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»Grenzen fallen« ist zum Leitmotiv der EU geworden. Plötzlich erscheint die Demokratie als Handicap. Wo Parlamente zu Handlangern der Mächtigen werden, stirbt der demokratische Wettbewerb. Die autokratische Versuchung startete unter deutscher Führung: Verborgen hinter der Maske von Rettungssanitätern probte man die Kolonialherrenrolle in Südeuropa. In Gläubiger und Schuldner gespalten, verlor die EU die Herzen vieler Europäer. Die Verstaatlichung der Energiewirtschaft wurde die Generalprobe zum tollkühnen Solo von Angela Merkel 2015: offene Arme an offenen Grenzen. Die Alleingänge der deutschen Kanzlerin zeugen von einem avantgardistischen Demokratieverständnis. Immer häufiger setzt sie sich über geltendes Recht hinweg. Der Aufstand der gelenkten Demokraten bleibt aus. Aber immer mehr EU-Länder zementieren ihre Nationalität mit autokratischen Methoden. Auch die humanitäre Supermacht Deutschland scheint nicht mehr unverwundbar. Mit ihrer Streitschrift »Demokratie im Sinkflug« bringt Bestsellerautorin Gertrud Höhler den machtlosen Souverän zurück ins Spiel: Der Staat gehört den Bürgern.
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Seitenzahl: 195
Für Lino,
den ich über alles liebe.
* * *
Den Mächtigen,
die Konsensstörer ausschalten,
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2. Auflage 2017
EDITION TICHYS EINBLICK
© 2017 by FinanzBuch Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Lektorat: Dr. Annalisa Viviani, München
Korrektorat: Sonja Rose
Umschlaggestaltung: Manuela Amode
Umschlagabbildung: picture alliance/R4200
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
ISBN Print 978-3-95972-063-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-104-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-105-9
Wenn die Sonne sinkt
High Noon für die Planwirtschaft der Gefühle und Gedanken
Das Medium ist die Message
Das demokratische Dilemma
Der New Deal für die leise Revolution: Regieren ohne Opposition
Ideologiefreie Zone für den Politikwechsel
German Leadershipfür ein autoritäres Europa
Merkels politische Ziele sind nur ohne Wirtschaftskompetenz erreichbar
Die Zeit der Alleingänge beginnt
Politik als Gefühlsmanagement. Im Namen des Guten – die Planwirtschaft schlägt zu
Sprengmeisterin unterwegs: Etappenziel ist die grenzenlose gelenkte Demokratie
Wenn die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sich auflösen
Putin als Merkels Lehrmeister: »Die Verfahren zum Überschreiten von Staatsgrenzen vereinfachen«
Die »Eurorettung«spaltet Europa
Wenn Putin das Kriegsbeil ausgräbt, dann im Namen des Völkerrechts. Und die Kolonialherren der EU entdecken das Recht des Stärkeren
Zweipolige Welt mit fließenden Grenzen: Die Spieler suchen neue Plätze
Die EU erzieht gelenkte Demokraten
Europa hat Sehnsucht nach der »harten Hand«
Putins Kairos: Im schwächelnden Europa gewinnt der Imperator Bewunderer
Eine Schirmherrin – zwei Systeme: Was Angela Merkel und Wladimir Putin mit Katharina der Großen verbindet
Rechtsbrüche begleiten das »Rettungsgeschäft« in Europa – Die deutsche Kanzlerin räumt Normen ab
2015: das Jahr der Entscheidungen. Die Kolonialmacht EU demütigt die Griechen
Auch das war 2015: Startsignal für das größte Projekt der deutschen Kanzlerin. Start des passiven Imperialismus als »Willkommenskultur«
Sternschnuppen stürzen aus dem Brüsseler Sternenkranz – Deutschland probt passiven Imperialismus
Die »Wertegemeinschaft« Europa wird zum Trümmerfeld. Geht so »Autokratie mit menschlichem Antlitz«?
