Dein Name sei Eden - Feivel Veys - E-Book

Dein Name sei Eden E-Book

Feivel Veys

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Beschreibung

Stelle dir eine Welt vor, in der eine Heilung für jedes Leiden existiert, eine Welt, in der es keine geistigen oder seelischen Behinderungen mehr auszuhalten gibt. Es wäre eine Welt des Friedens, der Schönheit und der blühenden Kultur. Ein Paradies. Ein vollwertiger Garten Eden. Stelle dir vor, du lebst in diesem Garten, glücklich und zufrieden und vollkommen. Und eines Tages triffst du unvermittelt auf eine arme Seele, die offensichtlich deiner Hilfe bedarf. Würdest du ihr deine Hand reichen?

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Über den Autor

Feivel Veys ist ein leidenschaftlicher Fremdkörper in einer Welt, die nicht verstehen möchte, warum zwei plus zwei für gewöhnlich fünf ergibt. Schreibt er nicht gerade Bücher mit unverständlichen Hauptfiguren, zerbricht er sich den Kopf darüber, weshalb Hühner die Straße überqueren wollen. In seiner Freizeit sammelt er selbstkritische Gedanken über neurodivers-heterogene Denkmuster in ihrem alterisierten Verhältnis zu allistisch-homogenen Normvorstellungen und deren literarischer Rezeption.

Wer das verstanden hat oder sich nicht davon abschrecken lässt, darf gerne auf die nächste Seite umblättern.

Zu seinen Werken gehören:

Dein Name sei Eden

Die Schwanzfedern des Kranichs

Erscheint voraussichtlich 2023

Der Werwolf von Jevole

Erscheint voraussichtlich 2023

Inhalt

Dein Name sei Eden

Anmerkungen und Erklärungen zu den Gedanken des Mädchens

Leseprobe für Die Schwanzfedern des Kranichs

„We can fix you. We can fix those who can‘t be happy because they don‘t know what abled happiness is. Better yet, we prevent them from being born altogether. The future will look brighter. Welcome to the eugenic utopia.”

Marieke Nijkamp: The Future Is (Not) Disabled; Uncanny Magazine 24

Sonntag

UND DIE ERDE WAR WUEST UND LEER, UND FINSTERNIS LAG AUF DER TIEFE; UND IHR GEIST SCHWEBTE UEBER DEM WASSER.

Das Angebot klang beinahe zu gut, um wahr zu sein. Eine sichere Kapitalanlage, eine angenehme Rendite und das alles für ein Produkt, das ethisch so vertretbar war, wie frisch gefallener Schnee. Und das Beste daran? Es war ein exklusives Angebot, das seinen Wert nicht durch eine nachträgliche Erhöhung der verfügbaren Aktien oder durch eine Herabstufung des Unternehmenswerts durch seinen Börsenindex verlieren würde. Sein Wert war ausschließlich an den Nutzen des Produkts gebunden und nichts anderes. Solange sich nicht herausstellte, dass es über Nacht seine Wirkung verlieren würde, würde sein Wert auf einem stabilen Niveau bleiben. In einem Wort: es war perfekt.

Ich ließ meinen Blick ein weiteres Mal über den Brief schweifen, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich nicht träumte.

Mit Ihrer Unterstützung leisten Sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Verbesserung der Menschheit, zu ihrem Schutz vor und zu ihrer Heilung von Leiden jeder Art. Die FourTee Corporation lädt Sie dazu ein, die finanzielle Patenschaft für ihr jüngstes Produkt, das Serum „Panacea 14f13 Karellen“, zu übernehmen. Wir erhoffen uns nicht weniger, als sämtliche Beeinträchtigungen aus unserem Leben zu verbannen und neurale Schäden jeglicher Art auszugleichen. Wir–

»Hey, Mister!« Ich senkte die Einladung in meiner Hand. Keine zwei Meter von mir entfernt saß eine junge Frau auf einem Geländer und ließ ihre Beine baumeln. Hinter ihrem Rücken strömte gemächlich der Pischon vorbei. »Du kannst dir die Mühe auch sparen. Es wird sich nicht auszahlen.«

»Was?«

Sie nickte in Richtung meines Briefes. »Dein kleines Spielzeug. Es wird dich nicht glücklich machen. Du könntest dein Geld vermutlich auch genauso gut an Enten verfüttern und beobachten, wie sie eine nach der anderen untergehen. Dann hättest du wenigstens etwas Interessantes zu beobachten.«

