Die Schwanzfedern des Kranichs - Feivel Veys - E-Book

Die Schwanzfedern des Kranichs E-Book

Feivel Veys

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Beschreibung

Kein Trost ohne Tränen. Kein Urteil ohne Leid. Keine Gerechtigkeit ohne Opfer. Unser Gewissen verpflichtet uns dazu, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, ihren Opfern zu helfen, ihr Leid zu lindern und ihnen Trost zu spenden. Doch was ist, wenn unser Gewissen uns täuscht? Wenn die Gerechtigkeit zu einem Köder wird? Der Trost zu einem Spektakel für die Massen? Dann betreten wir die Welt des Mitleids und der Anmaßung. Willkommen in der Welt von Hunter's Edge.

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Seitenzahl: 351

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Über den Autor

Feivel Veys ist ein leidenschaftlicher Fremdkörper in einer Welt, die nicht verstehen möchte, warum zwei plus zwei für gewöhnlich fünf ergibt. Schreibt er nicht gerade Bücher mit unverständlichen Hauptfiguren, zerbricht er sich den Kopf darüber, weshalb Hühner die Straße überqueren wollen. In seiner Freizeit sammelt er selbstkritische Gedanken über neurodivers-heterogene Denkmuster in ihrem alterisierten Verhältnis zu allistisch-homogenen Normvorstellungen und deren literarischer Rezeption.

Wer das verstanden hat oder sich nicht davon abschrecken lässt, darf gerne auf die nächste Seite umblättern.

Zu seinen Werken gehören:

Dein Name sei Eden

Die Schwanzfedern des Kranichs

Der Werwolf von Jevole

Erscheint voraussichtlich 2023

Vorabhinweis

Dieser Roman erzählt nicht einfach nur eine beliebige Geschichte, sondern möchte unter anderem darauf aufmerksam machen, dass sexualisierte Gewalt insbesondere Frauen gegenüber nach wie vor einen viel zu unreflektierten ‚Unterhaltungswert‘ in unserer Kultur darstellt. Ich halte es daher für wichtig, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass die Geschichte Szenen enthalten kann, die für betroffene, sensible oder besonders empathisch veranlagte Menschen mitunter unangenehm werden können.

Solltest Du selbst einmal sexualisierter Gewalt ausgesetzt worden sein, bedenke, dass du nicht allein bist. Schreie es in die Welt hinaus - und die Welt wird Dir zuhören.

Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen erreichst Du unter 08000 116 016 oder auf www.hilfetelefon.de.

Eine Beratungsstelle für Frauen, Lesben, Transgender, queere und neurodiverse queere Menschen erreichst du unter 069/43 00 5233 oder auf www.gewaltfreileben.org.

Eine Beratungsstelle für Jungen, Männer und Transgender erreichst du unter 040/39 84 26 62 oder auf www.basis-praevent.de.

Feivel Veys, Stand März 2023

Inhalt

Die Schwanzfedern des Kranichs

Nachwort des Verfassers

Anmerkungen zu Textinhalten (Empfohlen für Zweitleser)

Leseprobe

»Was uns not tut, ist nicht, verschont zu werden. Was uns not tut, ist von Zeit zu Zeit richtig aufgestört zu werden. Wie lange ist es her, seit du richtig verstört warst? Aus einem triftigen Grund, einem wesentlichen Grund?«

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

»Das Gewissen urteilt streng über unsere Gedanken und unsere geheimsten Taten und irrt sich nie. Da es oft machtlos ist, das Böse zu verhüten, hört es nicht auf, den Menschen zu hetzen, wie ein Fuchs, besonders in der Dunkelheit.«

Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror, Zweiter Gesang, 15. Strophe.

Hunter’s Edge

139Pkt.

»Es gibt Stunden im Leben, da der Mensch mit verlaustem Haar starren Auges Raubtierblicke auf die grünen Membranen des Raumes wirft; denn ihm ist, als höre er vor sich das Hohngelächter eines Gespenstes. Er schwankt und beugt das Haupt: was er gehört hat, ist die Stimme des Gewissens. Und während er eine verstohlene Träne des Erbarmens trocknet, die aus seinem eisigen Augenlied fließt, ruft er:

‚Gewiß, sie verdient es; und es ist nur Gerechtigkeit.‘

Nachdem er dies gesagt hat, wird seine Haltung wieder ungesellig und er betrachtet weiter, nervös zitternd die Menschenjagd und die großen Lippen der Schattenscheide, aus der unaufhörlich, gleich dem Strom, ungeheure, lichtscheue Samentierchen quillen, die sich in den grausigen Äther emporschwingen–«

Ein blecherner Pfeifton drang aus meinem Ohrstecker und ich klappte das Buch in meinem Schoß wieder zu. Die Werbepause neigte sich langsam dem Ende zu und ich musste mich wieder in Bewegung setzen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, richtete ich mich auf, steckte das Buch zurück in die Tasche und wandte mich an die Kamera.

»Ich weiß, es ist eine etwas seltsame Geschichte und man braucht bisweilen einen starken Magen für sie. Aber wenn man sich erst einmal in sie hineingelesen hat und anfängt, sie auf einem künstlerischen Niveau zu begreifen, kann sie wirklich herzerwärmend sein. Leider ist unsere Zeit schon wieder abgelaufen, aber vielleicht finden wir später noch eine weitere Gelegenheit, sodass ich euch mehr über sie erzählen kann. Bis dahin geht es aber erst einmal mit unserem üblichen Programm weiter. Komm, Fido. Bei Fuß!«

Ich klopfte demonstrativ gegen meinen Oberschenkel und nickte Fido auffordernd zu, während ich auf den zweiten Pfeifton wartete, der das tatsächliche Ende der Werbepause markierte. Fido war ohne jeden Zweifel der beste Freund des Mannes und gehorchte jedem meiner Befehle aufs Wort. Er war treu, anhänglich und ich war mir sicher, dass er mich freudestrahlend anhecheln und dabei kräftig mit dem Schwanz wedeln würde, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Doch leider war Fido nun mal kein Hund und besaß daher auch keinen Schwanz, mit dem er hätte wedeln können. Stattdessen starrte er mich mit seinem großen, glasigen Auge erwartungsvoll an.

Der zweite Pfeifton durchbrach die Stille und ich räusperte mich rasch in seinem akustischen Schatten.