Kontrollverlust als Programm – Angela Merkel macht das grenzenlose Europa konkret
Die Entgrenzung Europas ist vollzogen
»Schöpferische Zerstörung« neu: Wie Demokraten zu Autokraten erzogen werden
Zur Überwindung der Demokratie gehört die Zertrümmerung von Gewissheiten
Deutschland schreibt seine Story um – Die humanitäre Superpowerbetritt die Weltbühne
Merkels Masterplan
Allahs verlorene Söhne, verstreut in der Welt. »Unsere Art zu leben« wird sie nicht retten
Die verlorenen Söhne des Propheten Mohammed
Das Dilemma der Führung: zu selbstgerecht, um zu trauern
Grenzen fallen. Die Überwindung der Demokratie macht Fortschritte
Die Antiheldin: Deutschlands leise Autokratin setzt auf neue Allianzen
»Interessen« schlagen Werte: Die autokratische Versuchung wirft ihre Schatten voraus
Dieser Deal verändert Europa. Werte verdampfen im Machtwillen beider Seiten
Die Umwertung der demokratischen Werte beginnt – Demokratie als Handicap
EU-Politiker erliegen der autokratischen Versuchung
Demokratie im Sog der Autokraten – Das demokratische Projekt erkrankt an einer Immunstörung
Die deutsche Kanzlerin: Avantgarde zur Überwindung der Demokratie zugunsten eines autokratischen Zentralismus
Alternativlosealternative facts– Autokratisches Wetterleuchten von Berlin bis Washington
Im Reich der Autokraten: Der stärkste Regelbruch macht unverwundbar
Die Avantgarde Europas verliert die Gefahrenwitterung – Demokratie wird zum Störfaktor
Die Immunstörung der Demokratie ist das Projekt einer Avantgarde
Die autokratische Versuchung mehrheitsfähig machen
Im Schlagschatten der Rechtsbrüche – Europa kann sich klassische Wertetraditionen nicht mehr leisten
Von der Radikalisierung der Tugend zur Radikalisierung der Politik
Überwindung der Demokratie: ein Projekt für Werteverluste
Auch Politik ist Gefühlsmanagement. Die Streitmacht der Gefühle zu unterschätzen, kostet die Macht.
Wo gefühlsarm regiert wird, gehen die Gefühle auf die Straße
Machtmanagement ist Gefühlsmanagement
Autokratie made in Germany
Ein grenzenloses Europa muss scheitern – Freiheit ohne Grenzen macht Knechte
Nichts geht ohne Grenzen
Probt Europa die Überwindung der Demokratie? – Ist die EU als Großprojekt ein Demokratiekiller?
Ist Europa ein metademokratisches Projekt, das die Demokratie übertrifft?
Dank
High Noon für die Planwirtschaft der Gefühle und Gedanken Das Medium ist die Message.
Abendrot über Angela M’s alternativloser Kanzlerschaft: Nichts mehr ist alternativlos, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern – in Brüssel, in Ankara und Washington, in Den Haag. Selbst in Berlin legt der Bundesadler nicht mehr alternativlos die Flügel an, wenn die entmachteten Abgeordneten zu ihren Plätzen trotten.
In Washington ist die Alternative zu Obama an der Macht. Ein Dilettant namens Donald Trump, der immerhin den Vornamen mit dem Neffen des berühmtesten Moneymakers im Reich des genialen Walt Disney teilt. Trump zeigt Tag für Tag, dass es immer Alternativen zum Erreichten gibt – oberhalb und unterhalb der Ziele, die ein Vorgänger durchsetzte, um, ganz wie Trump auch, »America great again« zu machen. Kein amerikanischer Präsident hätte ein anderes Ziel haben können. Nur Trump, dem Draufgänger aus der Welt der hemdsärmeligen Selfmade-Manager, möchte eine empörte internationale Politlobby dieses noble Ziel verbieten. Dass es movingtargets sind, denen Trump nachjagt, volatile Ziele also, flüchtig wie Antilopen, auffliegend im Schuss des Jägers wie Fasan und Wildente, unerreichbar kreisend wie der Adler im amerikanischen Wappen, das weiß der alternative Amtsinhaber sicherlich. Sein jüdischer Schwiegersohn nennt den schwer attackierten Rüpel im Oval Office »einen der liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne«.
