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Dennis ist 39 Jahre alt und bereits Polizeihauptkommissar. Sein neuester Fall bringt ihn an seine Grenzen. Der Verlobte der jungen Amelie, wurde vor ihren Augen auf bestialische Art und Weise hingerichtet. Seit diesem schockierenden Erlebnis spricht Amelie kein Wort mehr und hat sich in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen. Aufopferungsvoll versucht Dennis der jungen Frau zu helfen, zurück in die Realität zu finden. Doch sind seine Absichten wirklich so selbstlos, wie es den Anschein macht? Dennis trägt ein dunkles Geheimnis in sich: Er ist eine tickende Zeitbombe …
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Dannie Rubio ist im beschaulichen Städtchen Schaffhausen in der Schweiz aufgewachsen. Schon in der Schule liebte sie es, Aufsätze zu schreiben, Geschichten zu erzählen und auf Papier zu bringen. Ihr Lebensweg hat sie durch verschiedene Etappen geführt. So lebte sie in Los Angeles, Madrid, Solothurn, Extremadura, Zürich, Luzern und schließlich in Alicante, wo sie mit ihrem Mann, Sohn und Hund sesshaft geworden ist. Hier erwachte auch wieder ihr lang gehegter Traum des eigenen Buches. Dannie verschlingt Bücher aus dem Thriller Genre wie andere Schokolade. Ihre Bücher entstehen in ihrem Herzen. Dannie schreibt Geschichten, die berühren, zum Nachdenken bewegen, schockieren, Hoffnung machen, herausfordern, aber einen auch zum Lachen bringen.
Dannie Rubio hat die Ausbildung zu Rennreiterin in der Schweiz absolviert. Pferde begleiteten sie ihr ganzes Leben lang. Bis sie das BMX-Rad vor 3 Jahren neu entdeckte. Seither findet man sie jeden Tag auf ihrem BMX-Rad am Trainieren. Sie fährt Rennen in ganz Europa, startete 2019 an der Weltmeisterschaft in Belgien.
© 2021 Dannie Rubio
Herausgeber: HumanTalent & Me Autor: Dannie Rubio
Umschlaggestaltung, Illustration: © Phoenix Graphics Spain
ISBN: 978-619-91805-3-2
Lektorat: Holger Bruns & Human Talent & Me
Verlag & Druck: Human Talent & Me Verlag/ LLAR digital Spain
Calle Bonitol 4
03110 Mutxamel/Spain
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
1.
„Bitte nicht, Vater!“, ruft Dennis verzweifelt. „Ich tu es nie wieder, ich verspreche es.“
„Ich habe deine leeren Versprechungen satt. Wer nicht hören will, muss fühlen.“
Ohne Gnade, und ohne jegliches Mitgefühl mit seinem 9-jährigen Sohn, schlägt Oliver zu. Für diese speziellen Fälle hat er sich extra einen Bambusstock angeeignet. Es soll wehtun. Sein Junge soll fürs Leben lernen. Er soll ein starker, selbstsicherer Mann werden. Dennis kauert sich auf den Boden, er weint – vor Schmerz und vor Verzweiflung. Bei jedem Schlag zuckt er zusammen und stöhnt laut auf. Zehnmal donnert der Stock auf ihn nieder, ohne an Intensität zu verlieren. Dennis‘ Rücken ist mit blutigen Striemen übersät. Wimmernd liegt er auf dem Boden. Seine Mutter mischt sich nicht ein, sie würde Dennis anders erziehen, aber wagt es nicht, Oliver zu kritisieren. Zufrieden verlässt sein Vater das Zimmer. Dennis kriecht auf allen vieren zu seinem Bett, sein Rücken brennt, als ob ein Feuer darauf wüten würde. Schluchzend wischt er sich die Nase an seinem Ärmel ab. Er hat seiner Mutter zwei Euro aus dem Portemonnaie geklaut, er wollte sich Schokolade kaufen. Dennis liebt Schokolade, aber zu Hause gibt es nie welche. Alles, was auf Zuneigung hinweisen könnte, wird strikt vermieden. Liebe macht Jungs weich. So lautet der Leitsatz seines Vaters. Ein Junge muss mit Härte und Strafe erzogen werden. Sonst wird er es nie zu etwas in seinem Leben bringen.
Schweißgebadet schreckt Dennis aus dem Schlaf hoch. Mit aufgerissenen Augen blickt er im Schlafzimmer umher. Er schluckt, es war nur ein Traum.
„Hattest du wieder einen Albtraum?“ Pia, seine Frau, verdreht genervt die Augen.
„Schlaf weiter, es ist noch zu früh.“ Pia dreht sich um und schläft weiter.