»Willkommen zurück bei Hunter’s Edge – The Wildlife Channel. Für diejenigen von euch, die sich in der Zwischenzeit mit unseren Sponsoren vertraut gemacht haben, noch einmal zur Erinnerung: Wenn ihr unser volles Programm abonniert, erhaltet ihr nicht nur Zugang zu unseren werbefreien off-screen Inhalten, sondern könnt euch auch kostenlos für einen der beiden Gastplätze für die nächste Folge registrieren. Der Gewinner wird ausgelost, jeder erhält also eine faire Chance. Und nun: Waidmannsheil!«

Ich löste mich von der Kamera und lief über das offene Feld in Richtung der Waldkante, die sich wie ein dunkler Schatten am Horizont entlangschlängelte. Diese Werbeansagen hatte ich noch nie ausstehen können, doch waren sie leider ein notwendiges Übel. Selbst ein interkontinentaler Medienerfolg wie Hunter’s Edge war noch immer auf externe Werbeeinnahmen angewiesen, um seine Produktionskosten decken zu können. Unsere Einnahmen aus Aboverträgen, das dazugehörige Merchandising, die exklusiv verhandelten Einladungen zu den offiziellen Jagdpartys unter unseren Abonnenten und der öffentlich versteigerte zweite Platz für einen Gastauftritt in der nächsten Folge konnten zwar bereits einen beträchtlichen Teil der regulären Kosten decken, doch fehlte am Ende des Monats noch immer eine beachtliche Summe, um die hohen Ausgaben der Sendung vollständig begleichen zu können. Zusätzliche Werbeverträge waren damit leider unvermeidbar.

Bei einer näheren Betrachtung war das aber auch kein Wunder. Hunter’s Edge zog wirklich alle Register, wenn es um innovative Formen der Unterhaltung ging. Welche andere Fernsehsendung konnte von sich behaupten, einen Jagdbezirk mit einer Fläche von annähernd 250km2 aufzubereiten, vier Mal im Jahr frisches Wild bereitzustellen und das alles auch noch als interaktives Liveereignis zu präsentieren? Hunter’s Edge hatte mit seinem Aufwand bislang alle Rekorde gebrochen und generierte nicht umsonst die größte mediale Aufmerksamkeit seit der Freischaltung des Internets für die Öffentlichkeit.

Die Sendung selbst folgte dabei einer ebenso schlichten wie traditionellen Prämisse: Eine ausgewählte Gruppe von Jägern sucht und erlegt in Echtzeit sorgsam präparierte Wildtiere in einem eigens dafür ausgewiesenen Areal. Der entscheidende Unterschied zu vergleichbaren Programmen bestand jedoch darin, dass Hunter’s Edge mit seinem Konzept eine neue Dimension von Unterhaltung angestoßen hatte und das Jagderlebnis in Norbert Normalzuschauers eigene Wohnung verlagern konnte, indem dieser den Verlauf der Jagd und das Vorgehen der Jäger durch spontane Instantwahlen aktiv beeinflussen durfte.

Fido blieb dabei noch immer das beste Beispiel für diese Entwicklung. Die alten Kamerateams hätten niemals mit einem Jäger auf der Pirsch Schritt halten können und hätten darüber hinaus das Wild schon von weitem auf sich aufmerksam gemacht. Eine ordentliche Jagd wäre unter traditionelleren Umständen unmöglich gewesen und eine entsprechende Reportage hätte auf gestellte Szenen zurückgreifen müssen. Doch durch den gezielten Einsatz frei beweglicher Kameradrohnen wie Fido war es nun möglich, wahlweise einem Jäger oder dem fliehenden Wild auf Schritt und Tritt zu folgen und dabei nicht mehr als ein leises Surren von sich zu geben. All die unzähligen Tontechniker, Wartungsarbeiter und Kameraleute wurden zwar noch immer benötigt -tatsächlich sogar mehr denn je-, doch waren sie inzwischen vom eigentlichen Set verbannt. Das Ergebnis war ein interaktives Erlebnis, das man auf andere Weise nicht produzieren konnte.

Ich selbst war ausgesprochen stolz darauf, an der Sendung teilnehmen zu dürfen. Als direkter Vertreter des Produktionsteams war ich zwar von dem eigentlichen Wettbewerb der Jäger ausgeschlossen, doch sicherte mir genau das einen festen Platz in den Jagdteams als Gradmesser für die Leistung der anderen Teilnehmer, sodass ich mir keine Sorgen machen musste, durch einen erfolgreicheren Jäger oder gar einen der beiden Gäste ersetzt zu werden. Solange meine Punkte in einem akzeptablen Bereich blieben und die Zuschauer mit meinen Leistungen zufrieden waren, würde auch ich ein integraler Bestandteil der Sendung bleiben.

Tatsächlich erreichte ich trotz meines abgesicherten Status oftmals sogar eine ausgesprochen hohe Punktzahl. Den Rückmeldungen nach zu urteilen, die das Produktionsteam während der Sendung gelegentlich live zu mir durchstellte, neigte ich anscheinend dazu, die Erwartungen der Zuschauer zu durchbrechen, insbesondere wenn es darum ging, ihnen die eingefangene Beute zu präsentieren. Die anderen Jäger gingen ihnen dabei für gewöhnlich viel zu vorhersehbar vor. Entsprechend gerne nahmen sie meine Position ein und folgten meinem Kanal häufiger als denen der anderen Jäger.

Ein rascher Blick auf meinen Geezer bestätigte mir erneut die Beliebtheit meines Kanals. Obwohl die Sendung erst vor wenigen Stunden begonnen hatte, hatte ich schon jetzt annähernd 9.5 Millionen Zuschauer und lag damit wieder einmal vor den Kanälen der anderen Jäger. Im weiteren Verlauf der Sendung würde sich mein Vorsprung gewiss noch weiter vergrößern und mir einen Platz im oberen Drittel sichern.

Fido stieß auf einmal ein warmes »Pling« aus und riss mich aus meinen Gedanken. Instinktiv strich ich über meinen Geezer, bis mir schließlich die durchgestellte Nachricht angezeigt wurde, und wandte mich an Fidos Kamera.

»Hey, Willy. Great show so far – can’t wait to see the game. Apparently, Teddy's deer is heading towards your position. Could you check it out? – Carlos, Sevilla Azada.«

Carlos war einer der wenigen Zuschauer gewesen, die sich einen privilegierten Platz für diese Folge ergattern konnten. Im Gegensatz zu den Mitteilungen der regulären Zuschauer wurden mir seine Nachrichten überwiegend durchgestellt, ohne dass sie im Vorfeld gefiltert, aussortiert und abgeblockt wurden, um den Fluss der Sendung durch ein Übermaß an Mitteilungen nicht zu gefährden. Die Nachrichten selbst waren oftmals zwar nur wenig aussagekräftig und dienten in erster Linie dazu, den Zuschauern das Gefühl zu geben, direkt in das Geschehen eingreifen zu können, auch wenn gerade keine Wahl anstand. Doch gelegentlich halfen sie mir tatsächlich dabei, einen Vorteil gegenüber den anderen Jägern zu gewinnen, da sie mich auf neue Entwicklungen aufmerksam machen konnten, die mir andernfalls entgangen wären.