Die windows of opportunity, die alternativlos verschlossenen Fenster, gehen auch in den Zuschauerköpfen wieder auf, wenn sich herausstellt: Es gibt sie doch, die Alternativen.
Nur für die Erfinder der Alternativlosigkeit als Machtgarant wird es eng, wenn das Zeitalter der Alternativen anbricht. Abendrot für Angela? Noch steuert sie gegen. Versichert den Niederländern ihre »Solidarität«, weil sie ja Stellvertreter der timiden Deutschen beim alternativen Handeln sind. Um regierungsdeutsche Solidarität zu verdienen, müssen die mutigen Niederländer freilich die Schrumpfung ihrer Handlungsmotive auf das Nazithema in Merkels Lob hinnehmen. Die Kanzlerin wischte so den Vergleich vom Tisch, den alle deutschen Bürger anstellen: dass in Holland, anders als in Deutschland, die türkischen Falschmünzer mit den scheindemokratischen Betrugsmanövern im Schatten einer Machtergreifung nicht erwünscht sind.
So ging es bisher: Wo keine Alternative sich auftat, wurden Löwenanteile der Wahrheit gestrichen. Immer wieder obsiegte die alternativlose Welt der Kanzlerin. Und die Deutschen von heute haben sich eingerichtet in dieser Welt, die immer nur eine Lösung kennt, nämlich die der Herrschenden. Demokratie auf der Intensivstation: Darum reden seit Jahren alle, die die Wahrheit suchen, hier so leise.
Aber die alternative Welt ist multitask auf der Szene erschienen. Alternativlose Führungskräfte an der Staatsspitze leben nicht mehr ungestört.
In Ankara, gleich nebenan und mit Deutschland auf deutsche Initiative eng verbunden, wütet ein ähnliches Temperament wie der ungebändigte Donald, der neben Recep Tayyip Erdoğan geradezu berechenbar erscheint. Erdoğan kassiert die Demokratie. Und Europas Politiker tun ihm den Gefallen, seine Entschlossenheit zu unterschätzen. Während der Diktator in spe die Beweiskette für sein egomanisches Machtkalkül täglich verlängert, pendelt die alternativlos im Erdoğan-Deal gefangene Kanzlerin zwischen Schweigen und diplomatischen Segensformeln.
Erdoğan ist die Alternative zum antidemokratischen Erosionsmanagement der Kanzlerin in der EU und in Deutschland. Der türkische Präsident mit Alleinherrschaftsanspruch zeigt der Alleingängerin aus Deutschland, welche »alternativen« Konzepte ans Licht drängen, wenn man Demokratie mit der Tarnkappe betreibt. Der Anspruch, »alternativlos« herrschen zu können, ist antidemokratisch. Und der Deal mit Erdoğan zum Flüchtlingsthema war nur als Tarnkappenprojekt möglich. Bei so vielen verdeckten Karten, wie sie die deutsche Regierung im Flüchtlingsdeal zugelassen hat, findet sich immer einer, der plötzlich alle seine Karten aufdeckt – und die Demokratieverräter der westlichen Welt mit ihren eigenen Zitaten schachmatt setzt.
Auch Martin Schulz verwüstet die Szene des »alternativlosen« Spiels. Ob er unzumutbar harmlos oder unerwartet gefährlich sei, allein dies herauszufinden, beschäftigt Deuter-Heere, die für das Pro- und Contra-Lager arbeiten. Schulz ist keine Alternative!, rufen die einen. Schulz ist die Alternative!, triumphieren die anderen. Und Schulz holt die Stimmen der Leute, die nicht »alternativlos« leben wollen. Auch er ist genau deshalb eine Alternative, weil er eine Fiktion zu Grabe trägt, die tief im Herzen keiner je geglaubt hat: Demokratie sei die Story vom Leben ohne Alternative. Also tödlich. Wie das Leben selbst. Gleichviel, welche Botschaften er bringt, die Leute sind ihm dankbar, dass er das Tabu kassiert. Schulz ist gefährlich für die Alternativenkillerin, weil er allen zeigt, was sie bis dahin nicht sehen durften: Die Monopolistin im Ergreifen von Alternativen heißt Angela Merkel. Ab jetzt wird die Gefolgschaft kleiner, die Beifall klatscht, wenn die Kanzlerin ihren voltenreichen Kurs als schnurgeraden Highway beschreibt.
