Demons of Saint - Alexander Liebe - E-Book

Demons of Saint E-Book

Alexander Liebe

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Beschreibung

Michael Saint ist ein erfahrener, jedoch ausrangierter Ermittler, welcher Jahre zuvor bei der hiesigen Polizei im Morddezernat tätig war. Zu tief blickte er in den gesellschaftlichen Abgrund der Großstadt. Er hatte bereits vor einiger Zeit den Ausstieg gewählt und eine Privatdetektei eröffnet. Diese läuft eher schleppend und zwingt Michael einen minimalistischen und heruntergekommenen Lebensstil auf. Schwere Verbrechen stehen an der Tagesordnung von Detective Ryan Gantry, dem ehemaligen Azubi und Partner von Michael. Doch eine neue Mordserie, die ihm zugetragen wird, gleicht keiner Bisherigen. Der Mörder richtet über seine Opfer mit Hilfe von brutalsten, uralten Foltermethoden. Nebenher verlangt der Täter am Mordschauplatz, explizit durch offenkundige Nachrichten, die Fallermittlungen durch Saint höchstpersönlich durchführen zu lassen. Nachdem dieser von der Polizei als Berater hinzugezogen wird, überschlagen sich die Geschehnisse. Ein Mord brutaler und ominöser als der andere. Als Indiz wird jedes Mal ein Ahornblatt, eine persönliche Nachricht an Saint und der Name eines Dämons hinterlassen. Letzteres gibt Einblick, dass der Mörder auf einen heiligen Rachepfad unterwegs ist und seine Opfer nicht willkürlich auswählt. Sie dürften einen Bezug zu Saints Vergangenheit haben, welche nach und nach aufgedeckt wird. Je näher die Ermittler dem Mörder kommen, desto stärker zeichnet sich ab, dass dieser entweder unter Wahnvorstellungen leidet, es sich doch um dämonische Kräfte handelt oder sogar Michaels totgeglaubter Bruder Sebastian selbst persönliche Rache übt. Die Morde werden dabei stets aus Sicht des Mörders dargestellt, dessen Identität bis zum Ende verschleiert bleibt. Er ist gnadenlos und zielstrebig und sieht sich als Erlöser im heiligen Auftrag gegen Dämonen in Menschengestalt. Kurz vor deren Hinrichtung verwandeln sich seine Opfer stets in einen Dämon und der Jäger wird zum Gejagten.

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Alexander Liebe

Demons of Saint

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Belial

Kapitel II

Strigoi

Kapitel III

Lilith

Kapitel IV

Azazel

Kapitel V

Draugr

Kapitel VI

Luzifer

Danksagung

Alexander Liebe

Demons of Saint

Thriller

† † †

Die Personen und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Autor:

Ing. Alexander Liebe MSc.

Hofwiese 66/3, A-2441 Mitterndorf an der Fischa

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag/Illustration: Julia Kößler

ISBN: 978-3-757-95882-4

Version: 2. Auflage

Kontakt:

Email: [email protected]

Facebook: Alexander Liebe

Instagram: _alexander.liebe_

© 2024 Alexander Liebe

für meine Tochter

Hannah

Kapitel I

Belial

Wieder dieser verdammte Raum. Dieser Mief, der ihm sofort wieder von der Nase bis ins Hirn steigt. Diese Optik, die sich schon so unwirtlich anfühlt. Diese bleierne Schwere in der Luft, welche das Atmen qualvoll macht. Wie oft war er schon hier gewesen? Wie oft schon an der Stelle Mal für Mal gesessen, sich die gleichen Gedanken gemacht. Unzählbar oft, wie es scheint. Man möge meinen, die Innenräume eines Psychotherapeuten werden von Hollywood und diversen Fernsehserien verrissen und oft klischeehaft dargestellt. Doch der Praxisraum von Dr. Boyle Freedman kommt sehr nahe an das Klischee heran.

Ein grüner durchgetretener Teppich untermalt die Trostlosigkeit in diesen Räumen hervorragend. Große, schwere, dunkle Holzmöbel zeugen von Vorlieben alter medizinischer Praktiken. Die abgenutzten Ecken und Kanten der Möbel deuten darauf hin, dass Dr. Freedman bereits viele Jahre in diesem Raum herumgeschweift und gelehnt ist. Wie viele unzählige Patienten er wohl aus allen Winkeln des Raumes begutachtet und diagnostiziert hat? In den Möbeln stehen Fotos und Porträts von Leuten, die direkt aus einem Werbespot herausgerissen zu sein scheinen. Haben Psychotherapeuten wirklich den Schlüssel zum glücklichen Leben? Ist das Studium der Psychotherapie der wahre Schlüssel, um das eigene Glück oder gar den Sinn des Lebens zu entdecken? Oder ist dies eine Farce, eine Aufführung für Patienten, wie ein schönes Leben sein könnte? Der Besprechungsraum eine Bühne, um dem Patienten innerlich zu suggerieren, dass er auch glücklich sein kann, wenn er sich nur genug anstrenge, um wieder gesund zu werden? Man weiß es nicht und will es eigentlich auch nicht wissen, oder? Ist dies nicht der Grund, wieso wir ins Theater und ins Kino gehen? Um der Illusion zu verfallen und nicht, um zu erkennen, wie die Bühnenstücke technisch funktionieren oder die Hintergründe der Filme per Greenscreen in Wahrheit gar nicht existieren. An den Wänden des viereckigen Raumes hängen unzählige eingerahmte Diplome und Auszeichnungen. Bereits nach der dritten gelesenen Urkunde ist man des Lesens müde und akzeptiert, dass der Mann, der einen hier therapiert, wohl renommiert und gut sein musste. Abschlüsse, besondere Forschungsergebnisse und Bekundungen der eigenen Arbeit sind es, auf welche Dr. Freedman tagtäglich von seinem Sessel aus schaut. Allerdings hängen auf der Seite hinter seinem Schreibtisch keine Rahmen mit besagtem Inhalt. Ob er wohl auf die eigenen Erfolge vom Sessel aus onaniert? Auch dies weiß man nicht und will man in Wahrheit auch nicht wissen.

† † †

„Michael, wo sind Sie gerade?“, durchbricht eine bekannte Stimme die Stille des Raumes. Michael wird tatsächlich aus seiner Denkphase herausgerissen. Dabei hätte er noch so viele nette und unfreundliche Anekdoten im Kopf zu diesem Raum und dessen Einrichtung. Na, was soll's, es gibt bestimmt ein nächstes Mal, um diesen Faden weiterzuspinnen.

„Nirgendwo besonders … ich denke nur vor mich hin!“, kam die plumpe, aber eigentlich ehrlich gemeinte Antwort. Ein tiefer Seufzer entweicht dem ach so gerade sitzenden Doktor gegenüber.

„Michael, Sie wissen, dass Sie aus einem bestimmten Grund hier sind“, kam es vom schweren Ledersessel aus geschallt. Michael war wieder geneigt, die Antwort plump zu halten, jedoch wusste er, dass Dr. Freedman sicherlich den längeren Atem haben wird, wenn es um langweilige Gespräche ging. Also versuchte er es mit der einfühlsamen Methode: „Ja, ich weiß, Dr. Freedman. Es ist nur, diese ständige Fragerei und Konfrontation mit dem Thema. Wie soll man es da verarbeiten, wenn man immer wieder die alte Suppe wie Gulasch aufwärmt? Irgendwann schmeckt es einfach nicht mehr.“ Dr. Freedman, ein dunkelhäutiger, adrett gekleideter Mann mit schwarzen Haaren und einer (klischeehaften) dicken, schwarzen Brille auf der Nase, sah etwas enttäuscht, aber durchaus verständnisvoll über seinen Brillenrand.

„Das mag sein, dass auch Gulasch nach ein paar Aufwärmungen nicht mehr schmecken mag. Aber man muss die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat, oder?“ Ach, immer diese Fragestellungen am Ende. Der Beweis, dass Therapeuten einem nicht helfen, sondern nur dorthin führen, wo man sich selbst helfen kann. Würg. Das ist wie nach dem Weg zu fragen und als Antwort zu bekommen, wo man hinlaufen müsse, um den Weg zu erfahren. Absurd, oder?

„Sie haben das Sinnbild gut gekontert, Dok“, entgegnete Michael, ohne den Arzt eines Blickes zu würdigen. Das kleine, aber doch süffisante Grinsen konnte er auch ohne hinschauen im Gesicht des Arztes erkennen.

Michael saß auf einer alten, braunen, gut stinkenden Ledercouch. Das nächste Klischee war bedient. Allerdings wird dies wohl in den vielen Jahren der Arbeit oft ausgetauscht worden sein, da das Leder gut gepflegt und neuwertig wirkt und die Federn noch hart sind. Wie viele wohl schon an der Stelle gesessen haben, wo Michael jetzt sitzt? Das wolle er sich gar nicht ausmalen. Welche Geheimnisse und dunkle Geschichten diese Wände wohl zu erzählen hätten. Affären, geheime Gelüste, Sünden, sogar Morde? Michael würde einiges daraufsetzen, dass hinter dem Dok und seinem Schreibtisch im Aktenkasten eine Menge strafrechtliche Geheimnisse zu finden sind, die jedoch unter dem Deckmantel der Schweigepflicht niemals das Tageslicht erblicken werden. Schade eigentlich …

„Nun gut! Dann fangen wir einmal mit dem üblichen Einstieg an, was halten Sie davon?“ Der übliche Einstieg … den kannte Michael so wie jeder andere Mensch, der einen Faible für Film und Fernsehen hatte.

„Wie geht es Ihnen heute, Michael?“ Und da war er schon, der einfachste und manchmal grausamste Satz der Welt. Die Frage, welche sich sowohl mit einem Wort als auch mit 1000 Sätzen beantworten ließ. Die Frage, welche die meiste oder auch die wenigste Empathie darstellen konnte. In diesem Falle war es Letzteres, da der Dok nur das eigentliche Thema in die Wege leiten wollte.

