Den Wind in den Haaren - Annabel Abbs - E-Book

Den Wind in den Haaren E-Book

Annabel Abbs

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Beschreibung

In diesem inspirierenden Buch stellt Annabel Abbs Künstlerinnen vor, die ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hatten. Und sie geht der Frage nach, warum das Unterwegssein in der Natur gerade für Frauen so beglückend ist.

Sie eroberten sich eine Freiheit, die bislang Männer vorbehalten war. Sie besaßen den Mut, einsame Landschaften zu durchwandern. Sie gingen allein zu Fuß, um ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Simone de Beauvoir war als junge Frau stundenlang auf den einsamen Küstenwegen bei Marseille unterwegs. Die Malerin Georgia O’Keeffe durchschritt mit ihrem Skizzenbuch die schier endlose Ebene bei Amarillo. Die schottische Schriftstellerin Nan Shepherd lief barfuß und oft bei Nacht durch die Cairngorm Mountains und nahm die Schönheit der Natur mit allen Sinnen auf.

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Seitenzahl: 462

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Zum Buch

Sie eroberten sich eine Freiheit, die bislang Männern vorbehalten war. Sie besaßen den Mut, einsame Landschaften zu durchwandern. Sie gingen allein zu Fuß, um ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Simone de Beauvoir war als junge Frau stundenlang auf den einsamen Küstenwegen bei Marseille unterwegs. Die Malerin Georgia O’Keeffe durchschritt mit ihrem Skizzenbuch die schier endlose Ebene bei Amarillo. Die schottische Schriftstellerin Nan Shepherd lief barfuß bei Nacht durch die Cairngorm Mountains und nahm die Schönheit der Natur mit allen Sinnen auf. So wie die australische Reiseschriftstellerin Clara Vyvyan, die walisische Malerin und Geliebte von Rodin, Gwen John, oder die aus Deutschland stammende Ehefrau von D. H. Lawrence, Frieda von Richthofen. Mutige Frauen, die immer auch aus dem Schatten von Männern treten wollten.

In diesem inspirierenden Buch stellt Annabel Abbs Künstlerinnen vor, die ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hatten. Und sie geht der Frage nach, warum das Naturerlebnis beim Wandern gerade für Frauen so beglückend ist.

Zur Autorin

ANNABELABBS ist Schriftstellerin und Journalistin. Nach einem Unfall entdeckt sie ihre Liebe zu langen Wanderungen in der einsamen Natur wieder. Annabel Abbs wurde für ihre historischen Frauenstoffe bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Romanbiografie »Frieda«, in der sie das spektakuläre Leben der Frieda von Richthofen nachzeichnet, war u. a. »Times Book of the Year«. Annabel Abbs lebt mit ihrer Familie in London und Sussex.

ANNABEL ABBS

Den Wind in den Haaren

Auf den Spuren freiheitsliebender Frauen

Aus dem Englischen vonCharlotte Breuer und Norbert Möllemann

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Windswept: Walking in the footsteps of remarkable women« bei Two Roads, an Imprint of John Murray Press, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstveröffentlichung August 2024

Copyright © 2021 Annabel Abbs

Copyright © der deutschen Ausgabe 2024 btb Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile nach einem Entwurf von Jo Myler © John Murray Press

Cover photograph © Len Collection/ Alamy, Sky © Shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

Klü · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25413-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Saskia, die perfekte Wandergefährtin

INHALT

Die wandernden Frauen

Einleitung: Wo sind die Frauen?

1. Wie es anfing

2. Auf der Suche nach Freiheit: Frieda von Richthofen

3. Auf der Suche nach sich selbst und nach Einsamkeit: Gwen John

4. Die Last der Vielschichtigkeit: Clara Vyvyan mit Unterstützung von Daphne du Maurier

5. Auf der Suche nach Sein und Sinn: Nan Shepherd

6. Auf der Suche nach dem Körper: Simone de Beauvoir

7. Auf der Suche nach Raum: Georgia O’keeffe

8. Zuhause

Epilog: Unser wildes wanderndes Ich

Dank

Bibliografie

Anmerkungen

DIE WANDERNDEN FRAUEN

Dieses Buch erzählt von den Streifzügen zu Fuß und den Lieblingslandschaften von sechs bemerkenswerten Frauen. Der besseren Übersicht halber möchte ich sie an dieser Stelle kurz vorstellen.

Frieda von Richthofen (1879–1956) war die deutsche Ehefrau von D. H. Lawrence; aus ihrer Feder stammen diverse Essays sowie ihre Memoiren mit dem Titel: Nur der Wind. Sie diente Lawrence für zahlreiche Figuren in seinen Büchern als Vorbild und als Inspiration, ja, sie spielt eine derart wichtige Rolle in seinem Werk, dass viele sie für seine Mitarbeiterin halten.

Gwen John (1876–1939) war eine walisische Malerin, die ihr gesamtes Erwachsenenleben in Frankreich verbracht hat. Obwohl sie eine der bekanntesten britischen Künstlerinnen ist, stand sie fast immer im Schatten ihres Bruders Augustus und ihres Geliebten Rodin. Am bekanntesten sind ihre leuchtkräftigen Frauenporträts, von denen eins (»Dorelia by Lamplight at Toulouse«) kürzlich bei Sotheby’s für über eine halbe Million Dollar versteigert wurde.

Clara Vyvyan (1885–1976) war eine Reiseschriftstellerin. In Australien geboren, wuchs sie in England auf, absolvierte nach einem abgeschlossenen Studium der Naturwissenschaften eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und arbeitete in den Londoner Slums. Im Ersten Weltkrieg war sie Lazarettschwester, später widmete sie sich in Cornwall dem Schreiben und ihrem Gemüsegarten. Sie ist weit gereist und leidenschaftlich gewandert und hat mehr als zwanzig Bücher geschrieben, die alle in Vergessenheit geraten sind.

Nan (Anna) Shepherd (1893–1981) war eine schottische Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Erzieherin, deren Buch über das Bergwandern The Living Mountain heute als bahnbrechendes Werk im Bereich Nature Writing gilt. Ihr Konterfei ziert die schottische Fünf-Pfund-Note.

Simone de Beauvoir (1908–1986) war eine französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin. Ihr bekanntestes Buch ist das radikal-feministische Werk Das andere Geschlecht. Sie war überaus produktiv und schrieb Tagebücher, Memoiren, Essays, Briefe und preisgekrönte Romane. Sie wohnte ihr Leben lang in Paris, von wo sie regelmäßig in ländliche, weit entlegene Gegenden entfloh.

Georgia O’Keeffe (1887–1986) war eine amerikanische Malerin, die als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts gilt und eine Ikone ist. Die für ihre Blumenbilder und ihre Landschaften berühmte Malerin arbeitete zu Beginn ihrer Karriere in Texas und siedelte später nach New Mexico um.

Ebenfalls erwähnt, jedoch ohne eigene Kapitel:

Daphne du Maurier (1907–1989) war eine ungeheuer populäre englische Schriftstellerin, ihre berühmtesten Romane sind Rebecca,Die Bucht des Franzosen, Meine Cousine Rachel und Jamaica Inn (sie wurden alle verfilmt). Sie hat aber auch Theaterstücke, Kurzgeschichten, Biografien und Bücher über Cornwall geschrieben, wo sie – ganz in der Nähe von Clara Vyvyan – lebte. In ihrem Werk kommt immer wieder ihre Liebe zu unberührten Landschaften zum Ausdruck.

Emma Gatewood (1887–1983), besser bekannt unter dem Namen Grandma Gatewood, war eine amerikanische Pionierin des Extremwanderns und die erste Frau, die allein den Appalachian Trail (3489 Kilometer) absolviert hat, und zwar insgesamt dreimal, zuletzt im Alter von fünfundsiebzig Jahren.

Einige Frauen werden in diesem Buch beim Vornamen, andere beim Nachnamen genannt werden. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, die Namen so zu verwenden, wie es mir beim Schreiben richtig erschien. Im Prinzip sind es die Namen, von denen ich glaube, dass die Frauen sie selbst bevorzugt hätten. Zum Beispiel glaube ich, dass Simone de Beauvoir lieber unter Beauvoir laufen würde als unter Simone. Dasselbe gilt für O’Keeffe.

