Dein Tod ist nah - Sandra Brown - E-Book
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Dein Tod ist nah E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Ein Mann mit vielen Gesichtern. Acht verschwundene wohlhabende Frauen. Und das nächste Opfer steht schon fest ... Oder?

Drex Easton jagt ein Phantom. Einen Mann, einen wahren Meister der Verwandlung, der schon seit vielen Jahren vermögende Frauen um ihr Geld bringt, bevor sie dann spurlos verschwinden. Noch nie konnte jemand diesen Betrüger stellen und zur Rechenschaft ziehen. Nun hat Drex einen neuen Verdächtigen: Der attraktive Jasper Ford hat vor Kurzem die deutlich jüngere Geschäftsfrau Talia Schäfer geheiratet. Drex schleicht sich als vermeintlicher neuer Nachbar in das Leben des Paares ein, um seinen Feind endlich zur Strecke zu bringen – und muss bald feststellen, dass die explosive Anziehungskraft zwischen Talia und ihm all seine sorgfältigen Pläne zu zerstören droht. Aber Talia scheint mehr über die Machenschaften ihres Mannes zu wissen, als sie zugibt. Ist sie wirklich Jaspers neues Opfer? Oder aber seine eiskalte Komplizin?

Spannung, Leidenschaft und unvergessliche Charaktere: Lesen Sie auch die anderen Romane von Sandra Brown (Auswahl):

Verhängnisvolle Nähe

Sein eisiges Herz

Stachel im Herzen

Tödliche Sehnsucht

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EPUB
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Seitenzahl: 638

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch

Ein Mann mit verschiedenen Identitäten. Acht spurlos verschwundene Frauen. Und das nächste Opfer steht schon fest …

FBI-Agent Drex Easton hat ein Ziel: den Betrüger Weston Graham zur Strecke bringen. In den letzten dreißig Jahren hat dieser acht wohlhabende Frauen ihres Vermögens beraubt, bevor sie spurlos verschwanden. Drex ist überzeugt, dass die Frauen ermordet wurden, aber Grahams zahlreiche Identitäten haben ihn bisher entkommen lassen. Doch nun scheint er in greifbarer Nähe. Der attraktive Jasper Ford hat vor Kurzem die viel jüngere, erfolgreiche Geschäftsfrau Talia Shafter geheiratet. Drex schleicht sich als vermeintlicher neuer Nachbar unauffällig in das Leben des Paares ein, denn er ist überzeugt: Jasper ist Graham, und Talia sein nächstes Opfer. Doch als Drex’ Anziehung zur schönen Talia immer stärker wird, droht er, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Und auch Talia hat Geheimnisse …

Die Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Sandra Brown

Dein Tod ist nah

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Outfox« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Books Group Inc., New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Sandra Brown Management Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 bei Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: mauritius images/Spring Images/Alamy; www.buerosued.de

JB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25599-2V003

www.blanvalet.de

Prolog

Die Leiche am Strand lag hinter einem Schleier aus tristem Nieselregen.

Der Dunst legte Lichtkreise um die Laternen auf dem Pier, doch gegen den gleißenden Schein der von den Ersthelfern aufgestellten Scheinwerfer kam er nicht an. Sie strahlten ihr kaltes Licht auf den bedeckten Körper, als wollten sie ihn in einer grotesken Parodie ins Rampenlicht zerren.

Ein Polizeihubschrauber kam im Tiefflug näher. Sein greller Suchscheinwerfer tastete gnadenlos den Pier in ganzer Länge ab. Kurz zuckte der Strahl über den Jachthafen, wo die Boote in der Dünung schaukelten, deren schläfriger Rhythmus so gar nicht zu der Hektik rundherum passte.

Bevor der Suchscheinwerfer auf die Brandung am Strand schwenkte, schnitt er in einem Bogen über den Leichnam. Im Abwind des Rotors klappte eine Ecke der grellgelben Plastikplane um und deckte dabei eine Hand auf, die reglos und kalkweiß auf dem zusammengedrückten Sand lag.

Seit der Entdeckung des Leichnams hatten sich Beamte diverser Polizeibehörden am Tatort versammelt. Die farbigen Lichter des Such- und Rettungshelikopters blinkten unter den Bäuchen der niedrig hängenden Wolken, die über den Hafen zogen. Jenseits von Fort Sumter pflügte ein Kreuzer der US Coast Guard durch den Atlantik und ließ seinen Suchscheinwerfer über die Wellen streichen. Fernsehübertragungswagen waren eingetroffen und spien ungeduldige Reporter und die dazugehörigen Kameracrews aus.

Auf dem Pier hatten sich die unvermeidlichen Schaulustigen versammelt. Sie rangelten um die besten Plätze, von denen aus sie das Geschehen begaffen, die Aktivitäten von Polizei und Presse verfolgen und Selfies mit dem abgedeckten Leichnam im Hintergrund schießen konnten. Informationen und Spekulationen wurden ausgetauscht.

Man erzählte sich, der Leichnam sei mit der Abendflut an den Strandabschnitt gespült worden, wo ihn ein Mann mit seinem kleinen Sohn entdeckt hätte, als sie ihren schokoladenbraunen Labrador ausgeführt hatten.

Man erzählte sich, es deute alles auf einen Tod durch Ertrinken hin.

Man erzählte sich, es sei die Folge eines Bootsunfalls gewesen.

Keine dieser Hypothesen war korrekt.

Der von der Leine gelassene Labrador war seinem Herrchen vorausgelaufen, und es war der Hund gewesen, der beim Planschen in der Brandung die grausige Entdeckung gemacht hatte.

Einer der Schaulustigen auf dem Pier lächelte schweigend und selbstzufrieden, während er lauschte, wie Fakten, Fiktion und Lamentos ausgetauscht wurden.

Kapitel 1

Drei Wochen zuvor

Die Automatiktüren öffneten sich mit einem leisen Zischen. Drex Eastons Blick schwenkte kurz prüfend durch die Hotellobby, die bis auf die hübsche junge Frau am Empfang leer war. Sie hatte einen Teint wie eine Porzellanpuppe, einen glänzenden schwarzen Pferdeschwanz und begrüßte ihn mit einem unsicheren Lächeln.

»Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«

Drex stellte den Aktenkoffer ab. »Ich habe nicht reserviert, aber ich brauche ein Zimmer.«

»Check-in ist erst ab vierzehn Uhr.«

»Hm.«

»Weil … weil wir den Gästen bis zwölf Uhr Zeit lassen, um auszuchecken.«

»Hm.«

»Das Housekeeping braucht Zeit, um …«

»Das ist mir alles bewusst, Ms. Li.« Er hatte den Namen von dem Schild an ihrem braunroten Blazer abgelesen. Er lächelte. »Ich hatte gehofft, Sie könnten für mich eine Ausnahme machen.«

Er fasste nach hinten, um die Brieftasche aus der hinteren Hosentasche zu ziehen, und öffnete das Anzugsakko dabei so weit, dass das Schulterholster unter seinem linken Arm zu sehen war. Nachdem die junge Frau es bemerkt hatte, blinzelte sie nervös, ehe sie eilig wieder in seine Augen sah, die unverwandt auf sie gerichtet waren.

»Kein Grund zu erschrecken«, sagte er ruhig. Er klappte die Brieftasche auf und zeigte ihr seine Marke und den Ausweis mit Foto, der ihn als Special Agent des Federal Bureau of Investigation auswies.

Er spielte diese Karte so selten wie möglich aus und nur, wenn er Vorschriften und Regulierungen umgehen musste. Sie zog bei Ms. Li, die sich sofort entgegenkommend zeigte.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun.«

Elegante Finger klackerten über die Tastatur. »Einzel- oder Doppelzimmer?«

»Ich bin nicht wählerisch.«

Ihr Blick flog über den Monitor. Sie scrollte abwärts und wieder aufwärts. »Ich kann Ihnen vom Housekeeping ein nettes Doppelzimmer fertig machen lassen, aber das könnte bis zu einer halben Stunde dauern. Oder ich hätte ein nicht ganz so schönes Einzelzimmer, das allerdings sofort.«

»Ich nehme das nicht ganz so schöne Zimmer sofort.« Er schob eine Kreditkarte über die Granittheke.

»Wie lange werden Sie bleiben, Mr. Easton?«

Sie war auf Zack, musste man ihr lassen, und hatte sich seinen Namen gemerkt. »Weiß ich noch nicht genau. Zwei … Zwei Partner werden in Kürze eintreffen. Ich weiß erst nach unserer Besprechung, wie lange ich bleiben werde. Dann sage ich Ihnen Bescheid.«

»Kein Problem. Sie können das Zimmer behalten, bis Sie mir sagen, wann Sie abreisen möchten.«

»Super. Danke.«

Sie zog seine Kreditkarte durch das Kartenlesegerät und checkte ihn weiter ein. Er musste auf dem Formular unterschreiben; dann reichte sie ihm die Kreditkarte zusammen mit der Schlüsselkarte fürs Zimmer zurück. »Sie öffnet auch die Tür zum Fitnesscenter im ersten Stock.«

»Danke, aber das werde ich nicht brauchen.«

»Das Restaurant befindet sich am Ende des Gangs gleich hinter Ihnen. Frühstück gibt es …«

»Auch kein Frühstück.« Er bückte sich und hob seinen Aktenkoffer an.