„So weit, so gut!“, retournierte Michael und wusste, dass es damit nicht erledigt war.

„Gab es in der letzten Zeit seit unserer letzten Sitzung Vorfälle oder besondere Erkenntnisse, von denen Sie mir erzählen möchten?“ Wir nähern uns der Kernfrage an.

„Da ich seit unserer letzten Sitzung in Arbeit untergehe und kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ich nicht viel Zeit, den Fall innerlich Revue passieren zu lassen, Dok!“ Das war schlichtweg gelogen. Es ist ein Irrglaube, dass erlebte Dinge in Vergessenheit geraten oder verdrängt werden können. Sie sickern lediglich ins Unterbewusste, wo sie im besten Fall schlummern oder im schlimmsten Fall genau dann herausbrechen und dir in den Arsch treten, wenn du es am wenigsten vermutest und brauchst. Auch hier war bei Michael Letzteres der Fall.

„Bedeutet dies, Sie wollen oder können sich nicht mit dem Erlebten auseinandersetzen?“, flog der Gesprächspfeil Richtung Michael. Dieser prallte jedoch ins Leere, als Michael sich plötzlich aufrichtete und entgegnete: „Hören Sie Dok, ich sehe tagtäglich in die Kloake dieser Großstadt und muss das aushalten. Wieso müssen wir darüber andauernd sprechen? Das hilft mir in keinster Weise weiter!“, fuhr Michael Dr. Freedman an. Die Gestik war wild und ausladend dabei. Wie es sich von einem professionellen Psychotherapeuten gehörte, was Dr. Freedman eindeutig zu sein schien, ließ er sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, er schien seinen Herzschlag bewusst zu verlangsamen, um die nachfolgende Reaktion exakt und genau ausdrücken zu können. Er blickte von seinem Notizblock auf, starrte Michael mit ruhigen Augen an, nahm seine Brille mit einem gekonnten Schwung von der Nase und sagte: „Michael … Sie wissen ganz genau, wieso es notwendig ist. Gerade in diesem Fall. Also lassen Sie diese Kinderei und das Herumgedruckse doch bitte sein und widmen wir uns Ihrer Heilung.“ Kinderei. Herumgedruckse. Welche Wortwahl. Und dann zum Schluss noch diese positive Formulierung, sodass man nichts wirklich Schlagkräftiges entgegnen könnte. Oh, wie er Rhetorik hasste. Aber gibt es eine Heilung für die Vergangenheit? Kann man Vergangenes wirklich einfach durch eine Epiphanie oder einen anderen Sichtwinkel auf Tatsachen heilen? Daran glaubte Michael weniger als daran, dass sein Lieblingsfootballteam dieses Jahr den Superbowl gewinnen würde.

Er lehnte sich wieder zurück auf die bequeme, wenn auch hart geratene Ledercouch. Das Knarzen des Leders unter seinem Gewicht untermalte nur die Tatsache, dass er, um aus dieser Psycho-Hölle herauskommen zu wollen, doch mitspielen musste. Schließlich war er auf die Unterschrift des Doks am Ende der Tage angewiesen. Ein tiefes Ausatmen folgte. Danach, die wohl offensichtliche Frage seitens Michael: „Wieso glaubt der Chief, dass dieser Fall etwas Besonderes darstellt, das therapiewürdig ist?“

„Was meinen Sie?“, kam es trocken von den Lippen von Dr. Freedman. Michael wusste natürlich die Antwort, so absurd sie auch zu sein schien.

„Wieso wird gedacht, dass ein Ereignis, das knapp 20 Jahre in der Vergangenheit zurückliegt, Ursache für Probleme in der Gegenwart sei? Haben Probleme keine Verjährung im Kopf?“

„Im Kopf vielleicht schon“, sagte Dr. Freedman, „Aber im Unterbewusstsein schleppen wir den ganzen Ballast aus der Vergangenheit andauernd mit. Das kann durchaus dazu führen, dass vergangene Ereignisse Gefühle und Emotionen hervorbringen, die damit verlinkt sind. Und wenn diese Gefühle und Emotionen zum unpassenden Zeitpunkt bei der unpassenden Person hochkommen, kann das schlimme Folgen haben“, und deutete dabei mit der heruntergenommenen Brille auf Michaels Hüfte. Die Glock G17, die dort sicher im Holster hing und mit auf der Couch ruhte, war gemeint. Michael sah von der Waffe auf und konnte dem Dok nur im Vorbeisehen in die Augen schauen.

„Das ist der Grund, wieso der Chief Sie zu mir geschickt hat. Es geht bei Ihnen um beides: Ihr eigenes Seelenwohl und das Wohl Ihrer Mitmenschen.“ Als ob Michael in einem Wutanfall wild herumschießen würde. Die einzigen beiden, die er gerade erschießen wollte, war der Dok und anschließend sich selbst … sinnbildlich gemeint natürlich. Er lenkte ein: „Okay, dann reden wir eben über den Fall. Was wollen Sie wissen?“

„Was möchten Sie mir denn davon erzählen?“, kam die einstudierte Retournierung des Mannes mit Doktordiplom.

„Eine Messerstecherei wie jede andere auch … nichts Besonderes. Na ja, äußerst blutig, weil das Messer gut gezielt traf, aber sonst …“ Der fade Beigeschmack, den Michael hinzufügen wollte, war beabsichtigt, um den Dok nicht die Genugtuung zu geben, dass es tatsächlich ein sehr aufwühlender Tatort war.

„Das klingt wenig einschneidend. Meinen Sie nicht, dass ein Mensch, der mit insgesamt sieben Messerstichen getötet wird, etwas mehr Aufmerksamkeit und Empathie verdient hat?“, fragte der Arzt, als hätte er noch nie einen Actionfilm oder die täglichen Nachrichten gesehen. Michael konnte wiederum den Blickkontakt nicht halten. Was sollte er dem Dok erzählen? Natürlich sind derlei Dinge grausam und schrecklich. Aber es steckt in der Natur des Menschen, aufgrund täglicher Konfrontation mit derlei Dingen abzustumpfen. Der Schlächter weint ja auch nicht jedem Schwein nach, das er absticht. Irgendwann greift der Selbsterhaltungstrieb, und der natürliche Ekel und die Scheu werden bewusst und unbewusst abgelegt. Das müsste ein Mann vom Fach doch wissen, oder? Dennoch fühlte sich diese Antwort nicht richtig an. Michael hatte sich scheinbar doch über die Jahre in dieser Branche einen Funken Positivismus erhalten, um Anteilnahme zeigen zu können: „Sie haben recht, Dok, es ist eine schlimme Sache und ihr sollte mehr Beachtung geschenkt werden. Sie werden verstehen, dass das tägliche Arbeiten mit solchen … Schauplätzen … und Angelegenheiten … einer gewissen Abhärtung bedarf. Man braucht zum Lösen solcher Fälle eine dicke Haut, damit der Blick nicht von den Tatsachen zur Aufklärung abgelenkt wird.“ Gut gemacht, Mikey. Klang zwar etwas einstudiert, aber der Dok wird es sicherlich fressen. Jetzt spielten Sie auf gleichem Niveau. Der Dok lehnte sich sichtlich entspannter wieder in den Sessel und begann auf der Brille herumzukauen, die er immer noch in der Hand hielt.

„Das kann ich natürlich nur im Ansatz verstehen, da ich nur erahnen kann, wie es ist als Detektiv für das Morddezernat tätig zu sein“, eröffnete Dr. Freedman ehrlicherweise.

„Dennoch stellt sich mir die Frage, ob Sie nach Anblick einer solchen Tathandlung nicht auf eigene, privat erlebte Ereignisse rückschließen. Kam bei Ihnen denn gar nichts in diese Richtung hoch?“ Michael verneinte mit einem mechanischen Kopfschütteln: „Nein, Dok. Alles prima hier drinnen! Die Sache ist mehr als zwanzig Jahre her und war ja auch aktenkundig ein Unfall. Wieso sollte ich da eine Verlinkung herstellen?“

„Man weiß ja nie, Michael. Unser Gehirn schließt die wildesten Verknüpfungen, wenn es das möchte. Und dass es sich ebenso um ein Kind gehandelt hat, lässt Sie auch kalt?“ Kalt lassen? Eine gestresste, alleinerziehende Mutter, die von ihrem Freund geschlagen wird, leicht drogenabhängig von Koffeintabletten geworden ist und das eigene hyperaktive, spielende Kind in einem Akt des Wahnsinns mit sieben Messerstichen mit einer 20 Zentimeter langen Klinge niederstreckt? Kalt wäre hierbei der falsche Ausdruck. Anteilnahme und Verständnis sind grundlegende Dinge, die man relativ rasch im Polizeidienst ablegt. Entweder das oder sie machen dich in einer Großstadt, in der die Kriminalitätsrate enorm hoch und die Reich-Arm-Schere immens ist, nur fertig.

„Kalt lässt es mich nicht, Dok. Aber ich hätte es weder verhindern noch abmildern können. Es ist, wie es ist. Es gibt Menschen, die in manchen Situationen einfach das Falsche tun, Menschen, die einfach böse sind und Menschen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Genau mit diesen Menschen habe ich am meisten zu tun. Sich darüber zu ärgern oder in Verzweiflung auszubrechen, hilft einem nicht.“

„Das sind wohl die ersten wahren und intelligenten Worte, die ich heute von Ihnen vernehme, Michael“, sagte der Arzt mit einer gewissen Erleichterung.

„Wie geht es Ihnen denn sonst so Michael? Belastet Sie der Job aktuell sehr? Sie haben vorher erwähnt, dass Sie oftmals gestresst sind“, leitete Dr. Freedman das Gespräch nun um.

