Dein Lächeln um halb acht - Laura Jane Williams - E-Book
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Dein Lächeln um halb acht E-Book

Laura Jane Williams

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Beschreibung

Schlechtes Timing für die Liebe? Die Liebes-Komödie von Laura Jane Williams um diverse verpasste Chancen ist zum Seufzen romantisch, wunderbar modern und locker-leicht erzählt Was wäre, wenn du die Liebe deines Lebens jeden Morgen knapp verpasst? Normalerweise nimmt die Londonerin Nadia die 7:30-U-Bahn – es sei denn, sie verschläft oder übernachtet bei ihrer Freundin Emma oder es kommt eben sonst irgendetwas dazwischen. Schließlich ahnt Nadia nicht, dass Daniel jeden Morgen auf sie wartet, seit er sie in einem mit Kaffee bespritzten Kleid gesehen und sich nicht getraut hat, sie anzusprechen. Dann entdeckt Nadia eines Tages eine Anzeige in der Zeitung: »An die hinreißende Frau mit den Kaffee-Flecken auf dem Kleid: Ich bin der Typ, der immer in der Nähe der Tür steht und darauf hofft, dich wiederzusehen. Lust auf einen Drink?« Nach einer schweren Enttäuschung glaubt Nadia nicht mehr so recht an die Liebe, trotzdem stimmt sie nach einigem Zögern einem Treffen in einer Bar zu. Doch kurz bevor sie eintrifft, wird Daniel zu einem familiären Notfall gerufen ... Wie Daniel und Nadia einander in London immer wieder um Haaresbreite verpassen, erzählt die britische Autorin Laura Jane Williams ebenso romantisch wie amüsant. »Dein Lächeln um halb acht« ist eine moderne Liebes-Komödie, mit der Fans von Mhairi McFarlane oder Anna Bell viel Spaß haben werden.

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Seitenzahl: 476

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Laura Jane Williams

Dein Lächeln um halb acht

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Was wäre, wenn du die Liebe deines Lebens jeden Morgen knapp verpasst?

Normalerweise nimmt Nadia die 7:30-U-Bahn – es sei denn, es kommt etwas dazwischen. Sie weiß ja nicht, dass Daniel jeden Morgen auf sie wartet, seit er sie in einem mit Kaffee bespritzten Kleid gesehen und sich nicht getraut hat, sie anzusprechen. Dann entdeckt Nadia eines Tages eine Anzeige in der Zeitung: »An die hinreißende Frau mit den Kaffeeflecken auf dem Kleid: Lust auf einen Drink?« Nach einigem Zögern sagt sie zu, und damit beginnt eine ebenso romantische wie amüsante Reihe von Beinahe-Begegnungen …

Inhaltsübersicht

Widmung

1 | Nadia

2 | Daniel

3 | Nadia

4 | Daniel

5 | Daniel

6 | Nadia

7 | Daniel

8 | Nadia

9 | Daniel

10 | Nadia

11 | Daniel

12 | Nadia

13 | Daniel

14 | Nadia

15 | Nadia

16 | Daniel

17 | Nadia

18 | Daniel

19 | Nadia

20 | Nadia

21 | Daniel

22 | Nadia

23 | Daniel

24 | Nadia

25 | Daniel

26 | Nadia

27 | Daniel

28 | Nadia

29 | Nadia

30 | Daniel

31 | Nadia

32 | Daniel

33 | Nadia

34 | Daniel

35 | Nadia

36 | Eddie

37 | Nadia

38 | Daniel

39 | Nadia

40 | Daniel

41 | Nadia

42 | Daniel

43 | Nadia

44 | Daniel

45 | Nadia

46 | Nadia

47 | Daniel

48 | Nadia

49 | Daniel

50 | Nadia

51 | Nadia

52 | Nadia

53 | Nadia

54 | Nadia

55 | Daniel

56 | Nadia

Epilog

Dank

Leseprobe »Say yes«

 

 

 

 

Für jene, die, wie ich, beschließen zu glauben

(trotz aller gegenteiligen Beweise)

1

Nadia

»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Nadia Fielding stürmte die Rolltreppe der U-Bahn-Station hinunter. Ihre neuen Sandalen schlackerten wie wild unter ihren Füßen. Wenn die Leute ihr nicht wegen ihres Fluchens aus dem Weg gingen, dann würden sie es mit Sicherheit wegen des lauten Klatsch-Geräuschs tun, das jedes Mal ertönte, wenn eine Sohle auf eine Stufe traf. Sie verfluchte sich dafür, den Instagram-Link angeklickt zu haben, und sie verfluchte die Bloggerin, die die schwarzen Lederscheusale so präsentiert hatte, als wären sie schick – und bequem – genug, um sie zu kaufen. Sie hatte schon jetzt Blasen. Fick dich, @whiskyandwhimsies, dachte Nadia. Ich hoffe, dein nächster gesponserter Trip an die Amalfiküste fällt flach.

Mit dem Kaffee, den sie unsicher in der Hand hielt, der Tasche, die von ihrer Schulter rutschte, und der Sonnenbrille, die von ihrem Kopf zu gleiten begann, war Nadia ein Bild des Chaos – aber sie würde einen Teufel tun und den Halb-acht-Zug nicht erwischen. Heute war der erste Tag in ihrem neuen Leben, und zum neuen Ich-ändere-mein-Leben-Plan gehörte es, den Zug pünktlich zu erreichen.

Sie hatte damit zu kämpfen. Ausgeh-Abende mit Emma oder Gaby (sie kurierte ihr angeknackstes Herz! Wein schmeckt so köstlich!) führten dazu, dass Nadia eben nicht um Mitternacht im Bett war, und auch ihre Neigung, eher eine Nachteule als eine Frühaufsteherin zu sein (die Vorstellung, dass es Leute gab, die vor der Arbeit Superspinning machten, ließ sie erschaudern!), führte dazu, dass die Schlummertaste ihre beste Freundin war. Sie schaffte es nur ungefähr einmal die Woche, normalerweise montags, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Sie dankte Gott dafür, dass sie allein in einer Wohnung lebte, die streng genommen ihrer Mutter gehörte, was aber bedeutete, dass sie nicht auf Mitbewohner angewiesen war. Egal, wann sie aufstand, es gab nie eine Schlange vor dem Badezimmer.

Jeder Montag war der wöchentliche Versuch eines Neustarts – aber bis Nadia am Montagabend eine Netflix-Serie einschaltete, hatte sich oft nur wenig verändert. Vom Aufstehen bis kurz vor der Mittagspause hielt sie sich immer sehr gewissenhaft an den Plan. Es waren die Montagnachmittage, die ihr den Rest gaben. Sie war machtlos dagegen. Die Arbeitswoche war einfach so quälend lang, und sie verbrachte ihr ganzes Leben damit, sich selbst hinterherzulaufen. Sie war es leid, erschöpft zu sein. Ein viraler BuzzFeed-Artikel hatte es den »Millennials-Burn-out« genannt. Aber das hieß nicht, dass Nadia nicht Großes erreichen konnte, wenn sie es sich in den Kopf setzte – erst kürzlich hatte sie sich alle sieben Staffeln von The Good Wife in weniger als drei Wochen reingezogen. Aber bedauerlicherweise gab es keine Möglichkeit, ihr Talent für Fernsehorgien, bei denen amerikanische Anwältinnen in unerhört engen Röcken freche Retourkutschen auf chauvinistische Sprüche gaben, erfolgreich für eine Festanstellung einzusetzen. Und so ging ihr Leben im Chaos weiter. Na ja, bis heute. Heute war der erste Tag vom Rest ihres Lebens.

Nadias neuer Ich-ändere-mein-Leben-Plan war nicht mit einem Neustart zu verwechseln, denn diesmal würde sie, anders als bei früheren Versuchen, nicht scheitern. Diesmal würde es anders sein. Sie würde anders sein. Sie würde die Frau werden, die sich selbst immer einen Schritt voraus war. Die Art Frau, die ihre Mahlzeiten für die Woche in zusammenpassenden Tupperdosen vorbereitete, die ihren Reisepass nicht eine Woche vor dem Urlaub zu horrenden Kosten verlängern musste, sondern die sich drei Monate im Voraus darum kümmerte und bei dem Ausfüllen des verwirrenden Formulars nicht die Nerven verlor. Sie würde die Art Frau werden, die eine umfassende Lebensversicherung und einen Schrank voller Kleider hatte, die bereits gebügelt waren, anstatt im Krisenmodus, fünf Minuten bevor sie zum Bus rennen musste, zerknitterte Kleider von & Other Stories zu bügeln. Wenn ihr neuer Plan ihre neue Wirklichkeit wurde, dann würde Nadia ein Vorbild perfekter Organisation und rundum Zen sein. Namaste statt schlaf weiter. Sie würde die Gwyneth Paltrow von Stamford Hill sein, nur mit etwas schieferen Zähnen.