Sie verstand die subtile Geste und deutete auf die Aufzüge. »Das Zimmer liegt links vom Aufzug auf Ihrer Etage.«

»Danke, Ms. Li. Sie waren mir eine sehr große Hilfe.«

»Darf ich Ihren Kollegen Ihre Zimmernummer geben, wenn sie eintreffen?«

»Das ist nicht nötig, ich schicke ihnen eine Nachricht. Sie können direkt nach oben kommen.«

»Ich hoffe, Ihre Besprechung läuft gut.«

Er lächelte spröde. »Das hoffe ich auch.« Dann beugte er sich vor und raunte ihr zu: »Entspannen Sie sich, Ms. Li. Sie machen das ganz großartig.«

Sie sah ihn bedröppelt an. »Das ist erst mein zweiter Tag. Merkt man mir das so an?«

»Jemand anderer würde wahrscheinlich nichts merken, aber es gehört zu meinem Beruf, Menschen schnell einschätzen zu können. Und wenn das erst Ihr zweiter Tag ist, finde ich es umso beeindruckender, wie Sie mit einem so schwierigen Gast umgehen.«

»So schwierig sind Sie doch gar nicht.«

Er lächelte träge. »Sie haben mich an einem guten Tag erwischt.«

Das weniger nette Einzelzimmer war kein Zimmer, das je in einer Hotelanzeige auftauchen würde, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Drex stellte den Aktenkoffer auf dem Schreibtisch ab, klappte ihn auf und fuhr den Laptop hoch. Er schickte Mike die Zimmernummer und trat dann ans Fenster. Aus dem Zimmer im dritten Stock hatte man freie Sicht auf ein Freeway-Kleeblatt, aber nur wenig mehr.

Er kehrte an den Schreibtisch zurück und checkte den Maileingang. Nichts von Bedeutung. Er verschwand im winzigen Bad und benutzte die Toilette. Als er wieder herauskam, läutete das Hoteltelefon. Er nahm den Hörer ab. »Ja?«

»Mr. Easton?«

»Ms. Li?«

»Ihre Partner sind hier.«

»Gut.« Schneller als erwartet.

»Soll ich Ihnen etwas aus der Küche nach oben bringen lassen? Vielleicht einen Obstteller? Oder eine Gebäckauswahl?«

»Danke, aber nein.«

»Zögern Sie nicht anzurufen, falls Sie es sich anders überlegen.«

»Mache ich, Ms. Li. Noch einmal vielen Dank für Ihre Mühe.«

»Gern geschehen.«

Obwohl die offenen Vorhänge reichlich Tageslicht ins Zimmer ließen, schaltete er die Schreibtischlampe ein. Er drehte den Thermostat um ein paar Grad zurück. Nach einem Blick in den Spiegel über der Kommode kam er zu dem Schluss, dass er präsentabel, aber nicht wirklich schick aussah. Er hatte sich in aller Eile geduscht und umgezogen.

Als er ein leises Klopfen hörte, ging er zur Tür und schaute kurz durch den Spion, bevor er öffnete. Dann trat er zur Seite und ließ die beiden Männer herein.

Im Vorbeigehen eröffnete ihm Gifford Lewis: »Das Mädchen am Empfang hat uns aufgehalten und gefragt, ob wir Mr. Eastons Partner wären. Sie steht auf dich.«

»Alles, was Mr. Easton möchte«, grummelte Mike Mallory. »Also, nachdem sie es schon angeboten hatte, hätte ich mich über die Obstplatte und Gebäckauswahl gefreut. Du könntest immer noch unten anrufen.«

Aus Gewohnheit warf Drex einen prüfenden Blick in den – menschenleeren – Gang, ehe er die Tür schloss und den Riegel vorlegte. »Ihr reißt mich vor Tag und Tau aus dem Schlaf und erklärt mir: ›Such uns was, wo die Wände keine Ohren haben.‹ Und verlier keine Zeit, habt ihr gesagt. Also habe ich keine Zeit verloren, dieses Zimmer gefunden, und jetzt sind wir hier. Scheiß auf die Obstplatte und das Gebäck. Was liegt an?«

Die beiden Besucher sahen sich an, aber keiner antwortete.

»Was ist so streng geheim, dass wir es nicht über die gewöhnlichen Kanäle besprechen konnten?«, fragte Drex gereizt.

Gif lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Mike rollte den Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und zwängte seine hundertfünfzig Kilo zwischen die ächzenden Armlehnen.

Drex stemmte die Hände in die Hüften und sah beide fordernd an. »Verdammt noch mal, macht einer von euch jetzt den Mund auf?«

Mike sah Gif an, der Mike mit einer stummen Handbewegung das Wort überließ. Mike sah zu Drex auf und sagte: »Ich hab ihn gefunden.«

Mikes Stimme klang fröhlich wie eine Totenglocke. Das ihn brauchte keine weitere Erklärung.

Seit Jahren wartete Drex darauf, diese Worte zu hören. In zehntausenden Versionen hatte er sich diesen Moment ausgemalt. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie sein Körper reagieren würde. Vielleicht würden seine Ohren zu klingeln beginnen, sein Mund austrocknen, seine Knie einknicken, sein Atem stocken, sein Herz zerspringen.

Stattdessen lösten sich seine Hände von den Hüften, und eine geradezu übernatürliche Taubheit erfasste seinen Körper.

Auch Gif und Mike hatten offenbar mit irgendeiner Art von Ausbruch gerechnet, denn beide waren sichtlich verblüfft über sein Schweigen und die plötzliche Erstarrung, die ausgesprochen gespenstisch wirkten – sogar auf ihn selbst.

Als sich, eine volle Minute später, die Schockstarre zu lösen begann, trat er noch mal ans Fenster. Keine umwälzende Katastrophe hatte sich ereignet, seit er zuletzt hinausgeschaut hatte. Weder war der Verkehr auf den sich überschneidenden Freeways zum Erliegen gekommen, noch hatten sich zerklüftete Schluchten im Erdboden aufgetan. Der Himmel war ihnen nicht auf den Kopf gefallen, die Sonne nicht erloschen.

Er ließ die Stirn gegen die Scheibe sinken und nahm überrascht wahr, wie kalt sich das Glas anfühlte. »Bist du sicher?«

»Sicher? So wie hundertprozentig? Nein«, antwortete Mike. »Aber auf dem Papier sieht alles danach aus.«

»Alter?«

»Zweiundsechzig. Laut seinem Führerschein.«

Drex drehte den Kopf und zog in einer stummen Frage die Brauen hoch.

»Aus South Carolina«, ergänzte Mike. »Mount Pleasant. Vorort von …«

»Charleston. Ich weiß. Und welcher Name ist angegeben?«

»O nein.«

Das brachte Drex dazu, sich ganz umzudrehen. »Verzeihung? Was soll das heißen?«

»Das heißt«, antwortete Gif, »dass du den Namen erst erfährst, wenn wir wissen, was du mit der Information anfangen wirst.«

»Was zum Teufel glaubt ihr denn, dass ich damit anfange? Zuerst einmal werde ich meinen Arsch nach Charleston bewegen.«

Gif wechselte einen Blick mit Mike, stieß sich dann von der Wand ab und baute sich vor Drex auf. Seine Haltung war nicht bedrohlich, was auch lächerlich gewirkt hätte, weil Drex einen imposanten Körperbau vorzuweisen hatte und Gif ihm bei Weitem nicht gewachsen war. Trotzdem stellte er sich breitbeinig in Position, als hätte er schwere Zweifel an Drex’ Selbstdisziplin und würde nicht auf einen Sieg der Vernunft hoffen.

»Hör zu, Drex. Mike und ich haben auf der Fahrt hierher darüber gesprochen. Wir glauben, du solltest bedenken … Also, es wäre ratsam, wenn … Vielleicht wäre es am klügsten, wenn …«

»Was?«

»Rudkowski benachrichtigt würde.«

»Kommt überhaupt nicht in die Tüte.«

»Drex …«

Drex wiederholte die Aussage, diesmal aber lauter und nachdrücklicher.

Mike warf Gif einen ironischen Blick zu. »Hab ich es nicht gesagt?«

Inzwischen schrillte es sehr wohl in Drex’ Ohren. Jetzt, wo er die Nachricht wirklich begriffen hatte, schoss sein Blutdruck in ungeahnte Höhen. Die Fensterscheibe hatte sich an seiner Stirn nur so kühl angefühlt, weil sein Gesicht vor Fieber glühte. Die Adern in seinen Schläfen pochten. Unter den Haaren war seine Kopfhaut von Schweiß überzogen, und sein Rumpf fühlte sich klamm an.

Er zog das Sakko aus und warf es aufs Bett, wand sich aus seinem Schulterholster und ließ es auf sein Sakko fallen, löste dann den Knoten seiner Krawatte und den obersten Hemdknopf, ganz als könnte die Meinungsverschiedenheit schlimmstenfalls in einen Faustkampf ausarten, auf den er vorbereitet sein wollte.

Bemüht, wenigstens gefasst zu klingen, fragte er noch mal: »Welchen Namen verwendet er?«

»Vorausgesetzt, er ist es wirklich«, schränkte Mike ein.

»Ihr geht davon aus, dass er es ist, sonst hättet ihr dieses Geheimtreffen nicht vorgeschlagen. Ich will alles hören, was ihr über ihn wisst, angefangen mit dem Namen.«

»Kein Name.«

Mike Mallory war ein Guru, wenn es darum ging, Informationen in einem Computer auszugraben, aber er war kein Menschenfreund. Im Allgemeinen verachtete er seine Mitmenschen, die er größtenteils für komplette Vollidioten hielt, wobei Drex und Gif möglicherweise die einzigen Ausnahmen darstellten.

Er war so fähig, dass Drex gewöhnlich seine giftigen Kommentare und seine mangelnden sozialen Fähigkeiten hinnahm, aber jetzt grummelte er einen Fluch, der nicht nur auf Mike zielte, sondern auch auf Gif, der sich in diesem Punkt auf Mikes Seite geschlagen hatte.