„Gestresst ist man in vielen Jobs, Dok. Ja, in letzter Zeit nahmen die Fälle etwas zu und die Nächte wurden kurz. Aber sonst ist es nur der übliche Wahnsinn.“

„Die Nächte werden kurz? Wie kurz? Raubt Ihnen der Job und die Erlebnisse darin den Schlaf?“, stichelte der Psychodok prägnant nach. Michael erinnert sich zurück. Seit seiner neuen Tätigkeit als Berater für das hiesige Morddezernat, war er eigentlich überzeugt gewesen, dem Stress entkommen zu sein. Die eigene Detektei zu öffnen, sich die Fälle selbst aussuchen zu dürfen und niemandem untergeben zu sein, oder Rechenschaft zollen zu müssen, waren ja die Hauptgründe seines beruflichen Wandels. Was ist nur daraus geworden? Nach all den Jahren war er wieder in dieselben Denk- und Arbeitsschemen hineingefallen. Mehr Arbeit … noch dieser eine Fall mehr … hier kannst du Gutes bewirken, Leuten helfen. Bullshit de luxe. Die Aufklärungsquote seiner Fälle kratzte an der zweistelligen Prozentzahl und viele nicht abgeschlossene Fälle lagen in seinem Büro oder in dem darin befindlichen Aktenschrank herum. Denn was man oft nicht gelehrt bekommt, ist die Tatsache, dass Mordfälle sehr wohl ein Verfallsdatum haben. Entweder verschwinden oder vergilben Beweismittel mit der Zeit. Tatorte können nicht ewig konserviert werden. Leichen können nicht endlos betrachtet werden. Sogar das Gedächtnis von Zeugen hat eine gewisse Halbwertszeit. Wenn ein Fall also nicht innerhalb der ersten Tage in dessen Erkenntnissen massiv voranschreitet, ist er oftmals bereits zum Scheitern verurteilt. Das bedingt viele schlaflose Nachtstunden, wenn man erreichen möchte, dass wie im Falle von Timothy Dalton, der Fall aufgeklärt wird. Obwohl hierbei der Sachverhalt eindeutig war, müssen die Ermittlungen hieb- und stichfest sein, bevor man die weinende Mutter neben der Leiche ihres Sohnes des Mordes verdächtigt und festnimmt. Zugegeben, eine unbequeme Wahrheit. Aber die einzige Wahrheit, mit der Michael klarkommt. Diese Wahrheit hat ihm neben unzähligen Stunden erholsamen Schlaf, zwei Ehen, eine Menge Geld, eine drohende Leberzirrhose und circa 20 Jahre seines Lebens gekostet. War es das wert gewesen? Für diese Frage saß er zwar aktuell im richtigen Zimmer, war aber die Zeit noch nicht gekommen.

„Blasen Sie es nicht auf, Dok. Ich schlafe derzeit einfach wenig und wenn, dann wenig erholsam.“ Bei dieser Aussage strich sich Michael mit der Hand über die Augen, welche zu viel knirschten, als nicht müde zu wirken. Ein motivierender Klaps auf den Kopf rundete die Motivationsphase an sich selbst ab. Er rang sich sogar ein (wortwörtlich) müdes Lächeln ab, um den Dok von diesem Thema abzulenken. Plötzlich das erlösende Piepsen. Der Dok hatte sich zur Wahrung der Sitzungszeiten immer die Smartwatch am Handgelenk gestellt, welche jede Stunde in der jeweils fünfzigsten Minute einen Signalton von sich gab, um anzuzeigen, dass die Sitzungseinheit beendet war. Michael ließ sich nichts anmerken. Er war jedoch sichtlich erleichtert, die nächsten zwei Wochen seine Ruhe vom Seelenklempner zu haben. Der Psychotherapeut gegenüber stellte die Uhr mit einer gekonnten Handbewegung ab und war sichtlich nicht zufrieden. Gerne hätte er wohl das Thema noch vertieft und wäre auf die Grundprobleme vorgedrungen, die Michael wohl so gut verborgen hatte.

„Sie wissen, was das heißt, Michael! Leider ist die Sitzungszeit schon wieder vorbei.“ Auch jetzt konnte Michael seine Miene eisern halten.

„In zwei Wochen zur gleichen Zeit wieder, Dok?“, spulte er seinen üblichen Standardabschlusssatz herunter.

„Die Anordnung des Chiefs besagt, dass wir uns alle zwei Wochen sehen sollten. Also ja, bitte in zwei Wochen wieder zur gleichen Zeit, wenn das für Sie passt.“

„Alles klar!“, schloss Michael überhastig das Gespräch ab und begab sich in die Senkrechte. Die Knie knacksten gleich wie die Ledercouch zuvor. Ein Zeichen des Alters und dass er auch getauscht werden musste? Ohne Verzögerung und auf den Arzt zu warten, setzte er sofort Kurs auf die einzige und naheliegende Ausgangstür aus dem Raum. Idealerweise in Weiß gehalten, um das Sinnbild der erlösenden Wirkung, wenn man diese durchschritt, zu verdeutlichen. Als Michael die Klinke bereits in der Hand hielt, ergriff ihn plötzlich der Arzt an der Schulter. Wie war er so schnell und leise aufgestanden und herübergekommen? Ist er insgeheim Ninja-Worrior-Anwärter? Oder hat er eine Vergangenheit mit leisem Diebstahl hinter sich? Rassismus lässt grüßen, Michael.

„Michael, zwei Dinge noch bevor Sie gehen!“, eröffnete Dr. Freedman mit schwerer Stimme.

„Was denn noch, Dok? Ich denke nicht, dass der Chief für die Überstunden zahlen möchte, die Sie gerade leisten!“

„Wenn Sie ein totes Kind, von der eigenen Mutter erstochen, menschlich nicht mehr berührt, dann sind Sie schlimmer dran, als Sie eigentlich denken!“ Michael erkannte die Ehrlichkeit und auch Ernsthaftigkeit in den Worten des Doktors und entgegnete ihm mit einer heruntergeschluckten Antwort: „Und das Zweite?“

„Passen Sie auf, dass der Schlafentzug nicht zum Problem wird. Sollte es schlimmer werden, suchen Sie bitte einen Arzt auf!“ Auf diesen ärztlichen Rat hin konnte sich Michael ein müdes Grinsen nicht abringen. Er wendet sich wieder der Ausgangstür zu: „War es das, Dr. Freedman? Kann ich gehen?“

„Ja, das war es. Ich hoffe, dass für Sie die kommenden Wochen stressloser verlaufen. Machen Sie es gut, Mr. Saint!“

† † †

Die Fahrt heim war für Michael gespickt von Regen, kaltem Kaffee von der Tanke und einer Zigarette, die er genüsslich inhalierte. Es war einmal wieder so eine Nacht. Eine Nacht, in der man sich vor der Welt verstecken wollte. Unheil drohte unvermeidbar an jeder Ecke in dieser Gegend. Was war aus seiner Heimatstadt nur geworden? Oder war sie schon immer so und er erkannte es nicht? Durch die Verzerrung des Regens an der Frontscheibe seines Dodge Chargers konnte er beim Fahren gerade so viel erkennen, um noch Passanten und Hindernisse zu umschiffen und wenig genug, um das Elend seines Viertels nur noch schemenhaft erkennen zu können. Die ideale Kombination. Nach der nun x-ten Sitzung bei Dr. Freedman war er erneut zu dem Entschluss gekommen: Darüber reden hilft wenig. Die Tagesereignisse eines Privatdetektivs, welcher hauptsächlich wegen seiner langjährigen Erfahrung beim Morddezernat ausschließlich für Mordfälle engagiert wurde, immer wieder durchzukauen, ist scheinbar der falsche Ansatz, um das Gesehene vergessen zu können. Mr. Walker und Mr. Daniels hatten da schon mehr Erfolg. Die viertelstündige Fahrt zurück zu seinem Appartement und Kanzlei zugleich fühlten sich an wie eine halbe Ewigkeit, vor allem, wenn man in Gedanken mit sich selbst beschäftigt war. Als Michael bei einer Ampel zu stark auf die Bremse stieg, kullerte laut raschelnd eine runde Medizinverpackung unter dem Beifahrersitz hervor. Er hob sie auf. Die darin enthaltenen Koffeintabletten hatte er vor Jahren als leistungssteigernde Zusätze für das Krafttraining genommen. Gott, war das lange her. Genauso verbraucht, wie sein Körper jetzt, klang auch der Wagen, als er wieder von der Kreuzung weg beschleunigte, begleitet vom Hupen des nächtlichen Großstadtverkehrs.

