem schulterlangen Haar wie ein Künstler aussah und offenbar ständig irgendwelche heißen Bräute abschleppte, war da wenig hilfreich. Er hatte das Gefühl, mithalten und sich an dem Überrest der Jugend, der noch durch seine Adern rann, festklammern zu müssen.
Ein paar Tage lang würde er jetzt leiden und mit schrecklichen Schmerzen arbeiten, obwohl er alle paar Stunden Schmerztabletten einwarf. Aber er konnte sich nicht freinehmen, nicht jetzt, wo sie einen neuen Fall hatten. Der Captain hätte allein die Bitte darum nicht besonders witzig gefunden.
Fradella sprang mit beneidenswerter jugendlicher Beweglichkeit aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Die Schockwelle jagte einen kurzen, stechenden Schmerz durch Michowskys Rücken und rief ihm in Erinnerung, dass er die Sache ruhig angehen sollte. Er stieß ein Knurren aus, packte mit der linken Hand den Türrahmen und zog sich halb aus dem Wagen. Einige schreckliche Sekunden später war er auf dem Weg zum abgesperrten Bereich und bewegte sich mit beinahe geradem Rücken, jedoch etwas langsamer als üblich.
Der Turm der Strandwache war bereits von gelben Polizeiband eingezäunt, das an im Sand steckenden Stäben befestigt war. Die Beamten, die als Erstes am Tatort gewesen waren, hatten sich beeilt und diesen rasch gesichert. Michowsky blieb zögernd am Absperrband stehen. Sich darunter durchzubewegen, wie er es normalerweise tat, stand außer Frage. Er beschloss, außen herumzugehen, da er bemerkt hatte, dass das Band nicht bis hinunter zum Wasser reichte, und tat das so schnell, wie er nur konnte. Als der Van des Rechtsmediziners vorfuhr und halb mit den Reifen im weichen Sand stecken blieb, hatte er die andere Seite gerade erreicht.
Michowsky näherte sich dem Turm und konnte das Opfer nun deutlich erkennen. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Die Tote war in einer seltsamen und erschreckenden Pose dort platziert worden. Sie sah beinahe lebendig aus. Nackt und leicht vorgebeugt kniete sie auf dem Sand, hielt den Rücken jedoch gerade und den Kopf aufrecht. Selbst im Tod war sie wunderschön. Er schüttelte verbittert den Kopf. Manchmal machte ihn sein Job krank und bewirkte, dass ihn das Leben und die menschlichen Monster anekelten.
»Was haben wir?«, erkundigte er sich, ohne näher an die Leiche heranzutreten.
Ein uniformierter Beamter trat mit Notizbuch in der Hand näher.
»Der Anruf kam um 6.48 Uhr. Die beide Kids da drüben haben sie gefunden.« Er deutete auf einen Jungen und ein Mädchen, die neben dem abgesperrten Bereich im Sand saßen, und das so eng beieinander, dass sich ihre Schultern berührten. Das Mädchen weinte lautlos. »Carl Colluga, sechzehn, und Kristen Bowers, ebenfalls sechzehn. Sehen Sie die Stelle da vorn, die mit Beweismarker sieben markiert ist? Das Mädchen hat sich dort übergeben. Mehrmals. Sie war ganz schön durcheinander.«
»Verstehe. Wurden die Eltern schon informiert?«
»Ja«, bestätigte der Streifenpolizist. »Sie sind auf dem Weg.«
»Was haben die Kids gesagt?«, wollte Fradella wissen.
»Sie sagten, sie wären hergekommen, um sich den Sonnenaufgang anzusehen, und hätten die Leiche da gefunden. Mehr nicht.«
»Den Sonnenaufgang, ja?« Michowsky schnaubte.
»Ja …« Der Officer lachte auf. »Die beiden hatten ein ziemlich aufregendes Date.«
»Gibt es irgendwelche interessanten Hintergrundinformationen über die beiden?« Michowsky lehnte sich an einen der Holzpfeiler des Turms.
»Gut situierte Familien, keine Vorstrafen, alles sauber. Sie haben sich rausgeschlichen und werden vermutlich Ärger kriegen, sobald ihre Eltern hier eintreffen.«
»Das kann ich mir vorstellen. Was ist mit ihr?«, fragte Michowsky und deutete auf die Leiche. »Kennen wir ihre Identität?«
»Bisher nicht.«
Langsam näherte er sich der Leiche, betrachtete sie genau und nahm alle Details in sich auf.
»Die Fußabdrücke brauchen wir wohl nicht zu sichern«, murmelte Michowsky und betrachtete den von Abdrücken übersäten Sand. Innerhalb weniger Sekunden hatte die Meeresbrise Sand hin und her geweht und alles verändert. Die Natur war die perfekte forensische Gegenmaßnahme und zerfraß und veränderte alle Beweise. »Das wäre sinnlos. Der Mistkerl ist clever … Hier werden wir keine Beweise finden. Die Leiche wurde hier ohnehin nur abgelegt. Nirgendwo ist Blut. Aber wir werden sicherheitshalber auch unter der Leiche graben und etwas von dem Sand mitnehmen.«
Dann murmelte er: »ah …«, und deutete auf die Hände der Toten.
