Dem Tod ganz nahe - Jens Nolte - E-Book

Dem Tod ganz nahe E-Book

Jens Nolte

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Beschreibung

Sommer im Jahr 2000. Die Fahrt zum Nordkap soll für Julius und seinen besten Freund Markus ein unbekümmerter Roadtrip werden. Doch es kommt anders. Ganz anders. ... "Am Morgen des vierten Reisetages werde ich jäh von einer wütend schimpfenden Männerstimme aus dem Schlaf gerissen. Zudem wird am Zelt gerüttelt und gezogen. Wo bin ich?, frage ich mich, doch für eine Antwort bleibt keine Zeit. Noch im Halbschlaf taste ich nach Markus, aber der Platz neben mir ist leer. Ist er das da draußen? Verwirrt quäle ich mich aus dem Schlafsack und krabbele zögerlich durch das von dutzenden Mücken belagerte Vorzelt. Am Ende des Vorzeltes öffne ich den Reißverschluss und will hinaus ins Freie. Doch zwei stark behaarte Beine versperren mir den weiteren Weg. Beine, die nicht die von Markus sind, da bin ich mir sicher. Wessen Beine dann? Ich blicke nach oben und sehe zunächst nur Mensch, bevor mir gleißendes Sonnenlicht in die Augen sticht und das Bild vor mir in einem hellen Lichtkegel verschwindet. Ich weiß daher nicht, wie mir geschieht, als mich plötzlich eine kräftige Hand am rückseitigen Kragen meines T-Shirts packt und Kopf voran aus dem Zelt zieht. ..."

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Zum Schutz von Beteiligten wurden Orts- und Personennamen sowie einige Zeitangaben geändert. Sollte sich jemand in den genannten Personen dieses Buches wiedererkennen, so ist dies purer Zufall.

Widmung

Für Mama, Markus und Pete.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Donnerstag, 20. Juli 2000 - Vierter Reisetag

Vier Tage zuvor

Sonntag, 16. Juli 2000

Montag, 17. Juli 2000 - Erster Reisetag

Dienstag, 18. Juli 2000 - Zweiter Reisetag

Mittwoch, 19. Juli 2000 - Dritter Reisetag

Donnerstag, 20. Juli 2000 - Vierter Reisetag

Freitag, 21. Juli 2000 - Fünfter Reisetag

Samstag, 22. Juli 2000 - Sechster ReiseTag

Vor unserer Zeit

Am Anfang …

Meine frühe Kindheit …

Die Sache mit dem Busfahrer …

Meine erste Begegnung mit Stadtkindern …

Das blutige Iglu

Sonntag, 23. Juli 2000 - Siebter Tag

Der Tag, der uns beide zusammenführte …

Die ersten Tage auf der neuen Schule …

Die erste Klassenarbeit …

Mein Fazit für unser erstes gemeinsames Schuljahr:

Die Sache mit dem Jungen im Müllcontainer …

Der Wasserschüsselstreich …

Der Nasse-Kreide-Streich …

Die Grenzöffnung …

Die Sache mit dem Flügel …

Die Sache mit dem toten Fisch

Die Sache mit dem zerschnittenen Schwamm …

Unsere erste gemeinsame Klassenfahrt…

Montag, 24. Juli 2000 - Achter Tag

Die ersten Wochen im neunten Schuljahr …

Die Sache mit dem Kassettenrekorder …

Der Englandaustausch …

… die Sache mit dem übergelaufenen Aquarium:

Die Sache mit dem Wecker…

Der Englandaustausch …

Die Sache mit dem Wichtelgeschenk …

Ein wahrlich böses Erwachen …

Dienstag, 25. Juli 2000 - Neunter Tag

Die dritte Etappe des Englandaustausches …

Die Sache mit dem Versteck im Schrank …

Die Sache mit der kaputten Glühbirne …

Der Englandaustausch …

Die Mitbringsel aus London …

Den Kreide-Joghurt-Streich…

Unsere zweite Klassenfahrt …

Unser (dein) Meisterstück

Aus und vorbei

Mittwoch, 26. Juli 2000 - Zehnter Tag

Das Versteck oberhalb der Tür …

Die Sache mit dem Strichcode auf der Cola-Dose, …

Unsere erste gemeinsame Reise (Teil I)

Dein unglaublicher Deal mit Herrn Bommel

Unsere erste gemeinsame Reise - Teil II

Die ›Hessenquetsche‹

›Der Ernst des Lebens‹ …

Unsere erste gemeinsame Reise – Teil III

Donnerstag, 27. Juli 2000 - Elfter Tag

Ein Jahr später

Nachwort

Vorwort

Hallo, mein Name ist Julius. Julius Klain.

Viele Male hatte ich mein altes, allererstes Tagebuch aus dem Jahr 2000 in den letzten Jahren in der Hand. Und jedes Mal habe ich mit dem Gedanken gespielt, es einfach wegzuwerfen, um mich von diesem emotionalen Ballast vergangener Tage zu befreien. Doch ich konnte es nicht. Warum nicht? Habe ich mich jedes Mal gefragt.

Heute weiß ich es. …

Donnerstag, 20. Juli 2000 - Vierter Reisetag

Ich werde jäh von einer wütend schimpfenden Männerstimme aus dem Schlaf gerissen. Zudem wird am Zelt gerüttelt und gezogen. Wo bin ich?, frage ich mich. Doch für eine Antwort bleibt keine Zeit.

Noch im Halbschlaf taste ich nach Markus, aber der Platz neben mir ist leer. Ist er das da draußen?