»Verzeihung! Entschuldigen Sie!«, kreischte sie und meinte niemanden im Speziellen und zugleich alle, während sie auf den Bahnsteig stürzte. Normalerweise hasste sie die Leute, die sie in U-Bahn-Stationen und an Bushaltestellen aus dem Weg schubsten, als wären sie die Einzigen, die dringend irgendwohin mussten. Mehr als einmal hatte sie einem Ellbogenrempler ein betont entnervtes »Entschuldigen Sie sich gefälligst!« hinterhergeschrien. Aber heute, an diesem Morgen, war sie der egoistische Trampel, der sich durch das Pendlergewühl drängelte, und sie hatte keine Zeit, sich dafür zu schämen. Die neue Nadia war vielleicht ein bisschen ruppiger als ihr altes Selbst, aber gottverdammt, sie war auch pünktlicher. (Auf einmal hörte sie ein Echo, die schrille Stimme ihrer ehemaligen Englischlehrerin: »Früh dran zu sein heißt, pünktlich zu sein, pünktlich zu sein heißt, zu spät zu sein … und zu spät zu sein ist absolut inakzeptabel!«)

»Halt, stopp! Warten Sie!«, schrie Nadia. Sie war zwar vier rasche Schritte von dem U-Bahn-Waggon entfernt, aber bei dem Tempo würde sie dennoch gleich gegen geschlossene Türen knallen, wenn sie nicht irgendjemand entgegen den Vorschriften der Londoner Verkehrsbetriebe mit Gewalt offen hielt. »HaltHaltHaltHalt!« Ihre Stimme erreichte eine nur von Delfinen identifizierbare Tonhöhe. Wie in Zeitlupe streckte sich eine Hand aus und drückte die Tür zurück, sodass Nadia in den Zug springen konnte. Ihre Fake-Ray-Ban-Sonnenbrille knallte ihr ins Gesicht, und sie war für einen Moment geblendet vom Dunkel. Die Türen schnappten hinter ihr zu. Sie hatte es geschafft. Knapp.

Mit ein bisschen Übung, dachte Nadia auf einmal selbstgefällig, kann ich diese neue Routine schon hinkriegen. Sie murmelte ein Dankeschön und steuerte den einzigen freien Platz an, um ihren Kaffee im Sitzen auszutrinken. Es hatte sie viel Überredungskunst und Anstrengung gekostet, aber in den eineinhalb Stunden, die sie bis jetzt auf den Beinen war, war sie durchaus beeindruckt davon, wie sie ihre selbst auferlegten Regeln eingehalten hatte. Neunzig Minuten genau nach Plan waren schließlich besser als neunzig Minuten ohne einen Plan.

Der neue Ich-ändere-mein-Leben-Plan umfasste neben dem Punkt, morgens um halb acht auf dem Bahnsteig zu stehen, um den Zug von der Angel Station nach London Bridge zu nehmen, auch weitere Regeln, und zwar:

 

Mindestens sieben Stunden Schlaf jede Nacht. Das bedeutete, spätestens um elf Uhr im Bett zu sein, also um elf Licht aus und Augen zu, nicht erst ins Bett gehen und dann die nächsten drei Stunden verbissen die Heilige Dreieinigkeit von Instagram, Twitter und E-Mail checken – und sich am Morgen wundern, warum sie nicht aufstehen kann, und gleichzeitig den Verdacht hegen, dass das Leben aller anderen weitaus leichter und schöner ist als ihr eigenes.

Um sechs aufstehen, um eine Viertelstunde zu meditieren, dann eine Sojawachs-Duftkerze entfachen, während sie sich in aller Ruhe und Gelassenheit für die Arbeit fertig machte, so wie Oprah Winfrey oder vielleicht die Herzogin von Sussex.

Anstatt sich an der U-Bahn-Station einen dreifachen, extragroßen Cappuccino zu kaufen (Nadia war sich sicher, dass sie davon Pickel bekam – sie hatte den Trailer eines Dokumentarfilms über die Hormone in der Milch gesehen), von zu Hause einen selbst gemachten »Bulletproof Coffee« in einem wiederverwendbaren Becher mitnehmen. Von Bulletproof Coffees hatte sie durch einen Hollywoodstar erfahren – eine Frau, die ihr Leben und ihre Trainingseinheiten in Echtzeit auf Instagram dokumentierte und die ungesalzene Butter in ihren morgendlichen Espresso tat, um Energiepegel und Kackzeiten zu regulieren. (»Das ist ja, als würde man einen grünen Smoothie mit Vanilleeis machen«, hatte sich ihre Mutter in einer E-Mail empört, wofür Nadia zu ihrem Leidwesen keine wissenschaftliche Erwiderung hatte. »Wenigstens trinke ich ihn aus einem umweltfreundlichen Mehrwegbecher«, hatte sie schließlich entgegnet und sich gefragt, ob ihre Mutter vielleicht doch recht hatte.)

Das Vertrauen in die Romantik nicht verlieren: Nur weil ihr Ex, der Grässliche Ben, tatsächlich grässlich war, durfte sie nicht denken, dass alle Männer so sind, und es war wichtig, sich den Glauben an die Liebe zu bewahren.

 

Nadia hatte sich außerdem vorgenommen, jeden Morgen vor allen anderen im Büro zu sein. Sie arbeitete im Bereich künstliche Intelligenz an einer Technologie, die selbstständiges Denken und einfache menschliche Tätigkeiten wie das Auffüllen von Regalen und Beschriften von Kartons übernehmen könnte, mit dem Ziel, die Lagerhaltung in ihrem Unternehmen komplett auf KI umzustellen. Nadias Plan sah vor, bei der Überprüfung der Prototypenentwicklungen vom Vortag immer einen Vorsprung zu bekommen – bevor die unvermeidlichen Meetingschleifen begannen, die sie alle sechs bis neun Minuten unterbrachen und ihre Konzentration ruinierten, bis sie schreien oder weinen wollte, je nachdem, in welcher Phase ihres Menstruationszyklus sie sich befand.

Ihre Selbstzufriedenheit an diesem Morgen war jedoch von kurzer Dauer. Der Zug kam mit einem plötzlichen Ruck zum Stehen, und heiße braune Flüssigkeit schwappte aus der Öffnung ihres Mehrwegbechers und sickerte durch den Saum ihres hellblauen Kleids bis auf ihre Haut.

»Scheiße«, sagte sie noch einmal, als ob sie, eine Frau, die für ein sechsköpfiges Team verantwortlich war, 38000 Pfund im Jahr verdiente und zwei Abschlüsse hatte, keine anderen Wörter wüsste.

Ihre beste Freundin Emma nannte Nadias Kaffeesucht eine Bewusstseinsfindung in einem Becher. Sie brauchte Koffein, um als Mensch zu funktionieren. Sie stöhnte laut auf und zog einen Schmollmund vor dem Schandfleck, mit dem sie nun den ganzen Tag herumlaufen musste. Sie schalt sich dafür, dass sie nicht geschickter war – eine Meghan bloody Markle hatte nie Flecken auf der Kleidung.

Nadia zückte ihr Handy und schrieb ihrer besten Freundin Emma, um ein bisschen Stimmung in den Montagmorgen zu bringen.

Morgen, meine Liebe! Wollen wir diese Woche in den neuen Film mit Bradley Cooper gehen? Ich brauche etwas in meinem Terminkalender, worauf ich mich freuen kann …

Sie saß da und wartete auf die Antwort ihrer Freundin. Es war heiß in der U-Bahn, selbst zu dieser frühen Stunde, und in ihrem Nacken hatte sich eine winzige Schweißperle gebildet. Sie nahm Körpergeruch wahr und war prompt besorgt, dass er von ihr stammen könnte.

Nadia versuchte, unauffällig den Kopf zur Seite zu drehen und so zu tun, als müsste sie husten, um ihre Schulter hochzuziehen und ihre Nasenlöcher näher an ihre Achseln zu bringen. Sie roch nach Deo. Sie hatte einmal etwas über den Zusammenhang zwischen Deos und Brustkrebs gelesen und vor ein paar Sommern drei Wochen lang versucht, einen Kristallstift als natürliche Alternative zu benutzen, aber Emma hatte sie beiseitegenommen und ihr unmissverständlich klargemacht, dass er unwirksam war. Heute war sie hundert Prozent aluminium- und schweißfrei – mit Gurken-und-Grüntee-Dove.

Erleichtert sah sie sich nach dem Schuldigen um. Sie registrierte eine Gruppe Touristen, die sich über einem Stadtplan stritten, eine Nanny mit drei blonden Kindern und einen süßen Typen, der neben den Türen Zeitung las und ein bisschen wie das Model in der neuen John-Lewis-Werbung aussah. Schließlich landete ihr Blick auf den feuchten Flecken unter den Achseln des Typen, der genau vor ihr stand. Sein Schritt war fast auf ihrer Augenhöhe. Ekelhaft. Die morgendliche Fahrt zur Arbeit war wie eine Reise auf der Arche Noah – wilde Tiere, unnatürlich eng zusammengepfercht, in einer Körpergeruchs-Dunstwolke wie an einem Samstagnachmittag im Sportgeschäft.