»Nur zu«, sagte Mike. »Du kannst uns alles Mögliche heißen. Wir denken dabei nur an dich.«

»Ich denke lieber für mich selbst, vielen Dank.«

»Hör dir erst mal alles an, vielleicht entschließt du dich dann, die Sache lieber nicht selbst in die Hand zu nehmen.«

»Bestimmt nicht.«

Mike zuckte mit den Achseln. »Es ist deine Beerdigung. Aber ich werde dir nicht helfen, dein Grab zu schaufeln, und ich werde mich erst recht nicht zu dir gesellen. Nur als Warnung.«

»Ich bin gewarnt. Ich werde den bescheuerten Namen selbst herausfinden. Setzt mich nur aufs richtige Gleis.«

Mike nickte. »Werde ich machen. Denn ich will genauso wenig, dass er uns entwischt. Falls er es ist.«

Drex richtete sich auf und rollte angestrengt die Schultern, um die Muskeln zu lockern. »Hat der mysteriöse Mann einen Job?«

»Nicht, soweit ich feststellen konnte«, sagte Mike. »Aber er lebt ganz angenehm.«

»Jede Wette«, murmelte Drex vor sich hin. »Wie lange wohnt er schon in Mount Pleasant?«

»Das habe ich noch nicht ermittelt. In seiner aktuellen Bleibe lebt er seit zehn Monaten.«

»Und was ist das für eine Bleibe?«

»Ein Haus.«

»Gemietet?«

»Eigentum.«

»Kreditfinanziert?«

»Falls ja, konnte ich nichts darüber finden.«

»Also bar gekauft.«

Mike hob seine fleischigen Schultern zu einem wortlosen schätze ja.

Gif wandte ein, dass das Haus auch geerbt sein könnte, aber das glaubte keiner, darum wurde der Einwand nicht weiter verfolgt.

»Was ist es für ein Haus?«, fragte Drex.

»Laut der Immobilienanzeige kein neues, sondern aus zweiter Hand«, sagte Mike. »Aber es ist ein angesehenes Viertel. Vornehm.«

»Preis?«

»Anderthalb Millionen und noch was drauf. Auf Google Earth sieht es geräumig und gepflegt aus. Du findest alles hier drauf.« Mike tastete unter seiner Wampe nach der Hosentasche und zog einen USB-Stick hervor.

Drex schnappte ihn aus seiner Hand.

»Wird dir ohne Passwort nichts nutzen, und das kriegst du erst, wenn wir das hier durchgesprochen haben.«

Drex schnaubte. »Ich kann das Passwort hacken lassen. Mir ist klar, dass bei dir der Begriff Nerd eine lächerliche Untertreibung wäre, aber du bist nicht der Einzige, der sich mit Computern auskennt, weißt du?«

Mike hob die Hände. »Wie du möchtest. Besorg dir einen Nerd und lass ihn wühlen. Aber wie wirst du dein Interesse an diesem allen Anschein nach gesetzestreuen Bürger erklären, falls dir jemand auf die Schliche kommt?«

»Einen bezahlten Hacker interessiert es nicht, wieso ich mich für den Mann interessiere.«

»Ein bezahlter Hacker würde ohne zu zögern bei dir abkassieren und dir dann …«

»Das Messer in den Rücken rammen«, stimmte Gif ein.

»Dein Hacker könnte den Mann in South Carolina anrufen und ihm erklären, dass im fernen Lexington, Kentucky, ein Typ sitzt, der ihn ausspionieren lässt.«

Gif übernahm wieder. »Ein Hacker würde dich geradewegs ans Messer liefern, wenn ihm die andere Seite mehr bezahlt.«

»Und dann wärst du es, Special Agent Easton«, fuhr Mike fort und zielte dabei mit einem Stummelfinger auf Drex’ Brust, »den man ausspionieren würde und der dabei erwischt würde, wie er weiß Gott wie viele Verstöße und Verbrechen begeht, und damit hättest du dir jede Chance verbaut, diesen Hurensohn festzunageln. Und nur dafür hast du dein ganzes Leben gearbeitet.« Er holte pfeifend Luft. »Sag uns, dass wir falschliegen.«

Drex ließ sich aufs Fußende des Bettes sinken, stemmte die Hände auf die Schenkel und senkte den Kopf. Nach kurzem Nachdenken sah er auf. »Okay. Kein Hacker. Ich werde mich bremsen. Zufrieden?«

Die beiden anderen sahen sich an, und Gif sagte: »Geh mit etwas Zurückhaltung und Diskretion vor.«

»Stürm nicht mit runtergelassener Hose los«, sagte Mike.

»Mehr verlangen wir gar nicht«, ergänzte Gif.

Drex legte die Hand auf sein Herz. »Ich werde mit Zurückhaltung, Diskretion und hochgezogener Hose vorgehen. Okay?«

Keiner von beiden kommentierte die letzte Bemerkung, und beide wirkten nicht sonderlich überzeugt, trotzdem sagte Mike: »Okay. Nächste Frage?«

»Habt ihr ein Bild von ihm?«

»Nur das auf seinem Führerschein.«

»Und?«

»Darauf sieht er absolut nicht so aus wie bei seinem letzten Auftritt.«

»In Key West«, rief Gif ihnen in Erinnerung, als hätten sie das je vergessen können.

»Man würde nicht darauf kommen, dass es derselbe Mann ist«, sagte Mike. »Und das heißt, dass ich vollkommen falschliegen könnte.«

»Falls er sich täuscht«, sagte Gif, »und du wild entschlossen losstürmst und das Leben dieses Mannes ins Chaos stürzt, wirst du in einer Welt voller Schmerzen landen. Vor allem, falls Rudkowski Wind von der Sache bekommt.«

»Rudkowski kann sich selbst ficken.«

»Wie man hört, hat er das lange versucht, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll.«

Gifs Bemerkung entlockte Mike ein seltenes belustigtes Schnauben und Drex ein zaghaftes Schmunzeln. Gif verstand es, eine angespannte Situation zu entschärfen. Er war durchschnittlich groß und schwer, hatte dünnes braunes Haar und kein einziges hervorstechendes Merkmal. Gifs Durchschnittlichkeit diente ihm ausgezeichnet als Tarnung: Er konnte andere beobachten, ohne dass sie ihn bemerkten oder im Gedächtnis behielten, und das machte ihn zu einem unverzichtbaren Mitglied ihres Teams. Außerdem konnte er, wie eben demonstriert, zuverlässig das Verhalten seiner Mitmenschen vorhersagen.

Denn Drex’ erster Impuls war es sehr wohl gewesen, loszustürmen und Chaos anzurichten.

Weil er einen Augenblick brauchte, um seine Gedanken zu ordnen, deutete er auf die Minibar. »Bedient euch.« Er stand wieder auf und begann auf dem schmalen Streifen zwischen Bett und Fenster auf und ab zu gehen.

Mike und Gif suchten sich jeweils ein Getränk aus und rissen ihre Dosen auf. Mike beschwerte sich, dass er eine Schraubzwinge bräuchte, um den Deckel des Nussglases zu öffnen. Gif bot ihm an, es einmal zu versuchen. Mike schnaubte nur und bezeichnete ihn als Schwächling.

Drex blendete ihr Geplänkel aus und konzentrierte sich ganz auf seine Zielperson, einen Mann, den er damals als Weston Graham kennengelernt hatte, was allerdings wohl nur ein weiterer in einer langen Reihe von Decknamen gewesen war. Seit Jahrzehnten war dieser Mann den Behörden immer wieder durch die Lappen gegangen. Inzwischen hätte er auch mit einem Eis in der Hand in dem Wendy’s hinter dem Freeway auftauchen oder Weihrauch in einem Kloster im Himalaja verbrennen können, und weder das eine noch das andere hätte Drex überrascht.

Der Mann war ein Chamäleon, so geschickt konnte er sein Äußeres verändern und sich neuen Lebensumständen anpassen. Er hatte bequem und ohne Verdacht zu erregen in einem Penthouse an der Gold Coast in Chicago gelebt sowie auf einer Pferderanch außerhalb von Santa Barbara und einer Jacht, die in Key West vor Anker gelegen hatte. Andere Örtlichkeiten, in denen er sich eingenistet hatte – und von denen Drex wusste –, waren weniger glamourös gewesen. Das hatte auch nicht sein müssen. Alle waren für ihn äußerst profitabel gewesen.

Als seine Besucher wieder zur Ruhe gekommen waren, fragte Drex: »Wie seid ihr auf den Kerl in South Carolina aufmerksam geworden?«

»Ich kontrolliere routinemäßig alle Fangleinen, die ich ausgelegt habe, aber was mich wirklich stutzig gemacht hat?«, antwortete Mike und rülpste. »Eine Dating-Plattform. Ich gehe davon aus, dass er seine Opfer vorab durchleuchten will, darum treibe ich mich regelmäßig auf solchen Webseiten rum, nur um zu sehen, ob es irgendwo Klick macht. Und vorgestern bin ich über ein Profil gestolpert, bei dem genau das passiert ist. Die Wortwahl hat was losgerüttelt. Es war, als hätte ich den Eintrag schon mal gelesen. Ich hab eine Weile gebraucht, aber dann bin ich fündig geworden. Bis auf die Beschreibung seines Aussehens war es Wort für Wort, Komma für Komma identisch mit dem neuen Profil. Vorlieben, Abneigungen, Fünfjahresziele, Lebens- und Liebesphilosophie. Die ganze Kacke. Aber der Kick? Das erste Profil wurde sechs Monate vor Pixies Verschwinden gepostet.«

Patricia Montgomery, Pixie für ihre Freunde, war aus ihrer Villa in Tulsa verschwunden und nie wiederaufgetaucht.