Frieda von Richthofen hat im Lauf ihres Lebens viermal den Nachnamen geändert, sich selbst aber immer einfach nur als Frieda bezeichnet. Vermutlich würde sie herzhaft lachen, wenn sie wüsste, dass mir die Frage, bei welchem Namen ich die Frauen in diesem Buch nennen sollte, schlaflose Nächte bereitet hat. Eine Malerin von Gwen Johns Format sollte vermutlich als John bezeichnet werden, allerdings hat ihr Bruder Augustus diesen Namen schon früh besetzt, wodurch Gwen, was ihren Namen anging, in eine Art Vakuum geraten ist, weshalb sie später nur widerwillig ihre Werke überhaupt signiert hat. Aus diesem Grund soll sie hier nur Gwen heißen. Clara Vyvyan hat sowohl unter ihrem Geburtsnamen als auch unter ihrem Ehenamen veröffentlicht. Da Vyvyan aber ebenso wie John ein Vorname ist, fand ich, dass der Text sich geschmeidiger liest, wenn ich sie Clara nenne. Und da Daphne du Maurier im selben Kapitel erwähnt wird, heißt sie hier Daphne.

Wo es mir unerheblich schien, welchen Namen ich benutze, habe ich mich – in Anlehnung an die männliche Tradition in der Literatur – für den Nachnamen entschieden.

Für dieses Buch habe ich das Wort Wanderin für mich definiert als eine Frau, für die das Wandern keine Plackerei, sondern Vergnügen ist, die nicht aus Notwendigkeit wandert, sondern weil sie daraus für sich einen Gewinn zieht. Leider konnte ich deshalb keine historisch bedeutsamen schwarzen oder armen Wanderinnen finden oder solche, die mit ihren Kindern gewandert sind. Diesen Frauen bot sich kaum Gelegenheit, sich zur Entspannung oder zum Zeitvertreib hinaus in die Natur zu begeben. Andererseits sind sie in Bezug auf die zurückgelegten Entfernungen und das Durchhaltevermögen unübertroffen.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass ich die Wörter unberührt, abgeschieden, menschenleer und ländlich in ihrem ganz allgemeinen Sinn zur Beschreibung von Landschaften benutze, die in erster Linie nicht städtisch und häufig dünn besiedelt sind. Diese Begriffe beziehen sich nicht auf bestimmte Landstriche.

EINLEITUNG: WO SIND DIE FRAUEN?

»Endlich fühlte ich mich wirklich frei.«

Mathilda Blind (1841–1896), unveröffentlichte private Notiz über eine Wanderung allein in den Alpen, 1860

Ich wandere über einen grünen Hügel, folge meinem Schatten, der lang und blau und unscharf ist. Zu meiner Rechten der Ozean, der im Sonnenlicht glitzert. Zu meiner Linken, bis ins Tal hinunter, von Hecken eingefasste Vierecke in Senf- und Safrangelb und Rotbraun. Der Wind zerzaust mir die Haare und zupft an meinen Schattenbeinen, die im hohen Gras unwirklich lang sind. Meine Gedanken kreisen, versuchen, die Landschaft einzuordnen. Wo bin ich?

Dann ist das Bild weg, und ich bin woanders, kauere an einer Felswand. Der Himmel über mir ist schwarz und zerfranst. Ein riesiger orangefarbener Mond faulenzt in der Dunkelheit. Jemand packt mich an der Hand, zieht mich hoch. Ich stehe auf und gehe über einen steinigen, in Mondlicht getauchten Pfad. Ich spüre einen Stein unter meiner Schuhsohle, er bohrt sich in meine Blasen. Immer noch hat mein Gehirn große Mühe zu begreifen, wo sich mein losgelöster Körper befindet. Wo bin ich?

Stundenlang gleite ich von einer Wildnis in die nächste: von grellem Licht in tiefe Finsternis, aus feuchter Schwüle in eisige Kälte, aus Eichenwäldern in sandige Moore in das hohe, reife Gras von … Wo genau bin ich? Geräusche erreichen mich: das Knirschen von Kies unter meinen Füßen, das Seufzen von Pappeln im Wind, das dumpfe Krachen, das entsteht, wenn Schafszähne Gras rupfen, das Krächzen von Krähen, der Gesang einer Drossel. Ich halte mich an den Geräuschen fest, speichere sie in meinen Gehörgängen in der Hoffnung, dass sie mir eröffnen, wo ich bin, wo ich war, wohin ich gehe.

Als ich die Augen öffne, bin ich umgeben von blendendem Weiß. Eine Krankenschwester in blauer Uniform kurbelt mein Bett hoch. Unzählige Schläuche führen von meinem Handrücken zu einem Tropf mit Kochsalzlösung, an dem ein rotes Lämpchen blinkt. Die Drossel singt leise in meinem Kopf, aber das eindringliche Piepen des Geräts ist lauter. Ich wandere nicht über einen Hügel, die Haare im Wind. Und ich balanciere auch nicht auf einem Felsvorsprung an einer Bergwand entlang. Ich liege in einem Krankenhausbett. Ganz langsam verblasst die Wildnis in meinem Kopf. Das elektronische Stottern des Tropfs wird lauter, übertönt die krächzenden Krähen, die singende Drossel. Jetzt weiß ich wieder, wo ich bin: im Charing Cross Hospital in London. Ich bin gestürzt und mit dem Kopf auf dem Pflaster aufgeschlagen, so hart, dass meine Nachbarin mir später berichtet, es habe sich angehört, als hätte der Lieferant vom Supermarkt einen Stapel Paletten auf der Straße fallen gelassen.

Mit meinen Beinen ist alles in Ordnung, aber ich kann nicht gehen. Übelkeit überkommt mich in Wellen. Es ist, als würde die Erde unter mir schwanken. Als wäre ich so betrunken wie noch nie in meinem Leben – und wie ich es nie wieder sein möchte.

»Gleich kommt Ihr Abendessen«, sagt die Schwester und schiebt die Vorhänge auseinander, die mein Bett umgeben.

»Wann kann ich wieder gehen?« Ich will nichts essen und auch nichts trinken. Ich will nur eins – gehen.

»Bald«, antwortet die Schwester. Aber ich höre ihr nicht zu. Durch die offene Tür sehe ich den Flur und das Zimmer gegenüber. Leute gehen vorbei, sie balancieren Tabletts und tragen Taschen, ein Kind zieht einen Plastikroller hinter sich her, ein Mann schiebt einen Rollator vor sich her. Einige gehen schnell, laufen beinahe. Andere schlendern, humpeln oder schlurfen langsam in Pantoffeln über den Linoleumboden.

Ich sehe den Leuten zu, bin ganz fasziniert von ihren Bewegungen. Dann, ich weiß nicht, woher – aus meinen Füßen, aus meinen Eingeweiden, aus meinem Kopf? –, steigt ein tiefer innerer Schmerz in mir auf. Ich versuche, den Schmerz zu lokalisieren, ihn mit meiner Verletzung zu verbinden. Aber er hat nichts mit dem Hämmern in meinem Kopf gemein. Und er ist auch nicht so dumpf wie eine pochende Prellung oder eine stechende Schnittwunde. Während ich die Leute beobachte, die an der offenen Tür vorbeigehen, breitet der Schmerz sich in mir aus, lässt meine Augen brennen, schnürt mir die Kehle zu, dreht mir den Magen um.

In dem Augenblick kommen mir zwei Gedanken:

Ich habe es nie wirklich wertgeschätzt, was es bedeutet, gehen, ausschreiten, schlurfen, humpeln, rennen zu können. Zweibeinig zu sein.

Ohne meine Beine bin ich gefesselt. Eine Gefangene.

Mein innerer Schmerz fühlt sich an wie ein Verlangen, die Sehnsucht danach, meine kostbaren Beine wiederzubekommen. Aber in das Sehnen mischt sich Bedauern – das Bedauern, all die Jahre so unachtsam gegangen zu sein. Das Bedauern, dass ich so viele Jahre sitzend vergeudet habe – in Autos, vor Bildschirmen, an Tischen und Schreibtischen und Kneipentresen, in Liegestühlen und Betten und Badewannen.

Die Schwester schaut mir in die Augen. »Ach du je … Kopf hoch! Kommen Ihre Verwandten Sie heute Abend besuchen?«

Ich blinzle und nicke, während ich mir gelobe: Sobald ich wieder gehen kann, werde ich es bei jeder Gelegenheit tun. Und ich werde meine Beine hegen und pflegen, als wären sie mein kostbarster Besitz.

»In null Komma nichts laufen Sie hier im Zimmer herum«, sagt die Schwester, als könnte sie meine Gedanken lesen.

Etwas benebelt betrachte ich das Plastik und den Beton in meinem Zimmer, blicke durch das Fenster auf die Mauer aus Porenbetonsteinen. Alles ist grau und weiß. Es riecht nach … Waschmittel? Bleichmittel? Das Dröhnen des Straßenverkehrs dringt durch das doppelt verglaste Fenster – Polizeisirenen, Hupen, das Kreischen eines Motorrads. Hier herumzugehen, erscheint mir nicht richtig.

»Ich muss zurück«, krächze ich.

Die Schwester runzelt die Stirn, dann lächelt sie. »Ich bringe Ihnen Schmerztabletten und fülle Ihren Tropf nach.«

»Ich muss in der Natur wandern … nicht in Städten und Krankenhäusern …«, lalle ich hinter ihr her.

