Der 1. Patient - Florian Schwiecker - E-Book
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Der 1. Patient E-Book

Florian Schwiecker

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Beschreibung

Eine Ärztin unter Anklage – ein KI-System unter Verdacht: »Der 1. Patient« ist der 4. Justiz-Krimi der Bestseller-Autoren Florian Schwieckerund Michael Tsokos, die für exklusive Insider-Einblicke in die Medizin der Zukunft, das Justizsystem und die Rechtsmedizin sorgen. Der neue Fall des Berliner Strafverteidigers Rocco Eberhardt sorgt für hitzige Debatten in den Medien: Eine Routine-Operation der Chefärztin Dr. Sasha Müller endet für den Patienten tödlich. Nach der Obduktion kommt Rechtsmediziner Justus Jarmer zu dem eindeutigen Schluss, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Die Staatsanwaltschaft klagt Dr. Müller daraufhin wegen fahrlässiger Tötung an. Doch die Ärztin wurde bei dem Eingriff von einem KI-System unterstützt … Während der Fall in der Öffentlichkeit immer weiter hochkocht, stellt Rocco Eberhardt, der Sasha Müller vor Gericht vertritt, eine berechtigte Frage: Gehört statt seiner Mandantin nicht eigentlich die KI auf die Anklagebank – oder gar der Entwickler? Zwei Top-Experten - ein Insider-Thriller des Rechtsmediziners Michael Tsokos und des ehemaligen Strafverteidigers Florian Schwiecker Die Bestseller-Autoren Florian Schwiecker und Michael Tsokos geizen auch im 4. Band ihrer Krimireihe nicht mit Insider-Wissen aus der Rechtsmedizin und dem Justizsystem. Florian Schwiecker ist außerdem Experte im Bereich "Medical KI" und hält auf medizinischen Fachveranstaltungen Vorträge zum Für und Wider von Künstlicher Intelligenz in der Medizin.  Die Justiz-Krimis mit Strafverteidiger Rocco Eberhardt und Rechtsmediziner Dr. Justus Jarmer aus Berlin sind in folgender Reihenfolge erschienen: - - Die siebte Zeugin - - Die letzte Lügnerin - Der 1. Patient

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Seitenzahl: 415

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Prof. Dr. Michael Tsokos / Florian Schwiecker

Der 1. Patient

Justiz-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Eine Ärztin unter Anklage – eine KI unter Verdacht!

Der neue Fall von Strafverteidiger Rocco Eberhardt sorgt für hitzige Debatten in den Medien: Eine Routineoperation der Chefärztin Dr. Sasha Müller endet für den Patienten tödlich. Nach der Obduktion kommt Rechtsmediziner Justus Jarmer zu dem eindeutigen Schluss, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Die Staatsanwaltschaft klagt Dr. Müller daraufhin wegen fahrlässiger Tötung an. Doch die Ärztin wurde bei dem Eingriff von einem KI-System unterstützt. Während der Fall in der Öffentlichkeit immer weiter hochkocht, stellt Rocco Eberhardt, der Sasha Müller vor Gericht vertritt, eine berechtigte Frage: Gehört statt seiner Mandantin nicht eigentlich die KI auf die Anklagebank?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

ERSTER TEIL

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

ZWEITER TEIL

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

DRITTER TEIL

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

Danksagung

Prolog

NDR-Studios, Hamburg-LokstedtMittwoch, 24. April, 16.15 Uhr

Das Einzige, was Sonnenberg antreibt, ist, mich vor aller Welt lächerlich zu machen. Aber das werde ich nicht zulassen!

Doktor Sasha Müller, Chefärztin der Chirurgie des Klinikums Spreehöhe, öffnete ihre Augen und blickte in ihr eigenes Spiegelbild.

»So, das sieht doch ganz passabel aus, oder?«, hörte sie die Stimme der Visagistin hinter sich, ohne diese sehen zu können. Die Lichter, die rund um den Spiegel ihr Gesicht ausleuchteten, blendeten einfach zu stark.

»Ja, sehr gut«, sagte sie und zwang sich zu einem kurzen Lächeln. »Das haben Sie wirklich toll gemacht, vielen Dank.«

Tatsächlich konnte sie es überhaupt nicht leiden, wenn jemand an ihr herumpinselte, aber sie wusste, dass das dazugehörte. Ungepudert würde sie wie eine Schweineschwarte glänzen, und das würde sich negativ auf die Wahrnehmung der Zuschauer auswirken. Und die war ihr wichtig. Sie war schließlich nicht zum Spaß hier. Sie war hier, um Überzeugungsarbeit zu leisten.

»Noch fünf Minuten, dann beginnen wir mit der Aufzeichnung«, hörte sie die Stimme des Praktikanten, der links von ihr seinen Kopf durch die Tür der Maske steckte.

Sasha Müller schloss ihre Augen und ballte die Fäuste zusammen. Du schaffst das, sagte sie, um sich in die richtige Stimmung zu bringen. Du musst nur gelassen bleiben. Lass dich nicht von Sonnenberg provozieren.

Sie zog die weißen Papiertücher, die ihr die Visagistin zum Schutz vor dem Puder in den Kragen ihres T-Shirts gesteckt hatte, raus, zerknüllte sie und warf sie in hohem Bogen in den kleinen Mülleimer neben sich. Dann stand sie auf und blickte prüfend in den Spiegel. Sie hatte den Nadelstreifenblazer mit der passenden Hose, dem weißen T-Shirt und den eleganten und zugleich modischen Absatzsandalen bewusst gewählt, um elegant, aber nicht steif auszusehen. Ein lässiges, nicht zu abgehobenes Businessoutfit.

»Viel Erfolg«, sagte die Visagistin und sah sie aufmunternd an. »Zeigen Sie es denen da draußen. Ich glaube an das, was Sie machen. Sie sind eine starke Frau.«

Jetzt musste Sasha Müller wirklich lächeln. Sie hatte das Gefühl, dass die Mitarbeiterin des Senders es ernst meinte. Bis hierher war es ein langer Weg gewesen. Und nicht immer einfach. Sasha konnte sich gut an ihre ersten öffentlichen Vorträge und Auftritte erinnern, als die Veranstalter aufgrund ihres Vornamens, den sie ihrer ukrainischen Großmutter zu verdanken hatte, noch häufig überrascht waren, eine Frau vor sich zu haben. In den letzten beiden Jahren hatte sich das geändert, und sie hatte es zu einer gewissen Bekanntheit auch außerhalb der Medizin gebracht.

Im selben Moment steckte der Praktikant seinen Kopf wieder durch die Tür in der Maske.

»Noch drei …«

»Ich komme«, fiel ihm Sasha Müller ins Wort, woraufhin er dankbar nickte und ihr ein Zeichen gab, ihm zu folgen.

In den Gängen hinter dem Studio herrschte kurz vor Aufzeichnungsbeginn Hochbetrieb und eine ungewöhnliche Stimmung. Eine Mischung aus Hektik und der routinierten Gelassenheit eines erfahrenen Teams, das das schon Hunderte Male durchgespielt hatte.

Keine zwei Minuten später hielt ihr der Praktikant die Tür zum Aufzeichnungsraum auf, nickte ihr zu und war im nächsten Moment wieder verschwunden.

Sasha Müller blickte in das gut dreihundert Quadratmeter große, etwa zehn Meter hohe fensterlose Studio, an dessen Decke unzählige Scheinwerfer an Stahlträgern hingen und die gesamte Fläche in ein überraschend natürliches Licht hüllten. Auf der linken Seite war der berühmte Stuhlkreis für Gäste und Moderatoren auf einem etwa dreißig Zentimeter hohen Podest aufgebaut, auf der rechten Seite saßen circa hundert Zuschauer an runden, mit Getränken eingedeckten Tischen mit jeweils sechs Plätzen.