Dennis atmet schwer. Er ist 39 Jahre alt, doch sein Vater hat ihn noch immer in seinen Fängen. Mindestens einmal in der Woche träumt er von ihm. Wie er ihn schlägt. Und wenn er dann aufwacht, fühlt er sich wieder wie der verzweifelte 9-jährige Junge. Aus dem kleinen Dennis wurde ein gut aussehender 185 cm großer Mann mit Ausstrahlung, Charme und keiner Ahnung, wie er mit Gefühlen umgehen soll. Seine kurzen gewellten Haare sind fast schwarz, seine auffälligen apfelgrünen Augen verleihen ihm ein jungenhaftes Aussehen. Und sein Lächeln ist verschmitzt. Sein markantes Gesicht strahlt Ruhe aus. Wenn man ihn nicht besser kennt, würde man niemals denken, dass er mit sich selber überfordert ist. Beruflich hat er es weit gebracht. Er war einer der jüngsten leitenden Beamten im Polizeipräsidium. Heute ist er der erste Polizeihauptkommissar seines Alters in der Stadt. Darauf ist er stolz. Seinem Vater hat seine Berufswahl nie zugesagt. Er wollte, dass er Arzt oder Anwalt wird. Doch Dennis hat sich durchgesetzt. Kurz nach seinem 20sten Geburtstag ist sein Vater von einem Lastwagen überfahren worden. Er war sofort tot. Nicht nur das, er lag in 1000 Einzelteilen auf der Landstraße verteilt. So hat es ihm seine Mutter erzählt. Was er da getan hatte, konnte sich niemand erklären. Als seine Mutter ihm die tragische Nachricht überbrachte, war er nicht traurig. Im Gegenteil, er musste sich abwenden, weil er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Bevor er mit Pia zusammenkam, mit der er bereits fünf Jahre verheiratet ist, hatte er eine zweijährige Beziehung mit Petra, einer hübschen, wilden jungen Frau. Zu wild, wie sich herausstellte. Petra ist fremdgegangen. Dennis konnte mit dem Schmerz, den er fühlte, nicht umgehen, die Gefühle fraßen ihn auf, lachten ihn aus. Er reagierte, wie er reagieren musste. Wie er es von zu Hause aus kannte. Mit Strafe. Er hat Petra geschlagen, ins Gesicht, zweimal. Danach hat er sie nie wieder gesehen. Dennis hat sich geschworen, sich nie mehr auf eine Beziehung einzulassen. Doch dann lernte er Pia kennen, auf einer Geburtstagsparty eines Kollegen. Sie verstanden sich auf Anhieb, er mochte ihre unkomplizierte Art, ihr frisches Lachen und die fröhliche Ausstrahlung. Sie wurden ein Paar und heirateten ein Jahr später. Pia ist 31 und hat ihm vor Kurzem mitgeteilt, dass sie gerne Kinder hätte. Dennis wusste nicht, wie er reagieren sollte, es machte ihm Angst. Er will kein Kind schlagen, aber wie soll er es sonst erziehen? Er sagte ihr, dass er noch ein bisschen Zeit bräuchte. Pia war wütend auf ihn. Hat sich im Zimmer eingesperrt und ihn ignoriert. Vermutlich wartete sie darauf, dass er zu ihr geht und sich entschuldigt. Aber das tat er nicht. Es kümmert ihn nicht, wenn Pia beleidigt oder wütend auf ihn ist. Meist merkt er es nicht einmal.
2.
Erschöpft tritt Amelie in ihre gemeinsame Wohnung, die sie mit ihrem Freund Luca teilt. Seit drei Jahren sind die beiden ein Paar. Vor drei Monaten hat er ihr endlich einen Heiratsantrag gemacht. Amelie war außer sich vor Freude. Sie liebt Luca über alles. Seine fröhliche, unbeschwerte Art hat sie schon etliche Male aus den Tiefen der Traurigkeit geholt. Amelie kann manchmal nicht verstehen, was in ihr vorgeht. Hin und wieder wird sie von einer brutalen Traurigkeit heimgesucht, die ihr jegliche Kraft raubt. Luca glaubt, dass sie depressiv sei. Aber das will sie nicht hören. Amelies Mutter war depressiv und hat sich, nachdem ihr Mann, und Amelies Vater, fremdgegangen ist und die Scheidung wollte, das Leben genommen. Amelie war gerade mal 9 Jahre alt. Sie hat furchtbare Verlustängste. Manchmal denkt sie, dass sie auf einer einsamen Insel am besten aufgehoben wäre, da gäbe es nichts und niemanden, den sie verlieren könnte. Wenn Luca mal etwas später nach Hause kommt, dreht sie durch. Ihr Kopf spielt ihr dann zuverlässig die schlimmsten Szenarien im Detail und in voller Farbe vor. Wie Luca überfahren wird, wie er von einem Verrückten erstochen wird, wie er mit seinem Auto in einen Baum kracht, wie ihm ein Ziegelstein auf den Kopf fällt oder wie er sich selbst mit einem Strick um den Hals das Leben nimmt. So wie es ihre Mutter tat. Amelie hat sie gefunden, sie stand nur da und starrte auf die leblos von der Decke hängenden Mutter. Sie kapierte nicht, was geschehen war. Der Schock kam erst später und raubte ihre Worte. Ein halbes Jahr lang konnte sie nicht mehr sprechen und musste es fast wieder ganz neu erlernen. Amelie ist Tierärztin, seit Kurzem hat sie ihre eigene kleine Tierarztpraxis eröffnet. Sie liebt es, den Tieren zu helfen und die Besitzer glücklich zu machen, sofern es ihr gelingt. Mit ihren 30 Jahren sieht sie eher aus wie 25. Was auch an ihrem Erscheinungsbild liegt. Sie ist klein, trägt ihr blondes Haar kurz und wild in alle Richtung stehend. Ihre blauen Augen strahlen Wärme und Ruhe aus. Ihr Lächeln ist echt und herzlich. Luca ist 33 und ein Lebemann, jeder liebt Luca, er hat für jeden ein nettes Wort auf den Lippen. Das Leben ist ein Ponyhof für ihn. Nichts stresst ihn und nichts wirft ihn aus der Bahn. Er praktiziert Bungee-Jumping und im Winter fährt er Ski. Er liebt das Leben und er liebt Amelie. Als er damals vor drei Jahren in die Praxis eintrat, in der sie zu der Zeit noch arbeitete, ist er ihr sofort aufgefallen. Besorgt präsentierte er den Yorkshireterrier seiner Mutter. Das Hündchen habe was Falsches gegessen und windet sich vor Bauchschmerzen. Die Bauchschmerzen hatten ein Gesicht, genauer gesagt drei Gesichter in Form kleiner Welpen. Auch Luca fand Gefallen an Amelie und so verabredeten sie sich zu einem Kaffee. Von diesem Tag an waren sie unzertrennlich.
3.