Ich wischte noch einmal über meinen Geezer und öffnete die Übersichtskarte. Theodor, einer der vier professionelleren Jäger der Sendung, war tatsächlich nur noch wenige hundert Meter von mir entfernt und bewegte sich langsam auf mich zu. Genau mittig zwischen uns prangte der letzte bekannte Ping eines der beiden ihm zugewiesenen Wildtiere. Meine eigene Beute dagegen war jedoch noch mindestens zwei Meilen entfernt und es war keine gute Idee, Theo und den anderen Jägern einen so großen Vorsprung zu gewähren.

Andererseits war es aber auch immer eine gut Idee, die anderen Teilnehmer im Auge zu behalten und ihre Pläne für die Folge einzuschätzen, bevor sie zu einer echten Konkurrenz heranreifen konnten. Und wenn ich mir durch das Erfüllen eines Zuschauerwunsches ein paar zusätzliche Bonuspunkte dazuverdienen konnte, war es umso besser.

Ich straffte meinen Rücken und lächelte in Fidos Kameralinse hinein.

»Danke für den Tipp, Carlos. Ich denke, das ist eine ausgezeichnete Idee und mache mich gleich auf den Weg. Grüße an Sevilla.« Ich schloss die Übersichtskarte und senkte meinen Geezer. »Komm, Fido. Du hast den Mann gehört – es gibt Arbeit für uns.«

246Pkt.

Ich kämpfte mich durch das letzte Gebüsch hindurch und versteckte mich hinter einem ungewöhnlich hässlichen Strauch, der am Rand einer unscheinbaren kleinen Waldwiese frei wuchern konnte. Seine Zweige erstreckten sich in alle nur erdenklichen Richtungen und verwandelten ihn in eine grotesk-grünliche Masse aus Blättern, Ästen und Zweigen, doch bot er mir gerade dadurch eine hervorragende Deckung vor zufälligen Blicken.

Auch wenn ich in diesem Fall nicht selbst hinter dem Hirsch her war, wollte ich ihn nicht vorzeitig auf meine Anwesenheit aufmerksam machen. Bei der Pirsch kam es stets auf den richtigen Moment an. Verfehlte man ihn, war die Jagd in den meisten Fällen bereits entschieden, noch bevor sie erst richtig begonnen hatte. Auch wenn ich nur zu gern Theos pickeliges Gesicht gesehen hätte, wenn ich ihm seine Beute vor der Nase wegschnappte, war ich doch zu professionell, um ihm einen so billigen Streich zu spielen. Stattdessen öffnete ich noch einmal meinen Geezer.

Der Geezer war ebenso wie Fido ein neues Wunderwerk der Technik und so typisch für das Bestreben der Sendung, die Zuschauer immer stärker in das Geschehen mit einzubinden. Auf den ersten Blick wirkte das Gerät zwar nur wenig beeindruckend und war von seiner Funktionsweise her auch nichts anderes als eine Weiterentwicklung der alten BlueBerrys, Smartphones oder den ihnen nachfolgenden Messengern, doch steckte weit mehr in ihm drin, als das Auge zu sehen vermochte. Im Gegensatz zu den unpraktischen Handtelefonen der alten Zeit war der Geezer direkt in den linken Ärmel meiner Jagduniform integriert und ließ sich über eine einfache Berührung steuern. Der klassische Bildschirm war dabei einem experimentellen Stichogramm gewichen, das über die glasierte Fläche auf dem Ärmel gesteuert werden konnte. Auch wenn ich dem Gerät gegenüber am Anfang skeptisch eingestellt gewesen war, hatte mich die Arbeit mit ihm inzwischen völlig von seinem Nutzen überzeugen können. Leider war er bis heute noch immer nicht im Handel erhältlich. Bei den für Hunter’s Edge verwendeten Modellen handelte es sich lediglich um einen vorläufigen Prototypen, der mit der Sendung auf seine Praxistauglichkeit hin getestet werden sollte. Außerhalb des Jagdbezirks war er bislang absolut nutzlos.

Ich blätterte durch die Seiten hindurch, die schemenhaft über meinem Ärmel schwebten, und blickte noch einmal auf die Übersichtskarte. Der Hirsch eilte nach wie vor auf mich zu und dürfte mir direkt gegenüber aus dem Unterholz hervorbrechen. Theo hatte inzwischen zwar bereits deutlich aufgeholt und war seiner Beute dicht auf den Fersen. Dennoch dürfte er sie nicht mehr rechtzeitig einholen können, um mich davon abzuhalten, mich mit ihr bekannt zu machen. Zumindest so viel musste ich Carlos und meinen anderen Zuschauern bieten können.

Ich unterdrückte ein Gähnen und schaltete den die Sendung begleitenden Audiokommentar ein.

»…und deswegen irrst du dich, Gill. Theodor ist vielleicht nicht unbedingt der beliebteste Jäger im Team, aber ich denke nicht, dass er deswegen automatisch auch ein schlechteres Los zugeteilt bekommen hat.«

»Findest du, Jack?«

Anscheinend war das Glück auf meiner Seite. Jack Rowley und Gill Powley waren mit ihrem Kanal Up the Hill das akustische Aushängeschild der Sendung und kommentierten möglichst umfassend die Erfolge und Misserfolge von uns Jägern. Auch wenn sie sich aus praktischen Gründen immer nur auf einen Kanal auf einmal konzentrieren konnten, schafften sie es dennoch immer irgendwie, trotzdem überall gleichzeitig zu sein. Dass sie im Augenblick nun ausgerechnet über Theo sprachen, war zumindest ein netter Zufall, wenn nicht sogar ein gutes Omen. Ich lehnte mich etwas zurück und lauschte auf die beiden Stimmen in meinem Ohr.

»Erinnerst du dich noch an letztes Jahr? An das Desaster mit dem Luchs?«

»Natürlich tue ich das, Gill. Wirklich unterhaltsam. Man bekommt nicht oft zu sehen, wie ein erfahrener Jäger so effektvoll vorgeführt wird.«

»Das meine ich nicht. Worauf ich hinaus wollte, war viel mehr, dass er gemessen an dem Luchs nun einen Schritt zurücktreten musste. Ein Hirsch und ein Hase sind im Vergleich dazu nun wirklich nicht allzu prestigeträchtige Objekte, Jack.«

Jack stieß das für ihn so typische Lachen aus, das irgendwo zwischen seinem Kehlkopf und einem Theremin entstanden sein musste. Wie seine Stimmbänder das Tag für Tag aushielten, war mir bis heute ein Rätsel geblieben. »Gut, seine Beute ist vielleicht nicht ganz so gefährlich wie ein Luchs, aber auch sie hat einen schönen Pelz, Gill. Sofern Theodor weiß, wie er ihnen das Fell abziehen muss, kann er sich durchaus noch eine zweite Chance verdienen und beweisen, dass mehr in ihm steckt als ein einfacher Metzger.«