Sie wartete auf ihre Station, während sie den Blick müßig durch den Waggon schweifen ließ, und versuchte, nicht einzuatmen. Sie sah beiläufig zurück zu dem Mann mit der Zeitung, der neben den Türen stand. Genau mein Typ, dachte sie unwillkürlich. Ihr Handy piepste. Sie wandte den Blick von ihm ab, um Emmas Nachricht zu lesen, und vergaß ihn.

2

Daniel

Daniel Weissman konnte es nicht glauben. Als sie in die Angel Station einfuhren, war sie um die Ecke geschlittert, und er hatte den Atem angehalten, während er die Tür aufhielt, wie in einem Taylor-Swift-Song über einen harmlosen Beginn, ein Happy End und eine Liebe, die schon immer sein sollte. Nicht dass Daniel in dieser Hinsicht rührselig klingen wollte. Er fühlte sich nur jedes Mal seltsam und kribbelig und wurde sentimental, wenn er an sie dachte. Diese Wirkung hatte sie auf ihn. Daniel fiel es schwer, seine Fantasie im Zaum zu halten.

Er versuchte, von seinem Stehplatz aus einen Blick auf sie zu erhaschen – sie hatte sich zur Mitte des Waggons durchgeschlängelt, und er konnte knapp ihren Kopf erkennen. Ihre Haare sahen immer zerzaust aus, aber nicht so, als ob sie nicht auf sich achtete. Sie waren zerzaust wie bei jemandem, der gerade von einem großen Abenteuer zurückkehrt – oder vom Strand. Vermutlich hatte diese Frisur einen bestimmten Namen, aber Daniel kannte ihn nicht. Er wusste nur, dass sie ziemlich genau sein Typ war. Es war zwar peinlich, aber in einer Reklame in der Werbepause für Die Lustvilla kam ein Mädchen vor, das genauso aussah wie sie, und wenn Daniel sie eine Weile nicht gesehen hatte, konnte ihn sogar das wehmütig und nachdenklich stimmen. Es war wirklich beschämend.

Die Lustvilla war Daniels sommerliche Reality-TV-Dröhnung: Romantik, Verführung, gute Laune. Daniel tat, als würde es ihn nerven, dass der Fernseher jeden Abend um 21 Uhr für die Serie eingeschaltet sein musste, aber er war immer wie zufällig um 20.58 Uhr im Wohnzimmer und machte es sich mit seiner Tasse Tee in dem großen Sessel mit der besten Sicht auf den Breitbildfernseher bequem. Sein Mitbewohner Lorenzo tat, als würde er den angeblichen Zufall nicht bemerken, und sie sahen sich die Sendung jeden Abend gemeinsam an. Sie sprachen nicht darüber – und niemand hätte es bei Lorenzos Verhalten vermutet –, aber sie waren beide auf der Suche nach einer festen Beziehung. Also war es durchaus informativ, im Rahmen einer täglichen Show, die echte Beziehungen zeigte, zu sehen, was Frauen mochten und was nicht. Daniel benutzte die Sendung, um sein Selbstvertrauen aufzubauen. Er machte sich Notizen und lernte Lektionen. Gestern Abend hatte der Typ, der dort offenbar als eine Art Underdog dabei war, endlich seine andere Hälfte gefunden, und hier war Daniel, in diesem Moment, heute. Er wollte nicht der Underdog in seinem eigenen Leben sein. Diese Show gab ihm das Gefühl, es sich selbst schuldig zu sein, es mit dieser Frau wenigstens zu versuchen. Nur um zu sehen, was passierte.

Daniel konnte nicht umhin, über die glückliche Fügung dieses Morgens zu staunen. Wie groß war die Chance, dass sie an dem Morgen, an dem die Anzeige erschienen war, genau an ihm vorbeistolpern würde? Sie waren nur ein paarmal, einschließlich heute, zur selben Zeit im selben Zug gewesen. Er zwang sich, tief einzuatmen. Er hatte es getan, er hatte eine Anzeige geschaltet in der Rubrik Missed Connections, damit sie vielleicht, hoffentlich, auf ihn aufmerksam würde. Nun bekam er aber kalte Füße. Was, wenn sie ihm ins Gesicht lachte und ihn einen Loser nannte? Einen Träumer? Was, wenn sie allen in der Arbeit – ihrer Arbeit oder seiner Arbeit – erzählte, wie erbärmlich er war. Wie er überhaupt darauf kommen konnte zu glauben, er sei gut genug für sie. Vielleicht würde sie es auf Twitter viral verbreiten oder sein Bild auf ihrer Instagram-Seite posten. Einerseits wusste er, dass sie zu nett war, um je so grässlich zu sein, aber andererseits flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, dass genau das passieren würde. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verscheuchen. Die Liebe trieb ihn in den Wahnsinn. Oder war er vielleicht wahnsinnig vor Liebe?

»Mann, das ist keine Liebe«, hatte Lorenzo gesagt. Er hatte den Blick nicht einmal vom Fernseher abgewandt, um sein vernichtendes Urteil zu fällen. »Du willst sie nur flachlegen.«

Daniel wollte sie nicht nur »flachlegen«. Darum ging es überhaupt nicht. Aber vermutlich sollte er sie nicht schweigend und aus der Ferne anstarren. Das war ein bisschen seltsam. Es war nur so … na ja … Die Regeln, nach denen man eine Frau scheinbar aus heiterem Himmel ansprechen konnte, waren so undurchschaubar. Er konnte sich ihr wohl kaum eiskalt nähern wie irgendein U-Bahn-Psychopath, den sie abschütteln müsste, indem sie ausstieg und so tat, als wäre sie bei ihrer Station angekommen, um dann schnell wieder in einen anderen Waggon zu schlüpfen. Aber er wusste auch, wenn irgendwelche Typen in seinem Leben ihm sagen würden, dass sie eine Frau, mit der sie nie ein Wort gewechselt hatten, zu verführen versuchten, indem sie eine Anzeige in die Zeitung setzten und sie dann irgendwo hinter Moorgate verstohlen anstarrten, würde er ihnen sanft nahelegen, dass es vermutlich nicht der moralisch einwandfreieste Plan war. Er versuchte, romantisch zu sein, aber gleichzeitig sein Gesicht zu wahren. Er hoffte, er hatte die richtige Balance gefunden.

In seinem Kopf lief die Fantasie so ab: Sie würde die Zeitung lesen und seine Nachricht sehen und prompt aufblicken, und er würde genau dort stehen, neben den Türen, wie er es geschrieben hatte. Sie würden Blickkontakt aufnehmen. Sie würde schüchtern lächeln und er einfach »Hallo« sagen. Das wäre der Anfang vom Rest ihres Lebens. Wie im Film. Und in diesem Film stünden nicht fünf spanische Touristen über einen Stadtplan gebeugt zwischen ihnen, würden nicht unverständliches Zeug brabbeln, aus dem hin und wieder ein falsch ausgesprochenes »Leicester Square« schwappte. Scheiße. Wo war sie? Oh, es war schrecklich.

Der Zug fuhr in London Bridge ein, und als er sie endlich entdeckte und sah, wie sie sich zum Ausgang vordrängte, war ihm klar, dass der Moment, auf den er gehofft hatte, nicht stattfinden würde. Es gab keinen Blitzschlag. Die Welt würde sich nicht verlangsamen, während sich ihre Blicke trafen. Sie hatte ihn kaum wahrgenommen, als er die Türen aufhielt und ihr somit half, in den Zug zu steigen. Sie war in Eile und abgelenkt, ihr »Danke« war nur im Vorbeigehen dahingehaucht. Während er versuchte, mit ihr Schritt zu halten, wurde Daniel bewusst, dass er von sich selbst und von der Situation enttäuscht war. Er hatte sich diese Szene wochenlang ausgemalt, und jetzt … nichts.

Auf einmal blieb sie inmitten der aussteigenden Pendler stehen, um irgendetwas auf ihrem Handy nachzusehen, aber er konnte schlecht seine Schritte ebenfalls verlangsamen, geschweige denn neben ihr stehen bleiben, oder? Daher ging er weiter und wartete am Ausgang. Er war sich nicht sicher, worauf. Vermutlich einfach darauf, sie zu sehen. Sie noch einmal zu sehen, an dem Tag, an dem er den ersten Schritt gewagt hatte. Er wollte sich in Erinnerung rufen, dass es echt war, dass sie echt war, auch wenn sein Plan nicht aufgegangen war.

Wenn er Lorenzo berichten würde, wie der Morgen gelaufen war, würde er diesen Teil weglassen – den Teil, wo er auf sie wartete. Was tat er hier eigentlich? Er würde nicht wirklich auf sie zugehen und sie ansprechen. Sie hatte das Recht zu existieren, ohne dass er sie belästigte. Er schüttelte den Kopf. Komm schon, Mann, reiß dich zusammen, befahl er sich. Und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Sein Herz hämmerte laut und schnell und zerstörerisch in seiner Brust.

Er hatte es vermasselt.

Er war zutiefst enttäuscht.

Sie hatte seine Anzeige nicht gesehen.

Was für eine verschwendete Geste.