Pia nervt. Sie zickt rum. Dennis hält es zu Hause kaum noch aus. Ständig schnauzt sie ihn an, motzt an ihm herum. Regelmäßig muss er alle Willenskraft aufbringen, dass er nicht einfach zuschlägt. Wenn er an diesem Punkt ankommt, verlässt er die Wohnung und geht in den Park oder in die Bar, wie jetzt gerade. Er sitzt am Tresen und bemitleidet sich selbst. Sein Vater hatte nur teils recht. Beruflich ist er diszipliniert, sicher und ehrgeizig. Aber er weiß einfach nicht, was er mit sich selbst anfangen soll. Seine Gefühle überfordern ihn, machen ihn fertig. Es ist etwas kaputt gegangen in seiner Beziehung zu Pia, er weiß es. Aber er wird sie nicht gehen lassen. Pia gehört ihm. Die letzten Monate haben an ihm gezerrt, er muss eine Entscheidung treffen. Als er drei Tage später im strömenden Regen an dem Haus vorbeigeht, an dem er die letzten Monate so oft vorbeiging, überkommt ihn tiefe Traurigkeit, aber auch Wut und Enttäuschung. Mit gesenkten Kopf geht er weiter.
Luca und Amelie planen ihre Hochzeit. In zwei Monaten soll es so weit sein. Noch sind sie sich nicht ganz einig über die Gästeliste. Amelie würde gerne nur Familie und ein paar allerbeste Freunde einladen. Luca möchte die ganze Welt dabei haben.
„Amelie, so ein Tag muss man mit der Welt teilen“, sagt er begeistert.
„Ich finde nicht, Luca, es ist etwas Privates, Intimes“, meint Amelie. Und wie immer in den letzten Tagen werden sie sich auch heute nicht einig.
„Ach Luca, ich geh mal was kochen.“
„Gute Idee, ich habe einen Bärenhunger. Was gibts?“
„Spaghetti.“
„Okay, Spaghetti geht immer.“
Amelie blickt aus dem Küchenfenster, bei Regen wird sie stets melancholisch. Ihre Mutter nahm sich das Leben an einem regnerischen Tag, Regen triggert ihre Erinnerungen. Vielleicht sollte sie in den Süden ziehen. Erschrocken reißt sie die Augen auf, als plötzlich ein Mann in diesem strömenden Regen vor ihrem Haus stehen bleibt. Er blickt direkt das Haus an. Amelie kann sein Gesicht nicht erkennen, denn er hat den Mantelkragen bis hoch zur Nase gezogen. Nach einer Weile verschwindet er endlich wieder. Amelies Herz rast, abgelenkt kocht sie die Spaghetti. Versalzen und verkocht landen sie schließlich auf dem Teller.
„Geht es dir gut, Amelie?“, fragt Luca und verzieht das Gesicht.
„Warum?“
„Hm … die Spaghetti sind, ähm … nicht … kann man nicht essen, Liebling.“
Bedrückt blickt sie auf den Teller. Luca hat recht. Lächelnd steht er auf und bestellt Pizzen.
„Macht nix, kann mal passieren.“ Er umarmt sie, setzt sich an den Küchentisch und surft an seinem Smartphone. Amelie sitzt da und blickt ihn an. Plötzlich hat sie Zweifel daran, zu heiraten. Passen sie wirklich zusammen? Will sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen? Woher soll sie das wissen? Aber sie liebt ihn doch? Oder nicht? Verwirrt schaut sie ihn noch immer an. Hübsch ist er. Luca hat dunkelblonde gelockte Haare, die er über die Ohren etwas länger trägt. Luca ist groß, knapp 190 cm, hat blaue, aufgeweckte Augen und geschwungene Lippen. Aber Schönheit ist ja bekanntlich auch nicht alles. Es hilft, wenn man sich streitet, aber sonst. Anderseits kann sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Allein der Gedanke daran macht sie schier verrückt. Endlich wird sie aus dem quälenden Gedankenstrudel gerissen. Der Pizzakurier klingelt an der Tür. Amelie steht auf, bezahlt die Pizzen und legt sie auf den Tisch.
Genüsslich speisen sie. „Ahhh ... mh ... du hast mal wieder lecker gekocht“, scherzt Luca. Amelie findet diese Witze nicht lustig und lacht auch nicht darüber.
„Gehen wir spazieren?“, fragt er dämlich grinsend.
„Es regnet“, antwortet sie genervt.
„Ach ja, stimmt.“ Mit einem Lachen im Gesicht setzt er sich aufs Sofa und stellt den TV an.
Amelie steht auf und macht die Küche sauber. Als sie damit fertig ist, setzt sie sich zu Luca aufs Sofa.
„Meine süße Amelie“, flüstert er und beginnt sie zu betatschen.
Sie hat keine Lust, lässt ihn aber gewähren. Gierig küsst er sie am Nacken, auf die Wangen und den Mund. Jetzt findet sie doch Gefallen daran und erwidert seine Zärtlichkeiten, bis sie durch die Türklingel aus der intimen Zweisamkeit gerissen werden.
„Wer ist das?“, fragt Luca. „Ich weiß nicht, ich kann nicht durch Türen blicken“, antwortet Amelie schnippisch.
„Machst du bitte auf, ich muss mich erst ein bisschen sortieren“, erwidert Luca und lächelt Amelie an.
Amelie eilt zur Tür. Gespannt öffnet sie. Der Anblick, der sich ihr bietet, raubt ihr den Atem und bevor sie die Tür wieder zuschlagen kann, hat der große Mann mit der weißen Maske aus dem Film „Scream“ und der dunklen Sonnenbrille seinen Fuß zwischen Tür und Angel gestellt. Er hält eine Waffe auf sie gerichtet. Ohne zu zögern, tritt er ein. Er ist tropfnass, kleine Pfützen bilden sich auf dem Boden. Amelie starrt ihn einfach nur an, unfähig irgendetwas zu sagen. Luca steht geschockt neben dem Sofa.