»Zufall, Mike«, sagte Drex. »Pixies Bekannte haben bei den Befragungen beteuert, dass sie nie im Leben eine Dating-Plattform benutzt hätte, um Männer kennenzulernen.«

»Das haben die Bekannten aller vermissten Frauen beteuert. Sie haben auch beteuert, dass ihre Freundin zu erfahren gewesen wäre, um auf einen Betrüger reinzufallen. Aber Pixie verschwand nur wenige Tage, nachdem sie all ihre Aktien verkauft und das komplette Vermögen aus ihren Ölgeschäften von ihrem Bankkonto abgezogen hatte.«

Gif schaltete sich ein. »Aus ihrem Haus fehlte einzig und allein ihr Rechner. Ihr Verführer ließ Schmuck und Pelze im Wert von mehreren zehntausend Dollar zurück, aber den alten Computer hat er mitgenommen.«

»Damit es keine Hinweise auf einen Online-Flirt gab«, bestätigte Mike. Der Ledersessel stöhnte unter ihm auf, als er sich vorbeugte und Gif das fast leere Glas mit Nüssen aus der Hand nahm. »Du schaust so ernst«, sagte er zu Drex.

»Ich würde mich gern begeistern, aber das ist verflucht dünn.«

»Stimmt. Dünn wie Zwiebelschalen. Darum habe ich mir noch mal das Opfer nach Pixie vorgenommen. Also, sein mutmaßliches Opfer.«

»Marian Harris. Key West.«

»Acht Monate vor ihrem Verschwinden wurde das gleiche verdammte Profil gepostet. Auf einer anderen Datingseite, aber einer, die ebenfalls auf ›erfahrene‹ Kunden mit ›gehobenem Geschmack‹ zielt.«

»Wort für Wort?«, fragte Drex.

»Wie ein Fingerabdruck.«

»Schlechter Witz«, sagte Gif.

Der Mann, den sie suchten, hatte noch nie einen Fingerabdruck hinterlassen. Oder falls doch, hatte ihn niemand gefunden. Er war ein verfluchtes Gespenst.

Mike schüttete die letzten Nüsse aus dem Glas direkt in seinen Mund. »In Pittsburgh war er schneller«, erläuterte er schmatzend. »Er nahm die ›Bekanntschaft‹ mit einer ›eleganten Dame‹ nur drei Monate vor Loretta Doans Verschwinden auf, und das war vor über sechs Jahren.«

»Bieten die Datingseiten, die du durchsuchst, landesweit Vermittlungen an?«

»Ja. Ein Umzug schreckt ihn nicht ab. Ich glaube, das Arschloch liebt die Luftveränderung.«

»Wann wurde das Profil zuletzt hochgeladen?«

»Vor ein paar Monaten.«

Drex verzog das Gesicht. »Er hält Ausschau nach dem nächsten Opfer.«

»Das hab ich auch daraus geschlossen. Also hab ich einen Testballon gestartet. Ich hab ihm geantwortet und dabei ein paar Schlagworte einfließen lassen, die mich nach einer leichten Beute aussehen lassen würden. Ich hab mich als kinderlose Witwe in den Fünfzigern beschrieben, finanziell abgesichert und unabhängig. Ich liebe Haute Cuisine, guten Wein und Kunstfilme. Die meisten Männer finden mich attraktiv.«

»Ich nicht«, sagte Gif.

»Ich auch nicht«, pflichtete Drex ihm bei.

Mike zeigte ihnen den Finger. »Er offenbar auch nicht. Er hat den Köder nicht geschluckt.«

Gif kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Vielleicht hast du zu dick aufgetragen. Vielleicht hast du zu selbstsicher, gebildet und klug geklungen. Er sucht Frauen, die ein bisschen naiv sind. Verletzlich. Du hast ihn verschreckt.«

»Oder«, sagte Drex, »er hat die Schlagworte als solche erkannt, den Braten gerochen und sich ausgerechnet, dass hinter dieser angeblichen Traumlady ein FBI-Agent steckt, der seine Angel ausgeworfen hat.«

»Vielleicht«, sagte Mike. »Aber es gibt noch eine andere, wahrscheinlichere Möglichkeit – und die macht mir Angst. Nämlich, dass er einen Frühstart hingelegt hat. Die Anzeige voreilig rausgegeben hat. Er hat nicht reagiert, weil er noch mit seinem augenblicklichen Opfer beschäftigt ist.«

Es war eine vernünftige Theorie, die Drex umso glaubhafter erschien, weil sich allein bei dem Gedanken sein Magen zusammenkrampfte. »Und das bedeutet, dass diese Frau sich in genau diesem Moment in Lebensgefahr befindet.«

»Schlimmer noch.«

»Was ist schlimmer als Lebensgefahr?«

Mike zögerte.

»Mach schon«, drängte Drex.

Der schwergewichtige Mann seufzte. »Ich wiederhole, Drex, ich kann auch falschliegen.«

»Aber das glaubst du nicht.«

Mike hob die pfannengroßen Pranken.

»Wieso glaubst du, dass es er ist?«, fragte Drex.

»Versprich mir nur …«

»Keine Versprechungen. Wie kommst du darauf, dass dieser Mann unser Mann ist? Mein Mann?«

»Drex, du darfst nicht …«

Gif meldete sich zu Wort: »Rudkowski wird …«

»Raus mit der Sprache, verflucht noch mal!«, übertönte Drex ihre Warnungen.

Nach einer längeren Pause murmelte Mike: »Er ist verheiratet.«

Das hatte Drex nicht kommen sehen. »Verheiratet?«

»Verheiratet. ›Willst du …? Mit diesem Ring … Hiermit erkläre ich euch zu …‹«

Gif bestätigte das mit einem ernsten Nicken.

Drex sah beide abwechselnd an, schüttelte dann perplex den Kopf und lachte schnaubend und bitter enttäuscht. »Na schön, damit hat sich der Fall erledigt, und ihr habt meine Zeit verschwendet. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir unten im Restaurant noch Frühstück.« Er schob die Finger durch sein Haar. »Scheiße! Und ich hatte schon Morgenluft gewittert, weil es ganz so aussah, als hätte sich unser einsames Herz wieder auf Wanderschaft begeben und nach seiner Seelenverwandten gesucht. Aber das ist nicht unser Mann, denn eine Ehefrau passt nicht ins Bild.«

»Sie hat einmal durchaus gepasst«, rief Gif ihm ins Gedächtnis.

»Ein einziges Mal. Und seither nicht mehr. Eine Eheschließung mit ›willst du …, mit diesem Ring …‹ passt seit Jahren nicht zu seinem Profil oder seinem Modus Operandi. In keiner Form, Gestalt oder Art.«

»Tatsächlich tut sie das sehr wohl«, widersprach Mike ernst.

»Inwiefern?«

Gif räusperte sich. »Die Frau ist stinkreich.«

Drex sah die beiden nacheinander an. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können, aber die ängstlichen, bedrückten Mienen waren identisch.

Er drehte ihnen den Rücken zu, und dabei fiel sein Blick auf sein Spiegelbild über der Kommode. Selbst ihm fiel auf, dass sich seit seinem letzten Blick seine Haltung verändert, verhärtet hatte, dass er jetzt gespannte Entschlossenheit ausstrahlte. In seinen Augen glühte eine Wildheit, die vor Minuten noch nicht darin gewesen war, bevor er erfahren hatte, dass das Leben einer Frau am seidenen Faden hing. Einem dünnen Faden. Und dass nur er sie retten konnte.

Er sprach leise, aber mit stählerner Härte: »Sagt mir, wie er heißt.«

Kapitel 2

»Brauchen Sie Hilfe?«

Drex stellte den leeren Karton am Straßenrand ab, drehte sich um und sah sich zum ersten Mal seiner Nemesis gegenüber.

Falls das tatsächlich Weston Graham war, war er gut einen Meter siebzig groß und für einen Mann von zweiundsechzig Jahren außerordentlich fit. Sein Golfshirt umschmiegte zwei muskulöse Oberarme und eine schlanke Taille. Er hatte eine hohe Stirn, doch das graue Haar dahinter war lang genug, um in einen kurzen Pferdeschwanz gebündelt zu werden. Sein Lächeln war offen und freundlich, weiße Zähne strahlten ihm entgegen, und sein Mund wurde von einem grau melierten Henriquatre-Bart eingerahmt.

Drex wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Danke, aber das hier ist der Letzte.«

»Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden. Das war ein reines Höflichkeitsangebot.«

Beide lachten.

»Aber ich würde eins von den Bieren nehmen«, sagte Drex. »Falls Sie mir eins anbieten wollten.«

Sein Nachbar war mit zwei kalten Flaschen über die Rasenfläche zwischen den beiden Häusern gekommen; jetzt reichte er Drex eine davon. »Willkommen in der Nachbarschaft.«

»Danke.«

Sie stießen an und nahmen einen tiefen Schluck. »Jasper Ford.« Er streckte die Hand aus, und Drex schüttelte sie.

»Jasper«, sagte Drex, so als hätte er den Namen eben zum ersten Mal gehört und wollte ihn sich einprägen, so als hätte er ihn Gif und Mike nicht aus der Nase ziehen müssen, so als hätte er nicht im Lauf der vergangenen Woche so viele Informationen wie nur möglich über diesen Mann zusammengetragen.

»Ich bin Drex Easton.« Er suchte in den Augen des Mannes nach einer Reaktion, entdeckte aber keine.

Jasper deutete auf den Stapel leerer Kartons, die Drex am Straßenrand aufgetürmt hatte. »Sie haben die letzten zwei Tage ordentlich geschuftet.«

»Es war Schwerstarbeit, alles über die Treppe nach oben zu wuchten. Das Ding ist mörderisch.«

Er nickte zu der steilen Außentreppe hin, die zu einem Apartment über einer Garage führte. Die Garage war groß genug für ein sechs Meter langes Motorboot und stand etwa dreißig Meter hinter dem Haupthaus. Drex nahm an, dass man sie dort errichtet hatte, weil sie dadurch von einer riesigen uralten Eiche verdeckt wurde.