»Du findest also, er sollte noch eine Chance bekommen?«

»Absolut, Gill. Tatsächlich denke ich, dass er sie schon längst bekommen hat. Der Hirsch ist wirklich eine Augenweide und keineswegs als eine Strafe zu verstehen. Ganz im Gegenteil, ich denke, er hat noch immer Freunde unter den Zuschauern, die seine…«

»Schlichte?«

»…die seine schlichte Vorgehensweise durchaus zu schätzen wissen.«

Gill schwieg für einen Augenblick. »Dann bist du also mit der Auswahl des Hirschs einverstanden? Soweit ich es verstanden habe, gab es im Vorfeld kritische Stimmen, die seine Auswahl bemängelt haben.«

»Vollauf einverstanden. Enttäuschte Stimmen gibt es immer und wir haben nun mal zu wenig Platz für weitere Tiere. Das einzig und allein auf das Tier selbst schieben zu wollen, ist in meinen Augen ungerechtfertigt. Das arme Ding kann ja nichts dafür, dass seine Anwesenheit es nicht allen recht machen kann. Hast du etwa auch etwas an ihm auszusetzen?«

»Ich mag seine Schnauze nicht, Jack.«

»Seine Schnauze?«

»Oder wie man das auch immer bei einem Hirsch nennen mag. Mich erinnert sie an einen pelzigen, kleinen Entenschnabel. Das Gesicht bekommt dadurch einen unheimlich naiven Ausdruck, den auch das prächtige Fell nicht wettmachen kann. Für mich sieht das Tier einfach aus wie eine dumme Ente.«

»Ah, and who killed Cock Robin then?«

»Es war jedenfalls nicht die Ente, das kann ich dir sagen, Jack.« Gill trommelte deutlich hörbar mit den Fingern auf das Pult unter ihrem Mikrofon. »Unsere Psychologen sagen, dass der Hirsch nicht ganz richtig im Kopf ist und keine gute Performance abgeben wird. Wie willst du auch eine gelungene Jagd erwarten, wenn das Tier nicht begreift, was wir von ihm verlangen? Sorry, Jack, aber für mich bleibt der Hirsch eine lahme Ente.«

»Ah, ich weiß nicht, Gill. Ich denke, das Team hat gute Arbeit geleistet, als es den Hirsch für die Sendung präpariert hat.«

»Das Geweih ist zu groß.«

»Stimmt. Mit dem Geweih sind sie wirklich etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ansonsten ist er ihnen aber ausgesprochen gut gelungen. Schau dir nur mal an, wie das Fell in der Sonne glänzt, wie fein die Hufe gearbeitet sind und wie stolz und grazil er trotz der Gefahr noch immer durch das Unterholz prescht. Solche Anmut! Da ist es fast schon bedauerlich, dass wir ihn nicht noch länger bei uns behalten können.«

»Das klingt, als wünscht du dir eine Jagdtrophäe, die du im Anschluss an die Sendung behalten kannst.«

»Eigentlich gar keine so schlechte Idee, Gill. Über dem Kamin oder im Schlafzimmer würde sie sich bestimmt gut machen. Vielleicht sollten wir mal die Jungs in der Rechtsabteilung fragen, ob sich da was machen lässt.«

»Du willst dir also wirklich einen Kadaver an die Wand hängen?«

»Ausgestopft, natürlich. Sie soll ja ihren Wert behalten.«

»Und was sagt deine Frau dazu?«

»Keine Ahnung. Aber was es auch sein mag, eine solche Trophäe wäre es bestimmt wert.«

Jack brach in schallendes Gelächter aus und Gill schloss sich ihm an. Ich selbst unterdrückte ein Grinsen und schaltete die Übertragung wieder aus. Die beiden hatten wirklich einen seltsamen Sinn für Humor und waren auch nach all den Jahren immer wieder für eine Überraschung gut. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass unsere Juristen wirklich ein Schlupfloch für den Verkauf von Jagdtrophäen finden konnten, war der Gedanke, wie der ausgestopfte Kopf des Hirsches mit seinen feucht schimmernden Glasaugen über Jacks Kaminsims hing, ausgesprochen erheiternd. Seine Frau wäre mit Sicherheit begeistert, wenn er mit einem solchen Schmuckstück unter dem Arm nach Hause kommen würde.

Ich bog vorsichtig einen der Zweige meines Verstecks auf die Seite und spähte auf die Lichtung hinaus. Vor mir erstreckte sich eine freie Fläche, über die sich ein kleiner Wildbach schlängelte. Singvögel saßen in den Bäumen und trällerten fröhlich ihre Ständchen vor sich hin. Alles um mich herum wirkte friedlich und war damit wie geschaffen für ein kleines Drama. Fido würde sich freuen.

Es dauerte nicht mehr lange, bis der Hirsch endlich aus dem Wald gebrochen kam und geradewegs auf mein Gebüsch zu rannte. Jack hatte nicht unrecht. Das Team hatte wirklich ganze Arbeit geleistet und aus dem Hirsch ein wahres Kunstwerk geschaffen. Auch wenn es sich strenggenommen nicht um einen Hirsch, sondern um eine Hindin handelte, und das aufgesetzte Geweih daher doch etwas arg befremdlich wirkte, war der Gesamteindruck nicht zu verachten. Ihr Pelz nahm im einfallenden Sonnenlicht die Farbe von reifen Haselnüssen an und verlieh ihr eine Aura graziler Eleganz, die selbst durch die Furcht in ihrem Blick und ihrem ansonsten so gebrechlich wirkenden Körperbau nichts von ihrer Strahlkraft verlieren konnte. Selbst für die Verhältnisse von Hunter’s Edge war es ein auffallend schönes Tier.

Die Hindin hielt für einen Augenblick in ihrer Bewegung inne und sah sich panisch um. Ihre Brust hob und senkte sich in kräftigen Stößen, sodass ich selbst auf diese Entfernung ihre Erschöpfung wahrnehmen konnte. Es war ihr deutlich anzusehen, dass Theo ihr dicht auf den Fersen war und sie solange durch den Wald hetzen würde, bis sie kraftlos zusammenbrach. Selbst für seine Verhältnisse war es eine eher »schlichte« Vorgehensweise.

Ich bekam langsam Mitleid mit dem Tier. Es war nicht seine Schuld, dass Theo ein Einfaltspinsel war und nicht begreifen konnte, wie man die Qualen des Wilds auf ein Minimum reduzieren konnte, ohne dabei die Zuschauer zu verprellen. Vielleicht war es besser, sich in diesem Fall doch einmal etwas unsportlicher zu verhalten und die Hindin aus dem Spiel zu nehmen, bevor Theo seine ungeschickten Griffel an sie legen konnte. Mit etwas Glück würde er dieses Mal endlich aus der Sendung fliegen und durch einen sympathischeren Jäger ersetzt werden.