† † †

Daheim angekommen vernahm Michael wieder sofort den heimischen Gestank, welchen man nach Jahren des Einatmens fast nicht mehr wahrnahm. Apartment 36C – Michael Saint – Privatdetektiv prangte auf der weißen Eingangstür, welche förmlich darum bettelte, neu bestrichen zu werden. Das Apartment war kaum größer als eine Schuhschachtel. Ideal, um mit sich selbst nach einer Scheidung fertig zu werden. Neben dem kaum erwähnenswerten winzigen Schlafzimmer wurde das einzige Extrazimmer in ein Büro umgemünzt, um der Arbeitsstätte für mögliche Klienten ein Gesicht zu geben. Nicht, dass es in den letzten Jahren dazu gekommen wäre, aber dennoch wollte Michael für den Fall der Fälle gewappnet sein. Der Hauptraum war besetzt von einer Couch, welche auch manchmal als Bett fungierte, einem Couchtisch, der voll geräumt am besten aussah, einer mager eingerichteten Küche und dem Zentrum der modernen Menschheit, einem Fernseher. Der Fernseher begleitete Michael schon mehrere Jahre durch mehrere Ehen und hatte bereits Kinderstatus für ihn erreicht. Das Einzige, das ihm nicht in all den Jahren fremdging oder übers Ohr gehauen hatte. Das alte Teil hatte immer prächtig funktionierte und seinen Job gemacht. Sollte er sich den Fernseher zum Vorbild machen? Ach, Unsinn. Er ließ den nassen Mantel direkt an der Eingangstür hängen, warf den Rucksack in eine beliebige Ecke und versank sofort im Sofa. Herrliches Gefühl, von Echtleder auf Verbrauchsstoff zu wechseln. Da fühlte man sich gleich wieder heimisch. Das vermeintlich letzte Aufzucken der Augenlider verleitete Michael dazu, auf dem Couchtisch die Akte von Timothy Dalton zu entdecken. Der Kaffeekreis darauf markierte diese eindeutig. Überfallen von einer depressiven Welle, begann Michael noch einmal über den Fall nachzudenken, obwohl er ihn am morgigen Tag aufs Dezernat zum Abschluss und zur Archivierung vorbeibringen sollte. Das Interessante am Fall war, die Bitte der Großmutter des Jungen, den Fall nicht als Affekthandlung der Mutter abzutun. Diese hatte nämlich bereits längere Zeit den gewalttätigen Freund der Mutter in Verdacht, den Sohn zu misshandeln. Auch, wenn die Mutter kein „frommes Lamm“ war (Michael glaubte, so waren die exakten Worte der Großmutter bei der Befragung) hätte sie ihrem geliebten Timothy niemals so etwas antun können. Michael zwang seinen linken Arm, die Akte vom Tisch zu nehmen. Da der Winkel zum Lesen ungünstig schien, musste er sich aufsetzen. Kein Lederknarzen in diesem Fall. Nur das wohlig warme und bekannte Geräusch von gar nichts, als er wieder in der Senkrechten war. Gekonnt schwang er die Akte mit einer Hand auf, während die andere Hand schon fast instinktiv nach dem Kaffeebecher auf dem Couchtisch griff. Der Inhalt war weniger als genießbar und verleitete Michael dazu, kurz zu husten.

„Na Hauptsache er wirkt noch …“, murmelte er mit der Akte in der Hand, in welche er gerade hineinsah. Zugegeben, war die Akte nicht dick. Viel konnte man auch dem Fall nicht abgewinnen. Ein Nachbar hatte Geräusche häuslicher Gewalt vernommen und die Polizei gerufen. Vorgefunden wurden ein erstochenes Kind, eine hysterische Mutter und ein Mann, der relativ gefasst auf der Couch saß und vor sich hinstarrte. Die Mutter war dermaßen alkoholisiert und zugedröhnt, dass sie sich bei der Einvernahme an nichts mehr erinnerte. Jedoch brach sie unter der Last der möglichen Schuld zusammen und war sichtlich am Ende. Der Freund der Mutter hatte ausgesagt, im Nebenraum ferngesehen zu haben, als plötzlich Schreie und laute Geräusche aus dem Wohnzimmer drangen. Unter den Umständen, dass das Appartement klein und heruntergekommen war, durchaus realistisch denkbar. Als er ins Zimmer kam, war die Tat schon vollbracht und der Sohn seiner aktuellen Liebesbeziehung lag tot am Boden. So stand es im Bericht und so würde es auch in die Akten eingehen. Da die Mutter die Vorwürfe nicht entkräften konnte, wird es wohl auf Totschlag hinauslaufen. Die Jahre im Gefängnis werden nichts gegen die Schuldgefühle sein, die sie haben wird, den eigenen Sohn in einer Affekthandlung ermordet zu haben. „Shit Happens“, wäre wohl der ansatzlose schwarze Humor an dieser Stelle.

Jedoch plagte Michael in diesem Fall von Beginn an zwei Fragen: Wieso reagierte der Nachbar auf kurze, laute Geräusche mit einem Polizeianruf? Normalerweise musste der Streit schon lauter und länger andauern, ehe man einen harmlosen Streit zwischen Liebenden zur häuslichen Gewalt erklärte und die Polizei rief. Der ältere Nachbar wirkte recht bodenständig und nüchtern, was das anbelangte. Und zweite Frage: Wieso hatte der Mann keinen einzigen Blutstropfen am Gewand? Auch, wenn es nicht der leibliche Sohn war, versuchte man dennoch aus Nächstenliebe oder Menschlichkeit zu helfen und berührt Frau und dessen Sohn, oder nicht? Aber er war blitzeblank. Selbst die weißen Socken sahen taufrisch aus. Obwohl er durch das blutüberströmte Wohnzimmer marschieren musste. Fände man im Wohnzimmer seine Freundin mit einem Messer über deren Sohn gebeugt, dann wäre es doch keine normale Handlung, sich gegenüber im Raum auf eine Couch zu setzen. Und das geschlagene 22 Minuten, bis die Polizei eintrifft. Hatte er sich in der Zwischenzeit umgezogen? Die blutbefleckte Mutter lag quasi neben ihrem Sohn in der Blutlache, weinend. Dass diese mit Blut überströmt war, war klar. Aber er? Sollte er diese Bedenken dem Chief morgen melden? Ach, Michael wusste schon, was er zu hören bekäme. Verschwendete Ressourcen und Mittel waren immer schlagkräftige Argumente gegen ihn in solchen Fällen. Und zumeist hatte der Chief damit recht.

„Ockhams Rasiermesser“ war der Leitspruch von Polizeichef McMullan: „Die naheliegendste Lösung, ist immer die einfachste!“ Welche ja auch im Großteil der Fälle zutraf. So Michaels Erfahrungen. Entgegen Hollywood-Thrillern und Autorenfantasien waren Morde oder Verbrechen generell sehr einfach gestrickt. Ein Großteil passierte im Affekt. Dies waren die einfachsten, weil man mit keiner Beweismittelverfälschung rechnen musste. Sprich, die Beweise lagen zumeist wortwörtlich auf der Hand. So wie zum Beispiel die Mordwaffe. Geplante Morde waren dahin gehend schwieriger, weil Mörder natürlich alles daran setzten Beweise zurückzuhalten oder so zu manipulieren, dass es niemals sie treffen könnte. Dabei passierten den üblichen „Neumördern“ ungemein viele Fehler und sie wurden trotzdem überführt. Sie versuchten zumeist alles rein zu halten. Keine Beweise in irgendeiner Art zurückzulassen, in der Hoffnung, die Fahndungskräfte ließen mit der Zeit davon ab. Faktum ist allerdings, je weniger Beweismittel es gab, desto mehr Zeit kann man sich damit beschäftigen. Der wahre Weg, einen Mord in der heutigen Zeit ungeschoren zu verüben wäre, den Tatort mit möglichen Beweismitteln regelrecht zu überschwemmen. Das überfordert die Fahndungskräfte und liefert ihnen so viele Ansatzpunkte, dass der Fall zumeist zu komplex wird und im Sande verläuft. Gepaart mit der Tatsache, dass Tatorte Ablaufdaten haben, ist dies die Quintessenz von Michael, welche er in den Jahren der Mordaufklärung gewonnen hatte. Wieso also den Stress und den Aufwand riskieren, mit dem Chief? War es das wert? Mit einem innerlichen „Nein“ schlug er die Fallakte wieder gekonnt zu und warf sie auf die einzige freie Ecke am Couchtisch. Er würgte den letzten Schluck kalten Kaffee, welcher mindestens drei Tage alt war, hinunter und legte sich erneut auf die Couch. Ausziehen war unnötig, denn er würde gleiches Hemd und Hose morgen aufs Dezernat erneut anziehen. Er lag mit einem Arm über dem Kopf und einem Fuß am Boden auf der Couch, welche für seine Körpergröße perfekt geformt war. Das dreckige Weiß der Decke war das Letzte, das er an diesem Tag sah, ehe er die Augen schloss.