Abendrot im Lande der Alternativlosen. High Noon für die Planwirtschaft der Gefühle und Gedanken. Ehe die Planlosen ihr Spiel machen: Den homo ludens von der Kette lassen, den homo faber als Mitspieler gewinnen. Ehe die Sonne sinkt.
Fragt nicht nach seiner Botschaft: Schulz ist die Botschaft: Sie handelt von uns.
Nach Merkel, der Unberechenbaren, Alternativlosen, meldet sich Martin. Er ist die Alternative. Er bedient den moralischen Furor. Er bringt die alten Werte zurück.
Schulz sagt uns, ohne es zu wissen, wer wir sind. Er stellt die Diagnose wie ein Wald- und Wiesendoktor, der Gefühle genauso ernst nimmt wie Gedanken. Schulz sei ein Traditionalist, schreiben strenge Journalisten. Schulz ist Siebzigerjahre pur. So macht er die Punktlandung in den Herzen der Menschen. Schulz, der Vielsprachige, bringt die progressive Sozialdemokratie der Aufbruchsjahre zurück. Jenen unwiderstehlichen Mix aus Habermas für Dummies und Bildungszukunft, Arm in Arm mit Arbeiterpower als Aufsteigermythos. Daneben sehen die technokratischen Traditionshüter des rheinischen Kapitalismus alt aus. Die progressive Linke votiert auch heute für Schulz. Junge Leute, die die Siebzigerjahre nur vom Hörensagen kennen. Auch sie wollen den nostalgischen Geschmack der unschlagbaren SPD auf der Zunge spüren, einer SPD, die die Hochschulen umkrempelte und das Bildungsmekka für Arbeiterkinder öffnete. Schulz erweckt die traditionelle SPD wieder zum Leben, jene Partei, die Grundwertedebatten anstieß.
Dieses Schulz-Profil antwortet auf die Verlustbilanz in den Köpfen und Herzen vieler Deutscher, die bis zu seinem Auftauchen in der Bundespolitik sprachlos blieb.
Die AfD fing viele von diesen Unzufriedenen ein. Und Martin Schulz holt wiederum viele zurück in die alte Mitte des Parteienspektrums.
Da ist inzwischen viel Platz. Die Merkel-CDU hat die Mitte freigegeben, um links die SPD zu entmachten. Die Mitte liegt jetzt rechts von der CDU, auch das gibt dem Schulz-Wahlkampf eine bis dahin unbekannte Note: Er kämpft mit seinem politischen Moralismus rechts von der CDU – und holt damit Wähler, die nicht zum traditionellen SPD-Potenzial gehörten, bis heute.
Der Erfolg von Martin Schulz auf den ersten Wahlkampfmetern hat mit seinem Talentmix zu tun: Der Kandidat ist mit einem hohen Pegel Intuition unterwegs, den Männer im Allgemeinen nicht zu ihren Spontantalenten zählen möchten. Schulz weiß, was er gerade dieser Fähigkeit verdankt. »Fühldrauflos«, wie es die Wähler tun, könnte ein Wahlkampfmanager dieses Rezept nennen. Lass dich nicht durch Denken vom Fühlen abbringen. Schulz kann sich diesen Habitus leisten, weil er über ein langjähriges Training in der Welt der Politintrigen verfügt. Seine emotionale Stärke macht ihn vielen Konkurrenten überlegen. Auch der Kanzlerin, die emotional auf Sparflamme lebt. Merkels Gefühlskalkül in Notsituationen verwirrt die Anhänger eher und lässt scharfsinnige Beobachter kalt. Das »freundliche Gesicht« beim Grenzenschreddern erzeugte gemischte Gefühle bei Freunden und Gegnern. Schulz »entmischt« die Gefühle. Er erscheint »ehrlich«, wo Merkel mit übergesetzlichen Notständen operiert. Wer, mit Jean-Claude Juncker, Ehrlichkeit für eine Kleinbürgertugend hält, sei daran erinnert, dass der Ehrliche nicht nur die Wahrheit verteidigt, sondern auch die Ehre des Partners und seine eigene Ehre bewahrt.