Du verdammter Idiot, murmelte er vor sich hin, ohne zu ahnen, dass es genau seine Anzeige war, die Nadia oben auf dem Bahnsteig aufhielt.

3

Nadia

Nads, das ist grad kein Witz, schau mal, meinst du nicht, dass du gemeint bist?!

Nadia tippte auf das Foto, das Emma ihr geschickt hatte, während sie sich durch die ihr entgegenkommende Pendlerflut kämpfte.

Das Foto war eine Nahaufnahme aus der heutigen Zeitung, genauer gesagt, aus der Missed-Connections-Rubrik. Hier schrieben Pendlerinnen und Pendler, die jemanden interessant fanden, den sie in der Bahn oder im Bus gesehen hatten. Sie gaben Hinweise auf ihre eigene Identität und machten sich Hoffnung auf ein Date. Nadia und Emma waren besessen von Missed Connections. Es war eine Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht, ähnlich ließ sich auch ihre Hassliebe zum Reality-TV erklären.

Die Paarungsrituale der Geschlechter waren eine stetige Quelle der Faszination. Bevor Emma die Restaurantkritik-Kolumne bekam – von der Nadia als ihre Begleitperson oft profitierte –, war sie Dating-Kolumnistin bei einem der wöchentlichen Frauenmagazine. Ihren Schreibstoff recherchierte sie hauptsächlich bei After-Work-Drinks mit Nadia, manchmal war Nadias beste Arbeitsfreundin Gaby auch dabei.

Romantik, Lust, Sex und Beziehungen waren ihre großen Themen. Seit sie sich kannten, lohnte sich sogar ein schlechtes Date, denn dann hatten sie eine haarsträubende Geschichte, die sie am nächsten Tag zum Besten geben konnten. Da gab es den Vier-Finger-im-Hintern-Kerl und den geschiedenen Typen, der beim ersten Date erklärte, seine Frau hätte ihn verlassen, weil er »sie nicht befriedigen konnte – du weißt schon, sexuell«. Es gab den »Um genau zu sein, lebe ich in einer offenen Ehe, meine Frau weiß nur nichts davon«-Mann und den einen, der an dem Ekzem hinter seinem Ohr kratzte und dann Hautfetzen zum Bier kaute.

Emma hatte einmal zufällig drei Dates mit einem Mann, mit dem Gaby davor ausgegangen war – Gaby hatte ihn abserviert, weil er sich weigerte, ein Kondom zu benutzen, und das erfuhr Emma erst, nachdem sie ihn abserviert hatte, weil … er sich weigerte, ein Kondom zu benutzen. Aus irgendeinem Grund hatten alle drei mehr als eine Handvoll Männer namens James getroffen, sodass sie sie irgendwann durchnummerierten: James eins, James sechs, James neun. Der denkwürdigste Typ war Perioden-Pete, ein Freund eines Freundes, der gern menstruierende Frauen oral befriedigte, und die drei kamen kollektiv zu dem Schluss, dass er an einem nicht diagnostizierten Eisenmangel leiden musste.

Nadia, Gaby und Emma hatten sich über sie alle ausgetauscht und versucht, das Rätsel »Mann« zu verstehen. Na ja, bis auf den, der sagte, er würde »mindestens die nächsten fünf Jahre« zu beschäftigt sein, um eine Freundin zu haben. Nadia hatte ihm nicht mehr geantwortet. Er war ein Rätsel, das zu lösen sich nicht lohnte. Sie wollte keinen Mann, dem sie Freundlichkeit erst beibringen musste.

Nadia fragte sich, ob sich das alles ändern würde, wenn eine von ihnen je heiraten sollte – ob sie dann aufhören würden, sich alles über ihr Sex- und Liebesleben zu erzählen. Sie hoffte, dass dies nicht passieren würde. Sie hoffte, dass es selbst in einer Ehe oder nach fünfzig Jahren mit ihrem hypothetischen Typen immer noch Romantik und Rätsel und Spannung geben und sie mit ihren Freundinnen darüber plaudern wollen würde. Sie hatte in einem Esther-Perel-Psychologie-Podcast gehört, dass das wichtig war. Für eine Frau, die in der Vergangenheit nicht besonders erfolgreich in Sachen Liebe war, verbrachte Nadia auf jeden Fall viel Zeit damit, darüber zu recherchieren.

Das Foto, das Emma geschickt hatte, baute sich auf, und Nadia las:

 

An die hinreißende blonde Frau in der Northern Line mit der schwarzen Designer-Handtasche und den Kaffeeflecken auf dem Kleid: Du steigst an der Angel Station ein, in den Halb-acht-Zug, immer an dem Ende nahe der Rolltreppe und immer in Eile. Ich bin der Typ, der in der Nähe der Türen deines Waggons steht und hofft, dass heute ein Tag ist, an dem du nicht verschlafen hast. Lust auf einen Drink?

 

Nadia blieb stehen, sodass eine Frau hinter ihr ausweichen musste und »Oh, Herrgott noch mal« murmelte.

Sie las die Nachricht noch einmal.

Die hinreißende blonde Frau in der Northern Line mit der schwarzen Designer-Handtasche und den Kaffeeflecken auf dem Kleid. Sie schnellte herum und sah zurück zu dem Zug, aus dem sie eben ausgestiegen war. Er war bereits abgefahren. Sie ließ die Hand sinken und glitt mit einem Finger über den braunen Fleck auf ihrem Kleid. Sie sah auf ihre Handtasche. Sie schrieb Emma eine WhatsApp zurück.

!!!!!!!!!, tippte sie einhändig. Und dann: Ähm … lol, vielleicht?!

Gleich darauf besann sie sich eines Besseren: Aber die Chancen sind minimal, oder?

Sie grübelte noch ein bisschen. Sie und Emma waren sich nicht einmal sicher, ob Missed Connections überhaupt echt war. Aus dem Grund erschien ihr ihre erste Reaktion immer unangebrachter. Nadia und Emma war es im Grunde egal, ob die Rubrik ein Fake war oder nicht – allein die Vorstellung, dass ein Fremder jemanden suchte, zu dem er eine flüchtige Verbindung verspürte, war so witzig. Es war wie in dem Song von Savage Garden: »I knew I loved you before I met you.«

Es war romantisch auf die Art: »Du bist eine leere Leinwand, auf die ich meine Hoffnungen und Träume projizieren kann.«

Romantisch wie: »Fantasien haben keine Probleme, daher ist das hier besser als das richtige Leben.«

Und: »Unsere Liebe wird anders sein.«

Missed Connections fühlte sich einfach viel mehr nach Romantik an, als sich mit der Dating-App Bumble zu beschäftigen. Sie bezweifelten zwar, dass man die Liebe über eine App finden konnte, auch wenn Tim, Emmas Bruder, es geschafft hatte. Er war für ein paar Wochen beruflich nach Chicago geflogen und hatte eine Dating-App benutzt, um eine Einheimische zu treffen, die ihm die Stadt zeigen könnte und vielleicht sogar einer kleinen Liebelei nicht abgeneigt wäre. Über diese App hatte Tim Deena kennengelernt, und der Legende nach hatte Tim, als Deena aufs Klo ging, sein Handy gezückt und die App gelöscht und sich binnen drei Monaten dorthin versetzen lassen, um bei ihr zu leben. Sie hatten in diesem Frühjahr geheiratet. Wunder geschehen, hatte Tim in seiner Ansprache gesagt. Ich habe die ganze Welt nach dir abgesucht, und da warst du und hast in Downtown Chicago, am Fensterplatz eines Restaurants, auf mich gewartet.

Emma schrieb: Hast du heute Morgen einen Kaffeefleck auf deinem Kleid, und hast du den Halb-acht-Zug genommen? Es ist Montag, daher nehme ich es mal an …

Nadia antwortete mit einem Schnappschuss, auf dem der Fleck von buttergeladenem Kaffee deutlich zu sehen war, und man sah auch, dass sie sich ganz offensichtlich auf dem Weg zur Arbeit befand.

Aber, dachte Nadia … Es gab doch sicher eine Million Frauen in der Northern Line, die ihren Kaffee verschütteten und schicke Handtaschen trugen, die Familienangehörige in Designer-Outlets aufgetrieben hatten. Und niemand war je bei irgendetwas pünktlich – nicht in London. Jede Menge Blondinen – hinreißende Blondinen – verpassten vermutlich ständig ihren planmäßigen Zug. Und ja, sie hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie sie am Fuß der Rolltreppe der Angel Station instinktiv jedes Mal nach links abbog und zum Ende des Gleises ging, aber das war etwas, was sie tat. Wer tat es sonst noch? Hunderte, bestimmt. Tausende? Schließlich war es die längste U-Bahn-Rolltreppe in London. Da hatten viele Leute Platz.

Also dann, schrieb Emma mit vielen Liebesherz-Emojis zurück, ich denke, wir sollten ein bisschen recherchieren …

Uaahh, antwortete Nadia. Das bin absolut nicht ich. Aber ich bin all den Frauen da draußen dankbar, die auch ihren Kaffee im Zug verschütten. Da fühle ich mich gleich besser, lol.