† † †

Wieso gerade heute. Es sah am Vormittag und zu Mittag keineswegs nach Regen aus. Auch der Wetterbericht hatte Gegenteiliges besagt. Und nun goss es in Strömen. In der Dunkelheit und den vereinzelt brennenden Laternenlichtern eine Szene, die ihm grundsätzlich gefiel, jedoch für sein heutiges Vorhaben mehr als nur nachteilig war. Stunden hatte er bereits an der Bushaltestelle verbracht und gewartet. Scheinbar hatte er dieses Mal einen Bus versäumt. Normalerweise war er immer pünktlich. Zumindest war er das in den letzten Wochen, wo er ihn still und heimlich beobachtet hatte. Jeden Donnerstag nach seinem Abendschulkurs in Englisch stieg er in die naheliegende Buslinie und stieg exakt um 22:52 Uhr an dieser Bushaltestelle aus. Zugegeben war die Busfahrt seines Zieles lange und mühsam. Und er müsste anschließend auch noch von der besagten Haltestelle gute 20 Minuten durch das verlassene Industriegebiet gehen. Es hätte viele „bequemere“ Orte und Zeitpunkte gegeben. Aber dieser hier war einfach am sichersten von allen. Perfekt für sein Vorhaben. Die Verzögerung seines Zieles machte ihm grundlegend nichts aus, je später es wurde, umso besser, lebloser die Szenerie. Jedoch war er es nicht gewohnt zu warten. Und konnte es schon gar nicht leiden, wenn man ihn warten ließ. Nicht, dass sein Ziel wusste, dass jemand auf ihn warten würde. Dennoch stieg eine kleine Wutblase deswegen in ihm auf. Wenigstens konnte er unter der schäbigen Bushaltestelle im Trockenen sitzen und gemütlich darauf warten, dass die örtlichen Buslinien ihm sein Ziel näherbrachten. Praktisch. Das bewies, dass gute Planung durchaus eine Arbeitserleichterung sein kann. Er wurde plötzlich aus seinen abschweifenden Gedanken gerissen, als die Dunkelheit durch zwei helle Lichtkegel geteilt wurde. Von der vor ihm liegenden Hauptstraße bog ein optisch bekannter Linienbus in die Seitenstraße ein. Die Lichtkegel drehten sich behäbig in der Dunkelheit und erfassten den durch und durch schwarz angezogenen Mann an der Haltestelle nur kurz. Er musste die Augen zusammenkneifen, um nicht allzu sehr geblendet zu werden. Eine gute Sehkraft würde er noch brauchen. Die Lichtkegel wurden wieder starr und begannen sich anzunähern. Der dahinterliegende Linienbus war nun nur mehr schwer zu erkennen und nur noch zu erahnen. Aber er näherte sich in der hier vorgeschriebenen Geschwindigkeit. Die Gestalt an der Bushaltestelle ließ sich nichts anmerken und bewegte keinen Muskel. Er lehnte schräg an der Glasscheibe des Häuschens. Ein Fremder hätte ihn wohl als schlafend abgeschrieben. Der Bus wurde lauter und näherte sich indessen der Haltestelle. Ein träger Schwenker von der Straße in die Haltestellenbucht und quietschende Bremsen läuteten die Ankunft des Personentransportmittels ein. Der Bus kam schrill in den Ohren zum Stehen. Durch die erhöhten Glasscheiben konnte man dumpfes Licht scheinen sehen, jedoch lehnte nicht wie in der Rushhour an jedem Fenster ein Mensch. Der Bus war leer. Na ja, fast leer. An der hinteren Seite öffnete sich mit einem Zischen die Schwenktüre. Ein Mann trat heraus. Auch er vorwiegend dunkel gekleidet. Er zog sich beim Aussteigen die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, um einen minimalen Schutz gegen den Platzregen zu erhalten. Kurz konnte er sein Gesicht erkennen. Er war es. Verspätet, aber er war es. Das Vorhaben konnte also wie geplant stattfinden. Das Ziel ging festen Schrittes am Bushäuschen vorbei, die Straße entlang. Der Busfahrer wartete noch 2 Minuten, ob die Gestalt an der Bushaltestelle eine Regung machte, einzusteigen. Gab auf, nachdem keine Reaktion kam und drückte wieder aufs Gas. Während der Bus aus der Haltestellenbucht herausfuhr, schloss sich die hintere geöffnete Türe wieder und der Bus verschwand in der Dunkelheit, wo er hergekommen war. Langsam drehte die Person an der Haltestelle den Kopf und sah, dass sein Ziel bereits mehrere Meter voraus die nasse Straße entlang marschierte. Tief einatmend, stand die Person auf. Beim Ausatmen konnte man den Nebel von seinem Hoodie aufsteigen sehen. Es war so weit. Zeit, den Dämon zu stellen. Er drehte sich nach rechts und begann ebenfalls in die Richtung seines Zieles zu marschieren.

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Mehrere Minuten Gehzeit waren vergangen und sein Ziel hatte wohl keine Ahnung, dass es verfolgt wurde. Gemächlich ging er seinen gewohnten Donnerstag-Weg, welchen der Verfolger auswendig kannte. Tagelang hatte er sich den Heimweg seines Zieles eingeprägt und studiert. Manchmal ging er eine Abkürzung, jedoch würde dies nichts ausmachen. Er hatte vor, das Ziel an einer immer üblichen Stelle zu überraschen. Der ideale Punkt für sein Vorhaben. Der Regen wurde stärker. Ein Wunder, dass er das noch konnte. Man sah bereits nach mehreren Metern nur noch schemenhafte Umrisse. Das Hauptbild war von Regentropfen dominiert. Auch die Geräuschkulisse wurde von dem Prasseln des Regens auf allen möglichen Oberflächen dominiert. Wellbleche, Beton, Metall oder einfach Wasser, dass sich bereits auf Straßen und Gehsteig sammelte. Alles in allem eine schaurige Kulisse. Könnte direkt aus einem Edgar Ellen Poe Roman entsprungen sein. Ideal für die heutige Nacht. Der schemenhafte Umriss seiner Zielperson reichte ihm aus, um die Fährte nicht zu verlieren und den Abstand einzuhalten, sodass dieser nichts merkte. Er konnte erkennen, dass dessen Hoodie, Jeans und vermutlich auch Schuhe bereits durchtränkt waren. Genauso wie seine eigenen Klamotten. Der Rucksack, den das Ziel mit sich führte und um eine Schulter geschwungen hatte, wog vermutlich ebenfalls schon 1 bis 2 Kilogramm mehr vom Regen. Vermutlich waren darin Schulbücher, Schreibzeug und etwas Alkohol enthalten, um den langen Arbeitstag samt Schulabend die Kehle hinuntergleiten zu lassen. Nicht, dass er ein Alkoholiker war. Jedoch wurde gerade sein Englisch im Schulunterricht durch den ein oder anderen Schluck Bourbon zuvor … na sagen wir einmal flüssiger. Wieso musste man auch Englisch als Schulfach besetzen? Das verstand er bei seinen Beobachtungen zur Zielperson so gar nicht. Gerade heutzutage ist es doch das Einfachste den Fernseher einzuschalten, einen englischsprachigen Sender oder Film zu finden oder gar zu streamen und seine Kenntnisse klassisch „Learning by Doing“ zu verbessern. Aber nein, dieser Herr besuchte dazu einen Nachholkurs der örtlichen Hochschule, um sich weiterzubilden. Als ob Englisch allein schon jemandes Karriere vorangebracht hätte. Wäre wohl besser gewesen, er hätte ein betriebswirtschaftliches oder technisches Fach belegt. Das hätte ihm etwas gebracht. Aber wie in seinem restlichen Leben, hatte er bislang nie hoch nach den Sternen gegriffen und immer nur kleine Ziele verfolgt. Nicht, dass er erfolglos war in seinen kleinen Vorhaben. Aber ein paar höhere Ziele tun doch immer gut, um nicht aus dem Drive des Lebens zu geraten, oder? Na egal. Das war ja im Grunde nicht sein Problem und schon gar nicht der Grund, wieso er hier war. Er hatte anderes vor. Wie gewohnt bog sein Ziel, nun fast an der Hälfte seines Weges angekommen, links in eine kleine Quergasse ab. Diese führte direkt an den dort damals ansässigen Fabriksgebäuden vorbei. Vor einigen Jahrzehnten brummte hier die Industrie. Firmen über Firmen waren hier ansässig und produzierten und vertrieben ihre Produkte. Seit der hiesigen Krise am Wirtschaftsmarkt waren viele Firmen gezwungen, dicht zu machen und abzuwandern oder generell das Geschäft zu schließen. Die Arbeitslosigkeit stieg hierzu in der Gegend in schwindelnde Höhen und führte dazu, dass auch andere Firmen abziehen mussten, aufgrund ausbleibender Absätze. Die Stadt hatte dem nicht entgegengewirkt und so kam es, dass dieses Viertel mehr einer Geisterstadt als einer belebten Großstadt glich. Die großen Fabrikhallen wurden oftmals von heute auf morgen ihrem Schicksal überlassen. Die darin befindlichen Maschinen und Lager wurden einfach zurückgelassen. Ein Paradies für jeden Jugendlichen oder Gangs, die sich ein Revier zum Rumhängen suchten oder einen Platz, um Unfug zu treiben. Dies war das größte, nicht einschätzbare Risiko für ihn. Ein dahergelaufener, nicht planbarer Jugendlicher konnte alles zunichtemachen, was er vorhatte. Deswegen wartete er ab, bis das Ziel die entsprechende Position hatte, in dem fast kein Jugendlicher in der Nähe zu sein schien. Nur noch ein paar Meter, dann war es so weit.

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Heute war irgendwie ein beschissener Tag. Zuerst hatte ihn sein Chef im Büro angeschrien und dann hatte es im Englischkurs plötzlich einen Überraschungstest gegeben, in dem er wieder einmal völlig versagt hatte. Nun zahlte er gutes Geld, um sich ein wenig weiterzubilden und nicht einmal das klappte auf Anhieb. So ein Ärgernis. Der Heimweg schien heute gefühlt länger zu sein als sonst. Der Regen und der versäumte Bus, weil er nochmals mit der Lehrerin wegen der Gewichtung des Überraschungstests diskutieren wollte, machte das ganze Gefühl nicht besser. Er konnte nur darauf warten, heimzukommen, seine nassen Klamotten auszuziehen und sich mit ein oder zwei Gläsern Bourbon in den Schlaf zu wichsen. Glorreicher Abschluss eines glorreichen Tages. Na, wenigstens war bald Wochenende. Das bedeutete exzessiveres Trinken und Onanieren zugleich. Andere Pläne hatte er nicht. Gewohnt bog er links in die Nebengasse ein. Heute nahm er fix die Abkürzung, da er keine Lust hatte im Regen weite Strecken zu gehen. Gedanken versunken übersah er eine am Boden liegende Dose und stieg unbeabsichtigt darauf. Er konnte zwar einen kompletten Ausrutscher verhindern, ging jedoch mit einem Knie zu Boden. Das durchtränkte seine Hose noch mehr als bislang in einer Pfütze aus Regenwasser, Öl, Dreck und vermutlich Urin von einem Penner oder Jugendlichen, der sich in der Nähe wohl erleichtert hatte. Er raffte sich wieder auf und schüttelte (obligatorisch) seine Hose aus. Dabei blickte er für einen Bruchteil zurück auf den Weg, den er gekommen war. Mehrere Meter entfernt stand eine Person im Regen. Regungslos. Mit den Händen in der Bauchtasche seines Hoodies vergraben und blickte ihn an. Die Tatsache, dass der Mann sich nicht rührte und direkt in seine Richtung starrte, machte ihn nervös. War er schon die ganze Zeit hinter ihm? Wurde er beobachtet oder gar verfolgt? Die Gestalt an sich, schwarz gekleidet und unscheinbar, bediente alle Krimi-Klischees schlechthin. Oder war er einfach durch den langen harten Tag so ermüdet, dass er schon Dinge zu sehen begann, die gar nicht da waren? So oder so drehte er sich wieder in die angepeilte Richtung und führte seinen Weg in gewohnter Gangweise fort. Mal sehen, was sein Begleiter so vorhatte.