„W-wa-was wollen sie“, stammelt er ängstlich.
Grob stößt er Amelie vor sich her und als er bei Luca ankommt, drückt er ihm Kabelbinder in die Hand.
„Fessele sie an den Stuhl“, befiehlt er mit verstellter tiefer Stimme.
„Nein, das tu ich nicht“, antwortet Luca.
Blitzschnell packt der Mann Amelie und hält ihr die Waffe an die Schläfe.
„Die Waffe ist geladen, du bindest sie am Stuhl fest oder ich erschieße sie hier und jetzt.“
Eine Träne läuft über Lucas Wange. Widerwillig nimmt er die Kabelbinder und bindet Amelie damit am Stuhl an. Er zieht sie nicht zu fest, um ihr nicht wehzutun. Doch der Mann überprüft sie und zieht sie so fest, dass sie fest ins Fleisch einschneiden. Amelie stöhnt auf.
Voller Angst blickt Luca nun den Fremden an.
„Hinsetzen“, kommandiert er ihn.
Luca setzt sich, sein Widerstand ist gebrochen. Der Mann hat den Stuhl genau vor Amelie hingestellt, sodass sie sich in die Augen blicken können. Er bindet Luca fest.
„Was soll der Scheiß, Mann, wollen Sie Geld? Wir haben nichts im Haus.“
„Ich will kein Geld“, antwortet der Fremde ernst.
„Was wollen Sie denn?“
„Ein Geständnis.“
Verwirrt blickt Luca ihn an.
„Ein Geständnis?“
Er nimmt einen Stuhl, stellt ihn verkehrt herum hin und setzt sich darauf.
„Ja, ein Geständnis.“
Amelie wird von der Angst aufgefressen, sie ist nicht mehr da und beobachtet stumm das Geschehen.
„Sie sind ja irre, Mann.“
Der Fremde holt aus und schlägt ihm die Waffe ins Gesicht, seine Nase bricht mit einem lauten, markerschütterndem Krachen. Luca schreit auf. Amelie stöhnt.
„Mach dich nicht lustig über mich, du weißt genau, wovon ich rede.“
Amelie blickt ihren Verlobten verwirrt an. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt, wird nervös.
„Du weißt doch, wovon ich rede“, brummt der Fremde.
Luca versucht Amelies Blick auszuweichen.
„Sag es ihr, sag ihr, was du in deiner Freizeit treibst.“
Amelie schluckt. Tränen rollen über ihr Gesicht.
Luca kann den Anblick nicht ertragen.
„Verdammt!“, ruft er laut.
„Na komm schon, sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, was für ein Schwein du bist.“
„Es tut mir leid, Amelie.“
Der Fremde schüttelt angewidert den Kopf.
Sie kann es nicht glauben, Luca hat sie betrogen? Sie wollen heiraten und Luca hat sie betrogen? Ihre heile Welt zerbricht in tausend Teile. Leise weint sie.
„Ich, ich habe sie nicht geliebt, Amelie, glaub mir bitte. Es ging nur um Sex“, versucht Luca, das Ganze schönzureden.
„Wie lange schon, Luca?“, flüstert Amelie kaum hörbar.
„Die Wahrheit“, ermahnt ihn der Fremde.
„Seit drei Monaten.“
Das überrascht selbst den Maskenmann. Auch wenn man sein Gesicht nicht sehen kann, scheint sogar die Maske einen überraschten Ausdruck zu haben.
Der Mann lehnt sich ganz nah zu Luca.
„Man vögelt nicht die Frau eines anderen“, flüstert er bedrohlich in sein Ohr.
„Ich werde es nie wieder tun“, wimmert Luca.
„Natürlich wirst du es nie wieder tun, weil dein beschissenes Leben heute ein Ende nimmt.“
„Nein“, schluchzt Amelie. Der Fremde wendet sich direkt an sie.
„Kleines, glaub mir, ich tu dir einen Gefallen, du hast etwas Besseres verdient.“ Er streicht ihr liebevoll über die Haare.
Mit einem tiefen Seufzer steht er auf. Er tippt auf seinem Smartphone herum.
Amelie wagt es, Luca anzusehen. Er blickt sie traurig an, sein Gesicht ist blutüberströmt.
„Es tut mir leid. Ich liebe dich“, flüstert er ihr zu. Erstaunt blicken sie auf, als plötzlich Musik ertönt. „Milk and Cookies“ von Melanie Martinez. Der Fremde schließt die Augen, atmet tief ein, dann packt er Isoliertape aus seiner mitgebrachten Tasche.
„Tut mir leid, Kleines“, flüstert er Amelie zu. Sie reißt panisch die Augen auf, während er sorgsam ihren Mund verklebt.
„So und jetzt du, Mistkerl.“ Nicht ganz so sorgsam klebt er großzügig Tape über Lucas Mund.
Er nimmt die Waffe hervor und zielt auf ihn. Amelie schüttelt wild den Kopf. Luca schließt die Augen. Ein Schuss ertönt, es knallt nicht laut, der Schütze hat einen Schalldämpfer benutzt. Luca stöhnt auf. Die Kugel drang in seinen rechten Fuß ein. Seine Augen drohen heraus zu ploppen. Er windet sich vor Schmerzen.
„Die Waffe hat acht Schuss und die werde ich auch genüsslich einsetzen.“
Amelie weint nun verzweifelt.