Er spähte zwischen den Ästen nach oben und tat so, als wollte er das Apartment aus einer ganz neuen Perspektive wahrnehmen. »Aber die Rückenschmerzen haben sich gelohnt. Man fühlt sich da drin wie in einem Baumhaus.«

»Ich war nie drinnen«, sagte Jasper. »Ist es nett?«

»Nicht übel.«

»Wie viele Zimmer?«

»Nur drei, aber für mich reichen sie.«

»Sie sind also allein?«

»Hab nicht mal einen Goldfisch.« Er grinste. »Aber vielleicht pfeife ich auf das Haustierverbot und besorge mir eine Katze. Ich habe in der Kochecke ein paar Mäuseköttel entdeckt.«

»Ich kann mir gut vorstellen, dass sich eine Maus eingenistet hat. Die Eigentümer leben eigentlich im Norden und verbringen nur den Winter hier unten.«

»Das hat Mr. Arnott mir auch erklärt. Sie kommen am Tag nach Thanksgiving und bleiben bis zum ersten Juni.«

»Ehrlich gesagt hatte ich Bedenken, als ich mitbekam, dass das Apartment vermietet wurde.«

»Sie haben bereits im Vorfeld davon gehört?«

»Gar nicht. Sie tauchten plötzlich hier auf und fingen an, Kartons nach oben zu schleppen.«

Drex lachte. »Und Sie dachten sich: ›Was soll der Scheiß?‹«

Der Mann bekannte sich mit einem wortlosen Lächeln und Achselzucken schuldig. »Ich habe für Notfälle die Nummer der Arnotts, darum habe ich sie angerufen.«

»Ich bin ein Notfall?« Drex sah auf sein zerlumptes Hemd, die schmutzigen Shorts und ausgelatschten Turnschuhe. »Ich kann mir vorstellen, wie Sie darauf gekommen sind. Ein Blick auf mich, und sofort dachten Sie: ›Jetzt gehts mit der Nachbarschaft bergab.‹« Er ließ ein Lächeln aufblitzen. »Ich bin sauber, versprochen.«

Jasper Ford lachte gutmütig. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Genau mein Motto.«

»Gute Zäune sorgen für gute Nachbarschaft.«

»Nur dass es hier keinen Zaun gibt.« Drex schaute über den Rasen, der sich zwischen beiden Grundstücken erstreckte. Er stellte sich wieder Jasper Fords dunklem Blick. »Ich werde mein ungehobeltes Benehmen auf dieses Grundstück hier beschränken. Sie werden gar nicht merken, dass ich hier bin.«

Jasper lächelte, doch ehe er etwas sagen konnte, ging auf seinem Handy piepsend eine Nachricht ein. »Entschuldigen Sie.« Er zog es aus seiner Hemdtasche.

Während er die Nachricht las, bog Drex übertrieben den Rücken durch, bis er unwillkürlich das Gesicht verzog, und nahm dann noch einen Schluck Bier.

»Meine Frau«, sagte Jasper und schaltete den Bildschirm wieder aus. »Ihr Flug verspätet sich wegen des Wetters. Sie steckt in Chicago fest.«

»Was für ein Pech.«

»Ist nicht das erste Mal«, meinte er halb gedankenverloren und schaute dabei über die Schulter zu seinem Haus, bevor er Drex wieder ansah. »Wie wär’s mit etwas Surf and Turf?«

»Verzeihung?«

»Ich habe fertige Krabbenfrikadellen im Haus. Und Steaks in der Marinade. Wäre doch schade, wenn ich die Hälfte wegwerfen müsste.«

»Ich möchte mich nicht aufdrängen.«

»Wenn Sie sich aufdrängen würden, hätte ich Sie nicht eingeladen.«

»Na ja …« Drex kratzte seine unrasierte Wange und tat so, als müsste er überlegen. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Vorratskammer und den Kühlschrank aufzufüllen. Bisher ernähre ich mich von Fast Food.«

Jasper lachte kurz. »Bei mir bekommen Sie was Besseres, versprochen. Wir sehen uns bei Sonnenuntergang. Auf einen Drink auf der Veranda.« Er beugte sich vor und nahm Drex die Bierflasche ab. »Ich werfe die für Sie weg.«

Drex trat aus der Dusche und griff nach seinem läutenden Handy, das er am Waschbeckenrand abgelegt hatte. Er warf einen Blick aufs Display und nahm das Gespräch an. »Hey.«

»Wie läuft’s?«, fragte Mike.

»Im Moment gut. Ich stehe nackt und nass unter einem Deckenventilator.«

»So genau wollte ich es nicht wissen.«

»Der Ventilator quietscht, aber so kühl war es noch nie, seit ich hier angekommen bin. Wieso habt ihr mir nicht gesagt, dass es hier keine Klimaanlage gibt?«

»Du hast nicht gefragt.«

Nachdem sie zu dritt entschieden hatten, dass sie Jasper Ford unter die Lupe nehmen sollten, war Drex nach Charleston geflogen, anschließend vom Flughafen aus direkt nach Mount Pleasant gefahren und hatte das Haus der Fords ausgekundschaftet.

Google Earth war dem Anwesen nicht gerecht geworden. Das zweistöckige Backsteinhaus war weiß gestrichen. Die tiefe Veranda im klassischen Südstaaten-Stil erstreckte sich über die gesamte Fassade, und die schwarzlackierte Haustür mit dem Messingklopfer in Ananasform wurde von zwei Pilastern eingerahmt. Umgeben war das Haus von einer weitläufigen Rasenfläche und jahrzehntealten Bäumen, die alles überschatteten. Das Haus machte einen bewohnten Eindruck, mit blühenden Blumen in allen Beeten, grünen Farnpflanzen auf der Veranda, einer von der Dachtraufe hängenden US-Flagge. Täglich wurden Zeitungen und Post geliefert.

Im Gegensatz dazu wirkte das Haus nebenan weit weniger gepflegt, und in den drei Nächten, die Drex es observiert hatte, waren die Lichter jedes Mal zur selben Zeit an- und ausgegangen. Von einem Timer gesteuert. Keine Blumen, keine Farnpflanzen, keine Post.

Er war nach Lexington zurückgekehrt, hatte Mike und Gif auf den neuesten Stand gebracht und Mike angewiesen herauszufinden, wem das Grundstück neben dem der Fords gehörte, das offenbar als Zweitwohnsitz diente oder jedenfalls nur selten bewohnt wurde.

Mike hatte pflichtbewusst nachgeforscht und über die Steuerunterlagen einen Namen und die dazugehörigen Kontaktdaten ermittelt.

Dann war Drex in Aktion getreten. Er hatte Mr. Arnott angerufen, der mit seiner Frau die meiste Zeit des Jahres in Pennsylvania lebte, aber nach seiner Pensionierung das Haus in South Carolina erstanden hatte, um der Kälte und dem Schnee zu entfliehen.

Drex schilderte ihm in schillernden Farben seine augenblickliche Situation, die er sich zuvor zusammengesponnen hatte. Dann war er zum Kern vorgedrungen. Er sei auf der Suche nach einer temporären Unterkunft in Charleston oder Umgebung. Während einer Erkundungsfahrt nach möglichen Objekten sei er über den Cooper River nach Mount Pleasant gekommen, und als er dort ein wenig herumgefahren sei, um sich gewissermaßen zu orientieren, sei ihm das Apartment über der Garage ins Auge gefallen. Es sei ideal für ihn: abgeschieden, ruhig, wie ein »Blockhaus im Wald«, aber inmitten einer landschaftlich reizvollen, sicheren Nachbarschaft.

Das Apartment würde ihm ausreichend Platz bieten. Er würde allein und ohne Haustier dort einziehen. Er war Nichtraucher. Und gleichzeitig würde er von dort aus das Haupthaus im Blick behalten können.

»Ganz ehrlich, Mr. Arnott, wäre ich ein Einbrecher, hätte ich mir Ihr Haus ausgesucht. Es ist ganz offensichtlich, dass Sie nicht ständig dort wohnen.«

Als Arnott zögerte, spielte Drex kurz mit dem Gedanken, die FBI-Karte auszuspielen. Aber dann tat er es doch nicht, weil er befürchtete, Jasper Ford könnte über Umwege erfahren, dass nebenan das FBI eingezogen war. Stattdessen versorgte er Arnott mit mehreren fiktiven Referenzschreiben, alle von Gif verfasst, den Arnott tatsächlich anrief, um sich die vollmundige Empfehlung bestätigen zu lassen. Auch Mike wurde angerufen und musste den von ihm unterschriebenen Empfehlungsbrief bestätigen. Gemeinsam überzeugten sie Mr. Arnott schließlich, dass Drex Easton sehr vernünftig, anständig und alles das sei, was er zu sein behauptete.

Arnott erklärte sich einverstanden, ihm das Apartment für die gewünschten drei Monate zu vermieten, wobei Drex tatsächlich nur zwei Wochen dort verbringen würde – seinen ihm zustehenden Jahresurlaub. Niemand außer Mike und Gif würde erfahren, wie er seine Ferien verbrachte. Bis er einen Durchbruch erzielte, sollten alle anderen im Dunkeln tappen.

Außerdem machte es seine Geschichte glaubwürdiger und ließ ihn als Mieter solider und verantwortungsvoller wirken, wenn er die Wohnung für drei Monate haben wollte. Er zahlte die volle Miete im Voraus.