Aber du könntest es sein …, schrieb Emma.

Nadia dachte darüber nach. Zweiprozentige Chance, würd ich sagen, tippte sie. Und dann: Wenn überhaupt.

Dann schoss es ihr durch den Kopf: der Mann neben den Zugtüren, der die Zeitung gelesen hatte! Da war ein Typ! War er das? Männer mussten ständig neben der Tür stehen und die Zeitung lesen – die Anzahl männlicher Pendler, die unterwegs eine Zeitung mitnahmen, war statistisch gesehen ziemlich hoch. Nadia sah sich in der U-Bahn-Station um, ob sie den Typen irgendwo erkannte. Aber sie konnte sich nicht einmal erinnern, wie er ausgesehen hatte. Blond? Nein. Brünett? Auf jeden Fall gut aussehend. Oh Gott.

Ein seltsames Gefühl von Hoffnung, dass sie gemeint war, überkam Nadia, aber gleichzeitig begriff sie, dass das nicht feministisch war. Sie musste nicht darauf warten, von einem geheimnisvollen Mann ausgewählt zu werden, um zu daten und glücklich zu werden. Oder?

Aber ihr neuer Ich-ändere-mein-Leben-Plan sah vor, dass Nadia daran glaubte, dass das Glück auf ihrer Seite war. Und wenn das Glück wirklich auf ihrer Seite war, dann war diese Anzeige vielleicht für sie bestimmt, und dieser Typ würde vielleicht kein unsicherer Loser sein. Der Grässliche Ben, ihr letzter Freund, hatte eine seltsam fragile Männlichkeit – er war emotional manipulativ und redete ihr so lange ein, sie sei im Unrecht, bis er ihr Selbstbewusstsein erschütterte. Das hatte er tatsächlich getan – er hatte ihr Selbstbewusstsein erschüttert. In den sechs Monaten, die sie zusammen waren, war sie fast zu der Überzeugung gelangt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Sie verstand noch immer nicht, warum jemand so etwas tun würde: sagen, dass er sich in dich verliebt hatte, und dann beschließen, alles zu hassen, was ihn ursprünglich dazu gebracht hatte, es zu sagen. Sie fing gerade erst an, wieder zu sich selbst zu finden.

Nadia schauderte bei den unschönen Erinnerungen. Sie dachte noch immer jeden Tag an den Grässlichen Ben, aber wenn sie es tat, dankte sie jedes Mal dem Himmel, dass diese elende Phase zu Ende war. Sie konnte im Nachhinein nicht glauben, was sie sich alles hatte gefallen lassen. Von Zeit zu Zeit klickte sie sein Instagram-Profil an, um zu sehen, ob er noch immer derselbe schwierige, arrogante Arsch war wie eh und je. Er war es noch.

Aber jetzt, Monate nach ihrer Trennung, war Nadia immer noch verletzt und gleichzeitig auf der Suche nach einem neuen romantischen Seelentröster. Ein Typ, der ein bisschen nett zu ihr war, wäre schon mal ein Anfang, dachte sie, als ob die Messlatte dann nicht viel zu tief hängen würde. Vielleicht würde ihre eigene Zeitungsanzeige lauten: Mann gesucht, sollte den Anschein machen, mich zu mögen.

Ach, wem machte sie hier eigentlich was vor? Ihre Anzeige würde lauten: Gesucht: Mann mit gutem Selbstwertgefühl, einer ordentlichen Portion Humor und gesunder Mutterbeziehung. Muss Romantik und Reality-TV mögen und bereit sein, ein engagierter und aufmunternder Partner fürs Leben zu sein, im Tausch für genau das Gleiche. Muss außerdem verstehen, wie wichtig Cunnilingus und Pizza sind, natürlich nicht beides gleichzeitig. Zuerst komme ich, dann die Pizza.

Erwartete sie etwa zu viel? Sie dachte an Tim und Deena. Das könnte sie doch sicher auch haben.

Zwei Prozent sind mehr als null, schrieb Emma. Also los.

Nadia lachte, als sie die Rolltreppe endlich erreichte und dann in die frühmorgendliche Sommersonne trat. Wenn du das sagst, tippte sie zurück. Und bei sich dachte sie: Aber ich hänge meine Hoffnungen lieber nicht zu hoch.

 

»Emma hat mir schon eine Nachricht geschickt«, sagte Gaby, als sie Nadia auf dem Weg hinunter in die Lobby für eine Elf-Uhr-Pause abpasste. An dem Kaffeewagen in ihrer Lobby gab es eine fantastische dunkle Espressomischung. »Und ich denke auch, dass du gemeint bist.«

Nadia war verblüfft.

»Oh mein Gott. Das Schlimmste, was ich je tun konnte, war, euch beide miteinander bekannt zu machen«, antwortete sie lachend, bevor sie sich an den Typen hinter dem Tresen wandte: »Einen verlängerten doppelten Espresso, bitte.«

Gaby schnitt eine Grimasse. »Was ist denn aus dem Vollfett-Cappuccino als ein politisches Statement geworden?«

»Ich schwenke um. Ich hatte heute Morgen einen dieser Bulletproof Coffees, um zu sehen, ob er meinen Blutzucker konstant hält, und außerdem, hast du diese Pickel an meinem Kinn gesehen? Die sind eine echte Plage. Ich glaube, ich krieg die wegen der Milch. Da sind doch angeblich lauter Rinderhormone drin, die nicht für Menschen gedacht sind. Also will ich jetzt für eine Weile darauf verzichten. Die Dinger tun echt weh.«

Nadia reckte den Hals, um ihr Spiegelbild im Glas des Wolkenkratzers, in dem sie arbeiteten, zu betrachten. Wenn sie Pickel hatte, machte sie das regelrecht verlegen. Sie neigte dann dazu, sich in dunkleren Farben zu kleiden, als wollte sie es vermeiden, aufzufallen. Sie brauchte einen permanenten Filter, der ihr überallhin folgte – es sah nicht halb so schlimm aus, wenn sie auf »Instagram Stories« war und den Krönchen-Filter verwenden konnte, um alles ein bisschen zu kaschieren. Sie würde nichts unversucht lassen, um die leuchtend roten Furunkel unter der Haut an ihrem Kinn loszuwerden, selbst ihre täglichen Cappuccinos opfern.

»Das heißt«, fuhr sie fort, »ich experimentiere.«

Nadia bedankte sich bei dem Barista, und die beiden gingen von dem Kaffeestand in der Lobby zu den Aufzügen von Rainforest. Hier arbeiteten zweitausend Forschungs- und Entwicklungsmitarbeiter für einen weltweiten Lieferservice, der von Büchern über Toilettenreiniger bis hin zu Marmortischen quasi alles umfasste. Nadia war in der Abteilung »Künstliche Intelligenz«, und Gaby war ihre liebste Kollegin. Sie hatten sich vor zwei Jahren auf der Sommerparty der Firma kennengelernt und auf Anhieb verstanden. Das Gespräch ging damals um künstliche Intelligenz und die Rolle, die diese in Zukunft einnehmen würde. Was, wenn sie aus Versehen eine Technologie entwickelten, die sich gegen sie wendete, wie in einem Horrorfilm? Gaby arbeitete für das Unternehmen am sogenannten »Cloud Computing«, seiner größten Einnahmequelle, und verkaufte »Pay as you go«-Datenspeicherung an jeden von Start-ups bis zum Auslandsgeheimdienst. Nadia verstand es nicht wirklich, aber sie wusste, dass Gaby ungefähr dreißigmal schlauer war als sie und der Hälfte der Leute in ihrem Teil des Büros Angst machte.

»Und überhaupt, kann ich dir von meinem neuen Plan, mit dem ich mein Leben ändern will, erzählen?« Nadia drückte auf den Aufzugknopf. »Denn – ich weiß nicht. Ich nehme an, ich fühle mich endlich gereinigt von dem Grässlichen Ben und will meine Energie hochfahren oder so. Es ist, als hätte ich eine Trauerphase beendet. Als ob ich dieses Wochenende mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hätte.« Der Aufzug kam. »Und heute versuche ich ganz bewusst, es zu halten.«

»Das ist ja toll!«

»Danke!« Auf dem Aufzugknopf leuchtete die »0« auf, und die Türen öffneten sich. Die beiden stiegen ein, und Nadia drückte auf die Knöpfe für ihre jeweiligen Etagen.

»Wenn du ein paar Endorphine in Schwung bringen willst, um in Hochstimmung zu bleiben, wie wär’s, wenn du morgen vor der Arbeit zum Spinning kommst?«

Nadia verdrehte die Augen.

»Nicht doch!«, fuhr Gaby fort. »Mach nicht so ein Gesicht! Das tut so gut. Dort drinnen ist es richtig dunkel, und der Trainer sagt lauter positive Bestärkungen, und du darfst schreien, weil die Musik so laut ist, dass dich niemand hören kann.«

Nadia schüttelte den Kopf und sah zu, wie die verschiedenen Etagen aufleuchteten. Spinning war ihr schlimmster Albtraum. Sie hatte einen einzigen SoulCycle-Kurs besucht, als sie einmal beruflich nach Los Angeles reisen musste. Dort saß sie eine Dreiviertelstunde lang auf einem Trimmrad neben Emily Ratajkowski und hatte sich gefragt, wie eine so winzige Frau so schnell in die Pedale treten konnte. Horror.

