Der zweite Verdächtige - Florian Schwiecker - E-Book

Der zweite Verdächtige E-Book

Florian Schwiecker

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Beschreibung

Was, wenn du unschuldig bist, aber sämtliche Beweise gegen dich sprechen? Im 5. Justiz-Krimi des SPIEGEL-Bestseller-Duos Florian Schwiecker & Michael Tsokos müssen Anwalt Rocco Eberhardt und Rechtsmediziner Dr. Justus Jarmer gegen Machtmissbrauch, Blind Spots und Vorurteile im Justizsystem kämpfen. Strafverteidiger Rocco Eberhardt steht vor einem Rätsel: Sein neuer Mandant, Jan Staiger, soll in einem Berliner Nachtclub einen Bekannten mit Liquid Ecstasy vergiftet haben. Doch Staiger beteuert hartnäckig seine Unschuld. Rocco glaubt ihm und setzt alles daran, ihn freizubekommen. Als es ein weiteres Todesopfer gibt, das ebenfalls in einem Club mit Liquid Ecstasy vergiftet wurde, wendet sich das Blatt. Die vorgelegten Beweise sprechen eindeutig gegen Staiger, und die Anklage lautet jetzt auf Doppelmord. Kann Rocco seinem Mandanten wirklich vertrauen? Als Rocco die einzelnen Ermittlungsschritte und Spuren noch einmal überprüft, tun sich ungeahnte Abgründe auf. Und mehr denn je ist er auf die Hilfe von Rechtsmediziner Dr. Justus Jarmer angewiesen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Temporeicher Justiz-Thriller mit Insiderwissen zweier Top-Experten und Bestseller-Autoren Der ehemalige Strafverteidiger Florian Schwiecker und der Rechtsmedizinier Prof. Dr. Michael Tsokos gewähren spannende und aufsehenerregende Einblicke in die Arbeit von Polizei, Rechtsmedizin, Staatsanwaltschaft und Gericht. Und decken ebenso erschreckende Abgründe auf: Homophobie, Machtmissbrauch, bias-based Profiling. Ein Kriminalroman der Extraklasse: hochspannend und am Puls der Zeit, temporeich und authentisch bis zum überraschenden Ende. Die Justiz-Krimis der Krimi-Reihe »Eberhardt & Jarmer ermitteln« sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Die siebte Zeugin - Der dreizehnte Mann - Die letzte Lügnerin - Der 1. Patient - Der zweite Verdächtige

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Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Florian Schwiecker / Prof. Dr. Michael Tsokos

Der zweite Verdächtige

Justiz-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Strafverteidiger Rocco Eberhardt steht vor einem Rätsel: Sein Mandant Jan Staiger soll in einem Berliner Nachtclub einen Bekannten mit Liquid Ecstasy, sogenannten K.-o.-Tropfen, vergiftet haben. Staiger beteuert seine Unschuld, und auch für Rechtsmediziner Dr. Jarmer deutet nichts auf eine vorsätzliche Tat hin. Doch Polizei und Staatsanwaltschaft fahren harte Geschütze auf, überzeugt von Staigers Schuld. Als es ein weiteres Vergiftungsopfer gibt, liegen plötzlich auch stichhaltige Beweise gegen Staiger vor. Wie lässt sich das erklären? Kann Rocco seinem Mandanten wirklich vertrauen? Oder liegt die Lösung des Falls ganz woanders verborgen?  

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Teil eins

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Teil zwei

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Teil drei

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Teil vier

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

Teil eins

Unfall oder Mord?

1. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Männerkneipe Königssohn, Fuggerstraße, Freitag, 4. August, 6.37 Uhr

Der Mann, der in der hinteren Ecke des Raums auf dem dreckigen Boden lag, schlief nicht. Er war auch nicht in eine rauschbedingte Ohnmacht abgedriftet. Er war tot. Um ganz sicherzugehen, stieß Egon Mertens ihm mit seinem Sneaker gegen den Oberarm, sodass der leblose Körper sich drehte und auf den Rücken rollte.