»Und wie ist es abgesehen von der fehlenden Klimaanlage?«, fragte Mike jetzt. »Bist du schon eingezogen?«

Von der offenen Badezimmertür aus konnte Drex mehr oder weniger das gesamte Apartment überblicken, das praktisch vollkommen leer war, so wie die meisten Kartons, die er nur für das Publikum von nebenan nach oben geschleppt hatte. Das Apartment war zwar möbliert, aber äußerst sparsam. Er hatte nur das Nötigste zum Anziehen und für die Körperpflege mitgebracht. Außerdem hatte er eine Kaffeemaschine mitgenommen, aber dass er sich in den letzten Tagen von Fast Food ernährt hatte, war nicht gelogen.

»Alles fertig eingerichtet«, erklärte er Mike. »Der Laptop steht auf dem Küchentisch. Die Pistole klemmt zwischen Matratze und Bettkasten.«

»In anderen Worten, es sieht so aus wie in deiner Wohnung hier«, sagte Mike. »Und wie lange wohnst du schon in der?«

»Gibt es einen Grund für deinen Anruf? Wenn ja, dann raus damit. Denn ich will nicht zu spät zu meinem Date kommen.«

»In nur zwei Tagen hast du schon ein Mädchen aufgerissen?«, fragte Mike. »Wie war das noch mit ›nicht mit runtergelassener Hose‹? Ich muss noch mal in meinen Aufzeichnungen nachschlagen, aber ich glaube, das ist neuer Rekord.«

»Es gibt kein Mädchen, und spar dir das Gequatsche. Ist Gif bei dir? Dann schalte auf Lautsprecher.« Als Drex hörte, dass Mike umgestellt hatte, sagte er: »Jasper Ford hat mich zum Abendessen eingeladen.«

Nach ein, zwei Sekunden in fassungslosem Schweigen reagierten Mike und Gif gleichzeitig mit einem überraschten Ausruf.

»Ich hatte schon den Feldstecher bereitgelegt, damit ich ihn ausspionieren kann, da kommt er heute mit einem kalten Bier und einem warmen Handschlag vorbei und heißt mich in der Nachbarschaft willkommen. Ich bin froh, dass er den ersten Schritt getan hat. Sonst hätte ich mir überlegen müssen, wie ich unauffällig seinen Weg kreuzen und mich mit ihm bekanntmachen kann.« Er gab kurz das Gespräch mit Jasper Ford wieder. »Es war locker und freundlich, aber eindeutig ein Abtasten. Sobald er mich einziehen sah, hat er bei Arnott angerufen und sich über mich erkundigt.«

»Paranoid, glaubst du?«, fragte Gif.

»Oder einfach nur ein wachsamer Nachbar mit einem gesunden Misstrauen gegenüber jedem Fremden«, sagte Mike. »Wie es jeder in so einem Viertel wäre.«

»Könnte beides sein«, sagte Drex. »Nach unserem Essen sollte ich ihn besser einschätzen können.«

»Was ist mit der Misses?«, fragte Mike.

Es hatte ihnen zu denken gegeben, dass Drex in den letzten zwei Tagen mehrmals Jasper gesehen hatte, aber kein einziges Mal dessen Frau. »Er hat mir erzählt, sie sei verreist; ich hoffe, das ist nicht gelogen und sie ist noch am Leben. Allem Anschein nach hat er eine Nachricht von ihr bekommen, während wir miteinander gesprochen haben.« Er erzählte ihnen von der Flugverspätung.

»Wieso Chicago?«, fragte Gif.

»Das hat er nicht gesagt. Aber er hat gesagt, dass sie sich öfter verspätet, was darauf schließen lässt, dass sie oft fliegt.«

»Klingt plausibel«, sagte Mike. »Sie war in der Reisebranche.«

»Ja, war«, sagte Drex. Mike hatte herausgefunden, dass Mrs. Fords fettes Finanzpolster aus dem Verkauf der Shafer Travel Inc. stammte. »Die Frage ist, warum sie immer noch so viel unterwegs ist.« Als niemand etwas darauf sagte, fuhr Drex fort. »Ich werde mich besser fühlen, wenn ich sicher weiß, dass sie noch unter uns weilt. Vielleicht klären sich heute Abend eine ganze Reihe von Fragen. Und wo wir gerade dabei sind …« Er sah aus dem Fenster. »Ich muss Schluss machen, mich anziehen und noch mal schnell zur Weinhandlung.«

»Wozu?«

»Es wäre nicht besonders nachbarschaftlich, mit leeren Händen zum Abendessen aufzutauchen.«

Als er aufgelegt hatte, ging ihm durch den Kopf, wie nachbarschaftlich es von Jasper gewesen war, ihm ein Bier zu bringen und die Flasche hinterher zu entsorgen.

Trotzdem, wäre es nicht noch nachbarschaftlicher gewesen, Drex das Bier austrinken zu lassen? Aber nein, Jasper Ford hatte die Flasche zurückhaben wollen.

»Weißen für die Krabbenpuffer. Roten für die Steaks.« Drex hielt die Weinflaschen nacheinander in die Höhe, während er sich der mit Fliegendraht verkleideten Veranda näherte, auf der Jasper in einem Schaukelstuhl unter dem rotierenden Ventilator saß.

Jasper stand auf und öffnete die Fliegentür. »Das wäre nicht nötig gewesen, aber trotzdem danke.« Er nahm Drex die Flaschen ab. »Wie wär’s mit einem Aperitif?«

»Was trinken Sie denn?« Drex deutete auf das Glas, das auf dem Weidentisch neben dem Schaukelstuhl stand.

»Bourbon auf Eis.«

»Mit Wasser?«

»Ohne.«

Drex lächelte. »Perfekt.«

»Nehmen Sie Platz.« Jasper verstaute den Weißwein in dem Minikühlschrank unter der eingebauten Bar und schenkte Drex einen Drink ein. Während er ihn überreichte, sagte er: »Sie haben sich wirklich ansehnlich gemacht.«

Drex hob sein Glas zu einem halben Prost. »Ich gebe mir Mühe.« Er hatte sich rasiert, aber einen Dreitagebart stehen lassen, trug eine Freizeithose und darüber ein lockeres Hemd. Bootsschuhe ohne Socken.

Jasper setzte sich wieder in den Schaukelstuhl und nippte an seinem Glas. »Sie sind also Schriftsteller.«

Drex tat so, als würde er sich fast an seinem Whisky verschlucken, und sah seinen Gastgeber überrascht an.

»Eine der Referenzen, die Sie Arnott genannt haben, war eine literarische Agentur.«

»Ach so! Eine Sekunde dachte ich schon, Sie könnten Gedanken lesen.« Er senkte verlegen den Blick. »Ich versuche mich als Schriftsteller. Noch steht mir der Titel nicht zu. Ich habe noch nichts veröffentlicht.«

»Arnott sagte, man hätte ihm erklärt, Sie hätten großes Potenzial.«

Er winkte abwehrend. »Das sagen alle Agenturen über ihre Klienten.«

»Ihre Agentin muss an Sie glauben, sonst würde sie Sie nicht vertreten.«

»Mein Agent.«

»Verzeihung?«

»Mein Agent ist ein Mann.«

»Ach so. Mein Fehler.«

Von wegen, dachte Drex. Das war ein Test gewesen.

»Sie schreiben hauptberuflich?«

»In letzter Zeit ja.«

»Und wie ernähren Sie sich?«

»Sparsam.« Jasper reagierte mit dem erwarteten Lachen. Drex fuhr fort: »Mein Dad starb vor ein paar Jahren und hat mir ein kleines Erbe hinterlassen. Keine weltbewegende Summe, aber so kann ich mir wenigstens ein Dach über dem Kopf leisten, während ich an meinem Buch arbeite.«

»Roman oder Sachbuch?«

»Ein Roman. Aus dem Bürgerkrieg.«

Jasper munterte ihn mit hochgezogenen Brauen auf, das auszuführen.

»Ich will Sie nicht langweilen«, sagte Drex.

»Ich langweile mich nicht.«

»Na schön.« Drex holte tief Luft. »Der Held zieht wie ein früherer Forest Gump durch den ganzen Sezessionskrieg, von der ersten Schlacht am Bull Run bis zum Gefecht bei Appomattox. Er ringt mit Loyalitätskonflikten, seinem moralischen Kompass, Todesangst. So in der Art.«

»Klingt interessant.«

Drex lächelte, als wäre ihm klar, dass das eine Plattitüde war, er sich dennoch darüber freuen würde. »Meinem Agenten gefällt die Story, er meint, meine Recherchen wären solide. Aber er findet, dass es der Erzählung an Farbe fehlt. Sie bräuchte mehr Herz, sagte er. Mehr Seele.«

»Also sind Sie hergekommen, um hier nach Farbe, Herz und Seele zu suchen.«

»Ich hoffe, dass ich mich hier inspirieren lassen kann, während ich an der zweiten Fassung arbeite. Und«, sagte er und dehnte dabei die Beine und das Wort, »ich wollte mich den Ablenkungen des Alltags entziehen.«

»Wie zum Beispiel einer Ehefrau?«

»Nicht mehr.«

»Geschieden?«

»Gott sei Dank.«

»Das klingt bitter. Was ist passiert?«

»Sie hat mir vorgeworfen, ich wäre fremdgegangen.«

»Sind Sie?«

Drex sah ihn an und zog eine Braue hoch, sagte aber nichts. Stattdessen nahm er einen Schluck Bourbon. Es war ein milder, teurer Whisky. »Die Scheidung hat mich eine Stange gekostet und mich eine harte Lektion gelehrt.«

»Sie werden nie wieder fremdgehen.«

»Ich werde nie wieder heiraten.«

»Ach, man sollte niemals nie sagen.« Jasper wackelte mit dem Zeigefinger. »Nachdem ich meine erste Frau verloren hatte, blieb ich jahrelang allein und trauerte um sie. Dreißig Jahre, um genau zu sein.«

»Mann, das nenne ich treu. Wie ist sie gestorben?«

Jasper Ford sah Drex in die Augen und antwortete: »Unter Schmerzen.« Eine Sekunde blickte er ihn stumm an, dann kippte er in einem Zug seinen Bourbon, stand auf und verschwand in Richtung Küche. »Wie mögen Sie Ihr Steak?«

Das Rib Eye Steak war perfekt gewürzt und medium rare gegrillt. Jasper entschuldigte sich, dass er das Essen im einfacheren Esszimmer statt im Salon servierte, aber der Tisch war wesentlich schicker gedeckt, als Drex es gewohnt war, und das sagte er auch.