Ich schließe die Augen und gelobe mir noch etwas – von jetzt an werde ich nur noch Wanderurlaube machen. Unser jüngstes Kind ist sieben. Das älteste ist vierzehn. Von jetzt an wird nicht mehr am Strand herumgelegen. Oder am Pool gefaulenzt. Von jetzt an werden wir über Zäune klettern und auf Berge steigen, über Hügel und durch Täler, an Klippen entlang- und durch Wälder wandern … Von jetzt an werden meine wunderbaren autofanatischen, tempobegeisterten und bildschirmfixierten Kinder wandern.

Ich bin ohne Auto aufgewachsen. Meine Eltern konnten nicht Auto fahren und haben sich konsequent geweigert, den Führerschein zu machen. Wir sind also notgedrungen zu Fuß gegangen. Aber wir sind auch jeden Tag nur zum Vergnügen zu Fuß gegangen.

Als junge Frau verliebte ich mich in einen Bergsteiger, und aus den Spaziergängen meiner Kindheit wurden Wanderungen in den abgeschiedensten Gegenden des Himalaja, in den Alpen, im Peak District, im Lake District, in den Brecon Beacons und in den Black Mountains. Der Bergsteiger ist aus meinem Leben verschwunden, und dann kam Matthew, ein begeisterter Wanderer, den ich geheiratet habe. Wir verbrachten unsere Wochenenden und unsere Urlaube mit Wandern: in Snowdonia und in den South Downs, über den Devon Coastal Path, in Dartmoor, in den Yorkshire Moors und auf dem Kilimandscharo.

Nach der Geburt unseres ersten Kindes war es mit dem Wandern vorbei. Nach der Geburt unseres dritten Kindes habe ich meinen geliebten Beruf an den Nagel gehängt und mich der Tyrannei der Hausarbeit unterworfen. Meine Welt ist immer mehr geschrumpft.

Während ich meine Kinder in einer engen Stadtwohnung großzog, sehnte ich mich nach Grün, nach Ferne, nach frischer Luft. An manchen Vormittagen war die Sehnsucht nach Bäumen so unerträglich, dass ich das Gefühl hatte, mir platzt der Kopf, und ich dachte, ich drehe durch.

Dann bin ich mit den Kindern in den Park gegangen. Was ein sehr bescheidener Ersatz war für die weiten Ebenen und die langen Wanderungen, nach denen ich mich verzehrte. Schließlich habe ich angefangen, Bücher über das Wandern und über die Natur zu lesen, am Ende hatte ich permanent ein Buch in der Hand, während ich einhändig die Waschmaschine befüllte, Schniefnasen putzte, aufgeschlagene Knie versorgte und Legohäuser baute. Selbst abends im Bett habe ich gierig noch ein paar Absätze verschlungen, bevor ich erschöpft in einen unruhigen Schlaf gesunken bin.

Eine Zeitlang reichte mir das Lesen. In meiner Fantasie bin ich über schneebedeckte Berge gewandert, durch uralte Wälder, in denen das Sonnenlicht durch das hohe Blätterdach sickerte, über bunte, von blassgrünen Weiden gesäumte Frühlingswiesen, ich bin an schäumenden Bächen und reißenden Flüssen entlang-, durch Moore, weite Täler und Sümpfe gewandert, während über mir Falken und Bussarde kreisten.

Und doch nagte etwas an mir. Etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte. Das vage Gefühl, dass die Bücher nicht wirklich für mich gedacht waren, sondern nur zu meiner Beruhigung dienten. Ich habe versucht, dieses immer drängender werdende Gefühl des Abgekoppeltseins abzuschütteln, aus Angst, ohne meine Bücher unter dem Druck des Daseins als Hausfrau und Mutter zusammenzubrechen.

Als ich eines Abends meine Nachttischlampe ausschalten wollte, fiel mein Blick auf den Bücherstapel auf meinem Nachttisch, und ich bemerkte etwas, das mir bis dahin komplett entgangen war: Auf jedem Buchrücken stand ein Männername. Ich war total verblüfft darüber, dass ich, obwohl ich mich als Feministin betrachtete, beim Kauf oder beim Ausleihen eines Buchs nie darauf achtete, ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben war.

Damals ging ich regelmäßig mit den Kindern in die Kinderbuchabteilung des örtlichen Buchladens, und wenn ich mit Kindern, Rollern, Stofftieren und einem überladenen Kinderwagen völlig gestresst zur Kasse eilte, schnappte ich mir im Vorbeigehen noch schnell ein Buch von einem Tisch, ohne groß auf den Titel zu achten, Hauptsache, es war ein Vogel oder ein Baum auf dem Umschlag abgebildet.

Als ich jetzt meinen Bücherstapel betrachtete und auf jedem Buchrücken einen Männernamen las, stutzte ich. Ich fragte mich, ob ich mich deshalb auf so seltsame Weise abgekoppelt fühlte, weil mir das Lesen nicht wie Inspiration vorkam, sondern wie ein Beruhigungsmittel.

Acht Tage nach meinem Sturz wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Meine gebrochenen Schädelknochen mussten allmählich wieder zusammenwachsen. Freunde und Verwandte stützten mich. Ich konnte nur sehr langsam gehen, doch in Gedanken machte ich bereits große Pläne für lange Wanderungen.

Ich ging meine Bücher durch, und wieder fiel mir die Abwesenheit von Frauen auf. Während ich in meiner Küche umhertaperte, fand mein verwirrtes Gehirn keine Ruhe. Das Bild von kernigen Männern mit Wanderstöcken, die, den Wind in den Haaren und frei von der Last häuslicher Sorgen auf ihren breiten Schultern, kräftig ausschritten, ging mir nicht aus dem Kopf.

Der Gegensatz zwischen der Enge und Beschränktheit des für Frauen vorgesehenen häuslichen Lebensraums und der Weite, durch die diese sorgenfreien Männer streiften, beschäftigte mich unablässig. Diese Wanderer hatten Mütter, Ehefrauen, sogar Kinder. Aber wo waren die? Warum wurden sie fast nie erwähnt? Vielleicht schafften diese Frauen genau das Heim, das es den Männern ermöglichte, so entspannt und freudig in die Welt hinauszuziehen.

Ich war nicht sauer auf diese Männer (die meisten von ihnen waren sowieso längst tot), aber dass niemand ihr Vorrecht infrage stellte, machte mich wütend. Und ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich mir bisher nicht mehr Bücher von Schriftstellerinnen ausgewählt hatte. Denn es gab doch sicherlich auch Frauen, die gewandert waren und über ihre Erfahrungen geschrieben hatten, oder?

Ich durchforstete das Internet, Antiquariate, Bibliotheken. Es waren kaum Frauen zu finden. Es war, wie Rebecca Solnit, eine der wenigen Frauen, die über das Wandern geschrieben hat, bemerkte: »In der Geschichte des Wanderns spielen Männer die Hauptrolle.«[1]

Hin und wieder stieß ich bei meinen Recherchen auf den Namen von Virginia Woolf. Ich habe meine Jugend im Schatten der South Downs verbracht, wo Woolf viele Jahre lang gelebt und ausgiebige Wanderungen unternommen hat. Meine Eltern wohnten immer noch dort, und so begann ich, mir vor jedem Besuch eine von Woolfs Wanderrouten herauszusuchen und ihren Spuren durch die South Downs zu folgen. Auf diesen Wanderungen fand ich mein inneres Gleichgewicht wieder, meine Stimmung verbesserte sich zusehends. Ich konnte wieder atmen.

Ich empfand es als beglückend, die Landschaft so zu erleben, wie Woolf sie in meiner Vorstellung erlebt hatte – die sanften grünen, von Schafen abgegrasten Hügel, das gekräuselte silbrige Meer in der Ferne, die Lerchen, die plötzlich vor meinen Füßen aufflogen, die träge Sommersonne. Ich stellte mir vor, wie Woolfs eigensinniger Verstand all das aufnahm, filterte und in Kunst verwandelte.

Gleichzeitig beschäftigte mich immer noch die Frage, dass bestimmt noch andere Frauen außer Virginia Woolf gewandert sind. Auch sie mussten doch über die Wohltaten des Wanderns in der freien Natur geschrieben haben. Ein paar Namen fielen mir ein: Dorothy Wordsworth, die Brontë-Schwestern, Elizabeth Bennett in Stolz und Vorurteil … aber keine dieser Frauen hatte so viel Aufmerksamkeit und Berühmtheit erlangt wie die Männer in dem Bücherstapel neben meinem Bett.