Ich schaute mir die Frau etwas genauer an. Sie war jung, vielleicht Anfang zwanzig, dunkelhaarig, Iris-Heterochromie, das eine Auge moosig-blau, das andere schlammgrün. Spätestens ihre Kleidung ließ keinen Raum mehr für Zweifel. Ein schwarzes Top, das bereits knapp über ihrem Bauch endete und mehr Haut freiließ als es verdeckte, ein kurzer Rock aus blauem Denim und ein überlanger Mantel, den sie wie einen schweren Stoffvorhang zwischen das Geländer und ihre Beine geklemmt hatte. Sie war eine Schlange, wie sie im Buche stand und brauchte offensichtlich Hilfe.

Aber nicht von mir.

»Was weiß eine Schlange schon von solchen Dingen? Such‘ dir Hilfe.«

»Hilfe?« Das Mädchen schaukelte mit den Beinen und legte seine Hände ineinander. »Ich schätze, wir alle suchen nach Hilfe. Du wirst sie aber nicht auf dem Boden einer Pillendose finden. Die sind viel zu bitter dafür.«

»Karellen ist keine Pille.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig?«

»Natürlich ist das wichtig. Ohne Karellen gibt es keine Heilung, keine Perfektion.«

»Perfektion ist langweilig und bedarf daher auch keiner Behandlung.«

Ich war sprachlos. Selbst für eine Schlange war sie ungewöhnlich frech und zeigte keinen Respekt für diejenigen, die sich für eine bessere Welt einsetzten. Wie sich überhaupt jemand so offen für das Leid anderer Menschen aussprechen konnte, ohne sich dabei zu schämen, war mir schleierhaft.

»Und das entscheidest du, Schlange?«

»Oder du, Mensch?« Sie kratzte sich an der Nase. »Haben wir Reptilien denn keine Mitsprache dabei?«

»Was für eine dumme Frage.«

»Und was für eine ehrliche Antwort.« Sie schwang ihre Beine über die Brüstung und kam auf mich zu. »Manchmal habe ich das Gefühl, die Welt selbst ist verrückt geworden und versucht uns alle in den Wahnsinn zu treiben, einen nach dem anderen, bis wir uns in Heilmitteln, Pillen und Therapien gegenseitig ertränken können.«

»Ein kleiner Preis für unser Glück.«

»Wessen Glück?« Sie strahlte mich plötzlich an und streckte mir ihre Hand entgegen. Ein kleiner, verschrumpelter Käfer lag inmitten ihrer Handfläche. »Möchtest du eine Rosine? Ich habe gehört, auch sie können glücklich machen.«

Ich schüttelte meinen Kopf.

»Mhm, vielleicht hast du recht.« Sie hob die getrocknete Frucht vor die Augen und verzog ihren Blick zu einem lächerlichen Schielen. »Rosinen sind im Grunde genommen auch nichts anderes als verkrüppelte Trauben, nicht wahr? Sie werden getrocknet, bis alles Leben aus ihnen herausgepresst worden ist und nichts anderes mehr von ihnen übrigbleibt als eine zusammengeschrumpelte Hülle. Sie sind bitterer, süßer als normale Trauben, aber manche mögen sie trotzdem.« Mit einer raschen Bewegung ihres Handgelenks warf sie die Frucht in den Fluss hinein. »Ich mag auch keine Rosinen.«

»Warum trägst du sie dann mit dir herum?«

»Das tue ich doch gar nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Oder siehst du hier irgendwelche Rosinen?«

»Nein, und ich denke, du hast den Verstand verloren.«

»Wäre das denn so schlecht? Ich bin immerhin glücklich, oder?«

Ich trat demonstrativ einen Schritt zurück. Sich von einer Schlange in ein Gespräch verwickeln zu lassen, war niemals eine gute Idee, ihr tatsächlich zuzuhören schlichtweg leichtsinnig. Sie verbogen die Wirklichkeit so lange, bis kaum noch etwas anderes Sinn ergab als ihre eigene verdrehte Realität. Man konnte sich nur dann sicher mit ihnen verständigen, wenn man sie ausblendete und ignorierte. Alles andere führte früher oder später gefährlich nahe an ihre Wahnvorstellungen heran.