»Ja«, stimmte Fradella ihm zu. »Ich habe es auch nicht auf den ersten Blick gesehen.«
Die Hände der toten Frau waren mit einer dünnen, durchsichtigen Angelschnur gefesselt, die so gut wie unsichtbar war und ihre Handflächen in dieser Gebetshaltung hielt. Von dieser Schnur führte eine weitere nach oben und war an dem Holzpfahl befestigt, wodurch sichergestellt worden war, dass sie in dieser Position blieb. Der Mörder hatte das genau inszeniert.
Michowsky zog sich einen Handschuh über und berührte die Angelschnur. Sie war stramm gespannt und gab nicht nach. Er drückte etwas fester dagegen, aber die Hände bewegten sich noch immer nicht. Etwas anderes schien sie daran zu hindern.
»Da muss noch etwas anderes sein«, sagte Michowsky und kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, ob die Leiche noch an anderen Stellen gefesselt war. »Überprüfen Sie den Kopf. Das ist keine natürliche Position.«
»Ich fasse die Leiche nicht an, solange Doc Rizza nicht hier ist«, erwiderte Fradella.
»Kluge Entscheidung«, sagte Doc Rizza, der soeben hinter dem gelben Absperrband auftauchte. Er trat näher, dicht gefolgt von seinen beiden Assistenten, die die übliche Ausrüstung mit sich führten. »Wir stellen alles hier auf«, fügte er hinzu und deutete auf eine Stelle in der Nähe des Turms.
Sein erster Assistent, ein junger Mann namens AJ, stellte die Trage ab, holte einen Leichensack hervor und zog den Reißverschluss auf. Danach öffnete er einen Koffer und reichte Doc Rizza ein Thermometer.
Der Rechtsmediziner nahm es entgegen, ohne den Blick von der jungen Frau abzuwenden. Mit der behandschuhten Hand untersuchte er sanft ihre Fingerspitzen und bat den Kriminaltechniker Javier Perez mit einer Geste, näher zu treten und ihre Fingerabdrücke zu scannen. Danach zog er einige Strähnen ihres langen blonden Haars zur Seite und enthüllte eine tiefe Schnittwunde auf der linken Halsseite.
Michowsky sah Doc Rizza gern bei der Arbeit zu. Der Mann war noch von der alten Schule, respektvoll und gründlich; er ließ sich Zeit und beschäftigte sich nicht ständig zwanghaft mit Statistiken, Zahlen und Berichten, sondern war vertrauenswürdig und sorgsam.
»Ich kann Ihnen eine vorläufige Todesursache nennen«, erklärte Doc Rizza.
»Schießen Sie los.« Michowsky hatte Stift und Notizblock gezückt.
»Ich tippe auf Ausbluten aufgrund einer Gewalteinwirkung am Hals mit einem spitzen Objekt. Vorerst jedenfalls. Sie kennen die Regel: Zitieren Sie mich erst, wenn ich meinen Bericht fertiggestellt habe.«
»Was ist mit der Mordwaffe? Irgendwelche Hinweise?«
»Dazu muss ich erst Abdrücke nehmen … Vermutlich ein Skalpell. Keine Anzeichen dafür, dass der Täter gezögert hat. Das hat er schon öfter getan.«
Doc Rizza fuhr sich mit der behandschuhten Hand durch sein dünner werdendes Haar und wischte sich den Schweiß von der glänzenden Kopfhaut. Dann hielt er inne und starrte seine Hand kurz an. »Schlau … wirklich sehr schlau …«, murmelte er. Er zog sich den kontaminierten Handschuh aus, warf ihn in den Müllbeutel und streifte sich einen neuen sterilen über.
»Sie ist nicht im System«, sagte Javier, legte den Fingerabdruckscanner weg und griff nach der hochauflösenden Kamera. »Ich fange mit den Fotos an.«
»Noch nicht«, hielt Doc Rizza ihn auf. »Geben Sie uns noch eine Minute.« Er suchte nach weiteren Angelschnüren und fand noch mehrere. Sie waren im Zwielicht unter dem Turm nur schwer zu entdecken.
Ihr Kopf wurde durch eine Schnur, die unter ihrem Kinn entlangführte, und eine weitere, die man ihr um die Stirn gewickelt und im Haar verborgen hatte, in der Position gehalten. Ihre Schultern waren ebenfalls umwickelt, und die Schnüre hatte man unter gut platzierten Haarsträhnen verborgen.
»Ich hätte mit mehr Ligaturpunkten gerechnet«, setzte Doc Rizza hinzu und ging beiseite, damit Javier fotografieren konnte. »Was brauchen Sie noch? Ach ja, die Todeszeit.« Er warf einen Blick auf das Thermometer und runzelte die Stirn. »Der Tod ist vermutlich vor zwölf bis sechzehn Stunden eingetreten, es könnte aber auch schon länger her sein.«
»Dann wurde sie Stunden nach ihrem Tod hierher gebracht«, stellte Michowsky fest. »An diesem Strand ist an jedem Abend bis neun oder zehn noch gut was los.«
»Ja. Leider vergrößert das die mögliche Distanz zum eigentlichen Tatort«, bestätigte Doc Rizza. »Sie könnte mehrere Kilometer von hier entfernt getötet worden sein.« Er wandte sich an Javier. »Sind Sie fertig? Dann helfen Sie mir, sie loszuschneiden.«
AJ trat auf die andere Seite und stützte die Leiche, und Javier reichte dem Rechtsmediziner die Werkzeuge, die dieser mit ruhiger, professioneller Stimme anforderte. Er schnitt die Angelschnüre nacheinander durch, aber die Leiche behielt die Position weitestgehend bei.