Die Hindin nahm plötzlich etwas Anlauf und sprang mit einem kräftigen Satz über den Bach hinweg. Ich nutzte die Gelegenheit und trat mit einem Lächeln auf den Lippen und eine Hand zum Gruß erhoben aus dem Gebüsch heraus.

»Moin!«

Die Hindin zuckte zusammen, verlor dabei jedoch die Kontrolle über ihren Sprung und landete ungeschickt auf ihren Hufen. Sie stieß einen überraschten Laut aus und stolperte über die Wiese geradewegs auf mich zu, bis sie der Länge nach auf dem Waldboden aufschlug. Ich konnte das Gelächter der Zuschauer schon beinahe hören.

Ohne zu zögern rannte ich auf sie zu. Eine Verlängerung der Jagd durch einen zweiten Verfolger war das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte. Was sie brauchte, war ein rasches Ende. So behutsam wie möglich zog ich das hilflos mit den Hufen ausschlagende Tier zurück auf seine Läufe und hielt es fest umschlungen. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Augen und die Hindin stieß ein verzweifeltes Blöken aus.

»Lass mich los, du Mistkerl!«

512Pkt.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist alles in Ordnung.«

Ich lockerte meinen Griff und drückte die Hindin behutsam gegen meinen Körper. Für eine Weile wehrte sie sich gegen die Umarmung und bemühte sich vergeblich, mich von sich wegzustoßen. Schließlich gab sie ihren Widerstand jedoch auf und sackte mit einem leisen Wimmern in sich zusammen. Sofort löste ich meine Arme von ihr und strich behutsam über ihren Rücken. Sie zitterte wie Espenlaub und hätte ich mich völlig von ihr gelöst, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, wäre sie wohl hilflos zusammengebrochen.

»Du brauchst keine Angst vor mir haben, ich werde dir nichts tun. Stattdessen möchte ich dir ein Angebot machen.«

Die Hindin hob zögerlich ihren Kopf und starrte mich mit ihren angefeuchteten Rehaugen an, erwiderte aber nichts.

»Wenn du willst, kann ich dich laufen lassen. Ich bin nicht hinter dir her und nur hier vorbeigekommen, um zu sehen, wie du dich schlägst. Der Jäger hinter dir wird dich in diesem Fall aber weiterhin verfolgen und dich eher früher als später einholen. Und was dann mit dir geschieht, liegt ausschließlich in seiner Hand.« Ich strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht, klemmte sie hinter ihr Ohr und senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Oder du kannst dich mir ergeben und dich etwas für deine Fans in Szene setzen. Im Gegenzug werde ich dich anschließend als »erlegt« markieren und dich dadurch aus der Sendung herausnehmen, sodass die anderen Jäger dich ignorieren müssen. Ich werde dich jedenfalls zu nichts zwingen. Es ist deine Wahl.«

Die Hindin zögerte und blickte zu Fido hinüber, der sich sichtlich Mühe gab, uns gleichzeitig aus allen möglichen Winkeln heraus aufzunehmen, und nun demonstrativ auf ihr tränenfeuchtes Gesicht zuhielt.

»Ich–«

»Hey! Was soll das?« Die Hindin fuhr zusammen und ich hob meinen Blick. Auf der anderen Seite der Lichtung zwängte Theodor sich aus einem Gebüsch heraus und stapfte wutschnaubend durch den Bach hindurch auf uns zu. Eine wild surrende Kameradrohne folgte ihm dicht auf den Fersen. »Du kennst die Regeln, Willi. ‚Kein Wildern in fremdem Revier‘ – das hier ist meine Beute.«

»Beruhig’ dich, Theo. Ich bin von einem Zuschauer aufgefordert worden, mir deinen Fortschritt anzusehen, und dein Hirsch ist mir im wahrsten Sinn des Wortes direkt in die Arme gelaufen. Es steckt keine böswillige Absicht dahinter. Ehrlich.«

»Oh, nein? Dann bist du also bereit, mir meine Beute zu überlassen?«

Ich schwieg und blickte der Hindin in die Augen. Mein Angebot war dazu gedacht, ihr einen alternativen Ausweg aus der Sendung zu eröffnen, nicht einen Streit mit einem anderen Jäger zu beginnen. Dennoch hatte ich ihr mein Wort gegeben und für gewöhnlich stand ich auch dazu. Die Hindin selbst hatte zwar noch nichts gesagt, doch sprach ihr Blick Bände. Theo war niemand, dem man sich freiwillig ausliefern würde, solange man ihn nicht besser kennengelernt hatte. Und sobald man ihn erst einmal etwas besser kannte, wollte man es umso weniger.

»Warum fragen wir nicht einfach die Zuschauer?«

»Was haben die Zuschauer damit zu tun? Das ist meine Beute.«

»Und es ist ihre Sendung, Theo. Du kennst die Regeln.«

»Pah.«

Theo wischte über seinen Geezer und rief zu einer Richtungswahl auf. Ich selbst tat es ihm gleich und verknüpfte meine Wahl mit seiner eigenen, sodass wir ein gemeinsames Ergebnis erhalten würden. Nach kaum mehr als einer halben Minute Schweigen stand das Schicksal der Hindin fest. Von den annähernd 16 Millionen Zuschauern unserer Kanäle hatten 13 Millionen abgestimmt und ein überraschend knappes Ergebnis geliefert. Mir wurde flau im Magen.

»Ha! Siehst du? Meine Beute.«

Ich schüttelte vorsichtig meinen Kopf. »6.6 Millionen zu 6.4 Millionen ist verdammt knapp, Theo, und liegt innerhalb der Fehlertoleranz.«

»Und trotzdem ist das Ergebnis für dich bindend.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, packte Theodor die Hindin an den Armen und zerrte sie zu sich herüber. Die Frau schrie auf und er verpasste ihr mit dem Handrücken eine Ohrfeige.

»Theo!«

Ich versuchte einzuschreiten, aber Theodor drängte sich zwischen mich und seine Beute und schleuderte die Hindin mit einem kräftigen Stoß zu Boden, bevor er sich mit stark gerötetem Gesicht zu mir umwandte.