Verwirrt quäle ich mich aus dem Schlafsack und krabbele zögerlich durch das von dutzenden Mücken belagerte Vorzelt. Am Ende des Vorzeltes öffne ich den Reißverschluss und will hinaus ins Freie. Doch zwei stark behaarte Beine versperren mir den weiteren Weg. Beine, die nicht die von Markus sind, da bin ich mir sicher. Wessen Beine dann?

Ich blicke nach oben und sehe zunächst nur Mensch, bevor mir gleißendes Sonnenlicht in die Augen sticht und das Bild vor mir in einem hellen Lichtkegel verschwindet.

Ich weiß daher nicht, wie mir geschieht, als mich plötzlich eine kräftige Hand am rückseitigen Kragen meines T-Shirts packt und Kopf voran aus dem Zelt zieht. Hilfe!, schreit eine Stimme in mir und mein Herz setzt gefühlt einen Schlag aus. Meine Lippen hingegen bleiben stumm, da in diesem Augenblick eine zweite Hand aus dem hellen Nichts in meine Richtung schnellt, die sich einen Wimpernschlag später fest und unnachgiebig, wie ein mechanischer Greifarm, am Bund meiner Unterhose verankert, und ich postwendend spüre, dass ich hochgerissen werde.

Ich habe Angst. Will nur noch hier weg. Kann aber nicht, denn alles geht so schnell. Zu schnell für mich. Ich schaffe es lediglich gerade noch, mich einigermaßen abzufangen, als ich in hohem Bogen von unserem Zelt weggeworfen werde und kurz darauf auf allen Vieren im kalten, feuchten Sand des Seeufers lande.

Während sich mein Körper mit Adrenalin vollpumpt, versuche ich, die sich bietende Gelegenheit zu nutzen, und mich in Windeseile eigenständig aufzurichten. Schaffe es aber nur in eine Art Kniestand, bevor die beiden fremden Hände abermals kraftvoll auf Höhe meiner Brust zupacken und mich hochziehen. So hoch, dass ich irgendwann nur noch auf meinen Zehenspitzen stehe und in ein puterrot unterlaufenes, leicht vernarbtes und für mein Empfinden hässliches Männergesicht blicke, dessen Mund mich aufs Heftigste in der Landessprache beschimpft und mich dabei immer wieder anspuckt.

Ich verstehe jedoch kein Wort und habe daher auch keinen blassen Schimmer, was der Kerl von mir will. Stattdessen rieche ich seine Alkoholfahne, was die Situation für mich noch unberechenbarer macht, als sie ohnehin schon ist.

Was soll ich tun?, frage ich mich. Wahllos auf ihn einprügeln? … Keine gute Idee. Er ist viel größer und stärker als du. … Was dann? …

Ich hebe meine Hände als Zeichen meiner Friedfertigkeit, was ihn allerdings gar nicht beeindruckt. Im Gegenteil. Sein Griff an meinem Kragen wird in diesem Augenblick noch fester. So fest, dass er mir die Luft abschnürt.

Panisch schaue ich mich um und hoffe inständig darauf, Markus irgendwo zu erblicken, der mir in letzter Sekunde zu Hilfe eilen und mich aus dem Klammergriff des Fremden befreien könnte. Doch er ist nicht zu sehen.

Das war es dann wohl, denke ich resigniert, als mir langsam, aber sicher die Luft ausgeht. …

Vier Tage zuvor

Sonntag, 16. Juli 2000

21:23 Uhr: Ich sitze zu Hause auf meinem Bett und schaue zufrieden in den vor mir auf dem Boden liegenden, gepackten, jedoch noch aufgeklappten Koffer.

Habe ich wirklich alles? frage ich mich. Ich glaube schon, antwortet eine zuversichtlich klingende Stimme aus meinem Inneren, woraufhin ich mich hinlege, das Licht lösche und versuche, einzuschlafen.

0:23 Uhr: Ich bin immer noch wach. Die Aufregung und Vorfreude in mir sind einfach zu groß, um einschlafen zu können. Es ist ja schließlich auch euer erster gemeinsamer Urlaub zu zweit, der länger als ein Wochenende dauern wird, liefert mir mein Kopf, als Erklärung.

Ob das zwischen Markus und mir funktionieren wird?

Ich erhalte zwar keine Antwort auf diese Frage, doch aus irgendeinem Grund bin ich mir vollkommen sicher, dass zwischen uns alles gut gehen wird. Nicht sicher bin ich mir hingegen, ob wir die vor uns liegenden 7.000 Kilometer von Göttingen bis zum Nordkap und zurück tatsächlich in den mageren zwei Wochen schaffen werden, die uns dafür zur Verfügung stehen.

Es wird auf jeden Fall knapp. Sehr knapp, lautet auch dieses Mal mein gedankliches Fazit, welches sich hauptsächlich darauf stützt, dass es in Skandinavien kaum Autobahnen gibt, und dass auf schwedischen Landstraßen die Geschwindigkeit auf 90 km/h und in Norwegen gar auf 70 km/h begrenzt ist, wodurch wir deutlich langsamer unterwegs sein werden als in Deutschland. Wird es zu knapp?

Ich weiß es nicht. Um jedoch überhaupt eine Chance zu haben, die Tour in der uns zur Verfügung stehenden Zeit zu schaffen, lautet unser Plan, die Hinreise in weiten Teilen über die schnelleren schwedischen Straßen zu gestalten und dabei möglichst wenig Stopps einzulegen. Binnen drei, vielleicht auch vier Tagen wollen wir am nördlichen Ende des europäischen Festlands ankommen. Das bedeutet, mindestens 750 Kilometer an jedem dieser Tage zurückzulegen.