»Ah, Frau Doktor Müller, herzlich willkommen«, hörte sie die in ganz Deutschland bekannte Stimme des Talkshowmoderators von rechts und drehte sich zu ihm um. Thomas Krause war größer, als sie vermutet hatte, was ungewöhnlich war. Er maß gut einen Meter neunzig und trug ein weißes Hemd zu einem modern geschnittenen hellgrauen Anzug. Müllers bisheriger Erfahrung nach waren die meisten Promis, die sie zunächst aus dem Fernsehen kannte, im echten Leben eher kleiner, als sie auf der Mattscheibe vermuten ließen. Freundlich streckte er ihr die Hand entgegen.

»Kommen Sie doch bitte mit, die anderen Gäste sind schon alle da.«

Sasha Müller folgte ihm und setzte sich auf den letzten freien Stuhl im Kreis der übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Neben einem bekannten Schlagersänger, einer Klimaaktivistin, einem Fernsehkoch und einer Autorin, die vermutlich ihr neuestes Buch vorstellen würde, fiel Sasha Müllers Blick direkt auf Professor Doktor Gunther Sonnenberg. Mit seinen kurzen dunklen Haaren und seinem gesunden, von der Sonne leicht gebräunten Teint sah man ihm seine fünfundfünfzig Jahre nicht an. Dazu kam, dass seine Kleidung weitaus lässiger war, als man es sich bei einem Professor allgemein vorstellte. Zu einem modischen hellblauen Sakko trug er ein dunkelblaues und an den obersten beiden Knöpfen geöffnetes Hemd, in seiner Reverstasche steckte ein cremefarbenes Einstecktuch.

»Die liebe Kontrahentin«, rief er ihr entgegen, erhob sich aus seinem Sessel und streckte ihr die Hand entgegen.

»Kontrahentin«, wiederholte Krause mit einem Grinsen und blickte von Sasha Müller zu Sonnenberg. »Na, das lässt einen spannenden Dialog erwarten.«

»Ich sehe Sie ja weniger als Kontrahenten«, erwiderte Sasha Müller, während sie Sonnenbergs Hand ergriff und selbstbewusst drückte. »Ganz im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Schließlich geht es uns beiden doch um das gleiche Ziel. Wir wollen beide Menschenleben retten, nicht wahr?«

»Aber natürlich, liebe Doktor Müller, aber natürlich. Lediglich der Weg, wie wir dieses Ziel erreichen, scheint uns zu unterscheiden.«

»Ich bitte Sie, ich bitte Sie«, mischte sich Krause ein. »Heben Sie sich das für unsere Diskussion auf. Es wäre zu schade, wenn Sie schon jetzt Ihr ganzes Pulver verschießen.«

»Das wird nicht passieren«, erwiderte Sasha Müller mit einem Funkeln in den Augen und nahm Platz.

»Ausgezeichnet«, sagte Krause und drehte sich in Richtung Publikum. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden gleich mit der Aufzeichnung beginnen. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine spannende, kontroverse und zugleich unterhaltsame Sendung. Wir machen in etwa fünfundvierzig Minuten, nach den ersten drei Gästen, eine Pause, damit Sie sich kurz die Füße vertreten und wir Ihre Getränke wieder auffüllen können. Und danach geht es in die zweite Runde.« Krause hob kurz die Arme und lächelte in die Runde. »Und jetzt«, schloss er, »mögen die Spiele beginnen.«

Nachdem der spontane Applaus des Publikums verstummt war, wandte Krause sich wieder an seine Gäste und nahm in dem Sessel gegenüber seiner Co-Moderatorin Platz.

Kurz darauf wurden die Scheinwerfer, die den Zuschauerraum ausgeleuchtet hatten, gedimmt, während die Scheinwerfer, die auf die Talkshowteilnehmer zeigten, heller aufleuchteten.

Aus den Lautsprechern, die überall im Studio verteilt hingen, erscholl die charakteristische Eingangsmelodie der Sendung, und keine dreißig Sekunden später eröffnete Judith Lorenzo, die zweite Moderatorin der Sendung, das Gespräch. Als Erster war der Schlagersänger an der Reihe, um den es nach vierzig Bühnenjahren ruhig geworden war, bis er sich für einen Song mit einem Rapper zusammengetan hatte. Dann ging es um die Autorin, die mit einem provokativen Buch über die Beziehung zwischen Ost und West derzeit für Diskussionsstoff sorgte. Und schließlich wandte man sich der Klimaaktivistin zu, die die Öffentlichkeit auf die gewaltigen Tauwasserflüsse aus dem Permafrost aufmerksam machen wollte. Die Moderatoren wechselten sich bei der Gesprächsführung ab, und dann und wann schalteten sich auch die übrigen Gäste ein. Im Anschluss an das dritte Gespräch flammten die Scheinwerfer im gesamten Studio auf, und Krause erhob sich. An das Publikum gewandt sagte er: »Wir machen jetzt zehn Minuten Pause, und danach geht es mit unseren beiden Medizinern weiter.«

Sasha Müller merkte, wie die Nervosität in ihr stieg. Das war zwar bei Weitem nicht die erste Talkshow, in der sie zu ihrem Lieblingsthema, dem praktischen Nutzen von künstlicher Intelligenz in der Medizin, sprechen würde, aber nur selten hatten die Veranstalter einen so kompetenten Gegner wie Sonnenberg eingeladen. Natürlich kannte sie ihn gut, sie waren sich bereits mehrfach begegnet. Auf medizinischen Kongressen und anderen Veranstaltungen. Aber dies war das erste Mal, dass sie sich in einer Talkshow gegenübersaßen.

Sie griff in die Tasche ihres Sakkos und zog den kleinen Zettel heraus, auf dem sie sich die wesentlichen Punkte notiert hatte, über die sie heute sprechen wollte.

»Na, aufgeregt?«, hörte sie plötzlich eine Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss.

Sasha Müller blickte auf und sah Sonnenberg direkt in seine leuchtenden Augen.

»Nein, warum denn?«, erwiderte sie selbstbewusst. »Sie vielleicht?«

»Nicht im Geringsten«, sagte er mit einem herausfordernden Lächeln und setzte sich ihr gegenüber in seinen Sessel.

Drei Minuten später erloschen die Lichter im Zuschauerraum erneut, und es ging weiter.

»Und jetzt«, begann Judith Lorenzo, »freue ich mich ganz besonders, die beiden Mediziner Doktor Sasha Müller, Chefärztin der Chirurgie am Berliner Klinikum Spreehöhe, zu meiner Linken und ihr gegenüber Professor Doktor Gunther Sonnenberg von der Berliner Charité zu begrüßen. Sasha Müller ist eine von Deutschlands bekanntesten Gefäßchirurginnen und seit jeher vehemente Unterstützerin des Einsatzes künstlicher Intelligenz in der Medizin.«

Judith Lorenzo blickte kurz auf ihre Moderationskarte, ehe sie fortfuhr.

»Professor Sonnenberg hingegen hat sich nach einer langen und ebenso erfolgreichen Karriere als Neurochirurg in den letzten Jahren der Forschung und Ausbildung verschrieben und unterrichtet Studierende an der Medizinischen Fakultät der Charité. Ohne Frage stellt damit auch er seine Arbeitskraft direkt und indirekt in die Betreuung von Patienten, steht dem Einsatz der KI allerdings, wie er von sich selbst behauptet, aus gutem Grund kritisch gegenüber.«

Müller und Sonnenberg nickten beide mit einem Lächeln in die Kameras, die jeweils auf sie gerichtet waren, woraufhin die Moderatorin fortfuhr und sich an Sasha Müller wandte.

»Liebe Frau Doktor Müller, Sie haben in den letzten zwölf Monaten in diversen Veröffentlichungen zu dem umstrittenen Thema künstliche Intelligenz in der Medizin auf sich aufmerksam gemacht.«

Judith Lorenzo machte eine kurze Pause und blickte wieder auf die Pappkarte, auf der sie eine Reihe von Fragen notiert hatte.