Verdammt, dachte Mertens und spürte Panik in sich aufsteigen. Er kannte den jungen Mann mit den sanften, beinahe femininen Zügen. Er war öfter hier gewesen, nicht gerade ein Stammgast, aber oft genug, dass er sich an ihn erinnerte. Das schmale Gesicht, das von den schulterlangen, dunkelbraunen Haaren eingerahmt wurde, hatte ihm den Spitznamen Erzengel Gabriel eingebracht. Von einem gelockten himmlischen Boten hatte er jetzt allerdings so gar nichts mehr, als er dalag im kühlen bleichen Licht der Deckenleuchten, das dem Raum im Gegensatz zum dämmrigen Schein des Schwarzlichts eine fast brutale Nacktheit verlieh.

Mertens’ Herz fing an wie wild zu schlagen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, und er hatte mit einem Mal ein Engegefühl in der Brust.

Mit zitternden Händen stellte er den Eimer mit der verdünnten Desinfektionslösung ab und lehnte den Bodenwischer gegen die Wand. Normalerweise war es sein Job, die Spuren der Nacht zu beseitigen und die Kneipe für den kommenden Abend und die Feierlaune der Gäste wieder auf Vordermann zu bringen.

Aber doch nicht so was!

Das hier hatte mit einem normalen Morgen rein gar nichts zu tun.

Warum muss das gerade mir passieren?

Was sollte er jetzt machen? Seinen Chef anrufen? Oder gleich die Bullen?

Mertens fingerte sein Handy aus der Tasche seiner engen Jeans und blickte auf das Display. Sofort schaltete die Face-ID das Gerät frei. Die Nummer seines Chefs war ganz oben auf der Liste der letzten Anrufe. Das machte ihm die Entscheidung leichter.

»Hey, ich bin’s«, meldete er sich mit überschlagender Stimme und musste sich konzentrieren, um den nächsten Satz herauszubringen: »Lukas ist tot. Der Erzengel. Er liegt mit heruntergelassener Hose im Darkroom.«

2. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Männerkneipe Königssohn, Fuggerstraße, Freitag, 4. August, 8.15 Uhr

Eigentlich hatte Kriminalhauptkommissar Ralph Berger vom Landeskriminalamt, LKA11, Tötungsdelikte, seit gut zwei Stunden Feierabend. Doch daraus wurde nichts. Hannah Schumann von der kriminalpolizeilichen Sofortbearbeitung hatte ihn angerufen. Die beiden arbeiteten eng zusammen.

Schumann und ihre Kollegen waren immer die Ersten am Tatort und zuständig für das Sichern beweisrelevanter Spuren, für die erste Befragung von Zeugen und andere unmittelbar wichtige Ermittlungstätigkeiten. Je nachdem, zu welchen Erkenntnissen sie gelangten, wurde der Fall an das jeweilige Fachreferat übergeben. Wenn sie schon vor Ort davon ausgehen konnten, dass es sich nicht um einen Tod durch natürliche Umstände handelte, oder zumindest genug für die Annahme eines unnatürlichen Todes sprach, rief sie meistens direkt das LKA11 an. Genauer gesagt: Berger. Sie hatte ihn auf Kurzwahl.

»Hey, was liegt an?«, begrüßte Berger seine Kollegin, als er die Kneipe betrat. Er maß knapp einen Meter neunzig und hatte silbergraue kurze Haare.

»Hallo, Ralph«, rief Hannah Schumann. Die junge Kommissarin pustete sich eine Strähne ihrer langen roten Haare aus dem Gesicht. Obwohl der Tag noch jung war, hatte die Temperatur die Zwanzig-Grad-Marke bereits überschritten, die stickige Luft in der Kneipe machte das nicht besser.

»Lukas Wegener, achtundzwanzig Jahre alt. Lag leblos im Darkroom.« Hannah Schumann drehte sich um und zeigte zu der Bar, wo ein anderer junger Mann in schwarzen Lederklamotten saß. »Das ist Egon Mertens, er hat ihn gefunden, als er sauber machen wollte. Er hat erst seinen Chef kontaktiert und danach direkt die 112 gewählt. Die Notärztin stellte dann vor Ort seinen Tod fest. Weil keine äußerlichen Verletzungen zu sehen waren und Wegener außerdem einen recht fitten körperlichen Eindruck machte, hat sie eine ungeklärte Todesart attestiert und dann die Polizei informiert. Den Kollegen von der Streife hat ein kurzer Blick gereicht. Sie haben sich direkt an uns gewandt.«

»Soso«, nickte Berger, »also streng nach Vorschrift.« Er blickte sich um. »Im Darkroom haben sie ihn gefunden, sagst du?«

»Genau.« Sie nickte in Richtung der hinteren Räume.