„Schau weg, Kleines“, flüstert er Amelie zu. „Schau sie dir an! Schau sie an, was du ihr angetan hast, du verdammter Mistkerl.“ Er schreit Luca an, dann schießt er ein zweites Mal, diesmal in sein rechtes Knie. Luca stöhnt laut auf, Schweiß strömt über sein Gesicht und vermischt sich mit Blut. Ohne Gnade führt der Fremde seinen Plan aus. Der nächste Schuss durchschlägt das linke Knie. Luca verliert das Bewusstsein. Geduldig wartet der Mann, bis er wieder zu sich kommt, dann geht es schneller. Ein Schuss in den linken Arm, in den rechten Arm, in den Hals, den Bauch und der finale Schuss in den Kopf. Melanie Martinez singt ihr Lied in Endlosschleife. Amelie ist nicht mehr anwesend, sie ist endgültig abgetaucht in eine andere Welt, in der dieses Grauen nicht existent ist. Jedes Mal, wenn sie die Augen öffnet, schlägt ihr die Wahrheit brutal ins Gesicht. Luca ist tot, durchlöchert sitzt er vor ihr auf dem Stuhl, von seinem Kopf ist kaum noch was übrig.
Der Fremde packt alles weg, dann beugt er sich zu Amelie.
„Du solltest mir dankbar sein, er war kein guter Mann. Glaub mir das. Alles wird gut, du wirst sehen.“ Wieder streicht er ihr sanft über die Haare. Dann verschwindet er wie ein böser Geist in der dunklen Nacht.
4.
Erst am nächsten Morgen wird Amelie per Zufall von dem Postboten entdeckt. Und das nur, weil die Tür einen Spalt offen steht und der junge Mann von seiner Neugierde getrieben wird. Der Anblick raubt ihm fast die Sinne. Nach einem kurzen Schockmoment wählt er sofort den Notruf. Er weiß, dass Luca tot ist, aber nicht, ob Amelie noch lebt oder auch bereits tot ist.
An der Spitze des Teams der Polizei, die zuerst eintrifft, steht Polizeihauptkommissar Dennis Springer. Geschockt inspizieren sie das Bild des Grauens. Als sie bemerken, dass Amelie noch lebt, binden sie sie eilig los und nehmen ihr das Tape vom Mund. Sie stöhnt leise.
„Wie ist ihr Name?“, fragt Dennis sanft.
Amelie stöhnt nur.
„Verdammt, was ist ihr hier passiert? Das ist krank“, bemerkt er verwundert.
„Verwischt nur keine Spuren, passt auf, wo ihr hintretet“, warnt er sein Team. Wenige Minuten später trifft auch der Krankenwagen ein. Routiniert kümmern sie sich um Amelie und befördern sie ins Stadtkrankenhaus.
Während die Polizei den Tatort abriegelt, Beweise und Spuren sichert, blickt Dennis sich in der Wohnung um. Überall hängen und stehen Bilder des jungen Pärchens. Auf dem Wohnzimmertisch findet er ein Notizbuch, neugierig schlägt er es auf. „Gästeliste Hochzeit“ steht da geschrieben. „Oh Gott, sie wollten heiraten“, flüstert er betroffen. Endlich wird auch die Leiche des stark entstellten Luca Reiter abgeholt. Gegen Abend macht sich Dennis auf zum Krankenhaus. Er möchte wissen, ob er Amelie Enders bereits vernehmen kann. Als er ihr Zimmer betritt, schaut sie ihn mit leeren Augen an. Er lächelt sie aufmunternd an. Ihre Handgelenke sind verbunden, ansonsten scheint sie unverletzt zu sein. Ihr Blick beunruhigt ihn. Es scheint fast so, als ob da keiner zu Hause wäre.
„Frau Enders, können Sie mich hören?“
Amelie scheint durch ihn hindurchzublicken.
Ein Arzt stürmt in das Zimmer.
„Darf ich fragen, wer Sie sind“, schnauzt er Dennis vorwurfsvoll an.
„Dennis Springer, Polizeihauptkommissar.“
Der Arzt mustert ihn.
„Ich denke nicht, dass Frau Enders bereit ist, eine Aussage zu machen, sie ist schwer traumatisiert.“
„Wir müssen wissen, was geschehen ist, damit wir den Täter zur Rechenschaft ziehen können“, erklärt Dennis geduldig.
„Ja, sehr edel, aber ich kann es nicht verantworten, dass Sie Frau Enders vernehmen.“
„Ich vernehme sie nicht, ich habe nur ein paar Fragen.“
Der Arzt verschränkt die Arme.
„Also fragen sie.“
Dennis wendet genervt den Blick von dem Arzt ab und widmet sich Amelie.
„Frau Enders, können Sie etwas zum Tathergang erzählen?“
Keine Reaktion, Amelie ist irgendwo, aber nicht in ihrem Körper.
„Verdammt“, flüstert Dennis.
„Lassen sie ihr Zeit“, rät der Arzt.
„Wir haben keine Zeit.“
Gestresst streicht er sich über die Stirn.
„Ich komme morgen wieder.“
„Ja, machen Sie das.“
Dennis verlässt das Krankenhaus und fährt nach Hause. Pia ist schon dort, sie arbeitet als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei und ist meist vor ihm in der Wohnung. Erschöpft setzt er sich aufs Sofa, sein Kopf schmerzt, zu viel Druck und zu viel Stress.
„Was gibts zu essen?“, fragt er.
Pia springt ihm fast an die Gurgel.
„Koch dir doch selbst etwas, was glaubst du, wer ich bin? Deine Haushälterin.“ Geschockt blickt er sie an. Langsam formt seine Hand eine Faust. Er atmet tief ein und wieder aus. Pia fixiert ihn aus der Küche. Hastig steht er auf, nimmt seinen Mantel und verlässt die Wohnung. Ziellos wandert er durch die Straßen. So kann es nicht weitergehen, das weiß er mit Sicherheit. Aber Pia gehört ihm. Verdammt, er steckt in der Zwickmühle. Als er wie von Geisterhand geführt plötzlich vor dem goldenen M steht, zögert er keine Sekunde und schlägt sich in dem Fast-Food-Restaurant den Magen voll.