»Was ist eigentlich dein Problem, Willi? Der Hirsch ist mein Territorium und das weißt du. Er ist mir zugesprochen worden. Er gehört mir.«

»Das mag vielleicht sein, aber es gibt keinen Grund, dabei so grobschlächtig vorzugehen. Es gibt bessere Methoden dafür, bei denen du dich nicht so rücksichtslos verhalten musst.«

»Rücksichtslos?« Theodor griff sich an die Hüfte und löste ein gezacktes Jagdmesser von seinem Gürtel. »Das hier ist Hunter’s Edge und nicht der Auftritt irgendeines sterbenden Pelikans. Wenn du nicht bereit bist, dir die Hände schmutzig zu machen, kannst du deine nette, kleine Position als Vorzeigemaskottchen auch räumen und sie einem echten Jäger zur Verfügung stellen.«

»Das ist immer noch kein Grund, das Wild so respektlos zu behandeln.«

Theo wandte sich schnaubend von mir ab und kniete sich breitbeinig über den Körper der Hindin. Mit seiner freien Hand stützte er sich auf die Brust der Frau und hakte seinen Daumen unter ihrem Kostüm ein, während er mit dem Messer Zentimeter für Zentimeter seine Seite abschärfte. Schließlich legte er das Messer aus der Hand und zerrte ihr das aufgeschnittene Oberteil vom Körper. Die Frau rührte sich nicht und verharrte stocksteif unter seinen Bewegungen.

»Respektlos, sagst du? Wir geben ihnen einen Platz an der Sonne. Keine andere Sendung hat regelmäßig so hohe Einschaltquoten und gemessen an der Teilnehmerzahl einen so hohen Anteil an Frauen wie wir. Komm mir also nicht mit fehlendem Respekt. Wir erschaffen Respekt.«

Theo rutschte auf dem Körper der Hindin weiter nach unten und begann ungeschickt, an ihrer Hose herumzufummeln. Mir stieg der bittere Geschmack von Galle in den Rachen. Das eingefangene Wild für unser Publikum aufzubereiten, war eine Sache; die Art, wie Theo dabei vorging, eine ganz andere. Unter den richtigen Umständen steckte durchaus ein enormes künstlerisches Potenzial in unserer Arbeit. Theo jedoch war ein bloßer Metzger. Er hatte kein Verständnis für die Feinheiten der Jagd und schien sich noch nicht einmal für unser Wild zu interessieren. Ihm ging es ausschließlich um sein Vergnügen. Ich konnte das einfach nicht mehr mitansehen.

»Es reicht.«

Theo hielt in seiner Bewegung inne und starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du gesagt?«

»Ich sagte, es reicht. Du hattest deinen Auftritt und bekommen, was du wolltest. Steig von ihr runter und mach weiter. Hier bist du fertig.«

Ich öffnete meinen Geezer und markierte Theos Hirsch als erlegt. Ein scharfes »Pling« ertönte aus meinem Ohrstecker und ich war mir sicher, dass auch Theo den Signalton erhalten hatte. Der Hirsch war frei.

Theo blickte in Fidos Richtung und leckte sich die Lippen. »Okay, dann eben zum nächsten Wild. Schade, eigentlich. Ich bin gerade erst warm gelaufen.« Er richtete sich wieder auf, ließ es sich aber nicht nehmen, seine Hände vorher noch einmal genüsslich über die Brust der Hindin gleiten zu lassen. »Wir sehen uns dann später, Willi.«

Ich blickte Theo einen Moment lang hinterher, wie er gemächlich über die Wiese schlenderte, und kniete mich dann neben die Hindin auf den Boden. Sie lag noch immer ausgestreckt im Gras und starrte in die Zweige eines blühenden Kirschbaums, dessen Äste über uns in willkürlich gewachsenen Linien das Firmament bedeckten. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als suchten sie zwischen all den Blüten nach einem Fixpunkt, an den sie sich hilfesuchend wenden konnte, doch die Blüten würden ihr weder Hilfe noch Trost bieten, sondern lediglich mit einer stummen Anteilnahme lustlos auf sie herabblicken. Als ich behutsam ihre Hand ergriff, zuckte sie mit keiner Wimper.

»Theo hat ganze Arbeit geleistet, Fido. Sie ist tot.«

Fido schwieg für einen Augenblick, bevor er ein trauriges Klicken ausstieß und langsam auf das Gesicht der Hindin zuschwebte. Es war nicht schwer zu erraten, was als nächstes geschehen würde. Fido würde ein paar Runden um den Körper der Hindin drehen und sie aus allen möglichen Blickwinkeln heraus aufnehmen. Währenddessen würde die Marketingabteilung rasch einen Nachruf über ihre verflossene Schönheit verfassen und gleichzeitig einen von Fidos Schnappschüssen als Hintergrund für eine neue Reklametafel auswählen, die sie dann mit einem Werbespruch á la »First Kill of the Day« versehen konnten. Den Stein, der ihr das Genick gebrochen hatte, würden sie vorher jedoch wegretuschieren. Fallwild war schließlich keine richtige Beute für einen Jäger.

Ich legte die Hände der Hindin auf ihrem Bauch ab und verschränkte sie ineinander. Mir war es bisher noch nicht aufgefallen, aber das Management hinter Hunter’s Edge ging nicht gerade zimperlich vor, wenn es um Fallwild ging. Eine verunglückte Hindin hier, ein von einer Klippe gestürzter Luchs dort, eine ertrunkene Krähe irgendwo dazwischen – solche Unfälle kamen immer mal wieder vor, doch endeten sie stets im Zentrum einer neuen Werbekampagne. Wenn ich nun aber darüber nachdachte, war das doch etwas arg geschmacklos. Vielleicht sollte ich einmal mit der PR-Abteilung darüber sprechen und sehen, ob wir nicht auch etwas weniger Makaberes aufbringen konnten. Alles andere wäre unserer Beute gegenüber nicht fair.

Gewiß, sie verdient es; und es ist nur Gerechtigkeit.

Fido hatte seine Runde inzwischen beendet und nahm mich von der anderen Seite der Hindin aus wieder ins Visier. Ich nutzte die Gelegenheit, schloss ihr ihre Augen und breitete notdürftig das aufgeschnittene Oberteil über ihrer Brust aus. Das würde mir zwar zwangsläufig ein paar Minuspunkte einbringen, aber das war es mir wert. Hunter’s Egde war mehr als eine respektlose Fleischbeschau, auch wenn Jäger wie Theo das manchmal zu vergessen schienen. Die Sendung stand in direkter Tradition der antiken Amphitheater und war eine Weiterentwicklung der modernen Tragödie. Sie war eine Katharsis menschlichen Kunstschaffens und damit ein schillernder Spiegel unserer Kultur. Kleinere Opfer waren dafür unumgänglich.

Ich beugte mich nach vorne und gab der Hindin einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor ich mich langsam wieder erhob.

»Komm, Fido. Es wird Zeit, dass wir Theo einmal zeigen, wie eine richtige Jagd abläuft.«

Der Schreiter mit den Eisenschwingen

1.247Pkt.