»Erzählen Sie uns doch bitte kurz, worum es dabei geht und was genau Sie da eigentlich machen.«

»Natürlich, sehr gerne«, erwiderte Sasha Müller, während sie unbemerkt mit dem Fingernagel ihres rechten Daumens in die Rückseite ihres Zeigefingers drückte, um sich zu konzentrieren. Bleib ruhig und bleib sachlich, dachte sie ein letztes Mal. Und lass dich nicht von Sonnenberg provozieren.

»Zunächst möchte ich ein paar Worte darüber verlieren, warum wir überhaupt künstliche Intelligenz in der Medizin einsetzen. Denn ohne dieses Verständnis bleibt sicher manche Frage offen.«

»Ausgezeichnet«, sagte die Moderatorin, »das klingt gut.«

»Die Krux ist ganz einfach die«, fuhr Sasha Müller fort, »dass wir überall auf der Welt dem gleichen Problem ausgesetzt sind. Einer wachsenden, immer älter werdenden Bevölkerung steht eine immer kleiner werdende Anzahl medizinischen Fachpersonals gegenüber. Konkret bedeutet das, dass sich immer weniger um immer mehr kümmern müssen. Und das klappt natürlich nicht. Das geht weder in sagen wir mal normalen Zeiten, und schon gar nicht geht das, wenn wir es mit einer Ausnahmesituation wie der Corona-Krise zu tun haben.«

Müller machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Wasser.

»Um dieses Problem zu lösen und eine gleichbleibend hohe Qualität in der Gesundheitsversorgung zu gewährleisten oder diese sogar zu verbessern, brauchen wir Unterstützung. Und genau diese Unterstützung liefert uns künstliche Intelligenz.«

»Verstehe«, warf Thomas Krause ein. »Aber das Ganze ist mir noch zu abstrakt. Könnten Sie ein paar Einsatzbeispiele dieser neuen Technologie mit uns teilen, damit wir uns das alle etwas besser vorstellen können?«

»Natürlich, sehr gerne. Bereits heute hilft uns die KI zum Beispiel bei der Früherkennung von Hautkrebs. Vereinfacht gesagt schaut sich die KI das Bild eines Hautmals an und vergleicht dessen Struktur, Farbe und Beschaffenheit mit der von Millionen anderer Hautmale, die sie schon kennt und von denen sie weiß, ob sie gefährlich oder harmlos sind. Dadurch können Dermatologinnen und Dermatologen zum Beispiel ein malignes Melanom, also den gefährlichen schwarzen Hautkrebs, und dessen Vorstufen leichter erkennen und behandeln. Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Oder im Falle gutartiger und ungefährlicher Male kann eine unnötige Exzision vermieden werden.«

»Liebe Kollegin«, schaltete sich Sonnenberg ein, »das ist jetzt doch allzu simpel und Augenwischerei. Dass bei diesen vergleichsweise einfachen Situationen eine technologische Unterstützung hilfreich sein kann, bestreitet ja niemand. Genauso wie bei dem Einsatz in der Radiologie, wo eine KI Auffälligkeiten auf Röntgenbildern für die Kollegen farblich markieren und damit eine große Unterstützung in der schnelleren Diagnostik sein kann.«

Sasha Müller blickte von der Moderatorin zu Sonnenberg.

Jetzt geht es also los. Und nicht ungeschickt, dachte sie. Ein bisschen recht geben, um dann umso heftiger zuzuschlagen.

Sie beschloss, ihn erst einmal ausreden zu lassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie damit ihre Glaubwürdigkeit erhöhen würde. Unterbrechen und Reinreden wirkte unsympathisch bis verzweifelt. Sie durfte sich nicht von ihm in die Ecke drängen und in eine Verteidigungsposition bringen lassen.

»Aber«, fuhr Sonnenberg mit einem nicht zu überhörenden zynischen Unterton fort. »Vielleicht erzählen Sie uns, wofür Sie diese Technologie noch einsetzen wollen. Denn das bloße Anschauen von Bildern kann ja nicht alles sein, oder?«

Interessiert schauten die übrigen Teilnehmer der Talkrunde auf Sasha Müller.

»Das würde mich auch interessieren«, mischte sich die Autorin ein, die links von ihr saß. »Obwohl das mit den Röntgenbildern natürlich allein schon ziemlich cool ist. Also, finde ich zumindest. Das muss doch helfen, oder?«

»Das tut es in der Tat«, stimmte Sasha Müller ihr zu und überlegte parallel, wie sie Sonnenberg, anstatt ihrem natürlichen Instinkt zu folgen und direkt zurückzuschlagen, den Wind aus den Segeln nehmen könnte. »Es gibt tatsächlich schon einiges mehr als die Unterstützung bei den Bildern«, fuhr sie an Sonnenberg gewandt fort. »Und ich bin dankbar, dass Sie das ansprechen. Der technische Fortschritt ermöglicht uns bereits die nächste Stufe der Unterstützung. Aufgrund unserer knappen Ressourcen müssen wir vor allem Zeit gewinnen, damit wenige vielen helfen können. Ich möchte das anhand eines einfachen Beispiels erklären, das ein ganz anderes und uns im reichen Deutschland nicht wirklich unmittelbar betreffendes Szenario beschreibt: Aufgrund der politischen und klimatechnisch immer herausfordernderen Situation verzeichnen wir global eine wachsende Zahl von Flüchtlingsströmen. Und ganz gleich ob diese Menschen vor einem Kriegsgeschehen oder einer Naturkatastrophe fliehen, sammeln sie sich überall auf der Welt in riesigen Flüchtlingslagern. Und gerade dort kann uns KI helfen, eine medizinische Betreuung zu verbessern. Sie müssen sich vorstellen, dass im schlimmsten Fall eine Ärztin oder ein Arzt Zehntausende betreuen muss. Um das zu schaffen, hilft uns die Technik. Dankenswerterweise besitzt eine ausreichende Anzahl von Geflüchteten ein Smartphone, sodass wir einfach zu bedienende Apps installieren können. Und jeder Flüchtling, der für sich oder seine Familie in ebendieser Situation medizinische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann durch die Beantwortung simpler Fragen zu seinen Krankheitssymptomen über ebendiese App selbst dabei helfen, dass das auch für eine große Anzahl funktioniert. Denn die KI kann bei der Beurteilung der Schwere medizinischer Probleme helfen und die kritischeren Fälle in der Warteliste nach vorne ziehen. Im Ergebnis können die Mediziner vor Ort dort schneller helfen, wo Hilfe dringender gebraucht wird, und so zum Beispiel schneller eine schwere Krankheit behandeln, um sich erst danach um die leichteren Fälle zu kümmern.«

»Und das ist heute bereits möglich?«, fragte jetzt der ältliche Schlagersänger und lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne. »Das ist ja ganz wunderbar.«

»Grundsätzlich schon«, erwiderte Sasha Müller. »Und nicht nur das. In meiner eigenen Klinik nutzen wir nach einer ausgiebigen Testphase KI bei der Planung von OPs. Im Ergebnis können wir dadurch nicht nur schneller, sondern auch besser arbeiten, was die Qualität erhöht und die Patientensterblichkeit reduziert. Nur verhindern restriktive Vorschriften und in der Vergangenheit sicher berechtigte Datenschutzgesetze, auf deren Einhaltung und deren Schaffung der Kollege Sonnenberg so leidenschaftlich pocht, dass wir diese Technik noch schneller und flächendeckender einsetzen können.«

»Und das aus gutem Grund«, fuhr Sonnenberg dazwischen. »Denn was ist, wenn diese großartige KI, von der Sie da erzählen, einen Fehler macht? Und einen Fall falsch einschätzt? Eine schlimme Krankheit nicht richtig beurteilt und auf ihrer Warteliste falsch priorisiert?«