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Hatte er ihn bemerkt? Der Blick war kurzzeitig direkt in seine Richtung gewandert! Nachdem er sich aber wieder aufgerafft hatte, führte er seinen Weg unbehelligt fort. Anzeichen von Misstrauen waren nicht zu erkennen. Sollte er sein Vorhaben abbrechen und an einem anderen Donnerstag wiederholen? Wäre wohl zu auffällig, wenn erneut die gleiche Person an der Haltestelle warten und ihm hinterhergehen würde, oder? Nein, dieser Dämon muss ausgeschaltet werden, koste es, was es wolle. Wir ziehen das heute Nacht durch. Er begann sich im gleichen Abstand zu seinem Ziel ebenfalls wieder in Bewegung zu setzen. Er hatte noch einiges an Weg vor sich, ehe sie sich beide dem geplanten Punkt näherten.

Nach weiteren Gehminuten konnte der Verfolger die Anspannung förmlich schmecken. Das Ziel hatte sich nicht abwegig verhalten und setzte den gewohnten Weg fort. Scheinbar konnte man Entwarnung aussprechen. Dass er auch so dumm ist und auf einer Dose ausrutscht. Das kann man einfach nicht vorausplanen. Gedanken versunken bemerkte er plötzlich, dass sein Ziel vor ihm nicht mehr zu sehen war. Wo war er hin? Der Weg vor ihm bis zur nächsten Kreuzung war gerade und weitläufig. Nichts behinderte seinen Blick auf den Gehsteig. Dieser war leer. Er hielt kurz an. Links neben ihm prangten große Lagerhallenwände, wie er sie bereits seit dem gesamten Weg neben sich hatte. Hie und da standen verlassene Autos oder Mülltonnen am Straßenrand herum. Viel gab es nicht, das einem die Sicht auf einen Passanten nahm. Er wurde nervös. Was nun? Das darf doch nicht wahr sein. Wieso gerade heute dieser Ausreißer im üblichen Alltagsweg seines Zieles? Er musste etwas unternehmen. Vielleicht war er nur etwas weiter als gedacht zurückgefallen. Er schritt schnelleren Schrittes voran. Das Platschen unter seinen Schuhen wurde lauter und hochfrequenter als er fast in einen Lauf überging. Die Hände hatte er immer noch im Hoodie. Schweinekalt war es im Regen. Er lief den Gehweg entlang. Irgendwo musste er doch sein. Er ließ den Blick nach links und nach rechts schweifen. War er irgendwo abgebogen? Wieso sollte er? Hatte er ihn doch entdeckt und war geflüchtet? Er lief an Hallenwänden, Autos und Mülltonnen vorbei. Beinahe als er schon die Suche aufgeben wollte, kam er erneut an einer Mülltonne vorbei. Auf dessen Höhe erkannte er, dass ihm plötzlich ein Gegenstand in Kopfhöhe entgegenkam. Mit schneller Reaktion wich er dem Stahlrohr durch einen Knicks aus und kam am nassen Gehsteig rutschend zum Stehen. Sein Ziel hatte sich hinter der Mülltonne versteckt und ihm aufgelauert. Mit einer behelfsmäßigen Waffe versuchte er seinen Verfolger zu stellen. „Wer bist du? Was willst du von mir?“, schrie sein Ziel in den platzenden Regen hinein.

„Das weißt du genau, Dämon“, antwortete er mit ruhiger, aber bestimmter Stimme und nahm die Hände nun aus dem Hoodie. In seiner Hand befand sich ein Jagdmesser. Diese Klinge war fast 20 Zentimeter lang und gezackt. Sie blitze selbst in der Dunkelheit und wurde schnell von einigen Wassertropfen darauf verziert. Der Dämon erkannte das Messer mit großen Augen und wurde kreidebleich. Geschockt nahm er das gefundene Stahlrohr und warf es seinem offenbarten Angreifer entgegen. Dieser wich erneut gekonnt aus und nahm dadurch keinen Schaden. Sofort machte der Angreifer mit dem Messer einen Satz nach vorn auf sein Opfer zu. Das Ziel wich zurück und kam dabei fast ins Stolpern. Instinktiv drehte er sich um und lief los.

„Lass mich in Ruhe, ich habe dir nichts getan und hab auch kein Geld dabei!“, schrie er und sprintete zur nächstgelegenen Fabrikhalle. Diese stand zufälligerweise einen Spalt offen. Das Schiebetor war etwas aus den Angeln gehoben. Vermutlich hatten sich hier schon Jugendliche bedient. Er schlüpfte knapp auf knapp durch das Tor. Es warf ihm sofort den vermoderten Geruch einer alten verlassenen Halle entgegen. Jahrelange abgeschnittene Luftzufuhr, Ratten, Urin und immer noch darin befindliche Werkstoffe wie Öle oder Schmiermittel hatten einen dezenten Geruchscocktail entwickelt. Ihm wurde leicht mulmig. Er entfernte sich sofort von dem Tor und suchte panisch nach einem Versteck.

Nun griff er auch noch an. Schlimmer hätte er den Plan wohl nicht vermasseln können. Anstatt ihm in Ruhe am geplanten Punkt aufzulauern, folgte eine kurze Hetzjagd zur nächstgelegenen Fabrikshalle, wo er sich kurzerhand durch das halboffene Tor quetschte. Er selbst hatte mehr Mühe durchzukommen, da er wohl stämmiger war als sein Ziel. Nichtsdestotrotz schaffte er es wenige Sekunden nach seinem Ziel. Leider war dies jedoch schon ausreichend, um ihn aus den Augen zu verlieren. Er musste sich wohl irgendwo versteckt haben. Der Regen prasselte lautstark auf das noch fast zur Gänze vorhandene Hallendach ein. Durch die Fenster schien stellenweise gelblich wirkendes Licht von draußen. Die Halle war voll geräumt mit Maschinen und einem Hochregal. Hier wurden wohl Stahlerzeugnisse verarbeitet und gelagert. Die Maschinen standen bereits mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte still und leckten aus allen rostigen Öffnungen mit seltsamen Flüssigkeiten. Der Geruch war abgestanden und mit diversen Mitteln versetzt. Außer dem Regen am Dach herrschte völlige Stille. Er ging mit seinem Messer in der Hand in die Hocke, um seine Position nicht sofort zu verraten, sollte er beobachtet werden. Langsam schritt er zwischen den Maschinen voran. Es schien eine Art Hauptkorridor zwischen den Maschinen zu geben. Die Farbmarkierungen am Boden bewiesen dies. Er bewegte sich langsam voran. Seine Sinne waren geschärft. Er musste den Dämon aufspüren, koste es, was es wolle. Die gerechte Strafe wusste er nur zu gut. Dennoch durfte er sich nicht überraschen lassen. Sein Ziel hatte gezeigt, dass er angriffslustig war und nicht zögerte sich zu wehren. Er war bereits an mehreren Maschinen vorbei. Nichts war zu hören oder zu sehen. Entweder er versteckte sich an einem festen Ort, was dumm wäre, oder er bewegte sich verflucht leise, was verdammt schlecht für ihn wäre. Maschinenreihe für Maschinenreihe näherte er sich dem Hochregallager, in dem noch einige Paletten mit Kisten oder Maschinenteile standen. Die Kartons darauf waren zum Teil bereits vergilbt oder aufgequollen und boten ein schauriges Bild. Licht durchbrach die Regale schräg seitlich und gab nur stellenweise deutliche Erkennbarkeiten zu Tage. Der schiere Horror für einen Jäger, der seine Beute verloren hatte. Aber irgendwo musste der Dämon ja sein. Immer noch in geduckter Haltung glitt er am ersten Hochregallager entlang. Er konnte sich überall versteckt haben. Die Sinne waren alle hellwach und auf einen plötzlichen Angriff vorbereitet. Trotzdem hatte er den Angriff nicht vorausgesehen. Aus einer Nische im linken Hochregal sprang plötzlich der Dämon hervor und packte ihn am Arm. Sie stürzten beide zu Boden. Er hörte nur, wie das Messer klirrend zu Boden fiel und weiter weg schlitterte. Das Gewicht auf ihm sprang plötzlich auf und versuchte, den zu Boden gebrachten Angreifer mit einem Faustschlag anzugreifen. Der Angreifer konnte sich zur Seite rollen, um so dem Faustschlag zu entgehen. Emsig begann er, sich nach dem Messer umzusehen. Es blitzte eine Regalreihe weiter im darauf fallenden Mondlicht. Ohne dem Messer konnte er den Dämon nicht stellen. Er rannte auf allen Vieren los Richtung Messer und durchbrach dabei die kommende Regalreihe. Er stürzte über die darin befindliche, leere Palette und fiel vornüber nahe dem Messer auf den Boden. Sein Ziel hatte erkannt, was er vorhatte, und stürmte ebenfalls in Richtung Messer los. Er durchbrach das Regal geschickter und konnte auf der anderen Seite besser Fuß fassen. Der Angreifer hatte dies allerdings erkannt und griff nach dessen Fuß. Er bekam ihn zu fassen und wurde aus dem Gleichgewicht gebracht. Er fiel über das Messer ebenfalls wie ein nasser Sack, was er immer noch war, hin. Der Angreifer war schnell auf den Beinen und legte die letzten Meter gekonnt zum liegenden Messer zurück und ergriff es erneut. Das Ziel hatte augenscheinlich aufgegeben, das Messer zu ergattern und sprintete erneut flüchtend in eine andere Richtung davon.