Ja, zugegeben, das klingt nicht wirklich nach Urlaub, sondern eher nach Stress und Anstrengung. Aus diesem Grund wollen wir es dann auf der Rückreise auch deutlich entspannter angehen lassen, indem wir uns mit erheblich kürzeren Tagesetappen entlang der Fjorde und sonstigen Sehenswürdigkeiten Norwegens treiben lassen, bevor wir ganz Dänemark durchfahren und letztlich wieder nach Deutschland zurückkehren.

Aber, Zeitdruck, Stress und Anstrengung hin oder her, ich freue mich sehr auf diesen Urlaub. Ich freue mich auf Schweden. Ich freue mich noch mehr auf Norwegen, wo ich bisher nur einmal für einen halben Tag in meinem Leben war. Und am aller meisten freue ich mich auf die Zeit mit Markus, meinem besten Freund.

So, nun wird es aber wirklich Zeit, zu schlafen.

Montag, 17. Juli 2000 - Erster Reisetag

08:33 Uhr: Einigermaßen ausgeschlafen spüre ich dieses Kribbeln im Bauch, was ich immer habe, wenn ich mich monatelang auf etwas freue und dieses Ereignis nun unmittelbar bevorsteht. Es kribbelte bereits, als ich vor gut einer halben Stunde aufgewacht bin, als ich kurz darauf im Bad stand und mich gewaschen und mir die Zähne geputzt habe, als ich anschließend etwas gefrühstückt habe, obwohl ich vor Aufregung kaum etwas essen konnte, und ebenso vor ein paar Sekunden, als ich die letzten Sachen in meinen Koffer gepackt, diesen geschlossen und mir gedacht habe … So, von mir aus kann es losgehen.

Wann Markus sich wohl melden und mir zu sagen wird, wann und wo wir uns treffen?

9:35 Uhr: Markus hat noch nicht angerufen. Und da mir langweilig ist, habe ich mir soeben noch einmal die für heute geplante Route von Göttingen bis zu den Kreidefelsen auf der süddänischen Halbinsel Møn angesehen. Ich bin grob geschätzt auf eine Distanz von 650 Kilometern gekommen, die heute vor uns liegt. Kalkulierte Zeit (inklusive Fähr(warte)zeiten): ungefähr acht bis neun Stunden.

Meine Gedanken dazu:

Wenn wir bald loskommen, sollte das heute gut zu schaffen sein.

10:11 Uhr: Ich werde so langsam ungeduldig. Zu dumm, dass Markus und ich nicht bereits gestern konkret abgesprochen haben, wann wir aufbrechen wollen. Für mich war klar, früh. Er hat anscheinend anders geplant. Nun sitze ich hier rum und warte. Kotz!

Nur die Ruhe. Er sagte, dass er sich meldet, also wird er das auch tun, versucht mich eine innere Stimme zu beruhigen.

Ja, aber wann? Ich hasse es, zu warten, wettert eine andere Stimme in mir.

10:42 Uhr: Ich habe immer noch nichts von Markus gehört. Bin nur ich davon ausgegangen, dass wir möglichst früh aufbrechen, um unser Tagesziel noch im Hellen zu erreichen? … Scheint so.

11:21 Uhr: So langsam habe ich die Warterei echt satt. Ich will jetzt endlich los! … Ob wir die Kreidefelsen heute überhaupt noch zu Gesicht bekommen?

11:43 Uhr: Endlich! Markus hat sich soeben gemeldet. Er hat gesagt, dass wir uns in einer halben Stunde an der Autobahnraststätte GÖTTINGEN treffen. Also dann, auf geht´s!

12:37 Uhr: Ich stehe jetzt seit 30 Minuten hier an der Autobahn und warte erneut. Wo bleibt er, verdammt?

13:00 Uhr: Hallo? … Markus?…. Ungeduldig gehe ich auf und ab. Irgendwann greife ich zum Handy (ein Nokia 82-10), wähle seine Nummer und erhalte ein Freizeichen. Er geht jedoch nicht dran. Will er mich verarschen?

13:21 Uhr: Hatte ich ihn etwa falsch verstanden? Hat er vielleicht Viertel nach zwei anstatt Viertel nach 12 gesagt?

Nein, ich bin mir sicher er sagte Viertel nach 12.

Mensch, Markus, wo bist du? Melde dich wenigstens!

14:30 Uhr: Wir sitzen endlich im Auto und fahren Richtung Norden. Seine Erklärung für die Verspätung: Das Auto habe fast zwei Stunden in einer defekten Waschstraße festgesteckt und er hatte keine Chance, an das Fahrzeug heranzukommen, um wenigstens sein Handy herauszuholen und mich anzurufen.

Da ich ihm voll und ganz vertraue, glaube ich Markus diese Geschichte. Stocksauer bin ich trotzdem. Sauer auf ihn, sauer auf die Waschstraße und sauer auf mich, dass ich so blöd war, mir diesen Tag im Vorfeld gedanklich ganz anders ausgemalt zu haben: nämlich in entspannter Zweisamkeit. Nur Markus und ich. Entspannt auf dem Weg zum Nordkap.

Von Entspannung ist nun jedoch relativ wenig in mir zu spüren. Im Gegenteil. Es stresst mich, dass es durch unsere späte Abreise noch schwerer – vielleicht sogar unmöglich – wird, unser Tagesziel heute noch zu erreichen.