Ich intensivierte meine Suche nach Wanderinnen, und obwohl die freie Natur weitgehend wandernden, umherstreifenden, kletternden, jagenden, schießenden und angelnden Männern vorbehalten ist, entdeckte ich mit der Zeit immer mehr (häufig unveröffentlichte oder vergriffene) Berichte von Frauen, die über ausgiebige Wanderungen schrieben.

Im kühlen, modernen Ambiente des Alpinen Museums in München fand ich sepiafarbene Fotos von Frauen, die gewandert und geklettert waren – in engen Korsetts, bodenlangen Röcken und Hüten mit sehr breiten Krempen. Allerdings war von den meisten kein Name bekannt. Die Namen der Männer, die im Museum vertreten waren – neben Erstausgaben ihrer Bücher, ihren Gemälden, ihren Fotos, ihren Originalsteigeisen – waren einschließlich ihrer Geburts- und Todesdaten auf Plaketten verewigt. Die Frauen jedoch, die mich aus den Fotos anschauten, blieben namenlos. Ich fragte eine Museumsangestellte, wer die Frauen seien.

Sie zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Vielleicht Ehefrauen oder Schwestern.«

Wenn das Wandern in der freien Natur eine derart erholsame, regenerative Wirkung hat (was mittlerweile sogar wissenschaftlich belegt ist), warum sind Frauen dann davon ausgeschlossen? Oder ist dem gar nicht so? Aber weshalb wissen wir dann nichts über diese Frauen?

Die meisten Frauen, die sich mutig auf Wanderschaft begaben – und späteren Generationen als Vorbild hätten dienen können –, sind im Nebel der Geschichte versunken. Einige von ihnen, wie Nan Shepherd, kommen allmählich wieder zum Vorschein, ihre Berichte werden wiederentdeckt, gedruckt, finden große Anerkennung. Andere, wie Simone de Beauvoir, sind zwar sehr bekannt, aber nicht als Wanderinnen. Viele jedoch wurden verdrängt von einem auf sich selbst verweisenden männlichen Kanon der Wander- und Naturliteratur, von rein männlichen Wander- und Klettervereinen, von Verlagen, die traditionell von Männern geleitet werden. Man nahm an, dass Wandern für Frauen zu gefährlich sei.

Auch ich habe mich mitschuldig gemacht, weil ich nicht viel eher auf die Idee gekommen bin, diesen wenigen, im Stillen schreibenden Frauen zu ihrer wohlverdienten Aufmerksamkeit zu verhelfen. Nebenbei bemerkt ist dieser Kreis im Lauf der vergangenen zehn Jahre unter großer Zustimmung stark angewachsen.

Als ich mit meinen Nachforschungen in Bibliotheken und Archiven begann, stieß ich auf immer mehr Hinweise, dass auch Frauen schon immer gewandert sind. In der Geschichte wimmelt es nur so von unsichtbaren Frauen, für die das Zu-Fuß-Gehen eine Lebensnotwendigkeit war. Und in unveröffentlichten und vergriffenen Reiseführern, Briefen, Manuskripten und auf Gemälden begegneten mir Frauen, die auf der Suche nach Inspiration, Wohltat und Freiheit gewandert sind. Immer mehr gewann ich den Eindruck, dass sie viel größeren Mut, Verwegenheit und Improvisationsvermögen besessen haben müssen als Männer. Sie hatten keinen Militärdienst absolviert, weder Kenntnisse in der Kunst der Navigation noch wussten sie sich selbst zu verteidigen. Weil sie sich allein in der freien Natur bewegten, setzten sie nicht nur ihren guten Ruf, sondern ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel, worüber sich die meisten Männer keine Gedanken zu machen brauchten. Allein zu wandern, verlangte von diesen Frauen ein Ausmaß an Mut – ja, Tollkühnheit –, das wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können.

Was hat den plötzlichen Wagemut, ihrem Alltag zu entkommen, ausgelöst? Was hat diese Frauen dazu getrieben, meilenweit mit einem Rucksack auf dem Rücken zu marschieren, nicht selten allein und häufig in einsamen, abgeschiedenen Gegenden? Wie haben sich ihre Erfahrungen auf sie ausgewirkt?

Natürlich hatte ich nicht genug Platz zur Verfügung, um alle bemerkenswerten Frauen, die ich gefunden hatte, zu porträtieren. Schließlich habe ich einige Frauen ausgewählt, deren Leben sich durch das Wandern verändert hat: Frieda von Richthofen, Gwen John, Clara Vyvyan zusammen mit Daphne du Maurier, Nan Shepherd, Simone de Beauvoir, Georgia O’Keeffe und – kurz umrissen – Emma Gatewood.

Was ich bei meinen Recherchen zutage förderte, war häufig schockierend, teilweise dramatisch, manchmal tragisch, aber immer sehr aufschlussreich. Diese Frauen sind nicht gewandert, »um alle Freiheit zu genießen, die ein Mann überhaupt haben kann« (wie Rousseau)[2], auch nicht zur körperlichen Ertüchtigung oder weil die Umstände es erforderten. Diese Frauen sind gewandert, um sich selbst zu finden; sie sind gewandert, um ihre Gefühlswelt in Ordnung zu bringen; sie sind gewandert, um ihre körperlichen Fähigkeiten auszutesten; sie sind gewandert, um sich ihrer Unabhängigkeit zu vergewissern. Sie sind gewandert, um zu werden.

Der Blick durch ihre Augen und die Landschaften, die sie durchwandert haben, haben mich nicht nur viel über sie, sondern auch über mich selbst gelehrt. Ohne dass ich es anfangs gewusst habe, war meine Reise auf ihren Spuren der Versuch, mich selbst freizuwandern und freizuschreiben.

Denn ebenso wie einige dieser Frauen bin auch ich vor etwas weggelaufen. Beim Wandern – durch Wüsten und Steppen, durch Täler und über Berge, an Kanälen, Flüssen und am Meer entlang, und in meiner Fantasie über ganze Landkarten – nahm das, wovor ich auf der Flucht war, Gestalt an. Es war nicht, was ich erwartet hatte. Es war größer und schwerer zu fassen. Und so ist ein Buch entstanden, in dem es ebenso um Gedankenspuren geht wie um die Spuren, die Frauenfüße beim Wandern hinterlassen; darum, wie wir wandern, und darum, wie wir werden.

1WIE ES ANFING

»Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meine Gedanken zum Schwingen zu bringen.«

Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, 1782

Als Kind bin ich jeden Tag über einen breiten, ausgefahrenen Feldweg, der an einem seichten Bach entlangführte, durch ein saftig grünes walisisches Tal gegangen. Das cwm raufgehen, hieß das bei uns zu Hause. Cwm ist walisisch für Tal. Ein Waliser würde sagen y cwm. Aber wir waren keine Waliser, sondern eine freiwillig im Exil lebende englische Familie, die versuchte, die Sprache und die Sitten des walisischen Dorfs anzunehmen, das meine Eltern als Wohnort gewählt hatten. Das cwm war weder richtig walisisch noch richtig englisch. So wie wir eben.

Als wir einmal an einem feuchten, windigen Tag durch das Tal gingen, eröffnete mein Vater mir, ich sei ein Experiment. Ich war fast zehn, groß genug, um mir gläserne Pipetten, bläuliche Flammen und purpurroten Funkenregen vorzustellen. Bei uns zu Hause wurde nie über wissenschaftliche Dinge geredet. Deswegen fand ich das Wort Experiment mit dem Beigeschmack des Verbotenen sehr aufregend, vor allem, weil es mir etwas Zauberisches zu verliehen schien.

»Was denn für ein Experiment?«, fragte ich neugierig.

»Wir haben dich so erzogen, dass du dich überall zu Hause fühlst«, sagte mein Vater. »Egal, wo du bist, und egal, bei wem du bist.«

Seine Worte verwirrten mich. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, nicht zu Hause zu sein, ganz zu schweigen davon, mich nicht zu Hause zu fühlen. Das Bild von Pipetten, bläulichen Flammen und Beschwörungsformeln verschwand. Plötzlich fühlte ich mich verunsichert. Mir dämmerte, dass ich eines Tages nicht mehr das Mädchen sein würde, das ich war. Dass ich woanders sein würde. Vermutlich ohne meine Familie. Und doch würde ich mich – erstaunlicherweise und obwohl ich mir ein bisschen wie eine Verräterin vorkommen würde – zu Hause fühlen.

»Gehen wir deswegen nicht mehr in die Schule?«, wollte ich wissen und fragte mich, ob meine Lehrerin, die dicke, immer ganz in Schwarz gekleidete Miss Jones, herausgefunden hatte, dass ich ein Experiment war. Meine kleine Schwester ging auch nicht mehr in die Schule, vielleicht war sie ja auch ein Experiment. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte, dass meine Schwester auch ein Experiment war.