Ohne ein weiteres Wort an das Mädchen zu verschwenden, wandte ich mich ab und schritt an ihr vorbei. Ich hatte Wichtigeres zu erledigen, als mir weiterhin ihre selbsttäuschenden Spinnereien anhören zu müssen. Das Mädchen zuckte mit keiner Wimper.

»Wir sehen uns später, Mister. Versuch’ nicht allzu viele Enten zu versenken.«

DA SCHIED SIE DAS LICHT VON DER FINSTERNIS UND NANNTE DAS LICHT TAG UND DIE FINSTERNIS NACHT.

Die zentrale Zweigstelle der FourTee Corporation in Eden war ein ästhetizistisch-eklektischer Hochbau, wie es ihn kein zweites Mal geben konnte. Seine weiß gezackten Türme ragten aus einem starren Glasplattenbau heraus, wie die Blütenblätter einer Sonnenblume sich stolz aus ihrem kernigen Bett erhoben. Kein anderes Gebäude der Stadt konnte sich mit seiner schlichten Eleganz messen. Sein Erdgeschoss bestand im Gegensatz zu den oberen Etagen aus einer endlosen Reihe aus geschwärzten Fenstern, die die Plakette mit dem Motto der Firma über den Flügeln des Eingangsportals geradezu aufleuchten ließ. Ihre eingravierten Worte jagten mir jedes Mal aufs Neue einen wohligen Schauer durch den Körper.

Recupera Invalidorum Perfectio

Als ich durch die Eingangshalle schritt, schlug mir ein Schwall kühler, klimatisierter Luft entgegen.

»Willkommen, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«

Eine attraktive Frau kam mit einem Klemmbrett in ihrer Hand auf mich zugeeilt. Blonde Haare, haselnussbraune Augen, weiße Kleidung, Anfang/Mitte Dreißig. Sie war zweifelsohne ein Mensch und so gesund und munter wie eine kleine Lerche. Nach meinem zwangsläufig frustrierenden Aufeinandertreffen mit der Schlange heute Morgen war sie eine wohltuende Abwechslung.

»Möglicherweise. Ich habe ein Angebot für die Patenschaft des Panacea Karellen erhalten. Bin ich bei Ihnen richtig?«

»Natürlich, Sir. Folgen Sie mir. Sie können mich übrigens Carina nennen.« Carina steckte sich ihr Klemmbrett unter den Arm und griff nach meiner Hand, bevor sie mich durch die Zentrale führte. »Sie können sich glücklich schätzen, Sir. Ich denke, Sie werden von unserem Angebot begeistert sein. Wir hegen große Hoffnungen in Karellens Fähigkeiten.«

»Was genau können Sie mir eigentlich anbieten?«

»Eine Beteiligung. Sie investieren in Karellens medialen Erfolg und tragen damit indirekt zur Aufwertung der Menschheit bei. Im Gegenzug erhalten Sie gemeinsam mit den anderen Unterstützern einen prozentualen Anteil an den Erlösen des Heilmittels.«

»Ist es wirklich so vielversprechend, wie ich gehört habe?«

Carina lächelte mich an. »Zugegeben, ich werde zwar dafür bezahlt, insbesondere die Vorzüge unserer Produkte hervorzuheben, aber in diesem besonderen Fall ist das noch nicht einmal nötig. Karellen hat unsere Erwartungen bisher nicht enttäuscht und in vielen Fällen sogar noch übertroffen. Nach unserer letzten Zählung haben wir bisher 70.273 Menschen von ihren Leiden befreien können.« Sie zückte ihr Klemmbrett und blätterte durch ihre Unterlagen. »13.720 geheilte Persönlichkeitsstörungen bei Männern, 10.072 bei Frauen. 18.269 Fälle von Autismus, 9.772 Fälle von ADHS, sowie 9.839 Fälle von psychischen Störungen und von 8.601 mentalen Defekten aller Art. Misserfolge hatten wir bislang noch keinen Einzigen. Karellen mag zwar nicht in der Lage sein, ein amputiertes Bein oder ein fehlendes Auge nachwachsen zu lassen, doch dafür leistet es wahre Wunder, wenn es darum geht, gestörte Gehirne vollständig zu normalisieren.«

»Ist das nicht unethisch?«

Carina fuhr zu mir herum und sie starrte mich scharf an, als hätte ich schlagartig selbst den Verstand verloren. Doch dann legte sich ein Grinsen über ihre Lippen und sie begann lauthals zu lachen.