»Sind Sie sicher, dass Sie alle erwischt haben?«, erkundigte sich Michowsky.
»Ja«, antwortete Doc Rizza. »Das ist die Totenstarre.«
Michowsky wandte sich ab und überließ Doc Rizza und seine Leute ihrer Arbeit. Er ging um das Absperrband herum zu den beiden Teenagern, die in einigen Metern Entfernung auf dem Strand hockten, und winkte Fradella zu sich.
Als sie näher kamen, blickten die beiden jungen Leute auf und sahen sie wortlos an.
»Ich bin Detective Michowsky, das ist Detective Fradella. Man hat mir gesagt, Sie hätten die Leiche gefunden?«
»J… ja«, bestätigte der Junge. »Ich bin Carl, und das ist Kris.«
»Und das ist alles? Ihr habt die Leiche einfach entdeckt?«, fragte Michowsky. »Ihr habt niemanden gesehen und nichts gehört?«
»Nein, das schwöre ich«, antwortete der Junge fast schon zu schnell, was Michowskys Neugier weckte. Hatte er etwas zu verbergen? Vermutlich war das nichts weiter als nachvollziehbare Nervosität.
»Was habt ihr hier überhaupt gemacht?«
»Wir haben uns den Sonnenaufgang angesehen. Nichts weiter«, erwiderte der Junge. »Wer ist sie?«
»Das wissen wir noch nicht. Bitte ruft mich an, falls euch noch etwas einfällt.« Michowsky zückte zwei Visitenkarten, und Kris nahm sofort eine.
»Dürfen wir jetzt nach Hause? Bitte?«, flehte sie leise. »Wir … wir haben niemandem gesagt, dass wir das Haus verlassen. Meine Eltern werden …«
»Keine Sorge, sie sind auf dem Weg hierher. Wir haben sie bereits angerufen.«
Kris fing an zu weinen. »Warum? Wir haben doch nichts getan!«
»Bleibt schön hier sitzen, habt Ihr verstanden?«, schaltete sich Fradella ein.
Sie gingen langsam zu Doc Rizzas Van, wobei sie ein Tempo anschlugen, das für Michowsky noch angenehm war.
»Ich brauche dringend einen Kaffee«, sagte Michowsky und rieb sich energisch das Kinn. »Irgendwie muss ich mein Hirn auf Touren bringen.«
»Was halten Sie von der Sache?«
»Von den Kids? Ich vermute, sie haben größere Angst vor ihren Eltern als vor dem, was sie hier entdeckt haben.«
»Nein, ich meinte den Fall. So etwas habe ich noch nie gesehen. Glauben Sie, das war ein religiöser Freak?«
»Das ist schwer zu sagen. Für mich sieht es fast wie ein Ritualmord aus. Die Positionierung, wie gründlich er dafür gesorgt hat, dass sie in dieser Haltung bleibt, bis sie gefunden wird. Der kranke Mistkerl wollte, dass man sie so findet. Er wollte eine Show daraus machen.«
»Wo wir gerade von einer Show sprechen«, meinte Fradella und deutete auf die Vans zweier Medienanstalten, die am Strand hielten. »Wer zum Teufel hat die informiert?«
Aus einigen Metern Entfernung beobachteten Michowsky und Fradella, wie Doc Rizza mehreren Reportern drohte und erst nachgab, als diese die Wagen wenigstens fünfzehn Meter zurückgesetzt hatten. Danach wies Rizza mehrere Streifenpolizisten an, ein zweites Absperrband zu ziehen, um die Schaulustigen fernzuhalten und ihnen den Zugang zu den beiden Teenagern zu versperren.
»Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, wer die tote Frau ist«, sagte Michowsky.
Fradella nickte und notierte sich etwas. »Gehen wir die Vermisstenkartei durch?«
»Für den Anfang«, bestätigte Michowsky. »Vielleicht war sie lange genug verschwunden, dass sie im System auftaucht. Irgendjemand muss sie vermisst haben.«
»Hm-m«, murmelte Fradella. »Halten Sie das für das Werk eines Serienmörders? Ich meine, wenn man alles betrachtet … das Ritual, die Haltung, den Mumm, den der Kerl bewiesen hat, indem er sie von Gott weiß woher an den Strand gebracht hat.«
Wie die meisten jungen Menschen zog auch Fradella gern vorschnell extreme Schlüsse. Diesmal konnte Michowsky allerdings kein anderes Gegenargument als das Fehlen weiterer Leichen anbringen. Mit nur einem Opfer hatte man noch keinen Serienmörder.
»Wir brauchen drei Tote, damit wir es als Serienmord bezeichnen können. Vorerst wissen wir nur, dass wir Hilfe brauchen. Das hier«, er deutete in Richtung Turm, »ist viel mehr als das, womit wir es normalerweise zu tun haben. Ich bezweifle, dass wir in der Lage sind, hier die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.«
»Ich würde es wenigstens versuchen. Das wäre eine gute Auszeichnung für unser Team.«
Ja, sein neuer Partner hatte Ambitionen. Fradella war klug, motiviert und hatte das Herz am rechten Fleck. Doch manchmal wünschte sich Michowsky einen erfahreneren Partner, jemanden, der den jugendlichen Enthusiasmus bereits hinter sich gelassen hatte und der wusste, welche Kämpfe einen hohen Einsatz wert waren.