Erst gegen Mitternacht wagt er es wieder nach Hause zu gehen. Pia ist bereits, im Bett, genau darauf hat er es angelegt. Er hoffte, dass sie schon schläft. Er wird es sich auf dem Sofa bequem machen.
5.
Am nächsten Abend fährt er wieder zum Krankenhaus. Als Dennis in Amelies Krankenzimmer eintritt, sitzt bereits ein Mann Ende 50 neben ihrem Bett. Erwartungsvoll blickt er Dennis an.
„Guten Tag, ich bin Dennis Springer, Polizeihauptkommissar, ich ermittle im Fall Luca Reiter.“
Der Mann erhebt sich und streckt Dennis seine Hand entgegen.
„Ich bin Moritz Enders, Amelies Vater.“ Die beiden Männer begrüßen sich.
„Haben Sie schon einen Verdacht? Wer so was Krankes getan hat?“
Dennis presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
„Leider noch nicht, der Mann war sehr vorsichtig.“
Jetzt wendet Dennis sich an Amelie.
„Frau Enders, wie geht es Ihnen heute?“
Wieder dieser verdammte leere Blick. Realisiert sie überhaupt, was um sie herum passiert? „Ich glaube nicht, dass sie etwas mitbekommt“, kommentiert ihr Vater, als ob er seine Gedanken gelesen hätte.
Erstaunt blickt Dennis ihn an.
Moritz schließt die Augen. „Als Amelie 9 war, hat ihre Mutter sich im Keller erhängt.“
„Oh Gott“, flüstert Dennis betroffen.
„Amelie hat sie gefunden. Sie hat für sechs Monate kein einziges Wort mehr gesprochen.“ Traurig blickt er den Hauptkommissar an.
Dieser hebt die Augenbrauen.
„Kann man ihr denn nicht irgendwie helfen?“
Ihr Vater schüttelt den Kopf. „Irgendwann kommt sie zurück, wenn sie der Meinung ist, dass sie dafür bereit ist.“
Verloren starrt Dennis Amelie an. Die junge Frau berührt ihn. Gefühle, Verwirrung, Gefahr. Er schluckt.
„Ich nehme sie mit zu mir nach Hause. Vielleicht hilft ihr das“, sagt Moritz und blickt sie traurig an.
Dennis nickt. „Heute?“
„Ja, jetzt. Wir werden versuchen, ihr mit einem Psychologen zu helfen. Was für ein krankes Arschloch.“ Mit Tränen in den Augen blickt er Dennis an. „Die beiden wollten in zwei Monaten heiraten.“
Dennis nickt nur stumm.
„Darf ich sie bei Ihnen besuchen?“, fragt er schließlich.
„Ja, wenn sie die Fragerei nicht übertreiben.“
„Das werde ich nicht“, verspricht Dennis.
Moritz händigt ihm seine Adresse aus und verlässt mit Amelie das Krankenhaus. Stumm fahren sie nach Hause.
„Alles wird wieder gut, Amelie, du wirst sehen.“ Er glaubt es selbst nicht. Amelie starrt verloren aus dem Fenster.
„Wo zur Hölle ist sie?“, fragt sich Moritz, er würde ihr so gerne helfen, sie irgendwie da raus holen. Nur wie? Nach 20-minütiger Autofahrt sind sie vor dem Weißen, frisch renovierten Haus von Moritz und seiner Lebenspartnerin Katja angekommen. Katja wohnt seit vielen Jahren bei Moritz, mit Amelie ist sie jedoch nie richtig warm geworden. Sie hat immer eine gewisse Abneigung ihr gegenüber gezeigt. Für Amelie ist sie die Schuldige für Mutters Selbstmord. Katja war damals der Grund, weshalb Moritz die Scheidung einreichte.
„Hallo Amelie“, begrüßt sie sie herzlich.
Amelie ignoriert Katja und läuft an ihr vorbei ins Haus. Sie spaziert direkt ins Gästezimmer und legt sich dort aufs Bett.
„Ich rufe dich, wenn es Essen gibt, okay?“ Amelie starrt ans Fenster. Keine Regung. Hätte Moritz es nicht schon einmal erlebt, dass Amelie nicht mehr spricht, wäre er wesentlich beunruhigter. Jedoch macht ihm ihr leerer Blick Angst. Das war damals nicht so. Damals nahm sie mehr oder weniger am Geschehen teil, sprach einfach nicht. Aber diesmal ist es, als ob sie nicht da wäre.
Auf leisen Sohlen schleicht Dennis durchs Wohnzimmer. Er hat noch extra lange im Büro gearbeitet, damit er Pia nicht über den Weg läuft, doch er hat Pech. Pia reißt die Schlafzimmertür auf. Erschrocken blickt er sie an.
„Wo schleichst du dich eigentlich herum?“, schnauzt sie ihn an.
„Ich, ähm, ich hatte noch zu tun.“ Er hasst es, wie er sich ihr gegenüber fühlt, wenn sie ihn anschnauzt. Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, du bist ein erwachsener Mann, ermahnt er sich selbst.
„Ah ja, und das soll ich dir glauben?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Was habe ich dir eigentlich getan, dass du in letzter Zeit so angriffig bist?“, fragt er und klingt schwach. Nicht, nein, das war das falsche Wort.
„Angriffig?“
Er wusste es.
„Du nervst mich einfach, das ist alles. Du arbeitest nur noch, ich bin dir doch vollkommen egal.“
Er schluckt. Du gehörst mir, denkt er.
Stumm steht er da.