»Dann ist das ein tragischer Fall«, entgegnete Sasha Müller und spürte, wie sie langsam unruhiger wurde. Es ging Sonnenberg offensichtlich gar nicht darum, sachlich zu argumentieren, sondern schlicht darum, gegen sie zu schießen und damit gegen die Technik zu argumentieren. Alles, was er damit erreichte, war, den Fortschritt zu blockieren, und das würde am Ende viel mehr Leben kosten, als dass es Schaden vermied. Warum um alles in der Welt sah er das nicht? So ruhig, wie es ihr möglich war, fuhr sie trotzdem fort. »Natürlich irrt sich die KI auch. Und natürlich macht sie Fehler. Genauso wie wir Menschen. Allerdings lernt sie dazu. Und das schneller und umfassender als jeder Einzelne. Und kann dann besser helfen«, erklärte sie und beschloss, den Ball zu Sonnenberg zurückzuspielen. »Lassen Sie mich Ihnen eine Gegenfrage stellen, Professor Sonnenberg. Glauben Sie nicht, dass es hilfreich wäre, wenn jedem Mediziner für die Beurteilung eines Falls nicht nur ihr oder sein eigenes Wissen zur Verfügung stehen würde, sondern auch das kollektive medizinische Wissen der Welt? Lösen wir uns für den Moment von dem Beispiel eines Geflüchtetencamps und kehren zurück nach Deutschland. Stellen Sie sich einmal vor, ein Arzt behandelt einen Patienten und erkennt die Symptome einer Krankheit nicht, die in einem anderen Teil der Welt bereits erforscht wurde. Und dieses Wissen stellt die KI ihm jetzt zur Verfügung und kann auf diese Weise eine Genesung beschleunigen oder im Extremfall sogar ein Leben retten.«

»Oder«, erwiderte Sonnenberg kritisch, »die KI glaubt, Symptome zu erkennen, die es gar nicht gibt, oder übersieht andere Hinweise und schlägt eine Behandlung vor, die fatale Folgen hat, weil sie sich geirrt hat. Und die Behandlung verzögert sich dadurch, oder im Extremfall …« – Sonnenberg machte eine Pause, offenbar um seinen Worten mehr Gewicht zu geben – »… stirbt dadurch ein Mensch.«

»Ein kontroverses Thema, ganz offensichtlich«, sprang Judith Lorenzo ein, »ein Thema, das uns noch lange beschäftigen wird und für das es kein Richtig und kein Falsch zu geben scheint. Ein Technologie, die in den Kinderschuhen steckt, aber vermutlich auch nötig ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Nur leider werden wir heute Abend keine Lösung finden und nicht alle Fragen beantworten können, denn dazu fehlt uns schlichtweg die Zeit. Deshalb möchte ich unseren beiden gleichermaßen sympathischen wie kompetenten Gästen abschließend noch einmal die Gelegenheit geben, in jeweils einem Statement ihren Standpunkt klarzustellen.«

Mit einem aufmunternden Lächeln wandte sie sich zunächst an Sasha Müller.

»Sie haben recht, die Technologie ist recht neu. Und die Möglichkeiten, die sich uns bieten, werden um ein Vielfaches größer sein, als wir uns derzeit überhaupt vorstellen können. Und das ist auch gut so. Denn nur wenn wir uns trauen, mutig nach vorne zu schauen, werden wir unsere Bevölkerung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten so gut betreuen können, wie sie es verdient.«

»Vielen Dank, Frau Doktor Müller. Und jetzt zu Ihnen, Professor Sonnenberg.«

»Sehr gerne«, erwiderte Sonnenberg und schaute direkt in die Kamera. »Niemand bestreitet, dass wir uns technologisch weiterentwickeln müssen. Allerdings dürfen wir nicht blind einer Technologie vertrauen, die wir nicht verstehen und die noch viel zu wenig erforscht ist. Ich warne davor, das Schicksal eines Menschen neuronalen Netzwerken zu überlassen, die, wie wir anhand zahlreicher Beispiele sehen, immer wieder anfangen zu halluzinieren. Ich sage ausdrücklich: Ein zu früher Einsatz einer zu breit eingesetzten KI wird Menschenleben kosten. Und dann wird das Geschrei groß sein. Doch dann ist es zu spät.«

ERSTER TEIL

Tod im OP

1. Kapitel

ZWEI WOCHEN SPÄTER

Berlin-Pankow, Klinikum Spreehöhe, Schwanebecker Chaussee 50Montag, 6. Mai, 13.03 Uhr

»Ich muss mal kurz raus, läuft ja alles nach Plan«, stellte Doktor Christian Zwosta, Facharzt für Anästhesiologie am Klinikum Spreehöhe, mit einer Mischung aus Lässigkeit und Gleichgültigkeit eher fest, anstatt um eine Pause zu bitten, wie es eigentlich hätte sein sollen.

Silke Vogelsang, die als OP-Schwester in der Hackordnung weit unter Zwosta stand, blickte hinter ihrer Maske von dem Anästhesisten zu Doktor Sasha Müller, die als operierende Chirurgin die Leitung im Saal innehatte. Sie fragte sich, wie die Chefin – wie Müller als Chefärztin der Chirurgie von ihren Mitarbeitern genannt wurde – mit dieser offenen Provokation umgehen würde. Sie schätzte es gar nicht, wenn Ärzte ohne einen triftigen Grund eine OP verließen. Schon gar nicht an Tagen wie diesem, wo sich ein Eingriff an den nächsten reihte und sie dem Zeitplan bereits mehr als eine Stunde hinterherhinkten.

Silke Vogelsang wusste aber auch, dass es nicht mehr so wie früher war, als die Ärzte Schlange standen, um sich im OP zu beweisen. Der Fachkräftemangel hatte längst das Gesundheitswesen erreicht, und die Chefin hatte ihr erst kürzlich erklärt, dass selbst sie immer weniger Einfluss auf die Zusammenstellung ihres Teams hatte. An manchen Tagen konnte sie froh sein, wenn sich überhaupt genug Ärzte zur Arbeit meldeten. Das war ein verfluchter Teufelskreis. Zu wenig Ärzte bedeutete verschobene OPs, was zur Folge hatte, dass die Betten in den Häusern zu lange belegt wurden, was zur Folge hatte, dass die nächsten Patienten zu lange auf ihren Eingriff warten mussten, und so weiter, und so fort. Keine gute Entwicklung also. Da musste dringend etwas geschehen.

Vogelsang wandte den Blick nicht von der Chefin ab, die Zwosta mit hochgezogener Augenbraue skeptisch anstarrte. Sie konnte das absolut nachvollziehen. Mal abgesehen davon, dass sie Zwosta wegen seiner in der ganzen Klinik bekannten Überheblichkeit selbst nicht besonders gut leiden konnte.

Sie waren erst seit etwa einer Stunde dabei, Jens Dauber, der an zahlreiche Überwachungsgeräte angeschlossen vor ihnen auf dem OP-Tisch lag, einen femoropoplitealen Bypass zu legen.

Was sich für den Laien kompliziert anhörte, war nichts anderes als eine Gefäßüberbrückung, bei der ein Transplantat in Form eines Schlauches so eingesetzt wird, dass die verstopfte Ader einfach umgangen wird, um wieder einen ungehinderten Blutfluss zu ermöglichen. Ein an sich recht unkomplizierter Routineeingriff mit großem Ergebnis, der Jens Dauber, so hatte es die Chefin in der Vorbereitung erklärt, in letzter Konsequenz eine Amputation seines Raucherbeins ersparen würde. Nach dem Eingriff sollte der mit seinen gerade mal fünfzig Jahren für diese Krankheit ungewöhnlich junge Dauber wieder beschwerdefrei sein. Und wenn er mit dem Rauchen aufhören und sich gesund ernähren würde, könnte das der Start in ein gesünderes und längeres Leben werden. So weit die Theorie.

Doch Silke Vogelsang wusste aus Erfahrung, dass die meisten Raucher nach einigen Wochen wieder rückfällig wurden. Das war tragisch, aber letztlich die Entscheidung eines jeden einzelnen Patienten.