»Wollen Sie es wirklich riskieren, dass wir morgen noch eine tote Frau wie diese hier finden? Oder nächste Woche? Weil uns ein Hinweis entgangen ist? Seien Sie vernünftig, Partner. Wir brauchen Hilfe. Deswegen muss man sich nicht schämen.«
»Ich dachte, wir könnten …« Fradella runzelte die Stirn und wollte schon weiter argumentieren, wurde jedoch von einem der Reporter unterbrochen.
»Bitte entschuldigen Sie, Detectives«, rief der Mann und beugte sich so weit über das Absperrband, wie er nur konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Gereizt marschierte Michowsky mit großen Schritten auf den Mann zu und ignorierte den Schmerz in seinem Rücken. Er baute sich direkt vor dem Journalisten auf.
»Sie haben hier nichts zu suchen«, erklärte er ruhig und deutete auf das gelbe Band. »Treten Sie zurück.«
Der Reporter machte sofort einen Schritt nach hinten, streckte Michowsky aber weiterhin das Mikrofon entgegen.
»Kennen Sie die Identität der Morgenrotleiche bereits, Detective? War es ein Serienmörder?«
Michowsky holte tief Luft und versuchte ruhig zu bleiben.
»Wie heißen Sie?«
»Brandt Rusch, von Channel Seven.«
»Mr Rusch, ich rate Ihnen, den Begriff Morgenrotleiche sofort wieder zu vergessen. Sollte ich ihn jemals irgendwo gedruckt sehen oder hören …«
»Dann was?« Rusch wich zurück. »Hier herrscht Pressefreiheit, falls Sie das noch nicht wussten.«
»Passen Sie mal auf. Sie ist mehr als ein Label, das Sie einem Artikel aufdrücken, um Ihren verbalen Dünnpfiff zu verkaufen. Das hat sie nicht verdient. Sie ist eine Person mit einem Namen, einer Familie, Menschen, die sie lieben. Tun Sie das nicht. Bitte.«
»Was sollte mich davon abhalten?«
»Ich kann Sie nur freundlich darum bitten.«
»Dann geben Sie mir ihren Namen«, beharrte Rusch, dessen schiefes Grinsen Michowsky beinahe um den Verstand brachte.
»Wir kennen ihren Namen noch nicht. Sobald wir ihre Identität bestätigt haben, informieren wir ihre Angehörigen, und danach melden wir uns.«
»Sie wollen sich bei mir melden?« Rusch lachte höhnisch. »Halten Sie mich für völlig bescheuert?«
»Geben Sie mir Ihre Karte, und ich rufe Sie an. Versprochen. Und lassen Sie das Gerede von einem Serienmörder. Dafür gibt es nicht den geringsten Beweis.«
Rusch schützte die Lippen, schüttelte den Kopf und drückte Michowsky seine Karte in die Hand.
»Sie sind mir was schuldig«, erklärte er und wandte sich zum Gehen, wobei er sich den Weg durch die wachsende Menge bahnen musste.
Eine Sekunde später nahm ein anderer Reporter seinen Platz ein und streckte den Detectives ebenfalls sein Mikrofon entgegen.
»Detective, ich habe eben gehört, dass die Morgenrotleiche das Opfer eines Serienmörders ist. Können Sie das bestätigen?«
Das würde ein sehr langer Tag werden.
Special Agent Tess Winnett füllte ihre Kaffeetasse an der Maschine im Flur auf und behielt die Fahrstuhltür im Auge. Sie war früh genug ins Büro gekommen, um ihren Fallbericht auf den Schreibtisch ihres Chefs Alan Pearson zu legen, bevor dieser zu seiner üblichen Zeit eintraf. Er würde sie auf jeden Fall in sein Büro rufen, sobald er den Bericht gelesen hatte, und sie wollte die Sache schnellstmöglich hinter sich bringen.
Sie hörte ein Ping. Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und spuckten eine Ladung Agenten, Analytiker und Techniker aus, die sich angeregt unterhielten und zu ihren Arbeitsplätzen strebten. Small Talk … ein weiterer kleiner Aspekt des Lebens, der ihr entging. Sie war einfach nicht besonders gut darin.
Tess schüttelte die finsteren Gedanken ab und konzentrierte sich auf ihren Kaffee. Nachdem sie die Tasse bis zum Rand gefüllt hatte, wollte sie die Kanne vorsichtig wieder in die Maschine stellen, um ja nichts zu verschütten.
»Ihnen ist schon klar, dass Sie nie einen Kerl ins Bett kriegen, wenn Sie so weitermachen?« Ein Mann ging hinter ihr vorbei und war in die Unterhaltung mit einer Kollegin vertieft.
Tess zuckte zusammen und schüttete den Kaffee über ihre weiße Bluse und die graue Hose. Der kleine Beistelltisch mit den Papiertüchern und der Zuckerdose war voller Kaffeeflecken und auch die Wand war bekleckert. Ein dicker Tropfen lief, in mehrere winzige Rinnsale verteilt, daran herunter. Sogar der Teppich hatte etwas abbekommen.