„Siehst du, hast du gar nichts dazu zu sagen? Stehst nur dumm rum, vorne rum gibst du den Superbullen und zu Hause bist du ein Waschlappen. Ein Taugenichts.“ Sein Mundwinkel zuckt, er fixiert Pia ernst. „Was ist, stimmt es etwa nicht? Schau dich doch an. Kein Ton bringst du raus. Oh, Papa hat dich geschlagen und das tut der armen Seele immer noch weh.“ Sie macht ein gespielt trauriges Gesicht. „Werde endlich mal erwachsen, dein Vater ist schon lange tot.“ Ist er nicht, denkt er feindselig. Dennis steht unter Strom, seine Schläfen pochen, seine Hände haben sich zu Fäusten geballt.
„Ich habe einen Mann geheiratet und keinen Waschlappen. Seit ich dir gesagt habe, dass ich ein Baby möchte, gehst du mir aus dem Weg. Wie ein kleines Kind. Anstatt darüber zu reden, was du denkst und was du fühlst.“ Ihre Augen funkeln.
Er leckt sich die trockenen Lippen. „Ich kann nicht“, stammelt er.
„Natürlich kannst du, du willst nur nicht. Es ist bequemer so, den Arsch einziehen und nichts sagen. Soll ich dir den Hintern versohlen? Kommst du dann vielleicht mal in die Gänge?“ Seine Wangen glühen, seine Atmung geht heftig, in zwei schnellen Schritten steht er vor ihr. Er packt sie an der Kehle und drückt sie gegen die Wand. „Rede nie mehr wieder in diesem Ton mit mir, nie mehr“, flüstert er bedrohlich. Pias Augen sind weit aufgerissen. Sie keucht, versucht Luft in ihre Lungen zu pumpen. Zum ersten Mal hat sie Angst vor ihrem Mann. Er beißt die Zähne zusammen, die Lippen fest aufeinandergepresst, in seinen Augen liegt der pure Hass. Sie sieht seine Hand nicht kommen, voller Wucht schlägt er ihr seine rechte Faust ins Gesicht. Pia fällt zu Boden, weinend legt sie ihre Hand auf die brennende Wange. Dennis kniet sich zu ihr nieder. „Nie mehr wieder“, sagt er leise und langsam. Dann steht er auf und verschwindet im Bad. Wimmernd steht sie auf und schleppt sich ins Schlafzimmer. Weinend legt sie sich ins Bett.
Dennis schläft auf dem Sofa.
Als er am nächsten Morgen aufsteht, kommt auch Pia gerade aus dem Schlafzimmer. Ihr Auge ist rot unterlaufen, blau und violett präsentiert sich die Wange und die Lippe ist aufgeplatzt. Kalt schaut Dennis sie an. Er wird sich nicht entschuldigen. Sie hat ihn gereizt, bis er sich nicht mehr kontrollieren konnte. Das hat sie sich selber eingebrockt.
„Ich gehe ein paar Wochen zu Melanie“, verkündet sie ängstlich.
„Du gehst wohin?“, fragt er nochmals nach.
„Zu Melanie.“ Melanie ist Pias jüngere Schwester. Die beiden verstehen sich ausgezeichnet.
„Sie holt mich in einer halben Stunde ab.“
Dennis sagt nichts, er schnaubt wütend. „Ich brauche eine Auszeit.“
„Wenn du meinst“, sagt er gleichgültig. Tränen rollen über ihre Wangen. Pia geht zurück ins Schlafzimmer und packt ihren Koffer.
Als es eine halbe Stunde später vor der Tür hupt, hält sie kurz inne und schaut Dennis an. Er ignoriert sie. Ohne ein Wort zu sagen, verlässt sie schließlich die gemeinsame Wohnung. Dennis wartet, bis er hört, wie der Wagen davon fährt. Dann brüllt er laut. „Verdammte blöde Kuh.“ Er darf Pia nicht verlieren. Pia gehört ihm. Sie darf nicht gehen. Er beruhigt sich selbst. Lass ihr Zeit, denkt er. Vielleicht merkt sie selbst, wie daneben sie sich benommen hat. Plötzlich huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Genau, Pia wird merken, was sie an ihm hat. Und dass sie sich in den letzten Monaten daneben benommen hat, nicht er. Dennis ist voller Hoffnung. Gut gelaunt geht er zur Arbeit.
Besorgt schaut Melanie ihre Schwester an.
„Schau auf die Straße“, ermahnt Pia sie.
„Er hat dich geschlagen.“ Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung.
Pia nickt, Tränen rollen über ihre Wangen.
„Es war meine Schuld“, flüstert Pia.
„Wie bitte, du nimmst ihn in Schutz?“
„Ich bin zu weit gegangen, habe ihn zu sehr gereizt.“
„Pia, egal wie sehr du ihn gereizt hast, er hätte dich nicht schlagen dürfen.“ Tröstend legt sie ihre Hand auf Pias Bein.
„Wirst du ihn anzeigen?“
Erschrocken blickt Pia ihre Schwester an.
„Natürlich nicht.“
„Das solltest du aber.“
„Und sein ganzes Leben zerstören?“
Melanie schüttelt verständnislos den Kopf.
„Wirst du dich scheiden lassen?“ Sie fährt mit ihren Fragen, die Pia allmählich nerven, fort.
„Lass mir doch bitte ein bisschen Zeit, ich brauche einfach mal ein bisschen Abstand.“
„Ich rate, du wirst winselnd und heulend zu ihm zurückkehren.“
„Hör zu, er hat mich noch nie geschlagen, ich ging zu weit, er ging zu weit. Wir sind beide erwachsen und werden wieder auf die richtige Spur finden.“ Beleidigt starrt Pia aus dem Fenster.
Nach einer Weile unangenehmer Stille sagt Melanie schließlich: „Da ist noch mehr, du verheimlichst mir etwas.“
„Jetzt hör aber auf, Melanie, bitte.“
„Du hast ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, fühlst dich schuldig.“
Pia bleibt stumm.