Mein Vater hob den Blick, schirmte seine Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab und beobachtete zwei Bussarde bei ihren Sturzflügen. »Ihr geht nicht zur Schule, weil ihr hier draußen in diesem Tal mehr lernen könnt, als man euch jemals in diesem Höllenloch beibringen kann.« Er machte eine ausladende Bewegung, die das ganze grüne Tal einschloss.

»Aber warum bin ich ein Experiment?«, insistierte ich.

»Wir haben dich gemäß den Prinzipien eines Genies namens Rousseau erzogen«, antwortete mein Vater.

Das verstand ich nicht. Von einem Russoh hatte ich noch nie gehört. Mein Vater erklärte mir, dass Jean-Jacques Rousseau ein berühmter Philosoph war, der ein Buch über einen Jungen namens Émile geschrieben hatte. Und von dem Buch hatten meine Eltern sich bei meiner Erziehung inspirieren lassen. Genau wie wir war dieser Russoh viel gewandert (zusammen mit dem kleinen Émile, den er sich ausgedacht hatte). »Das Buch wurde verboten und verbrannt«, sagte mein Vater und schwang elegant seinen Wanderstab. »Nur wenige Wochen nach seinem Erscheinen wurden ganze Stapel davon verbrannt, und die Leute sind um das Feuer herumgetanzt.« Er schüttelte den Kopf, dann blieb er stehen und schaute mir in die Augen. »So fängt das Buch an: ›Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter den Händen des Menschen.‹«[1]

Ich betrachtete ängstlich seinen Wanderstab. Das untere Ende war ganz zerkratzt, weil er mit dem Stock immer Brombeerranken und Brennnesseln zur Seite schlug. War das ein Zeichen von VERDERBEN in den Händen eines Menschen?

»Rousseaus Ideen haben mit zum Ausbruch der Französischen Revolution beigetragen«, fügte mein Vater hinzu. »Aber Émile ist sein bestes Buch, und du bist nach ihm geformt. Du hast Émile im Blut.«

Die Vorstellung, nach einem Jungen geformt zu sein, gefiel mir nicht. Erst recht nicht die Vorstellung, einen Jungen im Blut zu haben. Eine Prinzessin wäre mir viel lieber gewesen. Am besten eine adoptierte Prinzessin. Aber das Französische an der Sache gefiel mir. Und das mit der Revolution auch. Beiden Wörtern haftete etwas Aufregendes und Exotisches an.

Damals lebten meine Eltern ihre eigene Revolution. Mein Vater, ein Dichter, und meine Mutter, die früher als Journalistin für die Vogue gearbeitet hatte, waren in ein kleines walisisches Dorf geflüchtet, weil sie ein einfaches, urwüchsiges Leben führen wollten. Sie pflanzten Obstbäume, bauten ihr eigenes Gemüse an und verschickten kryptische Rundbriefe an ihre Freunde.

Von diesem Außenposten an der schroffen walisischen Küste aus bewegten wir uns fort. Wir gingen grundsätzlich zu Fuß. Um Nahrung zu suchen. Damit uns nicht kalt wurde. Aus Protest. Weil die Landschaft schön und unberührt war. Weil Jean-Jacques Rousseau es vorschrieb.

Natürlich haben wir uns auch mit anderen Dingen beschäftigt. Wir lernten Walisisch. Wir lernten, vom Hungerlohn eines armen Poeten gut zu leben. Wir lasen viel. Wir malten und zeichneten. Wir kochten und gärtnerten. Wir hatten Hühner, Katzen und ein Schwein. Aber vor allem sind wir zu Fuß gegangen.

Das Zu-Fuß-Gehen wurde wohl deshalb zu einer Obsession, weil wir einige Dinge nicht besaßen. Wir hatten kein Auto, keine Zentralheizung, kein Telefon, keinen Fernseher, keine Fahrräder, keine Roller, keine Rollschuhe – wir hatten überhaupt nichts mit Rädern; wir fuhren nicht in Urlaub, wir hatten keine Tiefkühltruhe, keine Mikrowelle und keine Waschmaschine, auch kein Radio, keinen Plattenspieler, keinen Kassettenrekorder. Und wir hatten kein Geld.

Folgende Dinge waren bei uns verboten: Comics, Bücher von Enid Blyton, Puppen mit spitzen Brüsten und Namen wie Barbie oder Cindy, weißes Toastbrot in Plastiktüten, Süßigkeiten, Popmusik, Schuhe mit Plateausohle.

Außerdem gab es damals kein Internet, kein Amazon, kein Uber, keine Fastfood-Restaurants, keine Billigflieger, keine Bildschirme, keine Espressomaschinen … kurz gesagt, keine Bequemlichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Aber Mr Rousseau und der von ihm erfundene Émile besaßen auch nichts von alldem.

Rousseau, der Schutzengel meiner Kindheit, hat der simplen Tätigkeit des Gehens etwas eher Mystisches verliehen, sie zur bestgeeigneten Methode des Philosophierens und der Selbstbesinnung erhoben. Er taucht in fast jedem Buch auf, das je zum Thema Wandern geschrieben wurde. Prägnante Rousseau-Zitate zieren Buchdeckel, Webseiten und Wanderblogs. Das Wandern war für Rousseau ebenso Ausdruck seiner Freiheit wie eine ideale Methode, um seine umherschweifenden Gedanken zu ordnen. Im Alter von fünfzehn Jahren hat er mit dem Wandern angefangen und ist sein Leben lang denkend gewandert. Später hat er einmal geschrieben: »Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und … meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen.«[2]

Mir selbst wurde die Einführung ins Wandern bereits im Mutterleib zuteil. Als meine Mutter mit mir schwanger war, las mein Vater ihr aus der Erziehungsfibel Émile vor. Während sie im Bett lag und ihren immer dicker werdenden Bauch streichelte, trug mein Vater mit sonorer Stimme Rousseaus Ansichten zur Bedeutung des Stillens, zu den Gefahren des Wickelns und dem Wert des Spielens an der frischen Luft vor. Noch heute frage ich mich, ob Rousseaus Wanderlust, seine Rastlosigkeit, sein Freiheitsdrang wohl bis in mein fötales Unterbewusstsein vorgedrungen sind.

Eines Tages, viele Jahre später, hat mein Vater mir erzählt, dass Rousseau alle seine fünf Kinder gegen den Willen seiner Lebensgefährtin als Säuglinge in ein Waisenhaus gegeben hat, was mich zutiefst erschüttert hat. Wie war es möglich, dass jemand einen derartigen Einfluss auf meine Kindheit gehabt hatte, obwohl er selbst nicht in der Lage gewesen war, seine eigenen Kinder großzuziehen? Vielleicht hätte ich mich durch Rousseaus Werk durcharbeiten, den Mann und seine Theorien gesondert betrachten sollen. Stattdessen habe ich versucht, mehr über Marie-Thérèse Levasseur herauszufinden, die Wäscherin, mit der Rousseau vierunddreißig Jahre lang zusammenlebte – die zu heiraten er sich jedoch bis zum Schluss weigerte. In Rousseau-Biografien taucht Thérèse eigentlich nur als Fußnote auf, aber 1991 wurden einige Briefe von ihr entdeckt, aus denen die Gelehrten erfuhren, wie fürchterlich sie gelitten hat, als Rousseau von ihr verlangte, ihren ersten Sohn wenige Wochen nach seiner Geburt in ein Waisenhaus zu bringen. Die gleiche Grausamkeit legte er bei allen weiteren vier Kindern an den Tag, die Thérèse zur Welt brachte. Weil sie total abhängig war von Rousseau, fügte sie sich widerstrebend.[3]

Eine ganze Weile ließ mich Thérèse’ eingeengtes, tragisches Leben nicht mehr los; das ging so weit, dass ich den Gedanken nur abschütteln konnte, wenn ich an die frische Luft ging. Denn Gehen ist nichts anderes als der körperliche Ausdruck von Freiheit. Beim Gehen haben wir vollkommene Kontrolle über unsere Muskeln und Gliedmaßen und wissen, dass wir in der Lage sind, uns von etwas fort zu bewegen, zu entkommen.

Und ich wollte Thérèse’ Geist entkommen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht den fiktionalen, durch die Hügel streifenden Émile, sondern Thérèse im Blut hatte.

»Hat das Experiment funktioniert?«, habe ich meinen Vater gefragt, wenige Monate nachdem ich erfahren hatte, dass ich ein Experiment war. Meine Schwester und ich gingen immer noch nicht zur Schule. Wir verbrachten unsere Tage damit, durch die Natur zu streifen und Wildblumen zu suchen, die wir mithilfe unseres Blumenführers Die walisische Flora bestimmten; anschließend zeichneten wir sie auf hauchdünnen DIN-A4-Bögen und schrieben Gedichte über sie. Seit Monaten hatten wir keine Zahlen mehr addiert, subtrahiert oder multipliziert. Zahlen, Naturwissenschaften überhaupt, wurden bei uns zu Hause nicht als wichtig erachtet. Ich fragte mich, ob Jean-Jacques Rousseau und sein Émile sich auch nicht mit Zahlen abgegeben hatten.