»Ein guter Witz, Sir. Ich hatte schon befürchtet, Sie meinen das ernst.«

»Natürlich nicht. Ich denke, FourTee leistet einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft.«

»Das denke ich auch.« Carina führte mich in ein kleines Büro am anderen Ende der Halle und setzte sich hinter einen Schreibtisch aus fein säuberlich poliertem Chrom. Ich selbst ließ mich ihr gegenüber auf einem überraschend bequemen Stuhl nieder. »Karellen gibt uns endlich die Chance, es kranken Menschen zu ermöglichen, ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft zu werden. Keine zeitraubenden Therapien mehr, keine überflüssigen Medikamente und keine kostspieligen Umbauten öffentlicher Gebäude auf unsere Kosten. Wir können sie endlich reparieren. Wir können endlich diejenigen reparieren, die nicht in der Lage sind, wie wir glücklich zu werden, weil sie nicht wissen, was es bedeutet, wahrhaft glücklich zu sein.«

Ich nickte. Karellen klang wirklich vielversprechend und bisher hatte sie mir noch nichts erzählt, was mich vom Gegenteil überzeugt hätte.

»Wie sieht es eigentlich mit Nebenwirkungen aus? Jedes Medikament besitzt für gewöhnlich unbeabsichtigte Nebenwirkungen, die seinen Nutzen einschränken und ein Wundermittel wie Karellen wird doch sicher keine Ausnahme sein, oder?«

»Es gibt keine.«

»Keine Sorge, Carina. Ich bin bereits überzeugt und nehme Ihr Angebot gerne an. Sie können mir also ruhig die Wahrheit erzählen.«

Carina setzte eine betont ernste Miene auf und straffte dezent ihren Rücken. »Ich meine es ernst, Sir. Es gibt keine Nebenwirkungen.« Sie schob ihr Klemmbrett über den Schreibtisch und blätterte die ersten zwei, drei Seiten um, bevor sie mit ihrem Finger liebevoll über die Ränder des Papiers glitt. »Sie können sich gerne selbst vergewissern. Sowohl die paneurasische Arzneimittelbehörde Asklepios als auch die Yàopn-Union der Seidenstraßenallianz haben unsere Testergebnisse bestätigt. Wir warten noch auf eine offizielle Rückmeldung aus Großbritannien, doch inoffiziell hieß es bereits, dass auch sie keine Bedenken haben. Soweit wir es sagen können, haben wir mit Karellen tatsächlich den heiligen Gral der Neuralmedizin gefunden.«

UND DIE ERDE LIESS AUFGEHEN GRAS UND KRAUT, DAS SAMEN BRINGT, EIN JEDES NACH SEINER ART, UND BAEUME, DIE DA FRUECHTE TRAGEN, IN DENEN IHR SAME IST, EIN JEDER NACH SEINER ART.

Als ich die Zentrale wieder verließ, hatte ich ausgesprochen gute Laune. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin und ich hatte in meiner Tasche einen Vertrag, der mir nicht nur langfristig ein bescheidenes Vermögen einbringen konnte, sondern auch noch ganz nebenbei die Menschheit von zweifelsohne unnötigen Beeinträchtigungen befreien würde. Heute war wirklich ein guter Tag.

Carina war überaus zuvorkommend gewesen. Sie hatte sich nicht nur die Mühe gemacht, mir geduldig meine Fragen zu beantworten, obwohl ich längst ihren Vertrag unterschrieben und ihr meinen Scheck überreicht hatte, sondern hatte mir auch noch ein kleines Fläschchen des Serums selbst in die Hand gedrückt. Ein Teil von mir hatte erwartet, dass es sich bei ihm um ein tiefgoldenes Wunderwasser handelte, das die Farbe von gereiftem Apfelwein und den Geschmack von Ambrosia entfalten konnte. Nach all den Versprechen über ein Heilmittel, das psychische Schäden praktisch über Nacht verschwinden lassen konnte, war ich etwas enttäuscht, dass sich Karellen als eine ganz normale Flüssigkeit in einem braun gefärbten Glas herausgestellt hat, wie man es in jeder Apotheke bekommen konnte. Letzten Endes spielte es aber keine Rolle. Was zählte, war sein Nutzen, und nicht seine Erscheinung.