Auf den ersten Blick hätte man nicht erkannt, dass es sich beim Königssohn um einen der vielen Schwulenclubs der Hauptstadt handelte. Hier sah es im Prinzip wie in jeder anderen trendigen Bar in Berlin aus. Die Wände waren von Putz befreit und das darunterliegende Mauerwerk geschickt in Szene gesetzt. Über dem hohen Regal an der Bar, in dem eine ganze Batterie von Schnapsflaschen aufgereiht stand, war die Leuchtreklame einer populären Biermarke angebracht. Das dunkle Holz des u-förmigen Tresens war auf Hochglanz poliert. Überall im Raum standen Bartische und passende Stühle. An den Wänden prangten Spiegel und zum Teil überlebensgroße Porträts bekannter Persönlichkeiten.

»Wissen wir schon, woran er gestorben ist?«, fragte Berger und drehte sich wieder zu seiner Kollegin.

»Nein. Aber die Notärztin vermutet, in Anbetracht des Alters und so fit, wie er aussah, dass Drogen im Spiel waren. Aber wie gesagt, keine Ahnung.«

Drogen. Bei der Erwähnung dieses Wortes spürte Berger jedes Mal einen Stich in seiner Brust. Er biss sich auf die Unterlippe. Dass Drogen in der Partyszene weit verbreitet waren, war nichts Neues. Eine Großstadtbinse, allemal in Berlin. Insbesondere K.-o.-Tropfen, die in geringer Dosierung enthemmend wirkten, waren gerade wieder besonders im Trend. Allerdings kam es nur selten vor, dass jemand dabei zu Tode kam. Die Szene kannte sich mit der Dosierung zu gut aus. Und auch wenn es immer mal wieder einen Drogentoten gab, denn Unfälle passierten, beschlich Berger ein Störgefühl, und er fürchtete, dass es hier womöglich einen ganz anderen Grund gab. Und der traf ihn persönlich.

»Okay«, sagte er dann und versuchte, sich seine Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen. »Auf jeden Fall gut, dass du mich gleich angerufen hast. Habt ihr die Rechtsmedizin schon verständigt?«

»Ist doch klar«, erwiderte Hannah Schumann. »Und ja, die Kollegen von der Rechtsmedizin sind im Anmarsch. Müssten gleich hier sein. Die können uns bestimmt Genaueres sagen.«

Berger nickte. »Hast du schon mit dem Kellner gesprochen?«

»Nein, noch nicht. Wollte ich gerade machen, als du gekommen bist.«

Berger blickte zu dem jungen Mann hinüber. Er saß auf einem der Barhocker direkt am Tresen. Mit seinem rechten Bein wippte er unaufhörlich, ohne dass er das überhaupt zu merken schien. Typische flatterige Übersprungshandlung.

»Lass ihn uns zusammen befragen, mal gucken, was er uns zu erzählen hat.«

»Berger, Kripo«, stellte er sich knapp vor, ehe er den jungen Mann von oben bis unten musterte.

»Ich … ich bin Egon Mertens«, sagte der junge Mann mit zitternder Stimme und blickte Berger aus müden, roten Augen an, die auf eine lange Nacht schließen ließen.

»Kein Grund, so nervös zu sein.« Berger sprach mit ruhiger Stimme und lächelte Mertens zuversichtlich an. »Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Das sagen Sie so leicht«, erwiderte der und zog gierig an seiner Zigarette. »Sie haben den Erzengel ja nicht gefunden.«

»Den Erzengel?«

»Ja«, nickte Mertens, und ein schwaches Lächeln flackerte über sein Gesicht. »So haben wir Lukas hier genannt.« Er zog wieder an seiner Zigarette, ehe er hinzufügte: »Wegen seines Aussehens.«

»Verstehe«, erwiderte Berger, ohne weiter darauf einzugehen. »Was mich mehr interessieren würde, ist, was gestern Abend passiert ist. Bevor Lukas Wegener gestorben ist. Können Sie uns dazu was sagen?«