»Absolut nicht. Ich trainiere morgens grundsätzlich nicht. Ich bin zufrieden mit meinem abendlichen Bodypump-Kurs, hinterste Reihe, zwei linke Füße, aber ich tue mein Bestes. Nur Psychopathen trainieren vormittags.«

»Argh. Na schön. Aber … wir schweifen ab.«

»Ich habe gehofft, du merkst es nicht.«

»Es klingt wirklich nach dir, weißt du.«

Nadia zog die Augenbrauen hoch, halb belustigt, halb sarkastisch.

»Im Ernst! Du bist buchstäblich hinreißend und blond und kommst chronisch zu spät, und du verschüttest Getränke. Und außerdem«, Gaby schien auf einmal in Gedanken ein paar Verbindungslinien zu ziehen, »hast du heute mit deinem neuen Plan begonnen, dein Leben zu ändern! Energetisch gesprochen ist das genau der Tag, an dem so etwas passieren würde. Es ist, als ob die Sterne günstig stehen. Heute wäre ein toller Tag, um sich zu verlieben.«

»Mir ist nicht klar, ob du es ernst meinst oder mich aufziehst.«

»Beides«, entgegnete Gaby mit todernster Miene.

Nadia verdrehte wieder gutmütig die Augen, voller Angst, sich zu verraten.

»Emma hat gesagt, du würdest vielleicht antworten.«

»Ich spiele mit dem Gedanken, ja. Falls ich zu dem Schluss komme, dass die Anzeige wirklich für mich bestimmt ist. Was sie … Ich bin mir nicht sicher. Zum einen will ich, dass sie es ist. Zum anderen denke ich, dass ich verrückt sein muss, länger als zwei Sekunden auch nur über diese Sache nachzudenken.«

»Hast du denn irgendeine Ahnung, wer der Typ sein könnte? Ist dir ein süßer Typ in deinem Waggon aufgefallen?«

Nadia sah ihre Freundin an. »Wir sind in London! Es gibt Hunderte süßer Männer, überall, ständig. Und dann machen sie den Mund auf, und schon sind sie zweihundert Prozent weniger süß, weil … Männer.«

»Stets die Optimistin, wie ich sehe.«

»Ich bin nur realistisch.«

»Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die nicht dasselbe behauptet hat, um ihr Herz zu schützen«, feixte Gaby.

Nadia schwieg, wohl wissend, dass Gaby recht hatte. Sie ertappte sich selbst oft dabei: wie sie pauschale Statements abgab, die die Männer auf ihren kleinsten Nenner reduzierten, und so tat, als ob sie keinen bräuchte oder wollte. Sie schützte sich tatsächlich, nahm sie an, zumindest nach außen hin. Aber natürlich konnte ihre Freundin das glatt durchschauen. Denn auch wenn Nadia sagte, dass alle Männer Schweine waren, hoffte sie im selben Atemzug, dass dieser eine, der U-Bahn-Typ, es nicht war. Oder wenigstens, dass irgendein Typ, irgendwo dort draußen, es nicht war. Den ganzen Vormittag über hatte sie davon geträumt, dass die Anzeige für sie bestimmt war und dass sie ihn im Zug sehen und irgendwo in der Northern Line zwischen zu Hause und Arbeit in Lust und Liebe entbrennen würde. Sie wünschte es sich. Sie wünschte es sich so sehr, dass es ihr, ehrlich gesagt, ein bisschen Angst machte.

Der Aufzug erreichte Gabys Etage, und wie immer, wenn sie zusammen im Aufzug hochfuhren, stieg Nadia mit ihr aus, um das Gespräch zu Ende zu führen.

»Aber eine Sache ist da noch«, sagte Nadia. Gaby wandte sich um und sah sie an, forderte sie auf, fortzufahren. »Na ja. Was ich nicht in den Kopf kriege, ist, warum ein Typ, wenn er mich jeden Morgen in der U-Bahn sieht, nicht einfach Hallo sagt?«

Becky von der Verwaltung kam auf dem Weg zum Kopierer vorbei. Nadia winkte ihr kurz zu und rief: »Hey, Becky!«

»Hübsche Schuhe!«, bemerkte Becky zur Antwort und verschwand um eine Ecke.

Nadia fuhr fort: »Warum heckt er unter Zuhilfenahme einer Zeitung irgendeinen komplizierten Plan aus und verlässt sich darauf, dass ich, oder wer auch immer, denn vielleicht bin ich ja gar nicht gemeint, die Anzeige sehe?«

»Es ist witzig!«, sagte Gaby. »Süß!« Sie dachte noch ein bisschen darüber nach, und dann fügte sie hinzu: »Außerdem, wenn irgendein Fremder dich auf dem Weg zur Arbeit anquatschen würde, würdest du ihm allen Ernstes auch nur Guten Tag sagen?«

Nadia lächelte. »Nein. Ich würde denken, dass er ein Widerling ist.«

»Ich auch.«

»Argh!« Nadia schnaubte. »Ich versuche nur, meine romantischen Erwartungen zu managen. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch ein erstes Date überhaupt verkraften würde …«

Nadia machte ein angewidertes Würgegeräusch, womit sie die vielen Emotionen einer Frau, die viele Dates hatte, treffend auf den Punkt brachte. Aber selbst während sie das tat, setzte ihr Herz einen kleinen Schlag aus. Wenn ein erstes Date richtig verlief, dann war es das magischste, hoffnungsvollste Gefühl der Welt. Ein Gefühl, dass die Götter zu ihr herunterlächelten, dass sie sich selbst in jemand anders erkannte. Sie hatte einmal gehört, dass es nicht heißen sollte, »in Liebe verfallen«, denn die beste Liebe gibt dir Wurzeln und lässt dich in die Höhe wachsen, größer und kräftiger. Das hatte sie bei ihrer Mum und ihrem Stiefvater gesehen, nachdem ihr leiblicher Vater gegangen war. Ihre ehemalige Kollegin und Freundin Naomi und Naomis Ehemann Callum verkörperten es. Ihre direkte Vorgesetzte in ihrem ersten Job, Katherine, war die charismatischste, ausgeglichenste Frau, die Nadia je ihre Mentorin nennen durfte, und Katherine sagte oft, sie hätte es nur wegen des Teams, dem sie zu Hause angehörte, in der Arbeit so weit gebracht. Sie alle sagten, sie hätten schon früh gewusst, dass sie den Menschen getroffen hatten, mit dem sie ihr Leben verbringen wollten, und sich gemeinsam geschworen, es hinzukriegen. Tim hatte dasselbe von Deena gesagt.

»Falsch, du könntest nicht noch ein schlechtes erstes Date verkraften«, entgegnete Gaby. »Aber was, wenn das jetzt das letzte erste Date wäre, weil es so gut war?«

Nadia war froh, dass Gaby an ihre eher romantischen Neigungen appellierte, denn tatsächlich genoss sie es, sich auszumalen, was passieren würde, wenn sie die Liebe ihres Lebens über eine Zeitungsanzeige kennenlernte. Wie sie beide darüber lachen und für immer vereint sein würden in ihrer Anerkennung großer Gesten und der Bereitschaft, Risiken einzugehen. Aber auf einmal war Nadia auch misstrauisch: Gaby war im Allgemeinen eher skeptisch und spitzzüngig in Sachen Liebe, und sie rühmte sich, einen Mann nach dem anderen zu treffen, ohne irgendeinen wirklich zu brauchen. Es sah ihr nicht ähnlich, anderen Leuten einreden zu wollen, dass Märchen echt waren.

»Seit wann bist du denn eine solche Romantikerin?«, fragte Nadia mit zusammengekniffenen Augen. »Du sollst doch meine zynische Freundin sein.«

Gaby zuckte unverbindlich die Schultern. »Woran arbeitest du heute?«, fragte sie zur Antwort.

»Wer wechselt jetzt das Thema?!«

»Komm mir nicht auf die oberschlaue Tour, Fielding.«

Nadia nahm sich vor, Gaby später darauf anzusprechen, warum sie auf einmal ihre weiche Seite entdeckt hatte. Irgendetwas war anders an ihr, fiel ihr jetzt auf. Aber Nadia schwärmte für ihre Arbeit, daher wurde sie von ihrer eigenen Eitelkeit verführt, darüber zu reden.

»Die Prototypen für die Versandzentren kommen bald in die entscheidende Phase. Dieser Enthüllungsbericht in der Zeitung hat dem Aktienkurs richtig schwer geschadet, und John will, dass dort so bald wie möglich keine echten Menschen mehr eingesetzt werden, damit diese ganze Geschichte als Personalangelegenheit vom Tisch ist. Was beschissen für Tausende von Leuten ist, die nicht wissen, ob sie an Weihnachten noch einen Job haben werden …«

»Oh, das ist hart. Das ist richtig hart«, meinte Gaby.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, ja. Ich baue Roboter, die Menschen ersetzen sollen, und … na ja. Es ist so zwiespältig …«

Der Aufzug öffnete sich wieder, und als sie sah, dass er nach oben fuhr, stieg Nadia ein.