„Was willst du von mir? Ich habe dir nichts getan!“, rief er rechtfertigend in die Halle hinein. Keine Gegenreaktion. Es brachte nichts, mit Dämonen zu diskutieren. Sie verdrehten einem immer die Gedanken und die Wörter im Mund. Da half nur gehärteter Stahl als Argumentationshilfe. Der Angreifer rannte erneut hinterher. Die Verfolgungsjagd ging durch mehrere Regalreihen hindurch weiter. Beide hatten Probleme, die Unebenheiten und Hindernisse vor sich zu deuten und zu erkennen. Immer wieder kam einer ins Straucheln, jedoch blieb der Jagdabstand fast konstant. Das Regallager mündete in ein Archiv, in dem Ordnerreihen hochgeschlichtet wurden. Zwischen den Archivregalen wurde es deutlich enger und es gab auch kein Durchbrechen mehr. Wie ein Papierlabyrinth wurde die Hetzjagd nun deutlich geradliniger. Der Angreifer bekam den Rucksack des Ziels zu fassen. Dieser wurde dadurch prompt gestoppt und sah nur noch die Möglichkeit, diesen abzulegen. Er schlüpfte gekonnt aus den Armschlaufen, ehe das Zischen des Messers zu hören war. Viele Zentimeter hatten nicht mehr gefehlt, um den Dämon am Rücken zu erwischen. Erleichtert von der Last des Rucksacks, lief der Dämon erneut los. Der Angreifer hielt in der einen Hand das Messer und in der anderen den Rucksack. Er warf den Rucksack einfach in ein Archivregal und sprintete erneut dem Ziel hinterher. Der Abstand wurde größer, jedoch ging dem Ziel langsam die Puste aus. Seitenstechen machte sich in der rechten Lunge breit und schmerzte höllisch bei jedem Schritt. Plötzlich wurde es hell und erneut nass. Er war aus dem Archiv auf einen mittelgroßen, freien Platz in der Halle gekommen, der hell erleuchtet war. Von oben schien durch ein großes Loch in der Hallendecke der Mond hell kreisförmig auf den Boden. Der Regen fiel unaufhörlich durch das Loch in die Halle auf dessen Boden und hatte bereits einen kleinen spiegelnden See innerhalb der Halle gebildet. Mitten auf dieser Lichtung kam das Ziel schmerzerfüllt zum Stehen. Hinter ihm trat selbstsicher und aufrecht der Angreifer mit dem Messer fest in der Hand aus der Dunkelheit hervor ins Licht.

† † †

Nun war es so weit. Der Dämon war gestellt. Die Hetzjagd hatte ihm schwer zugesetzt. Die fleischliche Hülle war am Ende. Als der Angreifer ins Licht schritt, war er sich siegessicher. Nun werde er dem Dämon seiner gerechten Strafe zuführen. Das Ziel war bis in die Mitte des großen runden Lichtkreises gelaufen und dort auf den Knien zusammengebrochen. Laut hechelnd, vernahm man die Belastung, die sein Körper gerade durchlitt. Der Regen fiel unaufhörlich durch das Dach. Erneut wurde die Stille vom Dröhnen des Regens am Wellblechdach durchbrochen. Bis auf das, war jedoch kein Geräusch zu vernehmen. Lediglich das Platschen des verdrängten Wassers unter den Sohlen des Angreifers beim Nähern zum Ziel. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seiner Beute. Das Ziel kniete am Boden. Keuchend und mit krummem Rücken versuchte es Luft in die Lungen und somit in die Blutbahn zu bekommen. Das Seitenstechen war vermutlich bezwungen. Der Kopf, der nun vom Hoodie befreit war, war nach unten geneigt. Erbärmlich kauerte sein Opfer nun da. Er war gefasst auf das, was nun kommen könnte. Plötzlich eröffneten sich im spiegelnden Wasser zwei feuerrote Punkte. Wo einst seine Augen gewesen waren, reflektierte das Wasser zwei strahlend rote Punkte im Gesicht des Ziels. Der Angreifer hielt inne, das Messer fest in seiner Hand, wartend, was nun käme. Plötzlich erhob sich eine dröhnende Stimme, welche nicht menschlich aus dem Ziel herauszukommen schien: „Wie kannst du es wagen? Mich hier in diesem niederen Gewölbe zu stellen? Wer bist du und wer gibt dir das Recht dazu?“ Das Wasser um das Ziel herum schlug kleine Wellen. Der hebende und senkende Brustkorb des Ziels erstarrte plötzlich und gab keine Regung mehr von sich. Der Kopf hob sich langsam und der Mann stand übermäßig langsam auf. Im Gesicht brannten die Augen feuerrot und seitlich sonderte sich Rauch davon ab. Die Pupillen und das Augenweiß waren nicht mehr zu erkennen. Als wären diese weggebrannt. Der Mann grinste höhnisch. Ein unheimliches Bild offenbarte sich dem Angreifer.

„Du weißt genau, wieso ich hier bin und was du getan hast, Dämon!“, verkündete der Angreifer seinem Jagdopfer, das sich nun scheinbar endlich zu erkennen gab.

„Mag sein!“, donnerte es erneut von der Gestalt im Licht, ohne dass sich dessen Lippen bewegten.

„Aber, das bedeutet nicht, dass ich es dir einfach machen werde!“ Er griff sich langsam ins Gesicht und zog sich mit einem Handgriff das Gesicht von den Knochen, als wäre es ein nasses Papier. Eine dämonische Fratze kam darunter zum Vorschein. Die Zähne blitzscharf und groß. Er griff erneut auf den Kopf und zog sich auch dort die restlichen Fleischfetzen vom darunter liegenden Haupt. Hinter ihm brach und knackte es. Der zum Teil menschlich erscheinende Körper bebte und vibrierte, als plötzlich zwei große schwarze und zum Teil zerfledderte Flügel zum Vorschein kamen. Der Angreifer wich ein paar Schritte zurück. Der Dämon riss sich am ganzen Körper die Haut samt Muskeln und Fasern ab, als wäre es eine Art Kostüm, aus dem er sich zu befreien versuchte. Mühelos gelang ihm das. Die Hautfetzen und Kleidungsstücke fielen zischend ins Wasser unter ihm, als er seine wahre Gestalt preisgab. Durch das herabscheinende Mondlicht und das spiegelnde Wasser, war der Dämon nur schemenhaft und mit Umrissen zu erkennen. Die Haut pechschwarz und mit hellen Adern überzogen. Wo einst menschliche Hände waren, prangten nun zwei große Klauen mit scharfen Krallen darauf. Das Gesicht glich einem geschälten Skelett. In den leeren Augenhöhlen funkelnden rote, glühende Bälle. Die Zähne waren freiliegend und messerscharf. Jeder Regentropfen, der auf die Haut des Dämons traf, verdampfte sofort. Scheinbar strahlte dieser eine enorme Hitze aus. Mit diesem schier unweltlichem Bild war nun der Angreifer konfrontiert. Er schreckte jedoch nicht zurück. Im breiten Stand hielt er nun das Messer hocherhoben und sagte mit ruhiger Stimme: „Wagen wir es?“ Der Dämon, welcher keinerlei Gefühlsregungen im Gesicht zeigen konnte, starrte den Angreifer nur weiterhin an. Erneut war die donnernde Stimme zu hören: „Wie es dir beliebt!“ Kaum war das letzte Wort verhallt, hastete der Dämon, ähnlich einem Raubtier, welcher sich auf seine Beute stürzte, nach vorn.

† † †

Was für ein Morgen. Was für eine Nacht. So dunkel und grau auch der Nebel in der Stadt hing, so verhangen war auch das Bewusstsein von Michael, als er früh morgens, wie immer quer in seinem Bett aufwachte. Wieso hatte er sich nochmals ein Doppelbett angeschafft? Lag er ohnehin immer nur allein darin. Na egal. Zumindest wahrte er sich seine Bewegungsfreiheit im Schlaf. Wenn er jemals wieder guten Schlaf bekommen sollte. Genauso träge, wie die fast zugezogenen Vorhänge herabhingen, brauchte auch Michaels Bewusstsein, um die Realität zurückzukehren. Hatte er überhaupt geschlafen? Anfühlen würde es sich anders. Umdrehen und Weiterschlafen lautete die Devise des heruntergekommenen Selbstständigen. Wenn da nicht dieses lästige Geräusch wäre. Was war das? Ein Klirren und Brummen, gemischt. Als würde ein Bär stoßweise in eine Biene eindringen. Das Handy surrte und klingelte hemmungslos am Nachttisch, in der Hoffnung irgendeine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Fehlanzeige. Nicht heute. Nicht von Michael. Und schon gar nicht so früh am Morgen. Michael zog sich mit beiden Armen im Bett gerade. Das Bein hing heraus und war bereits taub geworden. Vielleicht half eine normale Schlafhaltung wieder gesunden Schlaf zu finden. Surren und Klirren verstummten. Endlich hatte es der Anrufer aufgegeben. Die beste Erfindung der Menschheit: Sprachbox. Er würde später … viel später zurückrufen. Die Augen zu, der Körper schwer, entschwand Michael wieder der Realität. Plötzlich erneut. Surren und Klirren. So dominant, dass alle anderen Sinne zum Verstummen kamen. Wer war da so aufdringlich? Michael atmete tief durch. Der frische Sauerstoff im Organismus entfachte eine wahre Energiewelle. Er fühlte sich plötzlich näher in die Realität versetzt als zurück in den Schlaf. Zeit aufzustehen. Jetzt ging nichts mehr. Erneutes Schnaufen. Ein kurzer Ruck und der Oberkörper bewegte sich in die Vertikale, unterstützt vom Klang der aktuell größten Geißel der Menschheit am Nachttisch. Die Augen sind jedoch noch geschlossen. Das Öffnen dieser würde mehr Energie kosten als das Aufrichten. Er tat es dennoch. Gleißendes Licht traf ihn. Erneut war der Tag bereits angebrochen und viele Menschen bereits im täglichen Laufrad unterwegs. Nur Michael lag noch im Bett und betete für einen plötzlich aufkommenden Nachteinbruch. Vergebens. Die Sonne durchbrach stellenweise den Nebel und strahlte Michael durch den Schlitz zwischen den Vorhängen in unregelmäßigen Intervallen ins Gesicht. Wie penetrant. Er drehte seinen Körper um neunzig Grad, sodass die Beine aus dem Bett ragten und am Boden regelrecht aufschlugen. Die bleierne Schwere saß ihm in Mark und Bein.