Der Anblick der Hindin wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ihr lebloser Körper, eingebettet zwischen frischen Grashalmen und einem notdürftigen Überzug zur Wahrung ihrer Würde, war ein Bild, das sich mir nur allzu stark eingebrannt hatte. Sie hätte ein einzigartiges Kunstwerk werden und sich von der Masse bleicher Menschen abheben sollen und dadurch Millionen von Zuschauern vor ihren Fernsehern begeistern können. Doch stattdessen war sie zu einem Epitaph zusammengeschrumpft – einer aufwendig verzierten Grabinschrift, die bereits in wenigen Stunden wieder bis zur völligen Unkenntlichkeit verblasst sein würde. Sie hätte nicht so enden dürfen.

Ich würgte den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter und schüttelte den Kopf. Das fühlte sich einfach nicht richtig an. Jedes einzelne Tier in Hunter’s Edge war für sich allein genommen schon ein Kunstwerk. Mehr als das, sie waren lebendige Kunstwerke und sollten auch mit der nötigen Ehrfurcht behandelt werden, die diese Rolle mit sich bringt. Sie dennoch so glanzlos sterben zu lassen, grenzte bereits an Ignoranz. Es fühlte sich fast so an, als würde man Bathseba im Bikini darstellen. Oder Susanna im Bademantel. Oder Venus mit einem Pullover. Es war einfach nicht richtig.

Stattdessen war die Hindin ungeachtet ihres Potenzials auf das Niveau eines rohen Stücks Fleisch reduziert und achtlos auf der Wiese verteilt worden. Sie war wie Mervyn in einen Sack gestopft und ihrem Metzger als räudiges Schlachtvieh präsentiert worden. Doch dieses Mal würde es kein Almosen für das zerlumpte Mädchen mehr geben. Der Kanarienvogel sang nicht mehr, denn sein Käfig war hoffnungslos zerstört. Sein Gesang war nun endgültig verstummt und erklang doch jedes Mal wieder aufs Neue, wenn wir uns unseren schillernden Spiegel vor Augen hielten. Selbst Maldoror würde dieses Mal Schwierigkeiten haben, unsere Kunstfertigkeit zu übertreffen.

Ich atmete noch einmal tief durch. Für die Hindin kam nun jede Hilfe zu spät, aber zumindest meiner eigenen Beute konnte ich einen würdigeren Auftritt bereiten.

Ich öffnete meinen Geezer und stieß einen leisen Fluch aus, als ich auf das Ranking blätterte. Hunter’s Edge umfasste insgesamt 21 Teilnehmer – sieben Jäger mit jeweils zwei Beutetieren. Von den vierzehn Tieren waren die Hindin und die Schlange bereits ausgeschieden und die Wölfin stand anscheinend kurz davor, ebenfalls erlegt zu werden. So früh in der Sendung zurückzufallen war an sich zwar kein großes Problem, da die meisten Punkte durch die Arbeit mit dem Wild und nicht durch die Jagd selbst erlangt wurden, sodass das Ranking im Augenblick nur eine trügerische Momentaufnahme darstellte und sich schon bald stündlich ändern würde. Was mich jedoch störte, war, dass Theo trotz seines dilettantischen Auftritts mit 4.893 zugewiesenen Punkten nun direkt nach Thomas den zweiten Platz belegte.

Mit einem raschen Wisch auf die Seite öffnete ich Theos Profil. Für Theo mochte dieser Wert vermutlich eine Beleidigung darstellen, gab es doch für das Erlegen des Wilds allein normalerweise bereits annähernd fünftausend Punkte gutgeschrieben, von dessen Präsentation einmal ganz zu schweigen. Doch gemessen an seinem Auftritt war er in meinen Augen noch immer deutlich zu gut bewertet worden.

Theodor ‚Teddy‘ von Tann

4.893pkt

Abzeichen ‚Vielversprechender Jäger‘

+300pkt.

Erbeutung ‚Hirsch‘

+5.000pkt.

Präsentation ‚Hirsch‘

427pkt

Erbeutung ‚Hase’

k.a.

Präsentation ‚Hase‘

k.a.

Zuschauerbewertung

+113pkt

Bonus Gesamt

5.840pkt.

Abzeichen ‚Pechvogel‘

-300pkt.

Ungemäße Gewaltanwendung

-75pkt.

Vorzeitiges Absterben

-250pkt.

Respekt vor der Tradition

-90pkt.

Sympathiebewertung

-232pkt.

Malus Gesamt

-947pkt.

Keine Frage, Theo würde sich im weiteren Verlauf der Sendung unweigerlich dem unteren Ende des Rankings annähern. Dennoch war es frustrierend, mitansehen zu müssen, wie er für so einen stümperhaften Auftritt noch immer so viele Punkte hatte gewinnen können. Sollte er sich mit seinem Hasen noch einmal so grobschlächtig verhalten, würde er ohne Zweifel aus der Sendung geschmissen werden. Bisher hatte noch kein Jäger es geschafft, zwei Beutetiere zu verlieren und nicht dafür ausgeschlossen zu werden, geschweige denn drei. Ich wischte Theos Profil beiseite und öffnete mein eigenes.

Geralt Alexander ‚Willi‘ Wilhelm

1.247pkt.

Abzeichen ‚Jagdglück‘

+400pkt.

Erbeutung ‚Fuchs‘

k.a.

Präsentation ‚Fuchs‘

k.a.

Erbeutung ‚Kranich‘

k.a.

Präsentation ‚Kranich‘

k.a.

Erfüllung eines Zuschauerwunsches

+300pkt.

Zuschauerbewertung

+432pkt.

Sympathiebewertung

+515pk.t

Bonus Gesamt

1.647pkt.

Unsportliches Verhalten

-400pkt.

Malus Gesamt

-400pkt.

Wie schon bei Theo waren auch meine Werte noch alles andere als aussagekräftig und würden sich im Laufe der Sendung noch stark verändern. Bisher sah es jedoch so aus, als ob mir mein Eingreifen einiges an Pluspunkten eingebracht hatte. Auch wenn meine Einmischung selbst als unsportlich abgestraft worden ist, konnte ich den damit verbundenen Malus durch die Erfüllung von Carlos Wunsch und zusätzliche Sympathiepunkte mehr als ausgleichen. Sollte ich mich bei meiner Beute nicht allzu ungeschickt anstellen, würde ich Theo ohne Schwierigkeiten bei weitem überflügeln können. Zumindest das war eine gute Nachricht.

Ich schloss mein Profil und wechselte zu den Tierprofilen hinüber. Sofort starrten mich die Gesichter von vierzehn Frauen in Tierkostümen an, die sich irgendwo auf dem Jagdareal herumtreiben mussten.

Dreizehn. Dreizehn Frauen in Tierkostümen, die sich auf dem Jagdareal herumtreiben mussten.

Ich verdrängte den Gedanken und blätterte durch die Gesichter hindurch, bis ich auf die Hindin stieß. Ihre Augen strahlten schon damals im Studio eine ängstliche Nervosität aus, die durch ihr Kostüm hervorragend zur Geltung gebracht wurde. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, sie für die Rolle des Hirschs vorzuschlagen, verstand wirklich etwas von seinem Handwerk. Mit einem weiteren Klick öffnete ich ihr Profil.