Doch obwohl ich innerlich geladen bin, sage ich nichts. So, wie ich es bisher immer in solchen Situationen getan habe. Stattdessen schlucke ich meine Verärgerung herunter, da ich nicht will, dass die Stimmung zwischen Markus und mir schon zum jetzigen Zeitpunkt kippt. Wobei, ist sie in mir nicht schon längst gekippt?

14:47 Uhr: Ich bin vollkommen perplex. Markus hat mich soeben mit der Information überrumpelt, dass wir einen ›kurzen Zwischenstopp‹ in Hamburg einlegen werden, um Verwandte von ihm zu besuchen, die er seit längerem nicht gesehen hat.

Ehrlich gesagt, fehlen mir dazu die Worte und ich kann im Moment nicht beschreiben, was gerade in mir vorgeht. Ich koche nicht bloß innerlich vor Wut und Enttäuschung, weil ich mir gewünscht hätte, dies eher von ihm zu erfahren und gern ein Mitspracherecht bei dieser Entscheidung gehabt hätte, sondern insbesondere, weil ich absolut keine Lust auf einen Stopp bei für mich fremden Menschen habe. Was soll ich dort? frage ich mich und habe zudem die Vorahnung, dass dieser ›kurze Stopp‹ nicht wirklich ›kurz‹ werden wird und wir folglich durch diese zusätzliche Aktion noch mehr Zeit verlieren werden.

14:59 Uhr: Ob ich Markus nicht doch sagen sollte, dass ich auf den Stopp in Hamburg absolut keinen Bock habe?

Ich traue mich nicht. Schließlich habe ich ihm noch nie widersprochen.

… Habe ich in meinem Leben überhaupt schon mal jemandem widersprochen?

16:53 Uhr: Fast zweieinhalb Stunden sind vergangen. Weit sind wir allerdings noch nicht gekommen. Denn zu allem Übel stehen wir nun seit geraumer Zeit in der Nähe von HANNOVER im Stau. Und wenn ich sage, ›stehen‹, dann meine ich dies auch so. Es geht jedenfalls weder voran noch zurück.

16:57 Uhr: Aus dem Radio haben wir soeben erfahren, dass die Autobahn wegen einer Bombenentschärfung für kurze Zeit gesperrt werden muss. Keine Ahnung, wann es hier weitergeht. Kotz! Kotz! Kotz!

17:03 Uhr: »Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«, werde ich von Markus gefragt.

»Ich schreibe Tagebuch«, lautete meine einfache, aber alles umfassende Antwort in seine Richtung.

»Tagebuch? … Warum?«

»Keine Ahnung«, antworte ich ihm schulterzuckend.

»Wie, keine Ahnung? Hast du das schön öfter getan?«

»Nein. Es ist das erste Mal und ehrlich gesagt kann ich es mir auch nicht erklären, wieso ich gerade jetzt damit anfange. Aber aus irgendeinem Grund möchte ich es tun«, frotzele ich ihm entgegen.

Danach schweigen wir uns an.

18:45 Uhr: Wir sind jetzt in HAMBURG. Was mich wohl gleich bei seinen Verwandten erwarten wird?

21.22 Uhr: Wir haben HAMBURG soeben wieder verlassen. Es hat angefangen, zu regnen. Der Himmel ist dunkel und die Sicht miserabel, weshalb wir abermals nur langsam vorankommen.

Meine Stimmung hat sich hingegen deutlich aufgehellt, da der Besuch bei Markus‘ Verwandtschaft rückblickend doch ganz nett war, zumal wir sehr herzlich empfangen und mit einem echten Festmahl verwöhnt wurden. Insbesondere das süße Dessert war Balsam für meine durch den bisherigen Tagesverlauf aufgewühlte Seele. Meine Wut auf Markus ist verflogen und ich sitze nun wieder deutlich besser gelaunt im Auto. Zumindest kurzzeitig.

22:13 Uhr: Es ist der Regen und die in uns aufkeimende Müdigkeit, die nun auf die Stimmung drücken. Seit ein paar Minuten versuchen wir etwas dagegen zu tun, indem wir so viele Lieder aus dem Radio mitsingen, wie möglich. Seit dem Aufstehen heute Morgen habe ich dabei erstmals wieder gelächelt und hatte meinen Spaß. ##

23:26 Uhr: PUTTGARDEN auf FEHMARN. Wir stehen in der Autoschlange an der Fähre. Es ist wieder Ruhe ins Fahrzeug eingekehrt. Wieder einmal heißt es heute, darauf zu warten, dass es weitergeht. Lange wird es allerdings nicht mehr dauern. Das Schiff ist bereits da und die ersten Fahrzeuge werden schon verladen. In absehbarer Zeit sind auch wir an der Reihe.

23.45 Uhr: Die Fähre hat soeben abgelegt. Wir setzen zum dänischen RÖDBY über. Ich bin müde und daher sehr froh, dass uns während der einstündigen Überfahrt, ein wenig Zeit bleibt, uns auf einem Sofa im Passagierbereich des Schiffes auszuruhen.

00:42 Uhr: Schnell noch ein letzter Eintrag ins Tagebuch, bevor sich die Tore der Fähre öffnen und wir das Schiff verlassen:

Deutschland liegt hinter uns. Es ist inzwischen stockfinster. Von Dänemark ist daher leider kaum etwas zu sehen. Der Regen hat aufgehört. Im Auto herrscht Stille. Wir sind beide müde. Ich sitze fortan am Steuer.