Einer spontanen Eingebung folgend kaufte ich mir von einem Straßenhändler einen Apfel und schlenderte am Ufer des Pischon entlang. Es war ein schöner Tag und ich hatte keine weiteren Verpflichtungen mehr. Mein Gespräch mit Carina hatte jedoch in mir den Wunsch geweckt, selbst etwas Gutes zu tun. Mein Geld würde zwar die PR-Maschinerie der FourTee Corporation eine Weile lang am Laufen halten und dabei helfen, Karellen bekannter zu machen, doch wollte ich auch selbst dazu beitragen, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Ich kannte in meiner direkten Umgebung zwar niemanden, der meine oder Karellens Hilfe wirklich gebrauchen konnte, aber zur Not konnte ich auch versuchen, einer Schlange den unnötigen ernst ihrer Lage begreiflich zu machen. Immerhin, eine Schlange war im Grunde genommen auch nichts anderes als ein Mensch auf Abwegen und verdiente eine zweite Chance.

»Hey, Mister! Haben die Enten dein Geld geschluckt?«

Ich zuckte zusammen, als hinter mir eine vertraute Stimme die Stille durchbrach und mich aus meinen Gedanken riss. Genervt drehte ich mich um und suchte nach der Schlange, die sich heute schon zum zweiten Mal heimlich an mich herangeschlichen hatte, doch der Gehweg und das Geländer am Flussufer waren leer.

»Ich bin hier oben.«

Ich hob meinen Blick. Das Mädchen mit den verrückten Augen baumelte in knapp zwei Metern Höhe kopfüber an einem Ast. Ihr langer Mantel hing wie eine schwarze Leinwand hinter ihrem Rücken und ließ den Wahnsinn in ihren Augen bedrohlich aufleuchten. Ihr ohnehin zu kurz geratenes Top war nach unten gerutscht und wurde lediglich von ihren verschränkten Armen aufgehalten. Dass dabei der Ansatz ihrer Brüste unter dem Stoff hervorblitzte, schien sie nicht weiter zu kümmern. Der Anblick war so bizarr, dass ich einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass ich keine Halluzinationen hatte.

»Du kannst ruhig mit mir sprechen, Mister. Ich bin ein Mensch und kein Baselitz.«

»Du bist eine durchgeknallte Schlange und kein Mensch.«

»Findest du?« Sie löste einen Arm von ihrer Brust und strich sich mit den Fingern über ihre Haut. »Wie es sich wohl anfühlen würde, Schuppen zu haben? Das muss wirklich faszinierend sein.«

Ich schloss für einen Moment meine Augen und atmete tief durch. Ich bin schon früher Schlangen begegnet, doch keine war bisher so verrückt wie dieses Mädchen gewesen. Für gewöhnlich reichte es aus, ihnen klarzumachen, dass sie keine normalen Menschen waren, und sie verkrochen sich eingeschnappt wieder in die Löcher, aus denen sie zuvor herausgekrochen waren.

Ich öffnete meine Augen und sah sie mir etwas genauer an. Äußerlich betrachtet unterschied sie sich nicht nennenswert von anderen Schlangen. Sie war und kleidete sich seltsam, verhielt sich bizarr und dürfte auch mehr als nur einen Dachschaden haben. Ihre Haut war von einer leicht talgigen Schicht bedeckt und in ihrem Gesicht fanden sich überall Spuren kleinerer Pickel. Alles an ihr schrie geradezu nach Mitleid. Sie brauchte dringend Hilfe und bemerkte es vermutlich noch nicht einmal selbst. Wenn ich schon einer Schlange helfen wollte, konnte es auch genauso gut diese hier sein.

Ich atmete noch einmal tief durch. »Was machst du überhaupt dort oben?«

»Ich wollte herausfinden, was Äpfel denken, wenn sie schlafen.«

Ich biss mir auf die Zunge und verkniff mir einen schnippischen Kommentar. »Und was denken Äpfel?«

Sie zuckte mit den Schultern. Unter normalen Umständen mochte die Geste vielleicht gelassen wirken, doch auf dem Kopf sah es eher so aus, als kämpfte sie mit spastischen Zuckungen.