Schulz gibt den linken Idealisten, den Ältere aus dem vorigen Jahrhundert unter großen Namen kannten: Helmut Schmidt, Willy Brandt. Schulz gibt ihn nicht nur, er ist dieser linke Idealist, der seit Jahren nicht bei der SPD, sondern nur bei der Linken zu finden ist – dort allerdings in Frauenkleidern: Sahra, die Kluge und Schöne.
Schulz hat ein Ass im Ärmel, das ihn so stark wie unabhängig macht: Nicht die SPD hat ihn erfunden. Er hat sich selbst erfunden. Niemand in der SPD, die jetzt von ihm profitiert, hatte diesen Schulz so auf der Rechnung, wie er jetzt unterwegs ist. Schulz ist ein Schulz-Projekt, das macht seine Glaubwürdigkeit aus, wenn er SPD-Ideen von gestern und heute mit Distanz und kritisch diskutiert. Er ist ein Kuckucksei im Nest der schwindsüchtigen SPD-Komparsen. Dieser Umstand erlaubt es den Wählern, in Schulz tatsächlich ein bis dahin beispielloses Versprechen zu sehen, das die sogenannten Volksparteien nicht mehr glaubhaft formulieren können. Auch hier gilt: Er macht nicht ein Verspechen, er ist dieses Versprechen für ein Revival des Glaubens an politische Performance erster Klasse.
Bloß nicht zu viel Vernunft, ist die mitlaufende Botschaft. Aber: Politik ist ein hochmoralisches Geschäft, wenn sie gut ist. Solche Bekenntnisse, mit der Waage der Justitia in der Hand, im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu liefern, das passt. Auch Illusionen lassen sich in diesem Klima der Versöhnung von Kopf und Herz als Visionen verkaufen. Schon im Präsidium des EU-Parlaments wuchs die Gestaltungsmacht von Martin Schulz wegen seiner emotionalen Kompetenz: Menschen gewinnen, um Probleme zu beherrschen, das ist sein Geschäftsmodell.
Habermas für Schulabbrecher und Konsensverweigerer: Das ist die Wiedergeburt der sagenumwobenen progressiven Linken, die Versager zu Akademikern machen wollte und die Arroganz der Patriarchen zu brechen versprach. Die Arroganz der Macht kommt heute als Ohnmachtserfahrung bei Normalverbrauchern an. Die Schulz-SPD, so das implizite Versprechen des frisch zugereisten Kandidaten, fühlt wie du. Sie will nicht an deiner Stelle, sondern mit dir gemeinsam politisch handeln. Schulz fängt viele entlaufene Bürger wieder ein, die das Systemvertrauen verloren hatten; er gehört ja nicht zum System. Zu seinem Mischtalent gehört es, dass ihm ein Salto mortale glückt, den vor ihm keiner geschafft hat: Nachweislich einer vom EU-Establishment, tritt er als der Panzerknacker contra Establishment auf – und man glaubt ihm. Wie macht er das?
Die Antwort ist ebenso bewegend wie einfach: Schulz lebt seinen Traum. Noch einmal der Mann aus dem Volk zu sein, der Abgestürzte, der aufgestanden ist, um weiterzulaufen, immer weiter und immer bergauf. Einer, der den Herzschlag der einfachen Leute im eigenen Herzen spürt, im gleichen Takt. Einer, der etwas Unschätzbares besitzt, was ihn seiner Gegnerin in der Spitzenpolitik überlegen macht: Schulz hat eine Story. Wer eine Story hat, obendrein eine wahre Story, der wird siegen, sagen die Amerikaner. Merkel hatte nie eine Story, es gab Gründe, eine wenn vorhandene zu unterdrücken. Die Kanzlerin reüssierte mit einer hidden story, die zu erzählen entweder zu langweilig oder zu gefährlich war. Wir wissen es nicht.