01:43 Uhr: Endlich am Ziel! Ich habe soeben das Auto auf Markus‘ Anweisung hin, irgendwo im Nirgendwo geparkt. Erlaubt ist dies sicher nicht, aber mein diesbezügliches schlechtes Gewissen ist mir aktuell total egal. Ich will nur noch eins: schlafen. Doch soweit ist es noch nicht.

02:04 Uhr: Geschafft. Im Licht der Autoscheinwerfer haben wir uns auf die Schnelle ein Nachtlager in einem kleinen Wäldchen aufgebaut und dafür lediglich eine Schnur zwischen zwei Bäumen gespannt, den Waldboden darunter so gut es ging von harten Gegenständen, heruntergefallenen Ästen, Tannzapfen und Steinen befreit, eine einfache, jedoch wasserfeste Militärstoffbahn mittig über die Schnur geworfen und deren Enden im Boden verankert. So, dass eine Art Zelt entstanden ist. Unser richtiges Zelt haben wir unberührt gelassen. Wir hatten schlichtweg beide keinen Bock mehr, uns heute noch mit dem für uns unbekannten Aufbauprozess zu beschäftigen.

Nun liegen wir in unseren Schlafsäcken. Lediglich eine dünne Isomatte trennt unsere Körper vom harten und recht unbequemen Waldboden. Nicht gerade eine Luxusunterkunft, denke ich mir. Dennoch bin ich froh, diesen Tag hinter mir lassen zu können. Es kann nur besser werden.

Licht aus. Gute Nacht.

Dienstag, 18. Juli 2000 - Zweiter Reisetag

Die Nacht war kurz. Viel zu kurz! Ich habe gefühlt nur wenige Minuten geschlafen, bis ich durch einen laut geschrienes »Iiiiiiiiiiii!« von Markus aus dem Schlaf gerissen werde.

Ich benötige ein paar Sekunden, um zu realisieren, wer da geschrien hat, und wo ich bin.

»Was ist los?«, frage ich erschrocken und ein wenig verängstigt in die Dunkelheit.

»Wir müssen hier weg, schnell!«, bekomme ich von Markus als Antwort.

Eine Erklärung, Fehlanzeige. Die brauche ich jedoch auch nicht, denn sein Tonfall ist derart überzeugend, dass mein Puls in die Höhe schnellt und ich keine weiteren Fragen stelle. So wie Markus, beginne auch ich umgehend damit, unsere Sachen notdürftig zusammen zu klauben und zurück ins Auto zu räumen. Ein heller Blitz, ein unmittelbar darauffolgender heftiger Donnerschlag sowie ein großer Ast, der unweit unseres Lagerplatzes laut krachend auf dem Waldboden aufschlägt, beschleunigen meine Bewegungen zusätzlich.

Was ich im Schlaf noch für die an die Felsenküste schlagende Dünung der Ostsee hielt, ist offensichtlich ein bedrohlich nahes Gewitter.

Mit den, gegen das laute Geräusch des heftigen Windes, der durch die Baumkronen über uns fegt, gebrüllten Worten »Wir müssen zusehen, dass wir die Sachen trocken ins Auto bekommen. Wenn sie heute bereits nass werden, können wir praktisch umkehren!« hält Markus den Druck aufrecht, sodass wir bloß nicht nachlassen, mit dem was wir gerade tun.

Markus und dem Blätterdach über uns sei Dank, erreicht uns der wolkenbruchartige Regenguss erst in dem Moment, als wir alles im Pkw verstaut haben und die Heckklappe ins Schloss fällt. Mit den ersten kalten Tropfen auf der Haut, retten auch wir uns ins Auto.

Zwei, vielleicht auch drei Minuten vergehen, in denen wir wort- und regungslos in unserem Fahrzeug sitzen und erst einmal durchatmen.

Draußen gießt es inzwischen wie aus Eimern. Große Regentropfen hämmern auf das Autodach, die auch im Innern einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugen.

Wir schauen uns an und sind beide erleichtert, nicht mehr da draußen im Wald zu liegen. Um uns herum ist noch tiefste Nacht. Alles ist schwarz. Die Uhr im Auto zeigt 04:25 Uhr.

»Und nun?«, schreie ich Markus fragend entgegen.

Kurzerhand verwerfen wir unseren ursprünglichen Plan, am Morgen noch einen Blick auf die einzigartigen Kreidefelsen zu werfen. Stattdessen fahren wir weiter in Richtung Schweden.

Markus sitzt wieder am Steuer.

Nach ein paar Kilometern schalte ich die Innenbeleuchtung auf meiner Seite an und werfe kurz einen Blick auf die Karte in meinen Händen, um zu schauen, was uns als nächstes auf unserer Route erwartet: die ÖRESUNDBRÜCKE, welche seit kurzem die dänische Hauptstadt KOPENHAGEN mit dem schwedischen MALMÖ verbindet. Aber bis dahin sind es noch gut 120 Kilometer.

08:00 Uhr: Wir sind seit einiger Zeit auf schwedischem Boden und frühstücken nun auf einem Rastplatz im Auto, da es draußen noch immer unentwegt Bindfäden regnet.

Beiläufig frage ich Markus ein weiteres Mal, warum er vorhin so geschrien hat.

»Weil mir eine Schnecke in den Mund gekrochen ist«, antwortet er angewidert.

Ich weiß in diesem Augenblick nicht, wie ich reagieren soll. Schwanke zwischen Mitleid zeigen, oder laut loslachen. Eine Schnecke im Mund. Bäh, wie ekelhaft ist das bitte?, sage ich innerlich zu mir.

Letztlich kann ich mir ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen, welches mir jedoch von Markus nicht übelgenommen wird, da auch er inzwischen über dieses Ereignis schmunzeln kann.