»Das Experiment ist noch nicht beendet«, lautete die geheimnisvolle Antwort meines Vaters.

»Aber ich gehe doch überallhin zu Fuß«, sagte ich. Ich war es leid, zu Fuß zu gehen und wollte Auto fahren. So wie Sian, die in dem Bauernhof gegenüber wohnte. Sian wurde mit dem Auto zur Schule gebracht. Sian fuhr im Auto nach Abersystwyth. Manchmal kurbelte sie ihr Fenster herunter und winkte mit ihrer klebrigen rosafarbenen Hand, wenn sie im Auto an uns vorbeirauschte. Sians motorisiertes Leben war glamourös und abenteuerlich. Ich hatte es satt, ein Experiment zu sein. Ich hatte es satt, nirgendwohin zu kommen, außer ins cwm und an den grauen Kiesstrand, wo es nach Meer und Fäulnis stank. Ich wollte wie Sian sein.

»Ja, du gehst überallhin zu Fuß«, sagte mein Vater. »Rousseau wäre sehr stolz auf dich.«

»Ich dachte, der wär tot«, entgegnete ich verwirrt. »Und wieso können wir nicht wie alle anderen auch ein Auto haben?« Oder einen Fernseher oder eine Tiefkühltruhe oder einen Toaster, fügte ich im Stillen hinzu. Das alles gab es bei Sian zu Hause. Außerdem besaß sie Plateauschuhe, um die ich sie fast so sehr beneidete wie um das Auto.

»Vielleicht bekommen wir eins.« Mein Vater rieb sich den Bart. »Bauer John nimmt mich heute Abend in seinem Auto mit. Er gibt mir Fahrunterricht.«

Mein Herz machte einen Purzelbaum. Ein Auto! Wir würden ein Auto bekommen und eine ganz normale Familie werden! Mein Vater würde ein normaler Vater sein und kein verrückter Dichter, der mit seinem Wanderstab herumfuchtelte. Ich würde ein normales Mädchen sein und kein Experiment. Ich würde keinen toten französischen Jungen mehr im Blut haben.

Als mein Vater am Abend von seiner Fahrstunde zurückkam, wirkte er still und verlegen. Er hatte das Auto in einen Graben gelenkt, wo es sich überschlagen hatte. Er und John waren unverletzt, aber das Auto hatte einen Totalschaden. Das war die letzte Fahrstunde seines Lebens. Und ich habe aufgehört, davon zu träumen, dass wir eine normale Familie werden würden.

Die wenigsten Frauen, die im Lauf der Geschichte lange Wanderungen unternommen haben, wurden für normal gehalten.

Simone de Beauvoir galt als merkwürdig, weil sie allein wanderte, noch dazu mit einer falschen Ausrüstung. Georgia O’Keeffe wurde für schrullig gehalten, weil sie nachts wanderte und riesige Knochen quer durch die Wüste schleppte. Gwen John galt als seltsam, weil sie unter Bäumen schlief, häufig zusammen mit ihren Katzen. Frieda von Richthofen – die vielleicht die meisten Grenzen überschritten hat – wurde ganz offen als anormal bezeichnet; welche Mutter verlässt schon ihre Kinder, um mittellos durch die Welt zu streifen?

Merkwürdig. Schrullig. Seltsam. Anormal. Wörter, die einschränken und tendenziell Angst auslösen, dass man nicht verstanden und ausgeschlossen wird. Aber ich war erzogen worden, damit ich notfalls im Tiefschnee in Island oder auf den glühenden Felsen von Malta überleben konnte (danke, Mr Ru-so). Wie hätte ich der Verlockung dieser mutig wandernden Frauen mit ihrem kühnen, ansteckenden Draufgängertum widerstehen können? Aber war ich auch so kühn wie sie?

2AUF DER SUCHE NACH FREIHEIT: FRIEDA VON RICHTHOFEN

Wälder, Berge und Seen, Deutschland und Italien. Unvertraute Landschaft. Erinnerung. Kleidung. Gut durchblutetes Gehirn. Staunen. Kinder.

»Etwas in ihr war zugrunde gegangen, etwas war zerbrochen, das nie wieder ganz sein würde. Sie akzeptierte das alles, all das Leid, das sie so verwundet zurückgelassen hatte, sie akzeptierte es.«

Frieda Lawrence, And the Fullness Thereof, 1964

Als Frieda von Richthofen, dreiunddreißig, aus dem deutschen Adel stammend, verheiratet und Mutter von drei Kindern, am 5. August 1912 aufwachte, regnete es. Es war halb fünf Uhr morgens. Weiß schimmernde Lichtstreifen fielen durch die Spalten an den Fensterläden. Während sie schlaftrunken die Augen öffnete, hörte sie, wie ihr junger Geliebter leise vor sich hin summend ihre Rucksäcke packte. Endlich würde sie zu einem echten Abenteuer aufbrechen, zu einem Wagnis, von dem sie seit zehn Jahren träumte. Es waren lange, öde zehn Jahre gewesen, ein von unterdrückten Gefühlen bestimmtes Leben in einem komfortablen Haus am Rand der Industriestadt Nottingham, das sie kaum noch ertragen hatte. Ohne die tiefe Liebe zu ihren Kindern und die eine oder andere heimliche Affäre hätte sie vollends den Verstand verloren.

Ihr Geliebter war der junge Schriftsteller D. H. Lawrence, Sohn eines mittellosen Bergmanns, den sie vier Monate zuvor kennengelernt hatte. Die beiden hatten tagelang Landkarten und Reiseführer studiert und eine Route ausgearbeitet, die sie durch das süddeutsche Alpenvorland, durch Tirol, über den Jaufenpass nach Bozen und hinunter zu den norditalienischen Seen führen würde. »Die alte Kaiserstraße«, schrieb Lawrence, hier »zogen die Kaiser mit großem Gefolge … südwärts … Das ist vergessen, kaum einer, der die alte Straße noch kennt.«[1]

Es war eine Flucht und zugleich eine Abenteuerreise. Es gab viele Gründe, warum die beiden flüchteten: Friedas Exmann Professor Ernest Weekley, Friedas Eltern, die den Geliebten der Tochter als unter ihrer Würde erachteten, der Postbote, der täglich Briefe von Ernest brachte, in denen er Frieda abwechselnd verbot, jemals wieder nach Hause zu kommen und sie anflehte zurückzukehren, worauf Lawrence vor Wut und Verzweiflung regelmäßig ausrastete.

Später wurde diese sechswöchige Wanderung als Durchbrennen glorifiziert. Aber anhand dessen, was wir heute wissen, war es wohl eher ein vehementer Akt der Befreiung, getrieben von der Sehnsucht nach einem Neuanfang. Mit dem ersten Schritt auf regennassen Wegen, mit dem sie diese sechswöchige Wanderung antrat, begann Friedas Prozess, sich als Frau ohne Kinder neu zu erfinden, sich von den Einschränkungen und der Verantwortung zu befreien, mit denen eine Mutter im edwardianischen England leben musste. Beinahe über Nacht verwandelte sie sich von einer modisch gekleideten Mutter und Herrin über einen riesigen Haushalt in eine Frau, für die Kleidung nicht in erster Linie modisch, sondern bequem sein musste (wandertauglich eben), die sich ihr eigenes Essen kochte und ihre Wäsche selbst wusch, die anstatt in der warmen Badewanne in eiskalten Teichen badete und anstatt ein modernes WC zu benutzen, kurz hinter einem Busch verschwand. Und sie wurde zu einer Frau ohne Kinder, ohne Nachbarinnen und ohne ein verzweigtes Netz aus Freundinnen. All das hatte sie aufgegeben, um ihren Platz in der Welt neu zu definieren und zu behaupten.

Friedas Isolation wurde zusätzlich durch die Wahl ihres Geliebten verstärkt. Lawrence stammte aus einem Bergarbeiterdorf in den Midlands und hatte einen Derbyshire-Akzent. Er trug billige Kleidung. Außerdem war er sechs Jahre jünger als Frieda, und das in einer Zeit, als man von Frauen erwartete, dass sie ältere Männer ehelichten. Indem sie ihre Kinder, ein luxuriöses Heim und ihren erfolgreichen Ehemann verließ, verstieß Frieda ohnehin schon gegen jedes nur denkbare Tabu, aber dass sie das für einen Mann wie Lawrence tat, war unfassbar.

Im Jahr 1912 verhielt eine Frau sich nicht so, erst recht keine Mutter.