»Verdammt«, murmelte Tess. Welcher Idiot stellte die Kaffeemaschine auch auf den dämlichen Flur, wo ständig Verkehr herrschte?
Sie holte tief Luft und fand einen Teil ihrer Fassung wieder. Natürlich stand die Kaffeemaschine im Flur, weil es für alle am bequemsten war. Daran war überhaupt nichts verkehrt. Die Menschen hier auf dem vierten Stock des FBI-Gebäudes in Miramar, Florida, waren auch nicht gefährlich, sondern völlig in Ordnung. Sie waren schließlich ihre Kollegen. Tess atmete erneut tief ein und fing an, die Sauerei wegzuwischen.
»Dekorieren Sie heute ein bisschen um, Winnett?«, fragte ein Analytiker hämisch. Er grinste und zeigte seine unfassbar weißen und geraden Zähne, die auf gute Herkunft und gute Pflege schließen ließen.
»Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe, Donovan«, knurrte sie und tupfte mit einem Papiertuch an der Wand herum.
»Es ist immer ein Vergnügen, sich mit Ihnen zu unterhalten«, erwiderte der Analytiker amüsiert und hielt auf die Fahrstühle zu.
Sie stieß die Luft aus. Niemandem war etwas Außergewöhnliches aufgefallen; sie hatte nur etwas Kaffee verschüttet. So etwas geschah ständig und in allen Büros der Welt. Diese Ereignisse waren auch der Grund dafür, dass Industrieteppiche mit Teflon behandelt wurden, damit die Putzkolonne sie später wieder sauber bekam. Keiner hatte etwas bemerkt. Aber sie durfte nicht vergessen, dass sie es mit Ermittlern zu tun hatte. Irgendwann würde jemand herausfinden, was mit ihr los war.
»Winnett«, die Stimme von SAC Pearson hallte durch den Flur. »In mein Büro, und zwar sofort.«
Frustriert knüllte sie das Papiertuch zusammen und warf es mit solcher Kraft in den Mülleimer, dass dieser beinahe umfiel.
»Bin unterwegs«, rief sie und drehte sich zu SAC Pearson um. Er stand in seiner Bürotür, hielt ihren Bericht in der einen Hand und stützte sich mit der anderen an den Türrahmen. Es entging ihr nicht, dass er angespannt und ungeduldig wirkte. Sie legte einen Schritt zu.
»Schließen Sie die Tür, und setzen Sie sich«, forderte SAC Pearson sie auf. Er klang verärgert.
Sie gehorchte schweigend und wartete darauf, dass die Standpauke begann, wobei sie sich innerlich krümmte und dafür wappnete.
SAC Pearson blätterte ihren Bericht durch und notierte sich einige Dinge.
»Sie haben den Krankenkassenbetrug mit einer Verhaftung abgeschlossen. Na, dann herzlichen Glückwunsch«, sagte er und stieß die Luft aus, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, ihren Erfolg anzuerkennen.
Sie nickte und beschloss, nichts zu erwidern.
»Allerdings gab bei diesem Fall ziemlich viele Beschwerden. Vier schriftliche, die formell registriert wurden.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und wollte die offensichtliche Frage nicht stellen. SAC Pearson würde ihr die Details schon früh genug um die Ohren hauen.
Er ging seine Notizen durch, und seine Miene verfinstere sich, während er die dichten, buschigen Augenbrauen zusammenzog.
»Ist es korrekt, dass Sie einen prominenten Zeugen um zwei Uhr nachts befragt haben?«
Sie schürzte die Lippen, nickte einmal und wandte den Blick ab.
»Hier steht, Sie hätten an seine Tür gehämmert, bis er aufgemacht hat, und dadurch auch die halbe Nachbarschaft geweckt. Was hatten Sie mit ihm zu besprechen, das nicht bis zum nächsten Morgen warten konnte? Es ging um Betrug, nicht um Entführung, Winnett.«
»Zu dieser Zeit …«, setzte Tess an, musste dann aber kurz innehalten, um sich zu räuspern. »Mehrere Personen hatten bereits begonnen, Beweise zu vernichten. Jede weitere Minute hätte uns die Chance gekostet, den Fall mithilfe umfangreicher Beweismittel aufzuklären.«
»Ja, aber das wussten Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.« Pearson schob seinen Stuhl zurück. »Sie haben erst am nächsten Tag erfahren, dass Beweise vernichtet wurden, nicht wahr?«
»Auf gewisse Weise wusste ich es bereits, Sir. Es war nur logisch, dass sie das tun würden. Jemand aus der Überwachungsmannschaft hatte mich darüber informiert, dass mehrere Geschäftsführer noch bis spät in die Nacht arbeiten.«
»Dann hat Ihnen also Ihr Bauchgefühl geraten, mitten in der Nacht an diese Tür zu klopfen? Dass mich der Gouverneur am nächsten Morgen anrufen würde, um sich über Sie zu beschweren, ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen?«
Sie ließ kurz den Kopf hängen, doch sie besann sich rasch wieder. »So etwas muss man im Einsatz nun mal riskieren, Sir. Und ich hatte recht.«
Ihr letzter Kommentar bewirkte, dass Pearson sie nur noch grimmiger anstarrte. Er mahlte mit dem Kiefer, und unter seiner glatt rasierten Haut sah man die Muskeln zucken.