War das mit der Schnecke Zufall oder einfach nur Glück? … Wer weiß, was ohne sie da draußen mit uns geschehen wäre? … Hätte sie uns nicht geweckt, wären wir jetzt bereits auf dem Rückweg oder vielleicht sogar tot, denke ich mir etwas später.

8:33 Uhr: Ich lege meinem Block und den Stift zunächst zur Seite, denn gleich geht es mit mir am Steuer weiter.

14:05 Uhr: Nach weiteren fünfeinhalb Stunden Fahrt durch den Regen erreichen wir in der Gegend von ULRICEHAMN das frühere Haus von Markus‘ Eltern in Südschweden, welches sie inzwischen jedoch leider verkauft haben. Wir halten kurz am Straßenrand und schauen uns aus der Ferne alles an. Wehmütig durchströmen mich freudige Erinnerungen an gemeinsame vergangene Tage, die ich mit Markus und anderen Schulfreunden an diesem Ort verbracht habe. Wir hatten hier immer eine sehr schöne Zeit, denke ich mir und fühle mich erstmals auf dieser Reise frei und unbefangen. So, wie es im Urlaub sein soll.

14:45 Uhr: Wir haben gerade unsere Vorräte an frischen Lebensmitteln in einem Supermarkt aufgestockt und nebenbei beschlossen, es für heute mit der Fahrerei gut sein zu lassen. Stattdessen wollen wir uns ein trockenes Nachtlager suchen. Wo wir jedoch ein solches finden sollen, weiß ich nicht. Denn ein Hotel oder Ähnliches gibt es hier in der Gegend nicht und draußen ist ja bekanntlich alles patschnass. Guter Rat ist nun also teuer. Doch Markus wäre nicht Markus, wenn er nicht eine Lösung parat hätte. Sein Vorschlag lautet: »Lass uns doch zu dem See im Wald fahren. Den, wo wir früher auch immer schwimmen gegangen sind. Dort gibt es doch die öffentlich zugänglichen Umkleidekabinen (kleine Holzbauten, die mit ihrem landestypischen rot-weißen Anstrich wie kleine Häuschen aussehen). Die sind perfekt, um dort zu übernachten.«

Wie jetzt, in einer Umkleidekabine übernachten? Wie soll das funktionieren und ist das überhaupt erlaubt?, lauten zwar meine ersten zweifelnden Gedanken, doch da ich keine bessere Idee habe, stimme ich ihm zu und wir machen uns sogleich auf den Weg.

14:53 Uhr: Wir sind an dem besagten See angekommen. Bevor wir uns allerdings häuslich einrichten, lasse ich mich von Markus dazu überreden, mit ihm ins Wasser zu gehen. Was angesichts der angezeigten Wassertemperatur von 16,9 Grad für mich, als kleine ›Frostbeule‹, eine echte Herausforderung ist.

Aber, »Was sein muss, muss sein«, sagt Markus.

Muss das wirklich sein?, frage ich mich innerlich, als ich das kalte Wasser auf meiner Haut spüre. Anscheinend ja.

Nachdem wir uns abgetrocknet und unsere nassen Sachen in einer der Umkleidekabinen zum Trocknen aufgehängt haben, holen wir unsere Schlafsäcke aus dem Auto, rollen sie in einer zweiten Kabine auf dem Holzboden aus und schlüpfen hinein, um uns aufzuwärmen und uns ein wenig vom bisher doch recht anstrengenden Tagesverlauf auszuruhen. Mein schlechtes Gewissen, hier gerade mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Verbotenes zu tun, bleibt jedoch. Bei dieser Kälte und dem anhaltenden Regen wird hier schon niemand auftauchen und uns stören, sage ich gedanklich zu mir, um mir Mut zu machen und mich zu beruhigen. Doch damit irre ich mich leider.

15:39 Uhr: Wir haben erst vor wenigen Minuten unsere Schlafsäcke verlassen und sitzen nun, dem Regen trotzend, in unsere Regenponchos eingehüllt, auf dem einzigen ins Wasser führenden Steg und spielen ›Schiffe versenken‹, als wir einen Mann dabei beobachten, wie er aus seinem Fahrzeug steigt und umgehend damit beginnt, am Ufer, unweit unseres ›Domizils‹, einen Zeltpavillon aufzubauen.

»Was hat er vor?«, frage ich Markus aufgeregt, wobei ich spüre, wie mein Puls abermals an diesem Tag vor Schreck in die Höhe schnellt.

»Bleib ruhig«, höre ich die vertraute Stimme meines besten Freundes sagen. »Er kann uns nichts anhaben. Schließlich ist er alleine und wir sind zu zweit.«

»Ich weiß nicht«, erwidere ich verunsichert. »Es sieht für mich nicht so aus, als würde er den Pavillon nur für sich aufbauen.«

Meine Vorahnung bestätigt sich leider schneller, als mir lieb ist. Denn kurz darauf halten auf dem geschotterten Parkplatz weitere Autos, aus denen etliche Personen in Laufkleidung aussteigen. Sie alle gehen zu den Umkleidekabinen, wo sich ihnen sofort offenbart, was wir dort gemacht, beziehungsweise vorhaben.

Aus vermeintlich sicherer Entfernung beobachten wir wenig später, wie sie sich kopfschüttelnd unterhalten und dabei immer wieder argwöhnisch in unsere Richtung schauen und zeigen. Sie kommen mir in diesem Moment wie ein Rudel hungriger Wölfe vor, welches nur darauf wartet, dass einer von ihnen die Initiative zum Angriff ergreift.