Der SPD-Mann Schulz hat eine Story. Dass er bei seinen Zuhörern Widersprüche abdeckt, hat mit dieser Story voller Widersprüche zu tun. Wer Widersprüche abdeckt, fängt alle ein.
In diesem Sinne, gleichviel wie der Wahlkampf ausgeht, steht Martin Schulz für das Ende der alternativlosen Welt der Angela M.
Erdoğan stellt die westliche Demokratie auf den Prüfstand. Der Augenblick ist günstig – aus Erdoğans Perspektive: Die westlichen Demokratien produzieren ihre Bedrohung selbst, da hat ein Aggressor von außen leichtes Spiel. Viel mehr als den Sprachbaukasten mit den angeschlagenen Werten der »freien Welt« kann die Leading Nation im EU-Poker, Germany, nicht aufbieten, um die Machtgeschichte des Diktators in spe zu beeinflussen. Der deutsche Sprachbaukasten bietet Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung auf, drei Schwergewichte mit Verfassungsrang. Frei von Schrammen sind sie freilich nicht; die Schleifspuren haben die Demokraten selbst zu verantworten. »Recht und Anstand«, ein Softpackage, das der deutsche Außenminister beisteuert, sind Schall und Rauch über dem wogenden Fahnenmeer jenseits der türkischen Grenze. Und in Deutschland, überall dort, wo die Wahlkämpfer ihre »privaten« Auftritte durchsetzen, brandet das rote Fahnenmeer über den Köpfen der heimatfern zum Systemwechsel für daheim entschlossenen Auslandstürken auf. Die Botschaft der eingereisten Fighter für Massenknast und Zentralgewalt umflutet die Wohlstandskinder mit türkischem Pass wie eine unwiderstehliche Versuchung: So geht Macht, und so geht nationale Stärke. So wird unser Heimatland zum Sieger über die abweisenden Europäer.
Nicht erst hier beginnt die deutsche Mitverantwortung, aber hier kulminiert sie. Und kollidiert mit dem Impuls, den handlungsstarken Helden von nebenan nicht zu verstimmen, weil wir längst mit ihm in einem Boot sitzen. Verfassungsvokabular richtet da wenig aus. Es hat schon beim Flüchtlingsdeal mit Erdoğan keine Rolle gespielt.
Der Sprachbaukasten wird auch heute nur für die deutschen Bürger durchbuchstabiert. Wie wenig die Politiker ihren Textlieferungen zutrauen, wie sehr sie aber auch um die Entschärfung dieser ihrer Placebo-Munition bemüht sind, zeigen die Wortfelder, in denen die Weichzeichner unterwegs sind. Der Außenminister: »Es gibt einfach Grenzen«, sagt Gabriel in einem Geschichtsaugenblick, da gerade Grenzen außer Kurs geraten sind. Wer in Europa nach Macht strebt, der nutzt diese historische Chance. Wenn irgendetwas zur offenen Flanke Europas und der EU geführt hat, dann der geschichtsmächtige Schritt der deutschen Kanzlerin, Grenzen zur Disposition zu stellen. »Einfach« wird das Thema »Grenzen« nie mehr sein. Und Gabriel hat ja auch nur eine einzige Grenzüberschreitung abgelehnt, den Nazi-Vergleich. Allgemeiner Konsens gesichert. Und andere Grenzüberschreitungen? Wer in Deutschland auftreten will, müsse sich »an die Spielregeln halten«, sagt der Außenminister. Aber was in der Türkei läuft, ist kein Spiel mehr! Sein türkischer Kollege diktiert der gesäuberten Zeitung Hürriyet sein Fazit zur deutschen Demokratie: »Das ist ein total repressives System.«