»Na ja, der Laden war echt voll gestern. Eigentlich wie jeden Abend. Ich achte da nicht auf jeden Einzelnen. War ja viel zu tun.«

Berger nickte. »Aber gesehen hatten sie ihn, oder?«

»Ja klar. Er fällt ja auf.«

»Und war er alleine da oder in Begleitung?«

Mertens lachte auf. »Also alleine ist hier kaum jemand lange. Schon gar nicht, wenn du aussiehst wie der Erzengel.«

»Okay«, sagte Berger. »Was ich meine, ist, ob er mit irgendjemand Besonderem rumgehangen hat. Ein Date zum Beispiel? Können Sie dazu was sagen?«

Mertens dachte kurz nach. »Doch, na klar! Jetzt fällt mir was ein. Ja, also, tatsächlich war er mit jemandem da«, sprudelte es Sekunden später aus ihm heraus, ganz so, als hätte Bergers Frage etwas angestoßen. »Die müssen sich auf jeden Fall hier getroffen haben. Ich meine absichtlich. Hatten auch Spaß miteinander. So mit allem Drum und Dran. Bis auf den kurzen Streit.«

»Streit?«, fragte Berger nach und schaute Hannah Schumann wissend an. »Das müssen Sie uns etwas genauer erzählen.«

»Ja, die hatten sich ein bisschen in den Haaren. Aber nur kurz. Keine Ahnung, worum es dabei ging. Also nicht wirklich.«

»Nicht wirklich?«, fragte Berger jetzt mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme nach. »Lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen.«

Mertens zuckte bei dem forschen Ton kurz zusammen. »Also der Streit ging glaube ich um Drogen. Die Jungs nehmen wieder krass viel Liquid Ecstasy. Um gut draufzukommen halt. Manchmal auch einfach, um sich Mut zu machen. Um so richtig zur Sache zu kommen, meine ich. Na ja, auf jeden Fall hatte Lukas, also der Erzengel, wohl keinen Bock. Der nimmt nämlich keine Drogen. Und sein Typ, also der, mit dem er da war, war deshalb sauer. Hatte selber, glaube ich, schon einiges genommen, so wie immer halt. Klein bisschen aggressiv war der drauf. Ist er manchmal, wenn er was genommen hat.«

»Und was ist dann passiert?«

»Dann?« Mertens lachte auf. »Dann ist der Erzengel allein nach hinten verschwunden«, sagte er und schüttelte lächelnd den Kopf. »Um zu zeigen, dass er nicht auf ihn angewiesen ist.« Mertens machte eine kurze Pause. »Kleine Rache sozusagen.«

»Also, er war mit einem Typen da, quasi ein Date. Die haben sich gestritten, und Wegener hat sich anderweitig im Darkroom vergnügt. Und danach?«

»Danach hat er sich wieder zu seinem eigentlichen Date an die Bar gestellt. Die haben sich wieder vertragen. War nur so ein kurzes Eifersuchtsding. Und die waren auch später noch mal zusammen hinten.«

»Und wissen Sie, wer der Typ ist, mit dem Ihr Erzengel da war?«

»Klar. Ist ja einer unserer Stammgäste.«

Berger nickte und sah ihn ungeduldig an. »Und hat der auch einen Namen?«

»Das war Jan. Jan Staiger.«

Als Berger den Namen hörte, zuckte er innerlich erneut zusammen. Jan Staiger. Für einen kurzen Moment rang er um Fassung. Erinnerungen schossen in ihm hoch, an eine längst vergangene Zeit. Und eine Welle unfassbaren Schmerzes überrollte ihn. Schmerz, den er über Jahre nicht mehr gespürt hatte.

3. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Männerkneipe Königssohn, Fuggerstraße, Freitag, 4. August, 8.57 Uhr

»Ich bin Doktor Jarmer, der Rechtsmediziner.«

Justus Jarmer beugte sich aus dem Fenster seines Smart und hielt dem uniformierten Polizeibeamten, der den Zugang zum Tatort an der Ecke Fugger- und Welserstraße sicherte, seinen Ausweis unter die Nase.