»Ich weiß nicht. Ich fühle mich gerade eher wie eine Traube.« Sie zögerte. »Hier ist kein Fuchs in der Nähe, oder?«

»Es gibt hier keine Füchse.«

»Gut. Ich bin ohnehin noch nicht reif genug.«

Ich schüttelte meinen Kopf. Das Mädchen war wirklich verrückt. »Du brauchst offensichtlich Hilfe, Schlange. Gibt es einen Ort, wo wir beide uns miteinander unterhalten können?«

»Mhm…« Sie stülpte ihre Lippen nach außen und zog eine Schnute. »Hey, möchtest du vielleicht einmal zu mir heraufkommen?«

»Ich soll zu dir auf den Baum klettern? Mach‘ dich nicht lächerlich.«

Das Mädchen kicherte. »Nein, ich meine, ob du zu mir in meine Wohnung kommen möchtest. Ich wohne gleich dort oben.« Sie streckte ihren Arm in die Höhe und ließ für einen kurzen Moment ihr Top noch weiter herunterrutschen, bevor sie den herabfallenden Stoff mit der anderen Hand fester gegen ihren Körper presste. »Es ist wirklich nicht weit, sofern man Treppenstufen mag.«

»Und wenn man keine Treppenstufen mag?«

»Dann ist es immer noch nicht weit, fühlt sich aber so an.«

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, beugte sie sich vornüber und griff nach dem Ast, auf dem ihre Beine lagen. Sie zog sich nach oben, bis sie sich über ihn hinwegstemmen konnte und ließ sich wie ein überreifer Apfel einfach ins Gras fallen. Mehr aus Instinkt denn aus echter Besorgnis heraus sprang ich über die kleine Mauer, die den Gehweg von der dahinterliegenden Wiese abtrennte, und rannte auf sie zu.

»Ist alles in Ordnung?«

»Klar doch.« Sie stolperte zurück auf ihre Beine und wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über ihr Gesicht. Kleine Grasstückchen klebten an ihrer Wange und auf ihren Lippen. »Gehen wir?«

Ehe ich etwas erwidern konnte, griff sie nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus. Zuzustimmen, die Wohnung einer Schlange zu betreten, war vermutlich ein übereilter Schritt und nicht gerade meine beste Idee gewesen. Wenn sich ihre Wohnung auch nur annähernd in einem ähnlichen Zustand befand wie ihr Verstand, standen die Chancen nicht schlecht, dass ich selbst eher früher als später wahnsinnig werden würde und mein Heilmittel selbst gebrauchen konnte.

Auch wenn ich noch niemanden getroffen habe, der auch ernsthaft zugegeben hätte, wirklich die Wohnung einer Schlange betreten zu haben, gab es genug Gerüchte, um mir ein präzises Bild von dem machen zu können, was mich erwarten dürfte: abgedunkelte, feuchte Räume, Fliegen und anderes Ungeziefer, kalte Wände, schimmliges Essen in der Spüle. Es waren zwar kaum mehr als Gerüchte, doch handelte es sich bei ihnen immer um die gleichen Geschichten. Wenn schon nichts anderes, mussten sie doch einen gemeinsamen Kern besitzen, der der Wahrheit zumindest nahekommen dürfte.

Das Treppenhaus jedenfalls bestätigte zumindest einen Teil meiner Befürchtungen. Die Wände waren rau und unverputzt und ein Großteil der Lampen war ausgefallen oder so weit beschädigt, dass sie gerade noch genug Licht spendeten, um die Treppe in vereinzelte Lichtkegel zu tauchen. Ich persönlich würde lieber auf der Straße leben als in so einem Gebäude wohnen zu müssen. Dem Mädchen jedoch schien der Zustand des Hauses nichts auszumachen.

»Warum nehmen wir eigentlich nicht den Fahrstuhl?«

»Du meinst die Blechkammer? Die dient nur zur Dekoration. Ich glaube nicht, dass sie schon jemals in Betrieb genommen worden ist.«

»Warum ihn dann überhaupt einbauen?«

»Inklusion, vielleicht?« Das Mädchen fing plötzlich an zu lachen. »Eigentlich gar keine so schlechte Idee. Eine Treppe ermöglicht den Einbeinern, sich wie Zweibeiner zu verhalten. Ein funktionierender Fahrstuhl dagegen würde Zweibeiner wie Einbeiner aussehen lassen. Ist also wohl keine sonderlich gute Idee. Warum haben wir eigentlich nicht mehr Beine?«

Ich schwieg und folgte ihr die restlichen Stufen hinauf, bis wir schließlich vor einer weiß getünchten Holztüre standen. Sie war ebenso eintönig wie die starren Betonwände, wenn auch etwas angefressener. Kleine Löcher in der Farbe deuteten auf einen ersten Befall von Holzwürmern hin, die langsam von innen heraus die Integrität der Türe bedrohten. Das Mädchen schien sich an alldem nicht sonderlich zu stören. Vielmehr verschwand sie unter ihrem Mantel und verschwamm nahtlos mit den restlichen Schatten. Sie war anscheinend ein fester Bestandteil des Hauses und dringend sanierungsbedürftig.