»Meinungsverschiedenheiten«, sagt die Kanzlerin, »unterschiedliche Auffassungen« seien im meinungsfreudigen Klima der deutschen Demokratie weichzuspülen. »Das halten wir aus«, lautet das Fazit der Kanzlerin. Aber war das die historische Fragestellung: Ob »wir« das »aushalten«? Ob die zigtausend Verhafteten, Entrechteten, Gefolterten in der Türkei das neue Regime »aushalten«, ist kein Motiv für unsere Haltung? Ob unsere Demokratie, wie andere Sprecher und Schreiber meinen, belastbar genug sei, um die Auftritte fahnenumwehter Diktatorenförderer vor den künftigen und den bereits mundtot gemachten Opfern zu verkraften, ist doch die falsche Frage. Wenn unsere Meinungs- und Versammlungsfreiheit dazu dient, auf unserem Boden lebende Bürger eines anderen Landes zu Mitspielern bei einem antidemokratischen Systemwechsel zu machen, dann wird ein Dilemma sichtbar. Demokratie ist nicht ansteckend. Im Gegenteil: Der Entscheidungsbeschleuniger in Großsystemen heißt Autokratie. Da wird die Entmachtung der Parlamente zum Kollateralschaden. Die Gipfelpolitiker der EU meiden zwar die Vokabel, schätzen aber das Prinzip autoritärer Missachtung des Volkswillens längst mit konspirativem Augenzwinkern. Dass sie mit dieser Geringschätzung des demokratischen Credos genau jetzt an ihre Grenzen stoßen, steigert die Bekenntnisfreude der verunsicherten Demokraten gegenüber einem Despoten am Rande Europas, der die Wende vom demokratischen Wirtschaftspolitiker zum Alleinherrscher soeben vollzieht.
Die deutsche Kanzlerin ist am besten disponiert, das Drama der Geburt einer Diktatur auf dem europäischen Kontinent beharrlich zu entdämonisieren. »Wir halten das aus« ist ein verbales Ablenkungsmanöver, das den Fokus der Mitverantwortung einfach verschiebt.
Sind wir im stolzen Bewusstsein, das überlegene System zu bewohnen, mit der Freigabe unserer Versammlungsorte für die Demagogen der Unfreiheit Geburtshelfer einer Diktatur? In Deutschland leben besonders viele Anhänger des türkischen Präsidenten. Dass die mehrheitlich in die Nähe ihres künftigen Freiheitsfeindes überwechseln wollen, wird nicht berichtet. Sie genießen die Vorteile der Demokratie in Deutschland und anderswo. Aus dieser »Position der Stärke« leisten sie sich ein zweifelhaftes Heimatbekenntnis, dessen Preis andere bezahlen werden. Sie wählen in Erdoğan den starken Führer, der den Europäern zeigt, was in der türkischen Nation steckt.
Erdoğans Plan, über das wohlkalkulierte Täuschungsmanöver »Referendum« seine Alleinherrschaft zu legitimieren, hängt wesentlich von dem AKP-Potenzial der in Deutschland lebenden Türken ab. Das ist den deutschen Politikern bekannt. In ihren verbalen Fluchtversuchen aus dieser Mitverantwortung spiegelt sich das Unbehagen, das zum Dilemma gehört: Verbündet mit dem machthungrigen Staatschef, dessen Pläne beim Abschluss des Flüchtlingsdeals schon absehbar waren, ist das demokratische Europa nicht mehr frei genug, neben den eigenen Freiheiten auch die demokratischen Rechte anderer Bürger zu verteidigen, die im Fangnetz einer Machtergreifung ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt werden.
Die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland prüfen ganz nebenbei das Verfassungsethos der deutschen Politik. Mit den deutschtürkischen Stimmen, die das rote Fahnenmeer in die Türkei schwemmt, steigen die Chancen des Umstürzlers Erdoğan, sein Land in die Knechtschaft zu führen. Und da kommt dann doch eine Nazi-Erinnerung ins Spiel: Auch die deutsche Diktatur nutzte die Formalien des Rechtsstaats zur Machtergreifung. Auch die Nachbardemokratien Europas, Großbritannien, Frankreich und alle anderen Staaten der westlichen Welt respektierten die erschlichene »Rechtmäßigkeit« des totalitären Systems auf deutschem Boden über mehr als ein Jahrzehnt in einem Unheil fördernden Businessasusual, das dem Regelwerk der diplomatischen Traditionen folgte.