Frieda und Lawrence schlüpften in ihre identischen Regenmäntel. Frieda setzte einen Strohhut mit rotem Samtband auf, Lawrence einen etwas ramponierten Panamahut. In ihrem Rucksack befand sich ein Spirituskocher, auf dem sie sich am Wegrand ihre Mahlzeiten zubereiten wollten. Zusammen besaßen sie dreiundzwanzig Pfund, was bis Italien kaum ausreichen würde. Frieda schlug vor, im Freien oder in Scheunen zu schlafen – nicht nur, damit sie Geld sparten, sondern auch, weil sie schon immer davon geträumt hatte, im Heu zu schlafen. Einmal versuchten sie es sogar, taten jedoch vor Kälte und weil das Heu pikste, die ganze Nacht kein Auge zu.

All das geht mir durch den Kopf, während ich auf den Tag genau einhundertsechs Jahre später meinen Rucksack packe. Werde ich genauso ausdauernd und guten Mutes sein wie Frieda? Sie war es überhaupt nicht gewohnt, durch Schnee zu wandern, in kalten Heuschobern zu schlafen, Eier auf einem Spirituskocher zu kochen. Aber sie machte nicht ein einziges Mal den Vorschlag, dass sie umkehren oder mit dem Zug weiterfahren sollten, obwohl gerade erst die Strecke von Innsbruck über Bozen nach Verona eröffnet worden war.

Ich kann mich immerhin damit herausreden, dass ich meinen Mann und meine Kinder im Schlepptau habe. Ich betrachte die vier Rucksäcke, die vier Paar Wanderschuhe, die vier Reisepässe. Es ist unsere erste Familienwanderung, an der nicht alle unsere Kinder teilnehmen. Unsere ältesten Töchter, inzwischen achtzehn, kommen nicht mit. Ähnlich wie Frieda gewöhne ich mich allmählich an die Vorstellung von einem Leben, in dem ich nicht länger als Mutter definiert werde. Es ist ein beunruhigendes Gefühl, denn es erinnert mich daran, dass das Muttersein eine unendliche Folge von Verlusten ist, ein unendlich oft wiederholtes Durchtrennen der Nabelschnur, die uns einmal mit unseren Kindern verbunden hat. Die Freiheit, nach der ich mich gesehnt habe, als sie mir noch alle am Rockzipfel hingen, schimmert am Horizont. Aber anstatt freudiger Erregung überkommt mich Wehmut bei dem Gedanken, dass mein Leben nie wieder so sein wird, wie es einmal war.

Einen Moment lang frage ich mich, ob ich Frieda von Richthofen jemals wirklich verstehen werde, eine Frau, die sich so verzweifelt nach Freiheit gesehnt hat, die so entschlossen war, sich selbst zu finden, dass sie ihre geliebten Kinder verlassen hat. Indem ich ihren Spuren folge, versuche ich, in ihren Kopf zu steigen, zu begreifen, wie die Luft der Alpen in jenen turbulenten Wochen ihre Gefühlslandschaft verändert hat. »Wir machten uns frohgemut auf den Weg«, hat sie vierundzwanzig Jahre später in ihren Memoiren Nur der Wind … geschrieben. »Es war für uns beide ein großes Abenteuer … wir waren glücklich, frei …«[2] Später schrieb sie, es sei ein packendes, ganz wunderbares Abenteuer gewesen. Und doch widmet sie diesem bedeutenden Lebensabschnitt – beide wagten den Aufbruch ins Ungewisse, der, da sind sich die Biografen einig, für Lawrence einer der Höhepunkte seines Lebens darstellte – in ihren Memoiren gerade mal einen Abschnitt. Mit diesem Abenteuer hat Frieda sich endgültig von ihrem alten Ich gelöst und alles aufgegeben, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte. Daran war Lawrence nicht nur mitschuldig, er war die treibende Kraft. Denn das ist doch letztlich das Schicksal einer Muse, oder? Sie muss sich gemäß den Wünschen ihres Meisters neu erfinden.

Aber in dieser Anfangsphase glaubte Frieda, sie sei viel, viel mehr als eine Muse. Sie hatte ihre Familie nicht verlassen, bloß weil sie einen Mann inspirieren wollte. Sie würde seine Mitstreiterin sein. Und dazu musste sie frei sein. Lawrence wollte, dass sie frei war. Das hatte sie verdient. Aber hat sie wirklich Freiheit gefunden, indem sie ihre Kinder und ihren biederen, erfolgreichen Mann verließ? Ich stopfe Friedas Memoiren in meinen Rucksack, dazu eine posthum veröffentlichte Sammlung von Gedanken und zum Teil fiktionalisierten Erinnerungen, die sie in unregelmäßigen Abständen während der letzten zehn Jahre ihres Lebens geschrieben hat. In einem Brief hat sie diese Erinnerungsschnipsel einmal beschrieben als ein interessantes Buch über ein Frauenleben, das besser erst nach ihrem Tod veröffentlicht werden sollte. Sie selbst ist nicht mehr dazu gekommen, die Fragmente zu überarbeiten oder zu ordnen, doch sie wurden später redigiert und unter dem Titel And the Fullness Thereof veröffentlicht. Ich hoffe, darin die Hinweise zu finden, die mir bisher entgangen sind.

Nachdem alles gepackt ist, ermahne ich meine Kinder, die sich lieber mit ihren Smartphones beschäftigen, als über von Ziegen bevölkerte Hügel zu wandern: »Wir machen eine Bergwanderung. Ihr braucht warme Sachen, falls wir mal im Heu übernachten müssen.«

»Ich schlaf auf gar keinen Fall im Heu«, knurrt Saskia.

»Muss ich unbedingt mit?«, stöhnt Hugo. »Wieso fahren wir überhaupt nach Deutschland? Keiner macht Urlaub in Deutschland.«

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ich folge den Spuren einer Frau, die vor ihrem Mann und ihren Kindern geflüchtet ist – in Begleitung meiner Familie.

»Genau«, sagt Saskia. »Du hast dein Buch über Deutschland doch fertig. Wieso fahren wir also noch mal hin?«

Sie hat recht. Ich habe Friedas Geschichte aufgeschrieben. Vor ein paar Jahren habe ich einen Roman über die junge Frieda von Richthofen geschrieben, in dem ihre Zwangslage, ihre Beziehung zu Lawrence und die Kollateralschäden ihres Handelns beleuchtet werden. Ihre Flucht aus Nottingham ist eins der Hauptthemen des Buchs. Ich habe jahrelang recherchiert, habe jeden einzelnen ihrer Briefe, jeden Kommentar von Freunden und Verwandten gelesen. Aber die sechswöchige Bergwanderung habe ich geschickt ausgelassen. In einer einzigen Zeile habe ich flüchtig gestreift, was Frieda selbst als ihr großes Abenteuer bezeichnet hat, ihre Beinahe-Hochzeitsreise. Natürlich habe ich versucht, die Episode mit aufzunehmen, aber irgendwie schien sie nicht zu passen. Es war, als versuchte ich, das falsche Teil in ein fast fertiges Puzzle einzufügen. Schließlich habe ich sie einfach weggelassen und die Geschichte darum herumgebaut. Aber warum habe ich eigentlich Friedas großes Abenteuer weggelassen?

»Ich habe etwas sehr Wichtiges ausgelassen und möchte rausfinden, warum«, antworte ich.

Saskia gähnt. »Alles klar.«

Wir erreichen unsere Pension, einen Backsteinbau, in dessen Erdgeschoss sich ein Supermarkt befindet. Die Luft ist erfüllt vom metallischen Scheppern der Einkaufswagen. Wir sind in Ebenhausen, einem unscheinbaren Dorf südlich von München, wo Frieda und Lawrence im Nachbardorf in einer Wohnung untergekommen waren, die dem Liebhaber von Friedas verheirateter Schwester gehörte. Die fünf Wochen, die sie hier verbrachten, waren von einem Wechselbad der Gefühle geprägt – einem Auf und Ab zwischen heißer Leidenschaft und tiefer Verzweiflung.

Sie kannten einander kaum; erst acht Wochen zuvor hatten sie sich bei einem Mittagessen kennengelernt, zu dem Ernest Weekley seinen ehemaligen Studenten Lawrence eingeladen hatte, um mit ihm über Arbeitsaussichten in Deutschland zu sprechen. Der arme Ernest wollte nur seinem ehemaligen Studenten unter die Arme greifen, doch er kam eine halbe Stunde zu spät zum Mittagessen. Und in dieser halben Stunde hatte es zwischen Frieda und Lawrence gefunkt, denn sie waren in ein äußerst geistreiches, spritziges Gespräch geraten, wonach sich beide bisher vergeblich in Nottingham gesehnt hatten. Beide waren eine Offenbarung füreinander. Lawrence marschierte die dreizehn Kilometer in sein Heimatdorf Eastwood zurück und schrieb Frieda sofort einen Brief, in dem er ihr erklärte, sie sei die großartigste Frau in ganz England.