Der Polizist nickte, sprach in sein Funkgerät und ließ Jarmer passieren. Der sondierte kurz die Lage und parkte keine fünf Meter vom Eingang des Königssohns in einer kleinen Lücke zwischen dem Rettungsfahrzeug und einem Streifenwagen. Er lächelte und klopfte zufrieden auf sein Lenkrad. Der Smart war einfach das perfekte Auto für die Stadt.

Er stellte den Motor ab, griff sich seinen Tatortkoffer vom Beifahrersitz und stieg aus. Ein Klick auf den elektronischen Schlüssel, dann ging er auf die Kneipe zu. Der Bereich um den Eingang war großzügig mit Flatterband abgesperrt, hinter dem sich bereits erste Trauben von Schaulustigen und Passanten bildeten. Ein Polizeibeamter diskutierte mit einer erregt wirkenden Frau, die erfolglos versuchte, auf die andere Seite der Absperrung zu gelangen, anstatt den Umweg über die nächste Seitenstraße zu gehen. Jarmer zuckte mit den Schultern. Business as usual. Die Tür der Bar stand offen, und das Licht, das von draußen durch die bodentiefen Fenster fiel, die sich über die gesamte Front erstreckten, erhellte den Raum.

Jarmer betrat den Königssohn und sah sich um. Dann ging er über die große Fläche in der Mitte, die vermutlich zum Tanzen genutzt wurde, direkt auf Hauptkommissar Berger zu, der am Tresen lehnte. Der Beamte, den Jarmer bereits aus zahlreichen Ermittlungsverfahren kannte, stand neben einer jungen Frau mit roten Haaren in Zivil. Jarmer hatte sie zuvor noch nie gesehen. Ihrer Kleidung und ihrem Habitus nach zu urteilen gehörte sie auch zur Kripo.

»Moin, Berger«, sagte er und nickte den beiden zu.

»Ha«, erwiderte der. »Der Herr Doktor von der Rechtsmedizin. Gerade hatte ich die Kollegin gefragt, ob schon jemand von euch hier ist.« Berger drehte sich zu der jungen Frau um. »Kennt ihr euch schon?«, fragte er.

Jarmer schüttelte den Kopf, streckte seine Hand aus und stellte sich vor. »Doktor Justus Jarmer. Ich bin Facharzt am Institut für Rechtsmedizin. Freut mich.«

»Hannah Schumann. Kommissarin von der Sofortbearbeitung.« Sie erwiderte seinen Händedruck kurz und kräftig. »Sie sind nicht von hier, oder?«, fragte sie. »Norddeutschland?«

Jarmer lächelte. »Kiel. Lässt sich wohl nicht leugnen.« Er nickte und schaute auf seine Uhr. Schon nach neun. Im Institut wartete auch noch eine ganze Menge Arbeit. Zeit, hier anzufangen. »Also«, sagte er, blickte erst zu Berger und dann zu Schumann, die offenbar schon länger am Tatort war. »Was gibt es hier?«

Hannah Schumann setzte ihn mit wenigen Worten ins Bild.

»Alles klar.« Jarmer nickte. »Dann lassen Sie uns das mal anschauen.«

Die Kommissarin ging voran in den hinteren Teil der Bar. Auf der rechten Seite des langen, in hellblaues Neonlicht getauchten Ganges lagen die Toiletten. Man hatte sich hier gar nicht erst die Mühe gemacht, zwischen Herren- und Damentoiletten zu unterscheiden. Frauen waren in dieser angestammten Schwulenkneipe vermutlich ohnehin seltene Gäste.

Auf der linken Seite war nur eine Tür. Die führte in den jetzt hell erleuchteten Darkroom.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Overalls packten gerade ihr Equipment zusammen, als Jarmer, Schumann und Berger den Raum betraten. Eine der beiden, eine etwa vierzigjährige Frau mit kurzen blonden Haaren, schaute auf. »Wir sind gerade fertig geworden. In einer Minute gehört der hier euch.«