»Da wären wir.«

Das Mädchen öffnete die Türe und trat ins Innere. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, schlüpfte ich hinter ihr in die Wohnung. Die Wohnung selbst machte einen ebenso heruntergekommenen Eindruck wie das Treppenhaus, war an sich aber wenigstens klar strukturiert. Soweit ich es erkennen konnte, bestand sie in erster Linie aus einem einzelnen, länglichen Raum, an dessen gegenüberliegenden Enden jeweils ein Wohnzimmer und eine schlichte Küche eingerichtet waren. Auf der anderen Seite zweigten zwei kleinere Räume in ein Bad und ein Schlafzimmer ab. Einen Flur oder weitere Räume konnte ich auf die Schnelle nicht entdecken. Ich rümpfte meine Nase.

»Was ist das für ein beißender Geruch?«

»Aceton.« Sie streifte sich ihren Mantel vom Leib und warf ihn über ein Holzgestell, das seltsam deplatziert in der Mitte des Raums stand. »Ich male und brauche das Aceton, um die Farbe wieder aus meinen Sachen herauswaschen zu können. Ich finde, es riecht irgendwie süß.«

Ich konnte ihr nicht zustimmen. Aceton war eine reizende Chemikalie und kein Raumerfrischer. Der starke Geruch brannte in meinen Augen und verursachte bei mir Kopfschmerzen.

»Ich habe etwas für dich.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte den gleichen Ausdruck im Gesicht, wie ein getretener Welpe, dem man urplötzlich einen Leckerbissen anbot.

»Ein Geschenk?«

»So etwas ähnliches.« Ich griff in meine Tasche und ließ meine Finger durch ihren Inhalt gleiten. Als sie sich auf das kalte Glas von Carinas Panacea legten, zögerte ich plötzlich. Jetzt, da ich tatsächlich in der Wohnung einer Schlange stand, wollte ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen, und wieder in die Gesellschaft von echten Menschen zurückkehren. Doch eine Stimme in meinem Hinterkopf riet mir, mich noch für eine Weile zurückzuhalten. Immerhin war ich gerade im Begriff, für eine vollkommen Fremde ein wertvolles Arzneimittel aus der Hand zu geben. Ich war mir nicht nur unsicher, ob ich es wirklich an diese Schlange verschwenden sollte, es war auch fraglich, ob sie es überhaupt zu schätzen wissen würde. So, wie ich sie einschätzte, würde sie es vermutlich einfach in den nächsten Abguss kippen. Vielleicht konnte ich ihr auch helfen, ohne dass ich gleich mein Panacea verschwendete. »Es ist nur eine Kleinigkeit, aber ich möchte mich nicht in deine Wohnung einladen lassen, ohne dir etwas mitzubringen.«

Ich reichte ihr den Apfel.

Das Mädchen nahm ihn mit zitternden Händen entgegen. »Er ist wunderschön.«

Ich zögerte und stellte meine Tasche zwischen uns auf den Boden. »Es ist nur ein Apfel.«

Anstatt mir zu antworten, drehte sie sich um und lief zu einem Tisch in ihrem Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Ein Teil von mir musste zugeben, dass ich durchaus gespannt darauf war, was sie nun wieder anstellen würde. Als sie sich zu mir umdrehte, hielt sie eine Rose in der Hand. Mit einer raschen Bewegung stach sie den Stiel der Blume in den Apfel hinein.

»Warum hast du das gemacht?«

»Ich weiß nicht.« Sie hob den Arm und hielt mir ihre improvisierte Vase direkt vor das Gesicht. »Äpfel bedeuten Leben und ich will, dass auch meine Rose überlebt.«

Ich beugte mich leicht nach vorne und besah mir ihre Rose etwas genauer. Es war eine ausgesprochen ungewöhnliche Sorte. Sie hatte weder Dornen noch Blätter, einen steifen Stil und strahlend blaue Blüten.

»Sie ist aus Plastik.«

»Na und?«

»Sie kann nicht sterben.«

»Jetzt jedenfalls nicht mehr.«