„Wieso bin ich so fertig?“, fragte er sich rhetorisch, ohne eine Antwort zu erwarten. Als Antwort verstummte das Handy erneut. Egal. Jetzt einmal ins Bad und versuchen sich wieder zu kultivieren. Im Bad war er entsetzt von seinem Anblick im Spiegel. Der Dreitagesbart war bereits fünf Tage überfällig und die Haare wüst zerzaust. Miss Bündchen würde er so nicht für sich gewinnen können. Nicht einmal für Oprah würde der Look reichen. Kurz über die Haare gestrichen und halbwegs wieder gerichtet. Schadensbegrenzung war die Devise. Die Augenringe unter den Augen passten hervorragend zu dem roten Innenleben in den Augenhöhlen. Nichts, was Augentropfen nicht richten konnten. Kurz Zähneputzen, um dem jährlichen Zahnarzt zu entgehen. Ja, Mr. Michael Saint hatte schon bessere Tage gesehen. Aber so war das, wenn man am absteigenden Ast saß. Da musste man durch, um es wieder nach oben zu schaffen. Ein oder zwei Monate noch, dann hatte er die Anschaffungsschulden für die Wohnung und deren schmalen Inhalt abbezahlt. Die Überstunden und zusätzlichen Fälle machten sich durchaus bezahlt. Auf Kosten von Schlaf und Gesundheit zugegeben. Aber das war es allemal wert, auf eigenen Beinen stehen zu dürfen. Erneut vernahm er das mittlerweile nervende Geräusch seines Hosentaschenfreundes. War der Akku nicht gestern Abend schon fast leer? Erneut nahm er sich vor, den Anruf zu ignorieren. Er war ohnehin noch nicht bereit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Nach erledigter Arbeit im Badezimmer stapfte er zurück ins Schlafzimmer und suchte den Boden nach anziehbarem Gewand ab. Wo waren überhaupt seine Hose und sein Hemd gelandet? Er konnte sich nicht erinnern, die Sachen ausgezogen zu haben. Da hatte ihm wohl Mr. Walker letzte Nacht wieder übel mitgespielt. Sei es, wie es sei, er ging zur naheliegenden Kommode und zog daraus eine frisch aussehende Hose und ein T-Shirt seines aktuellen Lieblingssportvereins hervor. Wohlwissend, dass er heute nicht mehr groß außer Haus gehen werde. Im Wohnzimmer offenbarte sich ihm das vollendete Chaos. Tisch, Couch und Boden waren mit diversen dahingehörenden und nicht dahingehörenden Utensilien bedeckt. Kurzer Wisch über die Couch, damit die Sitzfläche frei wurde. Das Grummeln kam diesmal nicht von Nachttisch, sondern wortwörtlich aus der Magengegend. Hunger war ebenso erwacht, wie Michael selbst. Er sah sich um. Kühlschrank versuchte er erst gar nicht. Zwecklos. Am Tisch lag ein alter Pizzakarton. Einen Versuch war es wert. Er öffnete die Schachtel und fand darin neben alten Randstücken auch ein ganzes unberührtes Stück Salamipizza. Ohne zu überlegen, griff er zu und biss genüsslich ab. Dem Geschmack und der Kälte nach zu urteilen, war das Stück etwa drei Tage alt. Gut genug für ein schnelles Frühstück. Mehr würde er sich später liefern lassen. Da schon wieder … ein Wunder, dass das verdammte Ding nicht durch die Vibrationsfunktion am Boden landete. Noch einmal hielt er das Spiel nicht aus. Er legte die angebissene Pizzaecke wieder in den Karton und stapfte zurück ins Schlafzimmer. Das Handy zappelte und blinke aufgeregt am Nachttisch, als würde es sich über die schlussendliche Reaktion seines Herrchens freuen. Er nahm es hoch und sah aufs Display. Ryan Gantry stand in großen Lettern am Display. Rot oder Grün zeigte die Entscheidungsfrage an. Er wählte Grün, da es dringend zu sein schien und Ryan einer seiner besten Freunde aus damaliger Zeit war.

„Na endlich!“, hörte er über den Lautsprecher, ehe das Handy noch das Ohr zur Gänze erreicht hatte.

„Was ist los mit dir, Mann? Ich versuche dich schon den ganzen Vormittag zu erreichen! Bist du ins Koma gefallen?“, fragte Ryan hastig.

„Ja, so ähnlich“, antwortete Michael knapp und bündig, ohne zu viele Informationen preiszugeben. Nicht, dass er das könnte.

„Was gibt es? Was ist so dringend?“, fragte Michael, um das Gespräch weiterzutreiben. „Ich brauche deine Hilfe bei einem Fall. Es ist was Persönliches!“

„Was Persönliches? Ist meine Mutter tot? Schon wieder?“, scherzte Michael kalt.

„Nein, Mann … komm bitte auf das Revier, damit wir uns die Sache ansehen können. Es wäre wichtig!“, sagte Ryan am anderen Ende der Leitung.

„Ach komm Ryan … Du weißt, dass ich ungern Fälle aufgezwungen bekomme! Ich habe gerne die Wahl!“, entgegnete Michael.

„Hierbei nicht. Anweisung vom Chief persönlich“, äußerte Ryan mysteriös.

„Anweisung vom Chief? Ich bin kein Untergebener mehr, Ryan. Er kann mich nicht anweisen!“, wurde Michael schroff.

„Doch hierbei schon …“ Michael wurde stutzig. Was wollte Ryan gerade von ihm?

„Komm Ryan, sag mir, was los ist. Diese Heimlichtuerei ist mir zu mühsam!“, konterte Michael direkt in das Mikrofon. Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Danach eine kurze präzise Aussage: „Du wirst namentlich verlangt …“

„Vom Chief etwa?“, entgegnete Michael, „Ryan, das hatten wir schon …“

„Nein, Nein Michael …“, unterbrach in Ryan hastig, „An einem Mordschauplatz!“ Nun verstummte Michael kurz.

„Ich werde namentlich am Mordschauplatz verlangt? Von wem?“ „Vom Mörder …“, schallte es Michael ins Ohr. Er wurde bleich und ein kalter Schauer lief ihm vom Scheitel bis zur Sohle herab. Er griff sich mit der Hand an die Stirn und weitete seine Augen fragwürdig.

„Ich schick dir die Adresse vom Schauplatz. Altes Industrieviertel. Wir treffen uns gleich direkt vor Ort.“ Danach legte Ryan sofort auf und Michael wusste, dass er doch noch dieses verdammte Hemd suchen musste.

† † †

Dort angekommen, bot sich ein trauriges Bild. Das alte verlassene Industrieviertel wirkte bei Tag trostlos und ließ nur erahnen, wie geschäftig und positiv die Leute hier früher Arbeit hatten. Verwahrlost glich es einem Säumnis aus vergangenen Tagen. Michael wollte nicht allzu lange über die Kulisse nachdenken. Seine Gedanken waren ohnehin schon negativer als negativ, da nun scheinbar auch schon Mörder nach ihm verlangten. Er hatte ja schon einiges gesehen und viele unterschiedliche Mordschauplätze hinter sich. Selten, dass ihn etwas überraschte. Namentliche Erwähnungen gab es aber immer nur in den Fallakten und nicht am Schauplatz selbst. Er traf circa gegen zwei Uhr nachmittags am Schauplatz ein, nachdem seine ehemaligen Kollegen bereits sechs bis sieben Stunden Arbeit hinter sich gebracht hatten. Seiner Optik nach zu urteilen, würden sie ihm schnell auf die Schliche kommen, dass er nicht allzu lange zuvor erst das Bett verlassen hatte. Oh, das gibt dicke Pluspunkte, dachte er sich insgeheim, als er seinen Wagen, einen alten Chevrolet, hinter dem gefühlt hundertsten Polizeiauto einparkte.

„Was ist denn hier passiert, zum Teufel!“, murmelte er leise in sich hinein. So ein Auflauf an Polizei war nie ein gutes Zeichen. Als der Motor zum Erliegen kam, öffnete er die Autotür und zog den Zündschlüssel ab. Am Gehsteig richtete er sich seinen Mantel und wurde bereits seitlich von jemandem angequatscht, der eindeutig zu viel Koffein im Blut hatte und einen viel zu hohen Frohsinn für Michael besaß: „Sind Sie Mr. Saint? Mr. Gantry bat mich, Ihnen den Weg zum Tatort zu zeigen!“ Den Kopfschmerz jetzt schon unterdrückend, den ihn der frische Absolvent der Academy bereiten würde, drehte er sich zur Seite und erblickte ein unschuldiges, unerfahrenes Gesicht der Polizei. Er hätte auf Polizeipostern prangen können und für das Gute im Menschen appellieren. Gib ihm zwanzig Jahre in diesem Job und der Frohsinn ist wie weggeblasen.