»Außerdem haben Sie das Team vor Ort nicht eingebunden, Winnett. Sie sollten ein gemeinsames Team mit den dortigen Behörden und Vertretern der Krankenkassen bilden. Aber Sie sind einfach allein losgestürmt, ohne jemanden über Ihre Pläne zu informieren oder auch nur auf dem Laufenden zu halten. So funktioniert Teamarbeit aber nicht, Winnett.«
Diesmal wartete er auf ihre Antwort und hielt Blickkontakt. Sie widerstand dem Drang, wegzusehen, und presste die Worte »Ja, Sir« heraus.
»Wenn Sie im Außeneinsatz einen Fall bearbeiten, repräsentieren Sie diese Institution, und Sie haben sich entsprechend ihrer Standards und Richtlinien zu benehmen. Wir können nicht zulassen, dass Sie das FBI durch Ihr Handeln blamieren. Und dass Sie im Alleingang unsere Beziehungen zu lokalen Exekutiveinheiten und dem Regionalbüro torpedieren. Nur indem wir Teamwork, Engagement und Zusammenarbeit fördern, sind wir in der Lage, effektiv Fälle zu lösen. Das steht in unseren Richtlinien, dem Verhaltenskodex, auf den Sie einen Eid geschworen haben und den Sie respektieren müssen.«
Ihr fiel nichts ein, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte. Die Wahrheit hätte Pearson nur noch mehr aufgebracht. Die lokalen Exekutiveinheiten waren langsam und arbeitsscheu. Sie hatte versucht, ihre Vorgehensweise zu erklären. Aber das war reine Zeitverschwendung. Aber das konnte sie Pearson gegenüber nicht sagen, nicht einmal, um sich zu rechtfertigen.
»Wo wir gerade vom Verhaltenskodex sprechen, Winnett«, fuhr er fort. »Sie haben ihn offenkundig gebrochen, und das ist sogar dokumentiert.«
»Womit denn, Sir?«, sprudelte es vor Überraschung aus Tess heraus.
»Sie sind während der Dienstzeit einem Glücksspiel nachgegangen.«
»Was bin ich?«
»Sie haben gewettet. Mit einem Lieutenant der lokalen Behörden. Eigentlich müssten Sie sich daran erinnern … Hier steht, Sie haben hundert Dollar verloren.«
»Ach, das«, murmelte sie und biss sich auf die Unterlippe.
»Ja, das. Würden Sie mir erklären, worum es dabei ging?«
»Es war erforderlich, dass das lokale Team schneller arbeitet, als es von sich aus wollte. Um das zu erreichen, habe ich an das Ego des Mannes appelliert, was Erfolg zeigte. Als ich mit ihm gewettet habe, wollte ich verlieren, Sir.«
»Soll das etwa heißen, dass Sie diesen Lieutenant manipuliert haben?«
»Ähm … Ja, Sir.«
»Großer Gott, Winnett. Sie scheinen wirklich keine Grenzen zu kennen. Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dem lokalen Team alles zu erklären, es zu motivieren und mit den Leuten zusammenzuarbeiten?«
»Doch, Sir, aber das mit der Wette ging schneller. Es dauerte nur eine Minute, und uns lief die Zeit davon.«
Pearson hob eine Hand vors Gesicht, als könnte er seine Anspannung und vielleicht auch seine Müdigkeit wegwischen. Möglicherweise war er auch verzweifelt.
»Zu guter Letzt haben Sie allein die Verhaftungen vorgenommen, nicht auf Verstärkung gewartet und sich nicht einmal die Mühe gemacht, Ihrem Team mitzuteilen, dass die Haftbefehle eingetroffen waren. Damit haben Sie das Protokoll auch noch völlig grundlos gebrochen. Sie wussten das und haben es dennoch getan. Warum?«
Sie zögerte, holte dann tief Luft und antwortete zaghaft.
»Um auf Ihr früheres Argument zurückzukommen: Es ging um Betrug, nicht um Entführung, Sir. Das Risiko war sehr gering.«
»Ich rede hier nicht vom Risiko, sondern von einem lokalen Team, das frustriert ist, weil es das Gefühl hat, nicht die verdiente Anerkennung zu erhalten. Und ich rede davon, dass Sie gegen die Vorschriften verstoßen haben. Und das nicht zum ersten Mal.«
»Bei allem gebührenden Respekt, Sir, aber das Team hat in diesem Fall auch keine Anerkennung verdient. Die Haftbefehle waren ausgestellt und in die Einsatzzentrale gefaxt worden. Aber die Kollegen haben beschlossen, erst einmal frühstücken zu gehen. Donuts und Kaffee waren anscheinend wichtiger. Ich wollte nicht warten, das war alles. Ich wollte den Fall abschließen. Sie wussten, wohin ich unterwegs war, und sie trafen zu spät ein, aber das war ihre Entscheidung, Sir.«
Pearson stand auf, schob den Stuhl energisch zurück und ging in seinem Büro auf und ab. Tess wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster, hinter dem der blaue Himmel einen weiteren sonnigen Tag versprach.