Anders als Zwostas Pause, die die Chefin normalerweise nicht tolerieren würde. Vermutlich ließ sie ihm das durchgehen, weil er ihr auch noch für die nächsten beiden OPs zugeteilt war. Manchmal konnte sie sich nur wundern, und ihr kamen viele Vorgänge wie im Kindergarten vor. Sie konnte nicht verstehen, wie die Ärzte wegen Nebensächlichkeiten langwierige Diskussionen führten, die am Ende sowieso zu nichts führten. Außer dass die Stimmung in den Keller fiel. Und genau vor einer solchen Situation standen sie hier. Das schien auch Zwosta erkannt zu haben, denn obwohl er sich bereits vom OP-Tisch wegdrehte, setzte er noch zu einer Art Rechtfertigung an. »Keine Sorge, ich sage nebenan Bescheid. Wenn was sein sollte, kann Estrada einspringen.«

Vogelsang kannte Estrada, genauer gesagt Doktor Patrick Estrada, ebenso gut wie die meisten anderen Ärzte aus der Chirurgie. In diesem Moment betreute er als Anästhesist den Eingriff im nebenan gelegenen OP-Saal. Sie wusste, dass es unter Ärzten üblich war, sich bei kurzen Pausen gegenseitig zu unterstützen und bei Bedarf zu helfen. Die erste Wahl war immer ein Arzt, der gerade nicht operierte, die zweite Wahl fiel auf einen Mediziner aus einer parallel stattfindenden Operation.

Silke Vogelsang blickte von Zwosta, der im selben Moment den OP verließ, zu Sasha Müller, die ein letztes Mal den Kopf schüttelte, sich dann aber, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, wieder ihrem Patienten widmete.

Verrückt, dachte Vogelsang. Während Zwosta sich vermutlich in diesem Moment eine Zigarette ansteckte, lag aufgeschnitten vor ihnen ein Patient, der an einem Raucherbein erkrankt war. Was für eine Ironie.

Doch schon im nächsten Moment wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als die Chefin Doktor Anna Donath, die Assistenzärztin des Teams, ermahnte.

»Doktor Donath, was ist denn heute mit Ihnen los? Sie sind ja so gar nicht bei der Sache. Bitte konzentrieren Sie sich ein bisschen mehr, wir haben hier schließlich einen Patienten im OP, der es verdient hat, dass wir unser Bestes geben.«

Die junge Medizinerin nickte schnell, und es sah für Silke Vogelsang so aus, als wenn sie hinter ihrer OP-Maske errötete. »Na…natürlich …«, fügte sie mit sich überschlagender Stimme hinzu. »Bitte entschuldigen Sie. Bin wieder voll dabei.«

»Das ist schön, dann sind wir geistig wieder komplett«, erwiderte Sasha Müller spitz, nur um Donath gleich danach auf die Probe zu stellen. »Sie können mir sicher sagen, wie es jetzt hier weitergeht.«

Donath, die normalerweise eher auf der selbstbewussten Seite des Lebens stand, wirkte heute tatsächlich ungewohnt fahrig. Unsicher blickte sie auf den Patienten, schien sich aber im nächsten Moment wieder zu fangen.

»Äh, ähm, natürlich«, sagte sie. »Wir haben den Bypass gelegt und müssen jetzt checken, ob die Naht hält und die Peripherie Blut bekommt.«

»Sehr gut, und wie sollten wir das Ihrer Meinung nach machen?«, hakte Müller nach.

»So wie es der Behandlungsplan vorgibt«, erwiderte Donath, nur um sich mit dieser Antwort die nächste Rüge einzufangen.

»Ach, kommen Sie«, entfuhr es Müller. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Was ist denn heute los mit Ihnen? Wenn ich in den Plan hätte schauen wollen, hätte ich Sie gebeten, mir den Plan zu reichen. Aber das habe ich nicht. Ich möchte von Ihnen wissen, wie wir das überprüfen. Das ist nun wirklich chirurgisches Einmaleins.« Ernst blickte sie ihre Assistenzärztin an. »Also geben Sie sich bitte ein bisschen Mühe.«

Anna Donath war der Stress an ihren Augen anzusehen. »Indem wir dem Patienten ein Kontrastmittel spritzen. Dann können wir sehen, ob das Blut wie geplant fließt.«

»Na also, war gar nicht so schwer«, erwiderte Müller und blickte zu Silke Vogelsang, die längst gewusst hatte, was als Nächstes zu tun war, und ihr die Spritze mit der jodhaltigen Flüssigkeit reichte. Müller nahm ihr die Spritze ab und injizierte dem Patienten das Kontrastmittel.

»Wollen wir mal sehen, ob wir anständige Arbeit geleistet haben oder erneut ranmüssen«, sagte sie und blickte auf den Monitor des Hybrid-Angiographie-Gerätes, das es dem Team ermöglichte, mittels Live-Röntgen-Bildgebung den Blutfluss zu kontrollieren.

Silke Vogelsang wusste, wie sehr sich die Chefin um den Einsatz moderner Technik im Klinikum Spreehöhe verdient gemacht hatte, und dass sie deutlich besser ausgestattet waren als die meisten anderen Häuser. Neben den Geräten war sie besonders stolz darauf, dass sie seit einiger Zeit bei der Planung der Eingriffe auf ein System vertrauten, das mit künstlicher Intelligenz arbeitete und sämtliche Schritte einer OP auf einem Extramonitor anzeigte.

Im nächsten Moment wies Müller mit dem Finger auf das hochauflösende Display, auf dem die Blutbahnen ihres Patienten bis in die kleinsten Details dargestellt zu sehen waren.

»Und, was meinen Sie?«, fragte sie Donath, die angestrengt auf die Bilder starrte.

»Ich glaube«, begann sie, »dass das Ganze eigentlich …«

Doch bevor sie weiterreden konnte, wurde sie von der Narkoseschwester, die dem Anästhesisten zugeteilt war, unterbrochen.

»Doktor Müller, wir haben ein Problem.«

Müller blickte von dem Monitor des Live-Röntgensystems auf, als im selben Moment verschiedene Warntöne der Überwachungssysteme den OP-Saal erfüllten.

Silke Vogelsang wusste, dass sie jetzt vor allem eins tun mussten, auch wenn ihr das nach all den Jahren immer noch sehr schwerfiel. Sie mussten Ruhe bewahren. Die Situation war kritisch, und es kam auf jeden Moment an. Irgendetwas hatte ein schweres Problem bei dem Patienten ausgelöst, das sich auf seinen Kreislauf auszuwirken begann. Eine Reaktion auf das Kontrastmittel, wie sie vermutete. Das Piepen und die Warntöne der Geräte nahmen weiter zu. Wenn sie die Situation nicht bald in den Griff bekämen, könnte das fatale Folgen haben. Vogelsang hatte das schon vorher erlebt, und als sie sich umblickte, wurde ihr schnell klar, dass sie ein zusätzliches Problem hatten. Denn weder die Chefin noch Doktor Donath durften als Chirurginnen die notwendigen Schritte einleiten. Das war nach dem unbedingt einzuhaltenden Protokoll Aufgabe des Anästhesisten, der neben der Narkose auch für die Überwachung der Vitalfunktionen zuständig war und als Einziger die genaue Medikation kannte, mit der Dauber betäubt worden war. Wenn die Ärzte sich hier ins Gehege kamen und unüberlegt handelten, würden sie den Patienten eher gefährden, als ihm zu helfen.

»Wir brauchen sofort den Anästhesisten«, befahl Müller Schwester Kerstin Ziemens, deren Aufgabe als Springer bis zu diesem Zeitpunkt vor allem darin bestanden hatte, die sterilen Materialien, die Instrumente und das Nahtmaterial an den OP-Tisch zu bringen. »Holen Sie Estrada von nebenan. Jetzt!«

Zeitgleich traten sie und Anna Donath als Operateure vom Tisch zurück, um Platz für den Kollegen zu machen.