»Fortsetzung folgt?«, fragte Gaby.

»Fortsetzung folgt«, sagte Nadia. »Vielleicht wäre es gut, wenn wir gemeinsam darüber nachdenken, wie man sicherstellen könnte, dass jeder dieser Leute woanders unterkommt. Ich würde gern helfen.«

»Na klar!«, sagte Gaby, und dann fügte sie hinzu: »Vielleicht diese Woche beim Lunch? Mittwoch? Morgen habe ich ein Lunchmeeting. Wir waren seit einer Ewigkeit nicht mehr drüben beim Borough. Und wir sind auch noch nicht fertig damit, über diese ›missed connection‹ zu reden.«

»Hör auf, mit Emma über mein Liebesleben zu reden!«

Nadia konnte Gaby noch immer kichern hören, als der Aufzug hochfuhr.

4

Daniel

»Du bist seit Monaten in sie verschossen, Mann. Heute ist ein großer Tag!«

Lorenzo hatte ihn in der Arbeit angerufen, obwohl Daniel ihn gebeten hatte, es nicht zu tun. Aber Lorenzo hasste seinen Job, langweilte sich schnell und mochte es, seinen Mitbewohner aufzuziehen, während er gleichzeitig an seinem eigenen Schreibtisch in einem Verlagshaus nördlich des Flusses so tat, als wäre er beschäftigt. Außerdem war er charmant genug, um den Empfangssekretär Percy zu beschwatzen, ihn durchzustellen. Und das, obwohl Daniel Percy mehrfach und ausdrücklich angewiesen hatte, es nicht zu tun. Lorenzo machte es Spaß, seinen Charme spielen zu lassen und seinen Willen durchzusetzen. Daniel in seinem Büro zu erreichen, war für ihn nur eine weitere Möglichkeit, eine Show abzuziehen.

»Aber verdammt, sie hat es nicht gesehen«, zischte Daniel durchs Telefon.

»Kannst du nicht die Adjektive ändern und es noch einmal abschicken, für irgendeine andere, die du gesehen hast? Wirf mit genug Dreck, dann wird schon etwas hängen bleiben«, sagte Lorenzo, und Daniel war sich zu ungefähr siebzig Prozent sicher, dass das kein Witz war. Lorenzo sagte, dass er eine Beziehung suchte, aber nach dem, was Daniel gesehen hatte, waren seine Anforderungen an ein Date, dass sie einen Puls hatte und nicht zu viel redete. Es war typisch Lorenzo, dass er ihm vorschlug, dieselbe Taktik einfach bei einer anderen Frau zu probieren.

»Verkauf mal lieber ein paar Bücher«, gab Daniel zurück.

»Geht mir im Moment am Arsch vorbei, Mann. Bin noch immer im Comedown.«

Daniel hasste es, dass Lorenzo von Donnerstag bis Sonntag kokste. Er tat es nie zu Hause, schwor Lorenzo, aber Daniel war trotzdem derjenige, der seine Stimmungsschwankungen ertragen musste, wenn er in der ersten Hälfte der Woche erst die Wände hochlief und dann auf dem Sofa vor sich hin vegetierte. Lorenzo war ein guter Typ, aber er traf einfach so viele Entscheidungen, die, wie Daniel unwillkürlich dachte, nicht unbedingt gesund waren. Es war so frustrierend mit an zu sehen. Sie hatten sich über Lorenzos Suchanzeige nach einem Mitbewohner kennengelernt, und Daniel hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sie so verschieden wie Tag und Nacht waren. Aber die Lage der Wohnung und die Miethöhe waren im Grunde perfekt, daher hatte Daniel entschieden, über ihre Differenzen mehr oder weniger hinwegzusehen, und sie waren zwar nicht wirklich Freunde geworden, aber doch mehr als nur Fremde, die zusammenlebten. Sie hatten ihr eigenes, sehr spezielles Zweiergespann gebildet, und bis Daniel eine eigene Wohnung fand, erfüllte es den Zweck.

»Ich mache jetzt Schluss«, sagte Daniel. »Ich habe Arbeit zu erledigen. Wir sehen uns zu Hause.«

Lorenzo redete noch immer, als er den Hörer auflegte. Keine Sekunde später blinkte auf Daniels Handy eine Nachricht. Es war Lorenzo.

Super, dass du die Eier hattest, Mann! Das war Lorenzos Art zu sagen: Ich weiß, du hasst es, wenn ich mich wie ein Idiot benehme, aber ich kann einfach nicht anders. Daniel kommentierte die Nachricht mit einem Daumen-hoch-Icon.

Dann widmete sich Daniel wieder seinen E-Mails. Er versuchte, sich auf den Tag, der vor ihm lag, zu konzentrieren und nicht auf den Morgen, der hinter ihm lag. Aber es klappte nicht wirklich. Er konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Er konnte nicht aufhören, an den Tag zu denken, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren.

Nachdem sein Vater gestorben war, es war kurz nach Ostern, hatte Daniel begonnen, sich zu zwingen, jedes Mal seinen Schreibtisch zu verlassen, wenn er Platzangst oder Unbehagen verspürte oder das Gefühl hatte, vielleicht gleich weinen zu müssen. Seine Therapeutin hatte gesagt, dass es ihm in der Trauerphase – das Wort »Depression« blieb ihm noch immer irgendwie in der Kehle stecken und klang ein bisschen klebrig – helfen würde, viel draußen in der Natur zu sein.

Oh Gott. Er konnte nicht glauben, dass er eine Therapeutin hatte.

»Bleiben Sie in Bewegung, stellen Sie sicher, dass Sie sich auf die Welt einlassen, gehen Sie wenigstens im nächstgelegenen Park spazieren, nur um die Energie in eine andere Richtung zu lenken«, hatte sie ihm bei einer ihrer ersten gemeinsamen Sitzungen gesagt. Er hatte ihr von den Panikattacken erzählt, die ihn an der Kehle packten und ihm die Luft abschnürten.

Er musste fünfundsechzig Pfund die Stunde bezahlen, um als Privatpatient zu kommen, da die Warteliste des staatlichen Gesundheitsdienstes zu lang und seine Situation zu schlimm war. Er konnte nicht länger warten, denn er funktionierte kaum noch. Er fragte sich, wenn auch ohne Groll, ob das die Art Rat war, die er für über zweihundert Pfund im Monat erwarten konnte. Egal. Er ging spazieren, um wenigstens das Gefühl zu haben, etwas für sein Geld zu bekommen, und da sah er sie, Nadia (damals wusste er natürlich noch nicht, dass das ihr Name war). Sie stand in dem versteckten Innenhof abseits des Borough Market. An einem x-beliebigen Freitag. Puff! An seinem Tiefpunkt, in einem Moment purer emotionaler Verzweiflung, war diese positive, engagierte, clevere Frau aufgetaucht, und ihre Ausstrahlung – ihr ganzes Wesen, ihre Aura – war wie Sonnenschein, der alle um sie herum mit Energie versorgte. Daniel war völlig hin und weg.

Daniel wusste genau, an welchem Tag er sie zum ersten Mal gesehen hatte, denn es war zwei Wochen nach der Beerdigung und fünf Wochen, nachdem er seinen sechsmonatigen Consulting-Job bei Converge, einem Erdölunternehmen, angefangen hatte. Es war der Tag, an dem seine Mutter angerufen hatte, als er in einem Meeting zu den Konstruktionsfehlern bei einem Tauchbohrer saß, und er hatte sich prompt entschuldigt, um abzunehmen, für den Fall, dass es dringend war.

Sie hatte gesagt: »Er ist hier.«

»Was meinst du damit, Mum?«, hatte Daniel erwidert. »Dad ist … Dad ist gestorben, erinnerst du dich?«

Er hatte mit angehaltenem Atem darauf gewartet, dass ihr klar wurde, dass sie das falsche Wort verwendet hatte, dass sie das Falsche gesagt hatte. Er gab den Typen auf der anderen Seite der Glastrennwand mit zwei erhobenen Fingern zu verstehen: zwei Minuten. Er brauchte nur zwei Minuten. Sie waren ungeduldig, brauchten sein Okay vor der Mittagspause, und sie waren misstrauisch gegenüber einem Außenstehenden, der erst so spät zu dem Projekt gestoßen war, und sauer, weil er auf einen Richtungswechsel bei den nächsten Schritten gedrängt hatte. Es war ihm egal. Er wollte sicherstellen, dass es seiner Mum gut ging. Er würde es nicht verkraften können, wenn sie an Demenz oder Gedächtnisverlust oder so litt. Er hatte eben erst seinen Dad verloren – er konnte nicht auch noch sie verlieren.