Deutschland hat einen Erfahrungsvorsprung in Sachen Diktatur, der alle Voraussetzungen zum mutigen Auftritt im Augenblick einer historischen Chance bietet, wie sie heute mitten in Europa vor unseren Augen entsteht: Es ist die seltene Chance, Wiedergutmachung einer unerwarteten Spielart zu liefern. Diese Chance könnten wir wahrnehmen, indem wir die Rolle des Förderers von Stimmengewinnen des Erdoğan-Lagers bei den hier lebenden Türken zurückweisen.
Unter den zahlreichen auch verfassungsgerechten Begründungen wäre die wichtigste zu nennen und öffentlich zu bekräftigen: dass Deutschland sich den Lehren der eigenen Verantwortung für zwei Diktaturen auf deutschem Boden im zwanzigsten Jahrhundert nicht entziehen will. Deutschland stellt sich den Lehren der Geschichte, so die Botschaft. Deutschland wird seinen errungenen Status als freie demokratische Gesellschaft nicht den üblichen Standards der kooperativen Stabilisierung totalitärer Systeme opfern. Deutschland stattet seinen Dank ab, seit Jahrzehnten auf der Seite der Freiheit durch die Geschichte gehen zu dürfen. Deutschland verweigert sich als Komplize bei den Umsturzplänen eines Nachbarstaatschefs auf europäischem Boden. Türkischer Wahlkampf für eine antidemokratische Machtergreifung findet in Deutschland nicht statt.
Die deutsche Kanzlerin aber bleibt bei ihrem Konzept, keine Täternamen zu nennen. Nicht die Werte stehen auf Rang eins, sondern die »Interessen«. »Unser Interesse« könne es nicht sein, »dass die Türkei sich noch weiter von uns entfernt«. Die Türkei wird sich aber weiter von uns entfernen, weil sie nicht daran denkt, Frau Merkels Interessen zu bedienen.
Verspätung war in guten Zeiten ein Erfolgsmodell der deutschen Kanzlerin. Die Zeiten haben sich geändert. Dennoch arbeitet sie weiter nach diesem Prinzip. Nach dem schmucklosen Begräbnis der Pressefreiheit in der Türkei startete die Mahnung der deutschen Kanzlerin an Erdoğan, die »Pressefreiheit zu wahren«. »Es lohnt sich«, sagt die Kanzlerin im Jahr 2017, »von unserer Seite sich nach Kräften für die deutsch-türkischen Beziehungen einzusetzen – auf der Basis unserer Werte, unserer Vorstellungen und in aller Klarheit.« So sieht Nullsummen-Talk aus. Vor allem Klarheit soll vermieden werden.
Die Kanzlerin ist es gewohnt, von ihren Gefolgsleuten bei diesem Prinzip der »strategischen Unklarheit« unterstützt zu werden. Und Deutschland hat sich daran gewöhnt, dass Verzögerung oder auch Verweigerung von klaren Positionen als erfolgreiches Herrschaftsmodell gefeiert werden. Was ohnehin läuft, wie es läuft, wäre auch durch Positionsangaben nicht zu verändern gewesen, so die Überzeugung der Kanzlerin. Der logische Rückschluss lautet also: Merkel war auch bei Putins Krim-Annexion und bei seiner noch andauernden Eroberung der Ukraine von Anfang an überzeugt, dass ernsthafter Widerstand gegen das neue Imperatorenprofil des Russen keinen Erfolg gehabt hätte – außer einer Loserrolle für die Putin-Gegner. Dergleichen hat Merkel in ihrer politischen Karriere immer vermeiden können. Niemand konnte ihr erfolglose Aufbrüche nachweisen.