Uns beiden ist klar, dass es jetzt heißt, Ruhe zu bewahren und sie auf keinen Fall durch irgendetwas Unüberlegtes zu provozieren. Wir tuen daher so, als seien sie uns egal und spielen einfach weiter, ohne sie dabei jedoch aus den Augen(-winkeln) zu verlieren. Innerlich bin ich hingegen angespannt und habe ein äußerst mulmiges Gefühl. Hoffentlich geht das gut.

16:09 Uhr: Uns ist inzwischen klargeworden, dass hier und heute bei diesem Sauwetter ein Orientierungslauf stattfindet, dessen Start der aufgebaute Pavillon ist.

Wie lange die ganze Aktion von ihnen wohl dauern wird? … Hoffentlich nicht zu lange, wünsche ich mir, denn ich habe keine Lust mehr, noch länger im Regen auf dem Steg zu sitzen und zu frieren.

16:33 Uhr: Erleichtert habe ich soeben verfolgt, dass sich der letzte Läufer auf den Weg gemacht hat und wir folglich wieder allein an diesem Fleckchen Erde sind. Erst jetzt ist die Luft für uns rein genug, um den Steg zu verlassen und uns in ›unsere‹ Schlafkabine zurückzuziehen, wo wir uns abermals in die Schlafsäcke einmummeln, um uns vor der nassen Kälte zu schützen und wieder aufzuwärmen. Wobei ›einmummeln‹ sehr relativ ist, denn auch heute ist der Boden unter mir ungewohnt hart und unbequem. … Egal, da muss ich jetzt durch.

17:11 Uhr: Ich öffne die Tür der Kabine einen kleinen Spalt und luge nach draußen. Das, was ich sehe, gefällt mir jedoch ganz und gar nicht. Der Zeltpavillon steht immer noch am See und auch die Autos sind noch immer auf dem Parkplatz. Erst jetzt wird mir klar, dass die ›Gefahr‹ ganz offensichtlich noch nicht vorüber ist. Dass sie alle wieder hierher zurückkommen werden. Die Frage ist nur, wann?

18:01 Uhr: Es ist soweit. Zunächst sind es nur knirschende Laufschritte auf dem Kiesuntergrund des Parkplatzes. Kurz darauf hören wir jedoch auch Stimmen. Und diese Stimmen werden immer mehr und sie werden immer lauter, kommen immer näher.

Wir hingegen verhalten uns ruhig. Machen keinen Mucks. Atmen nur sehr flach und liegen wie erstarrt da. Eine angespannte, gespenstische Stille durchzieht fortan unsere Kabine und wir rechnen jeden Augenblick damit, dass die Tür aufgerissen wird und wir zusammengeschissen werden.

18:55 Uhr: Nichts dergleichen ist passiert. Die da draußen sind soeben in ihre Autos gestiegen und einfach weggefahren. Auch den Pavillon haben sie mitgenommen.

»Wir sind wieder allein«, sage ich zu Markus und falle ihm spontan vor Erleichterung mit einem breiten Grinsen im Gesicht aus meinem Schlafsack heraus um den Hals.

21:05 Uhr: Es hat endlich aufgehört, zu regnen. Am Himmel ist sogar ein kleiner rotglühender Streifen zu sehen, der die Landschaft, den See und den ihn umgebenden Wald, in ein einzigartiges Lichtspiel versetzt. Wow, es ist wunderschön, denke ich mir, während wir uns etwas Holz zusammensuchen, um ein Lagerfeuer zu machen, da Markus richtigerweise meinte, dass es wichtig sei, uns vor der Nacht noch einmal ordentlich aufzuwärmen, damit wir uns nicht erkälten.

Es stellt sich jedoch als recht schwierig heraus, das Feuer in Gang zu bekommen. Triefend nasses Holz brennt halt nicht sonderlich gut. Wir verbrauchen fast unseren gesamten Grillanzündervorrat, bis das Feuer endlich brennt. Aber, es brennt!

22:23 Uhr: Die Wärme des kurz zuvor von uns gelöschten Feuers noch in uns spürend, liegen wir in unseren Schlafsäcken. Ich bin müde. Was für ein Tag, lautet mein letzter Gedanke, »Gute Nacht, Markus«, sind meine letzten Worte für heute.

Mittwoch, 19. Juli 2000 - Dritter Reisetag

09:30 Uhr: Wir sind soeben wach geworden. Es regnet nicht.

Wir stehen auf und gehen halb nackt zum See. Ein Blick auf die elektronische Anzeige am Steg bestätigt allerdings meine Gänsehaut. Lufttemperatur: 17 Grad. Haben wir Sommer oder Winter? … Egal, ab ins Wasser!

Danach heißt es dann trocken werden, aufwärmen, ausgiebig am Feuer frühstücken, die Sachen ins Auto räumen und mit mir am Steuer weiterfahren.

Kaum, dass wir um kurz nach 12 Uhr in unserem Fahrzeug sitzen, ist der Regen wieder da.

Heftig und unnachgiebig peitsch er gegen die Windschutzscheibe und macht das Fahren abermals zu einer Qual. Das darf echt nicht wahr sein.

13:15 Uhr: Kurze Pause. Wir sind jetzt zwar erst seit etwa einer Stunde unterwegs, jedoch beide vom erneuten Wettereinbruch genervt. Die Stimmung ist mal wieder auf dem Nullpunkt. Zum einem, weil wir vom eigentlich so wunderschönen Schweden so gut wie nichts sehen und zum anderen, weil uns, in diesem Fall mir, das Autofahren die volle Aufmerksamkeit abverlangt. Folglich schweigen wir uns über weite Strecken an.