Während sie aßen, versuchte Drex seinen Gastgeber ein wenig auszuhorchen, aber so, dass es hoffentlich natürlich wirkte. »Das Haus ist wirklich beeindruckend.«

»Danke.«

»Hatten Sie einen Innenarchitekten?«

»Nur zur Beratung. Talia wusste genau, was sie wollte.«

»Talia? So heißt Ihre Frau? Hübsch.« Er sah sich um. »Sie hat wirklich Geschmack.«

»Sie hat einen exzellenten Geschmack.«

»Teuren Geschmack?«

Jasper lächelte nur, antwortete aber nicht.

Drex nahm einen Schluck von dem mitgebrachten Cabernet, tupfte seinen Mund ab, griff dann wieder nach Messer und Gabel und widmete sich seinem Steak. »Sie scheinen ganz gut zu verdienen«, sagte er und schnitt ein Stück Fleisch ab. »In welcher Branche sind Sie tätig?«

»Ich genieße die Früchte meiner Arbeit.«

Drex hielt im Kauen inne und sah Jasper an, um abzuschätzen, ob er das witzig meinte. Jaspers Miene blieb unverändert. Er blinzelte nicht einmal. Drex schluckte und lachte dann laut. »Sie können sich glücklich schätzen. Sie haben sich früh zur Ruhe gesetzt?«

»Schon vor einigen Jahren.«

»Und davor? Sie müssen gute Arbeit geleistet haben.«

»Ich habe Software entwickelt, die sich als sehr lukrativ erwiesen hat.«

Oder hast du dein Vermögen gemacht, indem du Frauen um ihres gebracht hast?,ging es Drex durch den Kopf.

Schließlich lächelte ihn Jasper leutselig an und verkündete: »Ich hätte noch Zitronensorbet zum Dessert.«

Drex verzichtete auf das Sorbet. Und nachdem offensichtlich war, dass Jasper sich nicht weiter über sein ehemaliges Betätigungsfeld auslassen wollte, wechselte Drex das Thema. Auch den angebotenen Kaffee schlug er aus, weil er keinesfalls zur Last fallen wollte.

Er bot zwar an, ihm beim Aufräumen zu helfen, doch Jasper lehnte ab.

Drex verabschiedete sich und erwähnte dabei, dass das Apartment keine Klimaanlage hatte. Jasper bestand darauf, ihm einen Kastenventilator zu leihen. Er holte ihn aus der Garage und erklärte Drex, dass er ihn so lange behalten könne, wie er wollte.

»Danke. Danke für alles.« Drex streckte die Hand aus.

Während sie sich die Hand gaben, sagte Jasper: »Talia hat mir gerade geschrieben, dass sie gegen Mitternacht zu Hause sein müsste. Wir wollen morgen Nachmittag mit dem Boot rausfahren. Nicht weit. Nur ein bisschen vor der Küste kreuzen. Möchten Sie nicht mitkommen?«

Drex wollte zu gern Jaspers Frau kennenlernen, sie einschätzen können, aber er wollte keinesfalls aufdringlich wirken. »Das ist wirklich nett, aber ich habe seit Tagen keinen Blick mehr auf mein Manuskript geworfen. Der Umzug und so weiter. Ich sollte morgen wirklich arbeiten.«

»Sie können sich keinen Sonntag freinehmen? Bestimmt hätte Gott dafür Verständnis.«

Drex tat so, als hätte er sich breitschlagen lassen. Jasper nannte ihm den Namen der Marina und die Nummer des Bootsstegs. »Am besten kommen Sie gegen Mittag. Und kommen Sie hungrig. Wir picknicken später an Bord.«

»Hört sich super an.« Drex dankte ihm noch einmal für den Abend und trug den Kastenventilator über den Rasen und die Treppe hinauf.

Er begann sich auszuziehen und griff dafür zuerst unter sein Hemd, um das Holster aus dem Hosenbund in seinem Rücken zu lösen. Vielleicht war er ein Zyniker, aber ihm kam ein Steak mit Krabben ein bisschen übertrieben für ein erstes Treffen vor, selbst wenn das Essen ursprünglich nicht ihm gegolten hatte.

Fünfzehn Minuten später war er in Unterwäsche, der Ventilator blies mit voller Kraft, alle Lichter waren ausgeschaltet, und er schaute vom Fenster aus und durch das Fernglas Jasper beim Aufräumen zu. Als alles sauber war, schloss Jasper alle Türen ab und schaltete das Licht aus. Ein paar Sekunden später ging oben ein Licht an. Minuten später wurde es ebenfalls gelöscht.

Er hatte nicht auf seine Frau gewartet. Talia.

Drex richtete den Ventilator so aus, dass er über das Bett wehte. Er legte sich auf den Rücken und faltete die Hände auf der Brust. Aber auch wenn er todmüde war, war er immer noch wach, als er unten ein Auto hörte. Er stellte sich wieder an das Fenster, von dem aus er den besten Blick auf das Haus der Fords hatte.

Ein neuer, teurer BMW war in die Einfahrt gebogen. Drex sah auf seine Armbanduhr. Mrs. Ford war siebenundzwanzig Minuten später angekommen als erwartet. Offenbar öffnete sie das Garagentor mit einer Fernbedienung. Sie fuhr hinein, und das Tor schloss sich wieder.

Drex bekam von ihr nicht mehr zu sehen als einen Schatten, aber durch die an- und ausgehenden Lichter konnte er ihren Weg durch das Haus verfolgen. Zuletzt erlosch das Licht hinter einer Jalousie in einem kleinen Fenster im Obergeschoss. Er nahm an, dass sich dort das Bad befand. Drex starrte noch mehrere Minuten auf das Fenster, doch das Haus blieb dunkel.

Er legte sich wieder ins Bett, blieb aber wach liegen, verstört durch die Vorstellung, wie Talia Ford neben ihrem Mann lag. Hatte sie ihm flüsternd eine gute Nacht gewünscht, als sie sich ins Bett gelegt hatte, hatte sie ihn geküsst, sich an ihn gekuschelt, ihre Hand auf seine Brust gelegt, ihn zum Sex animiert? Bei der Vorstellung wurde Drex übel.

Wenigstens war sie am Leben. Aber wie lange noch? Denn wenn Jasper der Mann war, für den Drex ihn hielt, dann waren die Tage seiner Gemahlin gezählt. Falls Jasper Ford der Mann war, den Drex zuerst als Weston Graham kennengelernt hatte, dann wäre diese Frau die nächste von vielen, die Jasper erst angesprochen, dann umworben und schließlich um ihr Vermögen gebracht hatte, ehe sie spurlos verschwunden waren. Drex war überzeugt, dass er diese Frauen beseitigt hatte.

Wie ist sie gestorben?

Unter Schmerzen.

Bei dieser Antwort, gepaart mit Jaspers unerbittlichem, puppenhaft starrem Blick, hatten sich Drex’ Nackenhaare aufgestellt. In diesem Moment hatte es sich angefühlt, als wollte Jasper ihn ködern.

Drex hatte den Köder nicht geschluckt, aber er hätte es zu gern getan.

Zu gern wäre er aus seinem Stuhl gehechtet, hätte den Mann – den exzellenten Koch, den perfekten Gastgeber, den freundlichen Nachbarn – an dessen Kehle gepackt und ihn zur Rede gestellt, ob er tatsächlich der psychopathische Schwanzlutscher war, der Drex’ Mutter ermordet hatte.

Kapitel 3

Das am angegebenen Steg vertäute Boot war kein gewöhnliches Segelboot, sondern eine ausgewachsene Jacht. Beeindruckend schlank und blitzblank poliert, war sie zwar nicht das größte unter den Schiffen in der Marina, aber sie zählte eindeutig dazu. Drex hatte das Gefühl, er hätte eine weiße Hose und einen blauen Blazer anziehen sollen, vielleicht mit einem kecken Einstecktuch, und dazu einen Hut mit Goldtresse und schwarzglänzendem Schirm.

Stattdessen war er in Khakishorts, einem Chambrayhemd und Baseballcap erschienen.

Jasper winkte ihm vom Achterdeck aus zu. Die Frau neben ihm rief fröhlich zu ihm herab: »Ahoi, Drex. Sie kommen gerade rechtzeitig zum Champagner.« Sie hielt eine Magnumflasche am Hals.

Er lächelte so ungezwungen wie möglich und ging über die Gangway nach oben. »Danke, aber ich würde mich mit einem Bier begnügen.«

»Auch das haben wir.«

Ein Jahrzehnt jünger als ihr Ehemann, war sie sehr hübsch anzusehen. Sie wirkte ausgesprochen nachgiebig und – wie hatte Gif es ausgedrückt? Naiv? Sie strahlte genau den Anflug von mädchenhafter Naivität aus, auf den ein Betrüger abzielen würde. Das blonde Haar war kurz geschnitten und kunstvoll zerzaust. Sie trug eine weiße Caprihose und ein grell pinkes ärmelloses Top mit tiefem Ausschnitt, in dem ein ebenso tiefes Dekolleté zu sehen war. Das Beste, was sich mit Geld kaufen ließ, mutmaßte Drex.