Dann blieb Pearson direkt vor ihr stehen. Sie schob instinktiv den Stuhl zurück. So viel Nähe empfand sie als Bedrohung. Sie stand auf, offenbar war die Besprechung beendet.
»Wir sind noch nicht fertig, Winnett. Setzen Sie sich.«
Sie gehorchte, rückte mit dem Stuhl aber noch weiter zurück, um auf möglichst große Distanz zu Pearson zu gehen. Sie hatte Angst, dass die in ihr aufsteigende Panik die Kontrolle über ihr Gehirn übernehmen würde. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, was die Sache etwas erträglicher machte.
Pearson setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Tess entspannte sich und stieß langsam die Luft aus.
»Sie arbeiten seit Monaten ohne einen Partner. Ihre schroffe, abweisende Art macht die Zusammenarbeit mit Ihnen schwierig. Man beschwert sich über Sie, weil Sie die Menschen ständig vor den Kopf stoßen. Sie mögen ja extrem intelligent sein, aber mit Ihrem Verhalten wird es früher oder später ein Disziplinarverfahren gegen Sie geben. Sie gelten als arrogant und respektlos, und das muss aufhören. Und zwar auf der Stelle.« Pearson trank einen Schluck Wasser. »Wissen Sie, warum Agenten laut Vorschrift in Teams arbeiten, Winnett?«
Sie nickte. Pearson fuhr fort, da er offenbar nicht mit einer Antwort gerechnet hatte.
»Das ist für alle Beteiligten das Beste. Es gibt weniger Beschwerden. Die Agenten machen weniger Dummheiten und geraten seltener in Schwierigkeiten. Partner helfen einander, sind ehrlich zueinander, halten einander …«
»Den Rücken frei, Sir?«, unterbrach sie ihn. In ihrer Stimme schwangen Verbitterung und Schmerz mit. »Sie werden mir gewiss zustimmen, dass das nicht immer der Wahrheit entspricht.«
»Mikes Tod war nicht Ihre Schuld! Sie wurden von jeglichem Fehlverhalten freigesprochen.«
»Das hat nicht das Geringste zu bedeuten, Sir. Nicht für mich. Er starb, als ich ihm den Rücken freihalten sollte. Sein vierjähriger Sohn wird ohne Vater aufwachsen. Daher sind wir uns doch wohl beide einig, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn ich ohne Partner arbeite.«
»Sie stellen die Regeln nicht auf, Winnett! Sie haben hier gar nichts zu entscheiden, sondern ich!«, entgegnete Pearson etwas lauter. »Haben Sie das verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Sie sind noch jung, Winnett«, fügte er etwas ruhiger hinzu. Er blätterte kurz in einer Akte. »Gerade erst vierunddreißig. Ihnen könnte eine glänzende Karriere beim FBI bevorstehen. Aber wenn Sie so weitermachen, scheiden Sie früher oder später freiwillig oder unfreiwillig aus.« Pearson machte eine kurze Pause und schien nachzudenken. »Hiermit verwarne ich Sie. Ihr Verhalten wird sich ändern, und zwar ab sofort. In diesem Augenblick. Sie werden höflich, zuvorkommend, hilfsbereit, koop…«
»Ich soll mich politisch korrekt verhalten, Sir?«
Pearson schüttelte fassungslos den Kopf und verkniff sich einen Fluch.
»Sie werden Ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht ins Wort fallen. Sie werden eine vorbildliche, respektvolle und lobenswerte Agentin sein. Wenn ich nur noch eine weitere belämmerte Beschwerde bekomme, war’s das für Sie, Winnett.«
»Das heißt beschissen, Sir.«
»Wie bitte?«
»Wenn Sie schon Schimpfwörter benutzen, dann doch die richtigen. Beschönigen Sie nichts. Das lässt Sie nur schwach wirken.«
»Himmel noch mal, Winnett, Sie sind wirklich unglaublich! Ist Ihnen eigentlich klar, warum Sie hier sind? Warum man Sie nicht längst rausgeworfen hat?«
»Ähm … Nein, Sir.«
Warum konnte sie nicht einfach mal die Klappe halten? Ein ängstliches Flattern machte sich in ihrer Magengrube bemerkbar. Ihr war nicht klar gewesen, dass die Dinge so schlimm standen. Ihr Job war alles, was sie hatte. Alles, was ihr noch geblieben war.
»Wie lange sind Sie jetzt FBI-Agentin, Winnett? Zehn Jahre?«
»Ja, Sir, etwas mehr als zehn Jahre.«
»Sie haben mir und Ihren Kollegen zehn lange Jahre lang eine Menge Frust und Ärger eingebracht. Aber auch die beste Aufklärungsquote des ganzen Regionalbüros. Sie setzen bei der Arbeit neue Methoden ein, und das FBI erkennt und schätzt Innovation.«
»Neue Methoden, Sir?«
»Diese – wie nennt man das doch gleich? – Ausreißererkennungsanalyse, die Sie beim Krankenkassenbetrug eingesetzt haben. Ich kann es noch immer nicht fassen, aber Quantico will sie ins Handbuch aufnehmen. Sie wollen sie sogar als die Winnett-Methode bezeichnen. Ist das zu glauben?«
Um ihre Mundwinkel spielte ein zaghaftes Lächeln, das Stolz und Freude erkennen ließ.