13:55 Uhr: Wir erreichen die Staustufen- und Schleusenanlage von TROLLHÄTTAN. Circa 75 Km nördlich von Göteborg, am Südufer des westlichen der beiden ›großen Seen‹. Viel zu sehen, gibt es hier allerdings nicht, weshalb wir uns lediglich ziellos im Regen die Beine vertreten, bevor wir weiterfahren.

Eine Dreiviertelstunde später stoppen wir irgendwo am Eingang eines Nationalparks in der schwedischen Pampa. Es soll hier ein sehr hohes Elchaufkommen geben, wie uns der Reiseführer, ein älteres Buch, welches uns Markus‘ Vater für die Reise geliehen hat, verrät.

Ich selbst habe noch nie ein solches Tier gesehen und würde mich daher sehr freuen, wenn sich dies heute ändert.

16:41 Uhr: Unsere zweistündige Suche nach einem Elch verlief passend zum Wetter äußerst trist, weil erfolglos. Gut, dass am Eingang zum Park ein Kunststoffelch in Originalgröße aufgestellt ist. Ausreichend für ein Fake-Foto, um zu Hause behaupten zu können, dass wir einen echten Elch zu Gesicht bekommen hätten, meint Markus.

Für mich bleibt es allerdings gefühlt, wie es ist: enttäuschend, denn wir haben nun mal keinen echten Elch gesehen.

Als das Elch-Foto ›geschossen‹ ist, fahren wir einen kleinen Umweg, um das noch zeitweise vom schwedischen Königshaus bewohnte Schloss in LÄCKÖ (weitere 80 km gen Nord-Osten) zu besichtigen.

Als wir dort ankommen, ist jedoch alles verschlossen. Auf einem Schild an der Tür steht: ›Letzter Einlass: 17:30 Uhr‹

Ich schaue auf meine Uhr. Es ist 17:35 Uhr.

Abermals macht sich Enttäuschung in mir breit, denn auch dieser Aufwand hat sich nicht gelohnt. Doch nicht nur mir, ich glaube auch an Markus‘ Gesicht zu erkennen, dass auch ihm die nur knapp verpasste Gelegenheit, das Schloss zu erkunden, auf die Stimmung drückt. Vom nach wie vor miserablen Wetter ganz zu schweigen.

18:11 Uhr: Es regnet immer noch. Nach dem Sprühregen in LÄCKÖ und im Elch-Nationalpark, nun auch wieder deutlich heftiger. Besserung ist am Himmel weit und breit nicht in Sicht.

›Wir brauchen eine mentale Aufheiterung‹ sagt Markus, weshalb wir bei McDonald‘s einkehren und uns jeder zwei Big Mac, eine große Portion Pommes und `ne Coke gönnen. Geil!

Im Supermarkt, gleich nebenan, kauft sich Markus anschließend eine schwedische ›Bild‹-Zeitung.

Was will er damit? frage ich mich, als ich ihn dabei beobachte, wie er das Blatt studiert.

Hm, der Klatsch und Tratsch scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren. Er schaut sich jedenfalls nur die letzte Seite an, auf welcher eine sehr ansehnliche, leicht bekleidete junge, blonde Frau mit üppiger Oberweite abgebildet ist.

»Was liest du da?«, frage ich ihn irgendwann.

»Den Wetterbericht«, antwortet er mir wenig euphorisch. »Hier, schau mal.«

Nun blicke auch ich auf die unscheinbare Wettergrafik, neben der besagten, leicht bekleideten jungen Frau, die immer wieder meinen Blick auf sich zieht. Die Vorhersage für die nächsten Tage in Süd- und den Großteil Mittelschwedens lautet jedenfalls: weiterhin Regen, Regen und nochmals Regen. Für den Norden hingegen: Sonne satt.

Erneut ist guter Rat teuer, wie unsere Reise weitergehen soll. Nach kurzer Diskussion, stehen für uns nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl:

1. Ein kräftezehrender ›Gewaltritt‹ durch die Nacht, um möglichst weit nach Norden - also Richtung Sonne - zu kommen, oder

2. Heim zu fahren.

Ich bin hin- und hergerissen und tendiere nach dem bisherigen, für mich eher enttäuschendem Reiseverlauf ehrlich gesagt dazu, umzukehren. Doch auch dieses Mal sage ich nichts, sondern warte ab, wie Markus sich äußern wird. Was folgt, ist einer dieser Momente, für die ich Markus schon immer bewundert habe: in nahezu aussichtslosen Situationen, die verbliebene (Rest-)Chance zu sehen und andere, in diesem Fall mich, davon überzeugen zu können, es wenigstens zu versuchen, bevor aufgegeben wird. Unglaublich, wie überzeugend er sein kann, denke ich mir, bevor ich in mein Tagebuch notiere: ›18:42 Uhr: Unsere Entscheidung steht fest. Auf nach Norden. Auf durch die Nacht!‹

21:59 Uhr: Fahrerwechsel, der wie zuvor abgesprochen zu jeder vollen Stunde stattfindet, um uns die Anstrengung zu teilen und kein unnötiges Risiko durch eine zu hohe Übermüdung des Fahrers einzugehen.

Ich sitze fortan hinter dem Steuer und Markus hat ein Auge auf die Straßenkarte. Viel wird er nicht zu tun haben, da es eh fast ausschließlich geradeaus gehen wird, denke ich mir, als ich das Auto vom Parkplatz aus beschleunige. Aber da irre ich mich.