Als er zu den beiden auf das Deck trat, schüttelte Jasper seine Hand. »War es schwer, uns zu finden?«

»Gar nicht.« Er nahm die Jacht in Augenschein und sah dann abwechselnd Jasper und seine Frau an, ehe sein Blick auf Jasper zu liegen kam. »Sie können sich wirklich glücklich schätzen. Um diese Schönheit beneidet sie bestimmt der ganze Hafen.« Dann beugte er sich vor und ergänzte: »Und das Boot kann sich auch sehen lassen.«

Alle drei lachten. Mrs. Ford legte die Hand auf ihre Brust, und die Diamanten an ihren Fingern ließen Farbprismen im Sonnenschein aufblitzen. »Danke, danke. Jasper hat mich schon vorgewarnt, dass Sie ein Charmeur sind. Ich bin so froh, dass Sie uns heute Gesellschaft leisten, auch wenn wir Sie dadurch von der Arbeit abhalten, wie ich gehört habe.«

»Danke für die Einladung, und Jasper musste mich nicht lange überreden. Wir Schriftsteller suchen nur nach Vorwänden, nicht schreiben zu müssen.«

»Mich würde die Aussicht, ein Buch zu schreiben, einschüchtern«, gestand sie.

»Mich genauso, Talia. Entschuldigen Sie, ist es in Ordnung, wenn ich Sie Talia nenne?«

Sie und Jasper sahen ihn überrascht an, dann begannen beide zu lachen. »Sie dürften mich gern Talia nennen, wenn ich Talia heißen würde. Ich bin Elaine. Elaine Conner.«

Perplex wollte Drex schon eine Entschuldigung stammeln, als Jasper an ihm vorbeisah und lächelte. »Hier kommt Talia.«

Drex drehte sich um.

Eine in Weiß gekleidete Frau kam die Stufen aus der Kombüse herauf, auf der rechten Handfläche ein Tablett mit Kanapees balancierend. Als sie ihren Namen hörte, legte sie den Kopf in den Nacken, sah durch die Luke nach oben und Drex direkt in die Augen.

Sein Magen sackte wie ein bleischwerer Anker in die Tiefe, denn in dieser Sekunde war ihm klar: Ich bin am Arsch.

Als Talia durch die Tür aufs Deck trat, machte der große Fremde einen Schritt auf sie zu. »Darf ich behilflich sein?« Er nahm ihr das Tablett ab.

»Danke.« Die Sonne stand in seinem Rücken. Talia schirmte die Augen gegen das Gleißen ab, um ihn besser zu sehen. Die Augen lagen unter dem Mützenschirm in tiefem Schatten, aber sein stoppeliges Kinn und das Lächeln waren gut zu erkennen. Er kam ihr längst nicht so »raubeinig« vor, wie Jasper ihn beschrieben hatte. »Sie müssen unser neuer Nachbar sein.«

»Schuldig.«

Jasper legte den Arm über ihre Schultern. »Talia, das ist Drex Easton. Drex, meine Frau.«

»Sehr erfreut, Drex.« Sie streckte ihm die Hand hin. Er hielt das Tablett in seiner Linken und hatte damit die Rechte frei, um ihre Hand zu schütteln. Sie hatte einen festen Händedruck, ohne seine Finger zusammenzuquetschen.

»Sehr erfreut, Mrs. … Ford?«

»Talia genügt, auf einem Boot ist kein Platz für Förmlichkeiten. Jasper hat mir schon erzählt, wie nett euer Abendessen gestern war.«

»Schade, dass du es verpasst hast. Dein Mann ist ein hervorragender Koch.«

»Was eine glückliche Fügung ist, weil ich eine Katastrophe in der Küche bin.«

»Das sieht aber nicht wie eine Katastrophe aus.« Er nickte zu den Horsd’œuvre auf dem Tablett hin.

»Die wurden geliefert«, flüsterte sie.

»Aber die Remoulade für den Shrimpsalat ist hausgemacht«, mischte Jasper sich ein. »Ich habe sie heute Morgen angerührt.«

»Und ich kann sie nur empfehlen«, ergänzte sie.

Elaine lenkte mit einem Händeklatschen die Aufmerksamkeit auf sich. »Alles zu mir. Ich bestehe darauf, dass jeder mindestens ein Glas Champagner trinkt.« Sie hatte vier Champagnerflöten gefüllt und sie auf einem Cocktailtisch bereitgestellt. »Wir haben allen Anlass dazu. Wir haben einen neuen Freund gefunden. Willkommen, Drex.«

»Danke. Ich fühle mich geschmeichelt, dass ich hier sein darf.«

Obwohl er der Neuling in ihrer Gruppe war, trug er völlig entspannt das Tablett zum Tisch, stellte es in der Mitte ab und zog dann Elaine einen Stuhl heraus, bevor er sich selbst setzte.

»Du hast deinen Hut vergessen, Talia.« Jasper stand unvermittelt hinter ihr und setzte ihr den weiten Strohhut auf.

»Danke. Ich hätte ihn bestimmt gleich vermisst.«

»Kluges Mädchen«, sagte Elaine zu Drex. »Sie meidet die Sonne. Zu spät für mich.«

»Du bekommst in der Sonne eine wunderschöne Bräune. Ich nur Sommersprossen«, sagte Talia.

»Sie ist praktisch ein Vampir«, bestätigte Jasper.

Getroffen und peinlich berührt durch seine unsensible Bemerkung, sah sie auf den Neuzugang in ihrer Gruppe, der ihr genau gegenübersaß. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, aber sie spürte, dass er ihr ins Gesicht sah, als würde er nach den erwähnten Sommersprossen Ausschau halten.

Der möglicherweise peinliche Moment wurde durch Elaine entschärft, die alle zum Anstoßen aufforderte. Sie brachte einen Toast auf die allgemeine Gesundheit aus, dann nahm sie sich Drex vor und bombardierte ihn mit Fragen.

Jasper sagte leise zu ihr: »Ich glaube, ich habe dich mit meinem Vampir-Kommentar in Verlegenheit gebracht. Das tut mir leid.«

»Halb so wild.«

Er tätschelte ihre Hand, wandte sich dann den beiden anderen zu und mischte sich ins Gespräch. Talia genoss es, die Unterhaltung vorbeiplätschern zu lassen, ohne dass sie selbst das Gespräch leiten oder nennenswert daran teilnehmen musste. Die ermüdenden Stunden auf dem Flughafen in Chicago, der holprige Flug nach Charleston und die Heimfahrt vom Flughafen hatten sie erschöpft. Jasper war nicht aufgewacht, als sie ins Bett gegangen war, und sie war froh darüber gewesen. Sonst hatte er die Angewohnheit, sich ihre Reisen ausführlich schildern zu lassen.

Beim Frühstück hatte sie vorgeschlagen, dass sie den heutigen Ausflug schwänzen könnte. »Fahr doch ohne mich mit Elaine raus. Amüsiert euch. Ich bleibe zu Hause und lege den ganzen Tag die Beine hoch.«

»Wir haben das schon seit Tagen geplant. Elaine wird enttäuscht sein, wenn du nicht mitkommst. Außerdem habe ich noch jemanden eingeladen.«

Dann hatte er ihr von dem Mann erzählt, der in das Apartment über der Garage eingezogen war.

»Kann man darin denn wohnen?«, hatte sie gefragt.

»So, wie er es sieht, offenbar schon. Aber ich bezweifle, dass er hohe Ansprüche hat.«

»Wie kommst du darauf?«

»Du kannst dir selbst eine Meinung bilden. Er ist ein Raubein, aber ich halte ihm zugute, dass er weiß, welche Gabel er bei welchem Gang nehmen muss, und auch die zwei Flaschen Wein, die er mitgebracht hat, waren durchaus trinkbar.«

»Wenn du nicht so begeistert von ihm bist, warum hast du ihn dann heute eingeladen?«

»Neugier.«

Drex Easton war wesentlich salonfähiger, als Jasper sie hatte glauben lassen, aber andererseits hatte Jasper extrem hohe Ansprüche. Elaine beugte sich dem Autor über die Armlehne ihres Stuhles zu, als würde er sie magnetisch anziehen.

Allerdings schien er immun gegen Elaines brennende Neugier, denn er beantwortete ihr Sperrfeuer von Fragen zwar gutmütig, aber, wie Talia auffiel, eher knapp. Er wirkte bescheiden und uneitel.

Doch als er über den Tisch sah und in ihre Richtung ein Lächeln aufblitzen ließ, fragte sich Talia, ob er vielleicht mit umgekehrter Psychologie arbeitete. Vielleicht steckte hinter seinem scheinbaren Desinteresse, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, der kalkulierte Versuch, genau das zu tun.

Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte sie seine offene und freundliche Art als das genommen, was sie zu sein schien, und kein falsches Spiel geargwöhnt. Doch Jasper war weit weniger bereit, die Menschen so zu nehmen, wie sie sich gaben. Offenbar färbte seine Einstellung allmählich auf sie ab.

Sie tranken den Champagner aus, dann schob Jasper den Stuhl zurück und stand auf. »Sollen wir losfahren? Oder möchtest du erst zu Mittag essen, Elaine?«

»Ich finde, wir sollten rausfahren und zum Mittagessen irgendwo ankern.«

Jasper salutierte vor ihr. »Zu Befehl, Käpt’n.« Er beugte sich vor und spähte unter Talias Hutkrempe. »Es stört dich doch nicht, wenn ich den Steuermann spiele, oder?«

»Ich weiß, dass du es kaum erwarten kannst, das Ruder zu übernehmen. Geh nur.«