»Hören Sie ja auf zu grinsen, Agent Winnett! Methode hin oder her, Sie wurden verwarnt. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen einen neuen Partner zuweisen, jemanden, der genug Erfahrung hat und der Ihnen noch etwas über Professionalität und Respekt beibringen kann. Bis dahin werden Sie den Mordfall am Juno Beach bearbeiten.«
»Einen Mordfall, Sir? Das entspricht aber nicht den Vorschriften. Warum kümmern sich die Agenten vor Ort nicht darum? Ist das Ihre Art, mich auf die Strafbank zu setzen?«
»Wagen Sie es ja nicht, mir gegenüber die Vorschriften zu erwähnen. Machen Sie Ihren Job, und seien Sie dankbar, dass Sie noch einen haben. Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen.«
Tess fuhr im Schneckentempo über den Sand und fluchte leise vor sich hin. Es war immer das Gleiche. Sensationslüsterne Schaulustige versammelten sich am Tatort, nur Minuten nachdem die Polizei gerufen worden war. Irgendwelche Idioten hörten den Polizeifunk ab, von Journalisten bis hin zu Amateuren, die den Anblick einer Leiche aufregend fanden. Sie hatte mal einen der Profiler aus Quantico danach gefragt, und er hatte erwidert, dass die Konfrontation mit dem Tod auf gewisse, seltsame Weise einen Weg darstelle, sich darüber zu freuen, dass man selbst am Leben ist. Diese Welt war krank, anders ließ es sich nicht ausdrücken.
Widerstrebend machte ihr die Menge Platz, und es gelang ihr, neben dem Van des Rechtsmediziners zu parken. Die Leiche war noch immer vor Ort; das war gut. Wenn sie sich beeilte, konnte sie sie vielleicht noch am Fundort in Augenschein nehmen, bevor sie weggebracht wurde.
Tess stieg aus ihrem SUV, knallte die Tür zu und näherte sich beschwingten Schrittes dem Polizeiabsperrband. Sie ignorierte die Tatsache, dass ihre Schuhe nach drei Schritten bereits voll Sand waren.
Zwei Detectives, die wahrscheinlich als Erste am Tatort gewesen waren, kamen von der anderen Seite auf sie zu. Tess fuhr sich mit den Fingern durch das schulterlange blonde Haar und zückte ihre Marke.
»Special Agent Winnett, FBI. Sind Sie die ermittelnden Detectives?«
»Ja, Gary Michowsky. Wir sind uns schon mal begegnet, falls Sie es vergessen haben. Das ist mein Partner Todd Fradella«, antwortete Michowsky und schüttelte ihr energisch die Hand. Fradellas Händedruck war weniger überzeugend, und er sah ihr nicht in die Augen.
Sie bückte sich unter der Absperrung hindurch und ging auf den Turm der Strandwache zu.
»Ich kann es nicht fassen, dass Sie das FBI hinzugezogen haben, Gary«, sagte Fradella und gab sich gar keine Mühe, leise zu sprechen. »Wir hätten diesen Fall lösen können, nur wir beide.«
Na, das war ja wieder super. Ein ambitionierter junger Detective, der ihr garantiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Stirn bieten und wahrscheinlich ein oder zwei Beschwerden einreichen würde, nur weil er diese Festnahme nicht in seinem verdammten Lebenslauf auflisten durfte.
»Glauben Sie mir, es ist besser so, Fradella«, erwiderte Michowsky und schaffte es, gleichzeitig geknickt und frustriert zu klingen. Tess drehte sich um und musterte den Mann genauer. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Möglicherweise war er krank. Fradella hingegen schäumte vor Wut.
Sie ging schneller, als sie bemerkte, dass der Rechtsmediziner und seine Assistenten sich daranmachten, die Leiche einzupacken.
»Augenblick«, rief sie und zeigte ihre Dienstmarke vor. »Hey, Doc«, begrüßte sie Rizza herzlich.
»Ebenfalls hey«, meinte Rizza. »Wollen Sie sich noch mal alles ansehen, bevor wir sie bewegen?«
»Ja, danke.«
Sie ging mehrmals vorsichtig um die Leiche herum, kam ihr dabei immer näher und entdeckte weitere Einzelheiten. Es war eine perfekt postierte Leiche, in ausdrucksstarker Haltung. Es gab keine auswertbaren Spuren. An der Stelle, an der man die tote Frau abgelegt hatte, gab es nur jede Menge Sand, der von der starken Meeresbrise ständig aufgewirbelt wurde. Ein kranker, cleverer, mutiger Killer.
»Wir vergeuden nur Zeit«, beschwerte sich Fradella bei Michowsky. »Merken Sie das nicht?«
»Wieso vertrauen Sie eigentlich nie meinem Urteilsvermögen?«, wollte Michowsky wissen. »Warum müssen Sie wegen jeder Kleinigkeit meckern und stöhnen?«
»Das war unsere Gelegenheit …«
»Ah … Eine Gelegenheit wozu? Mit anzusehen, wie noch mehr junge Frauen ermordet werden, bevor wir diesen Kerl festnageln können?«
Tess musste sich ein Grinsen verkneifen. Diese Partnerschaft schien auch nicht gerade gut zu laufen. Sie wandte sich an Doc Rizza.
»Wissen wir überhaupt schon, ob der Täter ein Mann war?«