Jane Doe (23) – Der majestätische Rothirsch

Ohne jeden Zweifel die ungekrönte Monarchin des Tals verbindet Jane alle Eigenschaften miteinander, die eine vielversprechende Beute garantieren: Anmut, Eleganz und Würde verschmelzen unter ihrem prächtigen Geweih mit dem Wesen der ungezähmten Wildnis. Ihre schreckhaften Augen laden einen geradezu dazu ein, sie an die Leine nehmen zu wollen und ihr zu zeigen, was es wirklich bedeutet, der ‚König des Waldes‘ zu sein. Waidmannsheil!

Jane. Die Hindin hatte tatsächlich einen Namen. Auch wenn es im Nachhinein eigentlich selbstverständlich erschien, war es mir dennoch nie in den Sinn gekommen, dass sie unter ihrem Kostüm auch eine Frau mit einem eigenen Namen und einer eigenen Persönlichkeit gewesen ist. Für mich war sie einfach nur die Hindin gewesen – ein Hirsch, den ich für unser gemeinsames Publikum aufspüren und zu ihrem eigenen Besten zähmen wollte. Dass sie dabei wie ich auch nur eine Rolle gespielt hat und am Ende der Sendezeit wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren würde, hatte ich im Eifer des Gefechts völlig ausgeblendet. Ich hatte sie als bloße Beute betrachtet. Als Jagdwild. Und nun war sie kaum mehr als ein Sack Fleisch, um den sich schon bald die Fliegen streiten würden, während ich und das Publikum nach meiner nächsten Beute Ausschau halten würden, als wäre nichts gewesen…

Ich verdrängte den Gedanken so rasch wieder, wie er gekommen war, und und wechselte zum nächsten Tierprofil. Jane war nicht die einzige Teilnehmerin mit einem Namen und ganz gewiss nicht die einzige, die Respekt verdiente. Das durfte ich auf keinen Fall vergessen.

Mio Rentsumi (19) – Die Jadeschlange

Diese zarte Kirschblüte ist gerade erst erblüht und noch völlig grün hinter den Ohren, doch sollte man sie nicht unterschätzen. Ihre Unerfahrenheit mag ihr zwar ein unschuldiges Aussehen verleihen, doch eine allzu leichte Jagd sollte man von ihr dennoch nicht erwarten. Diese kleine Schlange ist deutlich wendiger, als sie den Anschein erweckt und wird trotz ihres kurvigen Körpers gewiss nicht einfach zu handhaben sein. Waidmannsheil!

Mio. Es war nicht sonderlich überraschend, dass ausgerechnet sie als erste erlegt worden war. Meiner Erfahrung nach wurden die Teilnehmerinnen aus den östlicher gelegenen Distrikten für gewöhnlich deutlich rascher erlegt als die anderen. Je weiter im Osten ihre vermeintliche Heimat lag, desto rascher schieden sie für gewöhnlich aus der Sendung aus. Die Zyniker in unserem Team waren der Ansicht, dass sie einfach nicht kräftig genug für eine ausdauernde Jagd waren. Ich dagegen hatte einen anderen Verdacht.

Mio war zwar selbst für die Verhältnisse von Hunter’s Edge noch recht jung, doch schien sie ihrem Bild nach zu urteilen sportlich aktiv gewesen zu sein. Laut ihrem Profil war sie an der Nordsee aufgewachsen und alles andere als ein schwächliches, kleines Ding, das schon bei der kleinsten Anstrengung zusammenbrechen würde. Sie hätte unter anderen Umständen gewiss eine gute Jagd ermöglicht.

Dass sie dennoch so rasch ausgeschieden war, dürfte eher auf den gesteigerten Ehrgeiz der anderen Jäger zurückzuführen sein, als auf ihre eigene Leistungsfähigkeit. Ich selbst konnte das zwar nicht unbedingt nachvollziehen, doch schien eine Teilnehmerin auch nur aus dem Schwarzmeerdistrikt oder gar der Seidenstraßenallianz selbst zu stammen, gaben sich die anderen Jäger deutlich mehr Mühe und erlegten ihre Beute oftmals in Rekordzeit. Dass dieses Mal Jane so rasch ausgeschieden ist, dürfte eher an meiner Einmischung und der Tatsache gelegen haben, dass neben Mio und Lei Li die dritte Teilnehmerin aus einem Ostdistrikt mir selbst zugewiesen worden war. Wäre ich also nicht gewesen…

Ich verdrängte auch diesen Gedanken und blätterte durch die Tierprofile hindurch, bis ich auf die mir zugewiesene Beute stieß und öffnete für sie jeweils einen eigenen Reiter.

Helena Balzberg (27) – Der tänzelnde Kranich

Die grazilste Tänzerin unter den Tieren! Unter ihrem Federkleid verbirgt sich der biegsame Körper einer leidenschaftlichen Akrobatin. Doch sollte man keineswegs den Fehler begehen und nur auf die Bewegungen ihrer Beine achten. Sobald dieses Küken seine Flügel spreizt, erhebt sich jede Feder. Waidmansheil!

Liška Dracicova (24) – Die listige Füchsin

Dieses widerspenstigste aller Tiere ist die fleischgewordene Versuchung! Listig wie der Abend und verführerisch wie die Morgendämmerung weiß diese Füchsin, wie man einem Jäger sein Hinterteil präsentiert. Und dennoch bleibt kein Hühnerstall allzu lange vor ihr verschlossen, wenn sie sich erst einmal für seine Küken zu interessieren beginnt. Waidmannsheil!

Auch wenn sich Kranich und Fuchs weder besonders aufregend noch allzu sportlich anhörten, kannte ich das Team inzwischen gut genug, um nicht auf den ersten Eindruck hereinzufallen. Die Wildtiere waren nicht nur zur bloßen Zierde aufbereitet worden, sondern wurden im Hinblick auf die Jagd auch entsprechend ihrer Art jeweils mit scharfen Klauen, Krallen und der ein oder anderen bösen Überraschung ausgestattet. Andernfalls wäre Hunter’s Edge auch nicht das sportliche Event, das unsere Zuschauer so sehr schätzten. Das Publikum liebte einen guten Zweikampf mindestens ebenso sehr wie die Körper und den Charakter der Teilnehmerinnen und sofern es zumindest den Hauch eines Zweifels am Gewinner gab, schmeckte ihnen die anschließende Präsentation der Beute bedeutend süßer. Die Jäger mussten trotz all ihrer Vorteile am Ende schließlich noch immer nahe genug an das Wild herankommen, um es dem Publikum präsentieren zu können. Und wenn sie dabei nicht achtgaben, konnte das schnell mal ins Auge gehen. Thomas konnte ein Lied davon singen.