Frieda saugte das überschwängliche Kompliment gierig auf. Seit Jahren drehte sich ihr Leben um ihre drei kleinen Kinder, auch wenn sie ein paar heimliche Affären gehabt hatte, damit sie die erstickende Langeweile des Hausfrauendaseins in Nottingham ertrug, als Ehefrau eines arbeitswütigen Etymologen, der sie – so glaubte sie – nie verstanden hatte. Ihre Langeweile stand in krassem Gegensatz zu dem ausschweifenden Leben ihrer beiden Schwestern (eine jünger, eine älter), die in Deutschland lebten, wesentlich wohlhabender waren, sich aufregende außereheliche Affären gönnten und ein ganz anderes Selbstwertgefühl entwickelt hatten.

Als alle drei Schwestern Kinder bekamen, brach die von ihren Eltern während ihrer Kindheit angestachelte Rivalität zwischen ihnen wieder auf. Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt, als Frieda im Sommer 1907 nach München reiste und ihrer älteren Schwester den Liebhaber ausspannte. Diese heftige, wenn auch kurzlebige Romanze legte den Grundstein für Friedas spätere Hemmungslosigkeit. Das Objekt ihrer Begierde war damals Otto Gross, Pionier auf dem Gebiet der Psychoanalyse und Verfechter der freien Liebe. Der Protegé von Freud und Jung erklärte ihr wiederholt, sie habe einen starken Freiheitsdrang, sie sei für die Freiheit geboren. Als fünf Jahre später Lawrence in ihr Leben trat, war sie reif – bereit, sie selbst zu sein. Dies war von nun an ihr Lebenszweck: zu sein, zu existieren, und so »war mir wohl wie einer Forelle im Bach oder einer Blume in der Sonne«[3], wie sie in ihren Memoiren schrieb.

Kein Wunder, dass Lawrence sie so leicht eroberte. Natürlich ist die Geschichte ein bisschen komplizierter. Es gibt ebenso viele Biografen, die behaupten, er habe sie von ihrem Mann weggelockt, wie solche, die davon überzeugt sind, dass sie ihn mit weiblicher List umgarnt hat, und der arme Lawrence ihr hemmungslos ausgeliefert war. Und dann gibt es noch jene, die glauben, die beiden seien im Liebeswahn zusammen durchgebrannt. Jede dieser Versionen birgt ein Körnchen Wahrheit. Nichts ist jemals nur schwarz und weiß. Unser aller Leben besteht aus Grautönen.

Am Freitag, dem 3. Mai 1912 hat Frieda einen kleinen Koffer gepackt, ihre zwei kleinen Töchter für die Reise fein gemacht, hat sich von ihrem Sohn verabschiedet und ist mit ihnen in den Zug nach London gestiegen. Sie wollte anlässlich des fünfzigsten Armeejubiläums ihres Vaters, des Barons von Richthofen, nach Metz reisen (das damals zu Deutschland gehörte), die Stadt, in der sie aufgewachsen war und in der ihre Eltern nach wie vor lebten. Zunächst brachte sie ihre Töchter nach Hampstead zu ihren Schwiegereltern, dann fuhr sie zum Bahnhof Charing Cross, wo sie vor der Damentoilette mit Lawrence verabredet war. Zufällig reiste auch er zu einem Verwandtenbesuch nach Deutschland, es war also eine gute Gelegenheit für die beiden, ein paar Tage zusammen zu verbringen.

Am Abend vor ihrer Abreise hatte Frieda ihrem Mann eröffnet, dass sie ihm keine treue Ehefrau war. Als Ernest nicht auf ihre gewagte Beichte reagierte, verließ sie das Zimmer unter Tränen. Lawrence wurde an dem Abend mit keinem Wort erwähnt, auch von Scheidung war keine Rede, erst recht nicht davon, dass Frieda im Begriff war, ihren Mann zu verlassen. Als sie den Zug nach Metz bestieg, ahnte sie nicht, dass ihr Leben als Mutter zu Ende war.

Ein paar Tage später dämmerte Ernest Weekley, was Frieda ihm hatte beichten wollen, zählte eins und eins zusammen und vermutete, dass Frieda mit einem Liebhaber nach Metz gefahren war. Er schickte ihr ein Telegramm, fragte, ob sie allein sei, und verlangte eine aus einem Wort bestehende Antwort. Ihre Antwort lautete: Nein.

Ernest war am Boden zerstört, aber es war die Wahl ihres Liebhabers, die ihn am meisten aufbrachte. Lawrence war einer adeligen Frau wie Frieda nicht würdig. Lawrence sei kein Gentleman, schimpfte er, und ein Gentleman zu sein – mit allem, was dies mit sich brachte, wie Pflicht, Ehre und gesellschaftliche Stellung –, war für Ernest von ungeheurer Bedeutung. Friedas Vater, Baron von Richthofen, sah die Sache genauso, für ihn war Lawrence ein mittelloser Flegel. Für viele Außenstehende stellte die Wahl ihres Geliebten ihre größte Sünde dar. Ich dagegen finde Friedas kopflose Entscheidung, ihre Freiheit über das Wohl ihrer Kinder zu stellen, am radikalsten. Es war eine Entscheidung, die ihr für den Rest ihres Lebens schlaflose Nächte bereiten sollte.

Frieda und Lawrence waren noch im Dunkeln aufgestanden, hatten sich angezogen und waren losgegangen. Die Buchen und Kastanien umgab dichter Nebel. So ehrgeizig sind wir nicht. Wir nehmen uns Zeit für ein deutsches Frühstück mit viel Wurst und entschließen uns dann, die sechzehn Kilometer, die Frieda und Lawrence durch das Isartal gewandert sind, mit dem Fahrrad zu fahren. Es ist natürlich alles andere als authentisch, und das irritiert mich. Wie soll ich Frieda verstehen, wenn ich die Strecke, die sie gewandert ist, mit dem Fahrrad zurücklege? Ist das nicht geschummelt? Ich rede mir ein, dass Frieda auch mit dem Rad gefahren wäre, wenn sie es sich hätte leisten können, wenn es damals Mietfahrräder gegeben hätte, wenn es damals Mountainbikes mit dicken Reifen gegeben hätte.

Wir radeln die Isar entlang, deren Wasser jadegrün schimmert. Kiesbedeckte Ufer, viel grünes Schilf, Buchenwald am Steilhang. Unsere Reifen rollen schmatzend über einen matschigen Weg. Die Luft ist warm, schwer von Pollen und Staub, und es riecht nach frisch gesägtem Holz. Wir radeln an den ordentlichsten Holzstapeln vorbei, die ich je gesehen habe: Baumstämme nach Länge, Dicke und Sorte geordnet. Es sind die Hundstage, die Blätter an den Bäumen fangen schon an, zu vertrocknen und sich zu kräuseln, aber der Himmel ist stahlblau.

Das Blau des Himmels, das Blaugrün des Wassers zu unserer Linken, das Grün der Buchen, der Geruch nach Rinde und Harz und verrottenden Blättern, der Geschmack nach Erde und Laub auf meiner Zunge … Details, die Frieda in ihrem knappen, zwei Absätze umfassenden Bericht erwähnt: »… das saftige Grün des Tals … der Wind … die Berge«.[4] Ich habe darüber gelesen, wie die Natur unseren Körper, unser Gehirn, unsere Gefühle beeinflusst. Anscheinend wirken sich Blau- und Grüntöne beruhigend auf uns aus. Eine Theorie besagt, wenn wir von Blau und Grün umgeben sind, entspannt sich unser Körper, weil wir wissen, dass Nahrung und Wasser nicht weit sind.[5]

Zahlreiche Studien belegen, dass das Aufhalten in der freien Natur den Blutdruck und den Blutzucker senkt, das Immunsystem stärkt, die Stimmung hebt, Energie verleiht und den Kopf frei macht. Man löst besser Probleme und erweitert den gedanklichen Horizont. Frieda, seit ihrer Kindheit Pantheistin, hätte über dieses wissenschaftliche Zeugs die Nase gerümpft. Sie wusste instinktiv, dass sie und Lawrence auf ihrer Wanderung durch Wälder, an Bächen und Flüssen entlang und über Berge, die Entschlusskraft finden würden, die sie brauchten. Später schrieb sie: »Das alltägliche Gefühl für Zeit und Raum hatten wir verloren. Die Blumen … die Glühwürmchen des Nachts, die gleich einem zarten Schleier von den Bäumen hingen, während unsere Füße in den dürren Blättern des vorigen Jahres versanken, das waren unsere Ereignisse, daran lasen wir die Zeit ab.«[6]