»Daniel«, hatte sie völlig vernünftig geantwortet. »Verdammt, ich weiß, dass er tot ist. Ich rede von seiner Asche. Sie ist eben geliefert worden.«

Daniel atmete erleichtert aus. Sie war nicht verrückt. Na ja. Nicht verrückter als sonst.

»Aber das ist so viel wie ein verdammter Müllsack! Er ist so verdammt schwer, dass ich ihn nirgends hinschaffen kann. Deshalb steht er jetzt einfach hier. Bei mir in der Küche, neben der Hintertür. Seine ganze Asche in einem strapazierfähigen Sack, und ich weiß nicht, was ich damit machen soll.«

Daniel schloss die Augen und kniff sich benommen in den Nasenrücken. Die Asche seines Dads. Weil sein Dad tot war.

»Ich trinke jetzt einen Kaffee und erzähle ihm, deinem Dad, von Janet Petersons neuem Vauxhall Mokka. Sie haben ihn in Gold bekommen, kannst du das glauben! Gold! Und weißt du, ich sage ›neu‹, aber es ist offensichtlich ein guter Gebrauchter. Autos verlieren an Wert, sobald man mit ihnen vom Hof fährt, aber wie auch immer, es ist ein bisschen unheimlich. Dein Dad. Kannst du nach der Arbeit vorbeikommen und mir helfen?«

Daniel musste fast lachen. Er lachte tatsächlich, und dann sagte er seiner Mum, er würde gegen sieben hinüber nach Ealing Broadway fahren, und sie solle sich in der Zwischenzeit stattdessen ins Wohnzimmer setzen und sich Loose Women ansehen. Sie war in der letzten Zeit so stark, dass er sich schämte, der »Schwache« zu sein. Er wollte gerade zurück in sein Meeting gehen – er hatte buchstäblich schon die Hand auf dem Türknauf, um wieder einzutreten –, aber dann schnürte sich seine Kehle zu, und sein Hemdkragen fühlte sich eng an, und er hatte das undeutliche Gefühl, sich vielleicht übergeben zu müssen, denn auf einmal erinnerte sich sein Körper wieder aufs Neue, dass sein Dad tot war. Sein bester Kumpel. Sein größter Fan. Tot durch ein gerissenes Hirnaneurysma.

Sie hatten vor dem Sonntagsessen ein paar Gläser im Pub getrunken, und sein Dad hatte Daniel gesagt, er könne ihm bei der Anzahlung für eine Wohnung unter die Arme greifen, und keine Sorge, es sei kein Darlehen, sondern ein Geschenk, er wolle ihn gut versorgt wissen, und die Londoner Immobilienpreise seien inzwischen so irrsinnig, dass er es allein niemals schaffen würde. Es sei doch seltsam für einen Dreißigjährigen, einen Mitbewohner zu haben, meinte sein Dad – er selbst hatte in dem Alter ein Kind und eine Ehefrau. Daniel hatte erwidert, er würde darüber nachdenken, er sei ein bisschen zu stolz, um ein Almosen anzunehmen, und in London sei es ganz normal, dreißig zu sein und einen Mitbewohner zu haben, es sei eben ein teures Pflaster, er mochte die Firma, und er lebte gern in Kentish Town, und an diesem Nachmittag, bevor er später akzeptieren und »Dad, ich liebe dich, danke, dass du auf mich aufpasst« sagen konnte, war sein zweiundsechzig Jahre alter Dad zu Hause einfach umgekippt und nie wieder aufgewacht. Binnen einer einzigen Stunde war alles anders und nichts mehr dasselbe, und Daniel hatte den Mann verloren, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war.

Nach diesem Telefonat nahm Daniel Reißaus. Er machte auf dem Absatz kehrt, den Kopf gesenkt, um sein Gesicht zu verbergen, ein Gesicht, das aschfahl und tränenüberströmt war. Er nahm die Hintertreppe, alle dreiundzwanzig Stockwerke, bis hinunter ins Erdgeschoss, und stürzte durch einen Notausgang auf die Straße hinaus. Er lehnte sich keuchend mit dem Rücken gegen die Wand. Ihm war nicht bewusst, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, bis er sich schweißgebadet auf eine halbrunde Bank in der Sonne fallen ließ, irgendwo in der Nähe des Marktes. Er saß da, schloss die Augen und atmete tief durch, ließ die Tränen und den Schweiß trocknen, dachte an seinen Dad, dachte daran, wie einsam er war, wie schlecht er in letzter Zeit schlief und wie die Schlaflosigkeit das sein könnte, was ihn wirklich um den Verstand brachte.

Auf der Bank saß er anfangs mit dem Rücken zu ihr. Er hatte auf nichts Bestimmtes gestarrt, hatte sich einfach die Sonne ins Gesicht scheinen lassen und die Augen geschlossen, um ein paarmal tief durchzuatmen und sich in Erinnerung zu rufen, dass mit ihm alles gut werden würde. Er nannte es nicht ein »Mantra« in dem Sinn, aber wenn er seinen Dad über alles vermisste, sagte er sich im Stillen: »Sei am Leben und denk dran zu leben. Sei am Leben und denk dran zu leben. Sei am Leben und denk dran zu leben …«

Er nahm undeutlich eine Stimme genau über seiner linken Schulter wahr, die immer lauter wurde, und er stellte sein Ohr darauf ein, wie ein Autoradio, das auf einer Landstraße ein Signal findet, bis er klar die Stimme einer Frau hören konnte, die sagte:

»Weil sie sowieso aufgebaut werden wird, oder? Deshalb muss sie von Leuten aufgebaut werden, die aus der Unterschicht oder aus einkommensschwachen Familien kommen …«

Das war es, was Daniel aufhorchen ließ. Er war der Erste in seiner Familie, der auf die Universität gegangen war. Seine Familie war sehr bescheiden. Sein Dad hatte in vierzig Jahren, die er als Postbote gearbeitet hatte, nur drei Fehltage, und er hatte Daniel ein Studium fast ohne Schulden ermöglicht. Es war ihm wichtig gewesen, dass sein Kind die Möglichkeiten bekam, die er selbst nicht gehabt hatte. Die Stimme der Frau fuhr fort: »Künstliche Intelligenz wird sich nur dann um die ärmeren Leute kümmern, wenn es Leute aus diesen unterprivilegierten Schichten sind, die sie programmieren.«

Als Ingenieur wusste Daniel ein wenig über künstliche Intelligenz, aber nicht viel. »Die nächste industrielle Revolution«, hatte einer seiner Uni-Professoren erklärt, aber Daniel hatte sich mehr für die bekannten Größen von Mathematik und Gleichungen interessiert und dafür, Dinge für das Jetzt, nicht für die Zukunft zu bauen. Daniel reckte den Kopf ein wenig über die Schulter, um zu sehen, wer da redete. Da saß ein Typ: Anzughose ohne Gürtel, offensichtlich maßgeschneidert, um genau auf seiner Hüfte zu sitzen, schmale Nadelstreifen statt schlichtes Schwarz, die Schuhe so glänzend, dass man sich in ihnen spiegeln konnte. Er schenkte dem Mädchen einen irgendwie ironischen Blick. Ein Grinsen.

»Da bin ich mir nicht so sicher …«, meinte der Typ mit dem ironischen Lächeln.

Daniel fand ihn unsympathisch. Er sah aus wie einer dieser Typen auf der Uni, denen alles in den Schoß gefallen war. Die gut aussehenden Typen mit den athletischen Körpern, die nicht Fußball oder Rugby spielten, sondern Tennis oder Lacrosse. Sie hatten ziemlich durchschnittliche Noten, waren aber die Ersten, die überdurchschnittliche Jobs bekamen, weil ihre Familien andere Familien kannten, die ein gutes Wort für sie einlegen konnten. Daniel hatte Freunde auf der Uni gefunden, und er war immer noch mit ihnen befreundet, aber sie hatten alle schwer geschuftet. Sie waren Arbeiterkinder, deren Akzente in Gesellschaft der vornehmen Jungen seltsamerweise breiter wurden, als würden sie ihren Klassenunterschied als Schutzschild hochhalten, anstatt sich dem Druck zu beugen und ihre Herkunft zu verschleiern. Als würden sie »Fickt euch, Privilegien« sagen.

Die meisten vornehmen Typen amüsierten sich darüber, und ein paar versuchten sogar, sich mit Daniel anzufreunden, aber er hatte immer das Gefühl, dass es für sie nur ein Spiel war. Dass sie glaubten, wenn sie »keinen Klassenunterschied machten«, könnten sie einen Freund aus einer Arbeiterfamilie gewinnen, der anders sprach, und das würde Zeugnis von ihrem eigenen Charakter ablegen. Aber jeder, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, weiß, dass er niemals einem Typen trauen darf, der sagt, dass man sich mit Geld kein Glück kaufen kann. Mit Geld kann man sich Essen und Strom kaufen und einen Pullover ohne Löcher, damit man nicht ausgelacht wird. Ohne Geld kann man nicht glücklich sein.

Die Frau, die redete, blieb gelassen. Sie verlor nicht die Beherrschung, während sie diesem stinkreichen Typen ihre Theorie erklärte, aber sie war leidenschaftlich. Besorgt.