Kerstin Ziemens zögerte keinen Moment und eilte direkt in den Nachbar-OP, nur um wenige Sekunden später wieder zurückzukehren.

»Doktor Estrada kann nicht helfen«, rief sie außer Atem. »Er intubiert gerade seinen eigenen Patienten.«

Das war eine der wenigen Situationen, in denen der Anästhesist bei seinem eigenen Patienten bleiben musste, wenn er diesen nicht gefährden wollte.

»Dann suchen Sie Zwosta«, rief Müller in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, doch gerade als Schwester Kerstin Ziemens sich wieder auf den Weg machen wollte, kehrte dieser in den OP zurück.

»Was ist denn hier los?«, fragte er irritiert und blickte auf die verschiedenen Geräte, deren immer lauter werdende Warntöne den Saal erfüllten.

»Wir haben ein Problem, vermutlich eine Reaktion auf das Kontrastmittel«, erwiderte Müller.

Zwosta war Profi genug, nicht weiter um Erklärungen zu bitten, sondern nahm seiner Narkoseschwester nacheinander die beiden Spritzen ab, die diese längst vorbereitet hatte, und injizierte dem Patienten erst Adrenalin und dann Kortison. Silke Vogelsang wusste seit der Zeit ihrer Ausbildung, dass diese Mittel dazu da waren, die allergische Reaktion zu bekämpfen, die zwischenzeitlich zu einem Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems geführt hatte.

»Wir brauchen mehr Volumen. Hundert Prozent Sauerstoff«, wies Zwosta seine Narkoseschwester an, während er gleichzeitig die Flüssigkeitszufuhr erhöhte. Gespannt blickte er auf die Monitore, ob sich die Situation verbesserte.

»Der Patient zeigt keine Reaktion. Ich glaube, es ist ein anaphylaktischer Schock«, rief er laut, während weitere Warnsignale zu ertönen begannen. »Atem- und Kreislaufstillstand!« An die Narkoseschwester gewandt rief er: »Benachrichtigen Sie das REA-Team!«

Zwei Minuten später trafen die Mitarbeiter vom Reanimationsteam ein, und was dann passierte, lief vor Silke Vogelsangs Augen ab wie in Zeitlupe. Zu dritt arbeiteten sie parallel und taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Situation in den Griff zu bekommen. Neben einer Herzdruckmassage legten sie zahlreiche Zugänge und Katheter und verbrauchten in kurzer Zeit eine so große Menge an Material, dass Schwester Silke sich nur über die ganzen Tüten wunderte, die eine nach der anderen aufgerissen und auf den OP-Boden geworfen wurden.

Das war jetzt das dritte Mal, dass sie eine solche Situation erleben musste, und sie hoffte, dass es genauso gut ausgehen würde wie in den anderen beiden Fällen, in denen die Patienten gerettet werden konnten.

2. Kapitel

Berlin-Pankow, Klinikum Spreehöhe, Schwanebecker Chaussee 50Montag, 6. Mai, 13.47 Uhr

Dreißig Minuten später war ein durchdringender Ton alles, was in dem hochmodernen Operationssaal zu hören war. Gleichmäßig und laut. Wie im Film. Nur dass das hier keine Fiktion war.

Silke Vogelsang schaute zu dem Leiter des REA-Teams, der, immer noch außer Atem, den Kopf schüttelte. Dann sah sie zu dem EKG, das seit einigen Minuten den Herzstillstand durch eine Nulllinie anzeigte. Im nächsten Moment stellte Doktor Zwosta, der als Anästhesist für die Überwachung der Vitalfunktionen und die entsprechenden Geräte verantwortlich war, das EKG ab.

Sasha Müller blickte auf die digitale Uhr an der Stirnseite des in Hellblau gehaltenen Saals und hielt kurz und knapp fest: »Zeitpunkt des Todes, 13.48 Uhr.«

Obwohl keiner etwas sagte, spürte Vogelsang, dass das ganze OP-Team sich in einer Art Schockzustand befand. Das war mehr als die Frustration und Hilflosigkeit, die wie in den anderen Fällen, wenn sie einen Patienten verloren hatten, wie eine Wolke über dem OP hing. Denn dieses Mal hatten sie es nicht mit einem komplexen Fall zu tun. Dieses Mal hatten sie einen Patienten bei einem Routineeingriff verloren. Das hätte nicht passieren dürfen.

Silke Vogelsang blickte zur Chefin und fragte sich, wie es wohl in ihr aussah. Denn obwohl sie als Team zusammenarbeiteten, war es die Chirurgin, die die Verantwortung für eine Operation trug. Die Schwester konnte sich nicht vorstellen, wie schwer die Last wiegen musste, und vermutete, dass die Ruhe, die die Chefin gegenüber dem Team vermittelte, in starkem Kontrast zu den Gefühlen stand, die sich in ihrem Inneren abspielten. Sie wusste, dass Doktor Sasha Müller als Chefärztin der Chirurgie des Klinikums Spreehöhe und eine der führenden Operateurinnen in Deutschland im Laufe der Jahre einige Patienten verloren hatte. Einmal, als in einer Operation ein Kind gestorben war und sie selbst vollkommen erschüttert war, hatte sie ihr gesagt, dass der Tod Teil ihres Jobs war und einfach dazugehörte. Doch insgeheim hatte Silke Vogelsang das Gefühl, dass die Chefin sie in diesem Punkt angelogen hatte. Sie war sicher, dass sie weniger als jede andere ihr bekannte Person den Tod akzeptierte und dass genau das der Grund war, weshalb sie Tag für Tag im OP aufs Neue für das Leben ihrer Patienten kämpfte. Sie hatte auch die Vermutung, dass die Chefin von einer persönlichen Erfahrung getrieben wurde, ohne allerdings zu wissen, worum es dabei ging.

Doch heute hatten sie den Kampf verloren.

»Doktor Donath«, sagte Sasha Müller im nächsten Moment an die Assistenzärztin gerichtet, die bereits alles vorzubereiten begann, um den Patienten zuzunähen. »Lassen Sie mich das machen. Sie haben heute schon genug geholfen.«

Die junge Ärztin blickte kurz auf, nickte stumm und verließ genauso wie Zwosta, der es offensichtlich nicht für nötig hielt, sich in irgendeiner Form zu äußern, den OP.

Silke Vogelsang wunderte sich für einen kurzen Moment darüber, dass die Chefin diese Aufgabe übernahm, assistierte ihr dann aber. Als sie keine zehn Minuten später fertig waren, verließ die Chirurgin ohne ein weiteres Wort den Saal.

Silke Vogelsang blickte Sasha Müller hinterher, als diese mit gesenktem Kopf den Flur entlangging. Sie hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas persönlich getroffen hatte. Mehr als sonst. Sie hatte aber keine Ahnung, was das gewesen sein konnte.

3. Kapitel

Berlin-Pankow, Klinikum Spreehöhe, Schwanebecker Chaussee 50, Büro der ärztlichen DirektorinMontag, 6. Mai, 14.21 Uhr

»Wie haben sie es aufgenommen?«, fragte Doktor Krista Hendry mit der ihr eigenen nüchternen Art.

Die siebenundfünfzigjährige ärztliche Direktorin des Klinikums Spreehöhe blickte ihre Chefärztin, die auf der gegenüberliegenden Seite des großen dunklen Holzschreibtisches Platz genommen hatte, herausfordernd an. Unter den Mitarbeitern des Krankenhauses war Hendry nicht gerade für ihre Empathie bekannt. Doch Sasha Müller wusste, dass hinter der harten Schale ein weicher Kern steckte und sie auf die volle Unterstützung der ärztlichen Direktorin setzen konnte. Das war auch der Grund, warum sie sofort im Anschluss an das Gespräch mit Daubers Frau Johanna und dessen Kindern Felix und Sophie zu ihr gekommen war.