„Wenn du es mir nicht sagst, dann werde ich es eben anders so herausfinden, Schwesterherz. Du kannst vor mir keine Geheimnisse haben, das müsstest du eigentlich wissen.“
Das stimmt leider, muss Pia zugeben. Melanie kennt ihre Schwester wie kein anderer. Sie weiß sofort, wenn sie etwas bedrückt oder wenn sie Mist gebaut hat.
„Würdest du mich jetzt bitte einfach zur Ruhe kommen lassen“, fleht Pia.
„Okay, brauchst du einen Arzt?“
„Nein.“
6.
Irgendwie scheint alles festzustecken. Pia hat sich, seit sie zu ihrer Schwester gefahren ist, nicht mehr bei Dennis gemeldet. Sieben Tage sind vergangen. Aber er wird sich nicht bei ihr melden, der Fehler lag bei ihr, nicht bei ihm. Sie war ungerecht, gemein, hat ihn gereizt, bis er sie schlagen musste, er musste sie wissen lassen, dass es nicht in Ordnung war, was sie sagte. Im Fall Luca Reiter gibt es keine neuen Hinweise, keine Zeugen, keine Spuren. Das Einzige, was sie wissen, ist, dass die Munition, mit der Luca Ritter erschossen wurde, ein Kleinkaliber 9mm Geschoss war.
Amelie vegetiert weiter vor sich hin. Ein seelenloses Etwas. Fast jeden Tag ist Dennis zu ihr hinausgefahren. Zum Haus ihres Vaters. Nur um festzustellen, dass ihr Zustand Tag für Tag unverändert ist. Frustriert sitzt er vor dem Fernseher, schaut hinein und sieht doch nichts. Es ist einer dieser Tage, an denen er sein Leben furchtbar sinnlos findet. In denen er sich selber nicht erkennt, im Clinch ist mit dem erfolgreichen gut aussehenden Mann und dem unbeholfenen kleinen Jungen, der mit seinen Gefühlen nicht umgehen kann. Sie passen einfach nicht zusammen. Die beiden sind wie Katz und Maus. Gemächlich steht er auf, begibt sich ins Bad und schaut sein Spiegelbild an. Seine hellgrünen Augen starren ihn unbarmherzig an. Wenn er sein Spiegelbild lange genug ansieht, bekommt es ein Eigenleben. Es macht ihm Angst, gleichzeitig fasziniert es ihn. Heute grinst es ihn nur blöd an, es lacht ihn aus. Mit beiden Händen hält er sich am Waschbecken fest. Er schluchzt, Traurigkeit überkommt ihn, zieht ihn zu sich. Warum? Dennis kann es nicht definieren. Den Blick nach unten gesenkt, rammt er voller Kraft den Kopf in sein grinsendes Spiegelbild. Klirrend krachen kleine und große Splitter zu Boden. Blut tropft von seinem Schädel. Es kümmert ihn nicht, er braucht jetzt Schokolade. Auf dem absoluten Nullpunkt angekommen, schlurft er zur Küche und nimmt die große Tafel Schokolade von Lindt aus dem Schrank. Schweizer Schokolade ist die beste, davon ist er überzeugt. Mit einem tiefen Seufzer setzt er sich wieder aufs Sofa und verschlingt die ganze Schokolade. Das Blut, welches über sein Gesicht läuft, scheint ihn nicht zu stören.
7.
Amelie sitzt auf dem Bett und starrt aus dem Fenster. Verzweifelt versucht sie, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist eingesperrt in einem kleinen Glashaus. Sie kann raussehen, aber nicht rausgehen. Die anderen können reinsehen, sie aber nicht hören. Die Worte wurden ihr geraubt, sind einfach weg. Ihre Lebenskraft ist nicht vorhanden. Essen ist schon eine riesige Anstrengung. Sie lebt in ihrer eigenen kleinen Welt, in die kein anderer Zugang hat. Obwohl sie sich bei dem Polizisten, der sie jeden Tag besucht, lebendiger fühlt. Er scheint auf ihrer Wellenlänge mit ihr zu sprechen, es kommt anders bei ihr an, als all die anderen. Der Psychiater, der jeden Tag dieselben Fragen stellt. Er versteht es nicht, es sind nicht die Fragen, die Amelie aus ihrem Zustand holen können. Es sind die Antworten. Was ist passiert? Warum? In Amelies Kopf haben sich nur Erinnerungsfetzen festgekrallt. Die Maske des Täters, das Lied von Melanie Martinez, der eine Satz, den der Mörder gesagt hat: „Kleines, glaub mir, ich tu dir einen Gefallen, du hast etwas Besseres verdient“ und das entstellte Gesicht von Luca. Das ist alles, an was sie sich erinnern kann. Und diese Bilder wechseln sich in Endlosschleife ab. Sie will raus hier, will sich mitteilen. Auch wenn es hart wird ohne Luca. Aber sie will raus. Eine Träne rollt über ihre Wange.
„Amelie, komm, wir müssen gehen.“
Wohin?, denkt sie ratlos.
„Schau mich bitte nicht so an, es ist das Beste für dich.“
Wohin? Amelie bleibt reglos auf dem Bett sitzen. Sie hat kein gutes Gefühl.
„Bitte komm“, fleht ihr Vater sie an.
Unsicher steht sie auf, sie hat abgenommen in den letzten Tagen, denn sie isst kaum etwas. Moritz packt ihren Koffer in den Wagen, dann fahren sie los.
„Dein Psychiater hat es uns nahegelegt. Er meint, dass man dir in dieser Klinik besser helfen kann.“
Klinik?, denkt sie ängstlich.
„Du wirst sehen, schon bald wirst du wieder die alte Amelie sein.“ Er lächelt sie an und scheint sich von seinen eigenen Worten selbst überzeugen zu wollen.
Nach halbstündiger Autofahrt kommen sie an. Ein großes, altes Haus erwartet sie, es sieht aus wie ein Gruselhaus aus einem Horrorfilm.