»Nicht gut«, erwiderte sie. »Gar nicht gut. Seine Frau hat erst angefangen zu weinen. Und dann wurde sie wütend. Sie hat mir allerlei Vorwürfe gemacht. Ich hätte ihr und ihrem Mann weisgemacht, der Eingriff sei reine Routine. Und dass ich diese Art der Operation schon etliche Male durchgeführt hätte. Und dass es keinen Grund zur Sorge gäbe. Sie hätten sich zusammen mit ihren Kindern darüber unterhalten, ob ihr Mann den Eingriff wagen solle, vor allem auch wegen der technischen Unterstützung, und sich aufgrund meiner Empfehlung dafür entschieden.«

Hendry zog die Augenbrauen hoch. »Das haben Sie gesagt? Der Patient solle sich keine Sorgen machen? Vor einer OP?«

»Natürlich habe ich das nicht so gesagt«, entgegnete Sasha Müller kopfschüttelnd. Sie hatte zu Beginn ihrer Karriere einmal den Fehler gemacht, den Ausgang einer Behandlung vorherzusagen. Und dann war alles anders gekommen.

»Ich habe ihm und seiner Frau genau erklärt, was wir machen, wie wir es machen und was passieren kann. Dann hat er die entsprechenden Unterlagen unterzeichnet«, fuhr sie fort. »Aber natürlich habe ich auch keinen Hehl daraus gemacht, dass ich diese Operation schon etliche Male erfolgreich durchgeführt habe.«

»Okay«, nickte Hendry und blickte auf den großen Bildschirm ihres Computers, auf dem sie den OP-Bericht geöffnet hatte. »Sie haben im Totenschein einen nicht natürlichen Tod attestiert.«

Sasha Müller nickte.

»Haben Sie schon eine Ahnung, was Ursache für den Herzstillstand Ihres Patienten gewesen ist?«, fragte sie.

»Na ja. Die Ursache war eine allergische Reaktion, das wissen wir. Da wir zu diesem Zeitpunkt der OP unterschiedliche Mittel verabreicht haben, kann ich nicht genau sagen, wodurch sie ausgelöst wurde. Möglicherweise durch das Kontrastmittel. Nach allem, was die Daten der OP-Planung vorgegeben haben, hätte das allerdings nicht passieren dürfen. Es gibt da eine Reihe von Punkten, die für mich keinen Sinn ergeben.« Sasha Müller kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe. »Außerdem fürchte ich, dass es noch Ärger von Daubers Frau geben könnte. Sie war wirklich aufgebracht und hat gedroht, einen Anwalt einzuschalten. Ich weiß jetzt nicht, wie ernst sie das meinte, gut möglich, dass das nur in der ersten Aufregung war. Kann aber auch sein, dass das bereits seinen Lauf nimmt …«

»Verstehe«, sagte Hendry und machte sich eine Notiz. »Und genau aus diesem Grund werde ich sofort die nächsten Schritte einleiten, die das Protokoll verlangt. Ich möchte zwar den Teufel nicht an die Wand malen, aber wir müssen aufpassen, dass uns kein Fehler unterläuft. Ganz unabhängig davon, dass der Patient einen Haftungsausschluss unterzeichnet hat und über die Gefahren des Eingriffs und der Nutzung der unterstützenden Technologien aufgeklärt wurde und diese auch genehmigt hat, muss ich Ihnen trotzdem eine Frage stellen. Und ich bitte Sie, mir ehrlich und offen die ungeschönte Wahrheit zu sagen: Ist Ihnen bei der OP noch irgendetwas komisch vorgekommen? Irgendetwas, was auffällig oder ungewöhnlich war? Trotz des Verlaufs meine ich.«

Natürlich ist nicht alles optimal verlaufen, dachte Müller. Schließlich war Dauber tot. Und dann war da auch noch die Sache mit Zwosta, von der sie kurz und knapp berichtete.

Hendry schüttelte den Kopf. »Das verkompliziert die Sache erheblich.«

»Ich glaube allerdings nicht, dass Zwostas Pause einen großen Unterschied gemacht hat. Der Schock war derart erheblich, dass wir Dauber so oder so verloren hätten. Und Zwosta war nur wenige Sekunden nach dem Schock wieder im OP.«

»Das wird sich zeigen«, erwiderte Hendry nun mit deutlich kühlerer Stimme. »Wie gesagt, wir werden das Protokoll in Kraft setzen. Das bedeutet, dass ich gleich im Anschluss an unsere Unterredung die Polizei anrufe. Die werden die Staatsanwaltschaft informieren, und dann wird ein Rechtsmediziner unseren Patienten obduzieren. Und je nachdem, was das Gutachten ergibt, ist die Sache damit erledigt oder eben nicht.« Mit eindringlicher Stimme, die keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte offenließ, fuhr sie fort. »Und Sie und alle an der OP beteiligten Kollegen werden mit sofortiger Wirkung freigestellt.«

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Sasha Müller. »Wir sind ohnehin vollkommen unterbesetzt und mussten schon zahlreiche OPs verschieben. Wenn Sie uns jetzt auch noch abziehen, wird die Lage nicht gerade besser.«

Hendry schaute ihre Chefärztin streng an. »Ihr Pflichtbewusstsein in allen Ehren, geschätzte Kollegin. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen der Ernst der Lage vollends bewusst ist. Ein Patient ist gestorben. Der erste, seitdem wir das neue System einsetzen. Extra zu diesem Zweck haben wir ein neues Protokoll eingeführt, und das werden wir jetzt Schritt für Schritt befolgen. Und der erste Schritt, wenn Sie sich erinnern, ist die sofortige Suspendierung aller Mitarbeiter, die an dem Eingriff beteiligt waren. Wir dürfen uns hier keinen Fehler leisten. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.«

»Natürlich«, erwiderte Sasha Müller. »Allerdings möchte ich anmerken, dass …«

»Ich denke nicht, dass es noch etwas anzumerken gibt«, schnitt ihr Hendry das Wort ab. »Im Gegenteil ist es wichtig, dass Sie und die Kollegen hier gerade nichts mehr anmerken. Und nur um mich wirklich verständlich auszudrücken: Was die Kommunikation in diesem Fall betrifft, läuft von jetzt an alles ausschließlich über mich. Ganz gleich ob das Daubers Familie betrifft oder die zu erwartenden Aussagen gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft. Wir werden in dieser Sache selbst überhaupt nichts zu der Behandlung sagen. Zumindest nicht, ohne dass wir uns mit unseren Anwälten abgestimmt haben. Haben Sie das verstanden? Ich muss und werde die Klinik schützen. Das ist mein Job.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu. »Und natürlich alle Mitarbeiter. Dazu gehören selbstverständlich auch Sie!« Sie machte sich weitere Notiz auf ihrem Zettel. »Ganz gleich was sich in den nächsten Tagen noch ergibt, müssen wir zusehen, dass wir nach allen uns rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln eine Haftung der Klinik vermeiden. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn sich herausstellt, dass der Patient nicht aufgrund eines Behandlungsfehlers gestorben ist.«

Sie beugte sich über ihren Schreibtisch nach vorne.

»Wenn uns das allerdings nicht gelingt und sich herausstellen sollte, dass jemand eine falsche Entscheidung getroffen hat, die zum Tod von Dauber geführt hat, dann müssen wir das auch zweifelsfrei klären.«

Sasha Müller zog ihre Stirn in Falten. »Wenn Sie auf mein Team anspielen«, sagte sie deshalb, »fällt das in meine Verantwortung. Die Kollegen haben lediglich meine Anweisungen befolgt.«

»Das war es nicht, was ich meinte«, entgegnete Hendry. »Ich dachte nicht an unsere menschlichen Mitarbeiter. Ich dachte an das eine Mitglied Ihres Teams, das eigenständige Entscheidungen trifft und sogar Ihnen Empfehlungen ausspricht. Ich dachte an das Augmentum-System.«

4. Kapitel

Berlin Pankow, Klinikum Spreehöhe, Schwanebecker Chaussee 50, Büro der ärztlichen DirektorinMontag, 6. Mai, 19.32 Uhr

Interessante Einrichtung, dachte Kriminalhauptkommissar Claus Baller von der fünften Mordkommission des LKA Berlin, als er das knapp dreißig Quadratmeter große Büro der ärztlichen Direktorin betrat.

Das Zimmer erinnerte ihn eher an einen englischen Club aus einem Sherlock-Holmes-Krimi als an das Zimmer der Chefin von Berlins modernstem Krankenhaus. Die Wände zierte eine längs gestreifte Tapete in Cremeweiß und Bordeauxrot. Auf dem dunklen Fischgrätparkettboden lag ein schwerer Teppich.

Die ärztliche Direktorin selbst passte perfekt in diese Umgebung. Schwer zu sagen, wie alt sie war, dachte Baller. Von Anfang vierzig bis Mitte fünfzig war alles drin. Doktor Krista Hendry trug einen klassischen dunkelgrünen Tweedblazer mit rotem Einstecktuch. Ihre dunklen vollen Haare waren mittellang und zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Die Frau zu ihrer Rechten wirkte deutlich jünger. Sie hatte kurze Haare und ein ebenmäßiges, attraktiv geschnittenes Gesicht. Unter ihrem weißen Kittel trug sie die typische blaue OP-Kleidung. Aus ihren auffallend grünen Augen sah sie Baller skeptisch an. Sie hatte sich als Sasha Müller vorgestellt, Chefärztin der Chirurgie. Der Name kam ihm bekannt vor. Und Baller war sich sicher, sie schon mal gesehen zu haben. Nur wo?

Er sah die beiden neugierig an. Ungewöhnlich, dachte er. Zwei Frauen in Chefpositionen. Sollte zwar längst normal sein, kam aber in der Realität nicht so häufig vor.

»Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind«, unterbrach die ärztliche Direktorin seine Gedanken mit einer Stimme, die natürliche Autorität ausstrahlte.

»Natürlich«, erwiderte Baller. »Ist mein Job.« Obwohl ihm klar war, dass das ein sehr kurzes Gespräch werde würde. Er hatte im Laufe seiner über zwanzigjährigen Karriere in einer ganzen Reihe von Verfahren ermittelt, in denen sie von Krankenhäusern wegen eines nicht natürlichen Todes informiert wurden.

Nicht natürlicher Tod …

Baller wusste, dass das die Umschreibung für einen ärztlichen Kunstfehler sein konnte. Und der hatte das immer gleiche Verhalten von Ärzten und Kliniken zur Folge. Alle wesentlich Beteiligten inklusive der Klinikvertretung würden in der Sache selbst ohne ihren Anwalt kein Wort sagen. Natürlich war das ihr gutes Recht. So stand es im Gesetz. Aber Ballers Arbeit machte das nicht wirklich leichter. Im Ergebnis lief es darauf hinaus, dass der Fall auf dem Papier geklärt werden würde, wie sie polizeiintern sagten.

Damit würde auch das jetzige Gespräch nicht mehr als eine reine Formalie sein, um die Ermittlungen ins Laufen zu bringen. Baller blickte auf seine Uhr. Zwanzig vor acht. Er wettete mit sich selbst, dass er noch vor acht wieder aus der Klinik raus sein würde.

Also, bringen wir es hinter uns.

Er öffnete sein kleines schwarzes Notizbuch und sah die beiden Ärztinnen an. »Dann legen Sie mal los, warum genau bin ich hier?«, fragte er.

»Wie ich schon Ihrem Kollegen am Telefon gesagt habe, ist heute bei uns ein Patient während einer OP verstorben. Eines nicht natürlichen Todes«, erwiderte die ärztliche Direktorin.

»Okay. Und woran ist er gestorben?«, fragte Baller, obwohl ihm klar war, dass er auf diese Frage keine Antwort erhalten würde.

»Auf diese Frage und auf alle weiteren Fragen werden wir zu dieser Zeit nicht antworten. Das heißt nicht, dass wir nicht zur Aufklärung beitragen wollen. Ganz im Gegenteil. Wir sind sehr daran interessiert, Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen. Das ist lediglich die Empfehlung unseres Justiziars«, fuhr sie fort. »Firmen-Policy sozusagen.«

»Schon klar«, nickte Baller und klappte sein Notizbuch zu. Es lief exakt so, wie er das erwartet hatte.

»Dazu gehört auch«, fuhr Hendry zu Ballers Überraschung fort, »dass alle Mitarbeiter, die an der OP beteiligt waren, bis zur Übergabe sämtlicher Daten und Akten freigestellt werden und keinen Zugang mehr zu den Systemen haben.«

»Das ist ein erfreulicher Schritt, den Sie eingeleitet haben, das passiert keineswegs immer.« Baller nickte und sah die beiden Frauen an, doch ihrer Ansicht nach schien wirklich alles gesagt zu sein. »Dann werde ich noch kurz erläutern, was von unserer Seite passieren wird«, fuhr er deshalb fort. »Die Staatsanwaltschaft wird innerhalb der nächsten Stunde den Leichnam des Toten beschlagnahmen und an die Rechtsmedizin übergeben. Die werden eine Obduktion durchführen. Ich gehe davon aus, dass das morgen früh passiert. Und natürlich müssen wir mit Ihren Anwälten sprechen. Selbst wenn diese als Ihre Vertreter keine Angaben zum Sachverhalt machen, brauche ich das für die Akte.« Baller steckte sein Notizbuch in die Tasche seines dunkelblauen Sommermantels und stand auf. »Wenn es sonst nichts gibt, was Sie mir mitteilen wollen …«, sagte er fragend, ohne jedoch eine Antwort von Hendry oder Müller zu erhalten, »komme ich morgen um zehn Uhr erneut vorbei. Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihre Anwälte dann zugegen sind. Andernfalls müsste ich Sie ins Revier einladen, und das wollen wir uns, glaube ich, alle ersparen.«

Die ärztliche Direktorin blickte zu ihrer Chirurgin. Die nickte stumm. »Geht klar, so können wir das machen. Morgen um zehn Uhr ist gut.«

»Perfekt, das war für heute alles«, verabschiedete sich Baller und verließ das Büro.

Auf dem Weg zum Ausgang fiel Baller ein, woher er die Ärztin kannte. Doktor Sasha Müller. Natürlich. Er hatte sie neulich in einer Talkshow gesehen. Worum war es da noch gleich gegangen?

Er blieb kurz stehen und dachte nach. Irgendwie wollte es ihm nicht einfallen. Egal, vielleicht komme ich später drauf, dachte er, ehe er weiter Richtung Ausgang lief. Er blieb nur kurz an einem Automaten stehen, um sich einen Kaffee für den Weg zu ziehen. Während die heiße Flüssigkeit in den braunen Plastikbecher lief, dachte er über das kurze Treffen nach. Obwohl es sich inhaltlich in keiner Weise von den anderen Gesprächen unterschied, die er in möglichen Arzthaftungsfällen geführt hatte, sagte ihm sein Instinkt, dass hier irgendetwas anders war. Eine besonders undurchdringliche Kulisse und als Verbindlichkeit getarnte Unerreichbarkeit. Irgendetwas lag hier in der Luft, das diesen Fall einzigartig machte. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden Frauen ihm Entscheidendes verheimlicht hatten. Doch er bekam nicht zu fassen, was das war. Noch nicht.

5. Kapitel

Berlin-Moabit, Turmstraße 21, Institut für RechtsmedizinDienstag, 7. Mai, 8.23 Uhr

Die Klimaanlage des Sektionssaals surrte gleichmäßig und hielt die Temperatur auf exakt einundzwanzig Grad, während die Neonröhren den weiß gekachelten Raum bis in den letzten Winkel ausleuchteten. Der knapp fünfzig Quadratmeter große Raum erinnerte auf den ersten Blick an den Operationssaal eines Krankenhauses, doch bei genauerem Hinsehen wurde einem schnell klar, dass es hier um etwas ganz anderes ging.