Jarmer ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Wände waren kahl, und ein Teil des Bodens war von Matratzen bedeckt. Es roch streng nach einer Mischung aus Schweiß und anderen Sekreten, die die Männer hier in der Hitze der Nacht abgesondert hatten. Er hörte Hannah Schumann nach Luft schnappen, offensichtlich setzte ihr der Dunst zu. Jarmer unterdrückte ein Lächeln. Über die Jahre hatte er jeglichen Ekel vor intensiven Gerüchen verloren. Im Vergleich zu dem, was er tagtäglich im Sektionssaal des Instituts für Rechtsmedizin erlebte, war das hier absolut harmlos. Und tatsächlich gab es dagegen auch kein wirksames Mittel. An Mentholpaste, die man sich angeblich unter die Nase schmieren konnte und die besonders in TV-Krimis gern zum Einsatz kam, war auch nichts dran. Tatsächlich ein absurder Gedanke. Denn wenn jeden Tag die minzhaltige Salbe auf der Oberlippe zum Einsatz käme, wäre diese in kurzer Zeit regelrecht weggeätzt. Der einzige Trick war, den bisweilen unermesslichen Gestank schlicht zu ignorieren. Irgendwann nahm man ihn nicht mehr wahr.

Jarmer wischte den Gedanken beiseite und widmete sich dem leblosen Körper, der in der hinteren rechten Ecke des Raumes lag.

»Ihr seid also durch mit der Spurensicherung? Auch an dem Leichnam?«, fragte er zur Sicherheit, und die blonde Frau nickte.

»Ja. Die Ergebnisse sollten morgen vorliegen.«

»Alles klar, besten Dank. Dann legen wir mal los.«

Jarmer stellte seinen Tatortkoffer ab, griff sich daraus ein Paar blaue Einmalhandschuhe und streifte sie über. Dann beugte er sich zu dem rücklings auf dem Boden liegenden Körper des jungen Mannes. Die Jeans war bis zu den Knöcheln heruntergezogen. An den Füßen trug er weiße Sneaker. Das T-Shirt war am Oberkörper bis über die Brustwarzen nach oben geschoben.

Jarmer konnte keine Zeichen einer äußeren Gewalteinwirkung erkennen. Insofern stimmte sein erster Eindruck mit dem der Notärztin überein. Er drehte den Körper vorsichtig auf den Bauch und nahm den Rücken in Augenschein. Auch hier keine Hinweise, die Aufschluss auf den Tod gaben.

Jarmer drehte den Körper wieder in seine ursprüngliche Position zurück. Zwar konnte er noch nicht mit Sicherheit sagen, woran Lukas Wegener gestorben war, aber er hatte da so eine Vermutung.

4. Kapitel

Berlin-Charlottenburg, Starbucks, Kurfürstendamm 61, Freitag, 4. August, 10.13 Uhr

Er hieß nicht wirklich Fuzz. Diesen Namen hatte er ausschließlich für die sozialen Medien gewählt. Ein Slangbegriff aus dem Englischen für Polizei. Das passte, in gewisser Weise. Er bezweifelte allerdings, dass irgendjemand in Deutschland hinter die Bedeutung des Namens kommen würde. Und selbst wenn. Das war ja gerade der Reiz. Aber deshalb eine Verbindung zu ihm herzustellen, würde keinem gelingen. Und genau das hatte Fuzz damit beabsichtigt. Es ging ihm um die Verschleierung seiner Person. Niemand würde darauf kommen, dass gerade er es war, der diese Informationen streute. Denn seine Posts würden mit Sicherheit eine gewisse Aufmerksamkeit erregen, davon ging er aus. Zumindest nach und nach. Er hatte nicht vor, alle Karten auf einmal auf den Tisch zu legen. Es sollte eine Spur kleinster Hinweise werden, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenfügten. War ja ohnehin ein Zufall, dass sich alles so entwickelt hatte, wie es gekommen war. Beabsichtigt hatte er das nicht. Eigentlich hätte es ganz anders laufen sollen. Aber am Ende war es, wie es war. Und wenn er auf eine Sache stolz war, dann auf seine Fähigkeit, sich schnell an unerwartete Situationen anzupassen. Für einen Moment dachte er noch einmal an die letzten Stunden, um seine Aufmerksamkeit dann wieder ganz dem Hier und Jetzt zu widmen. Er durfte keinen Fehler begehen. Denn jeder Fehler, sei er noch so klein, könnte auf ihn zurückfallen.

Um sich weiter abzusichern, hatte er sich in das WLAN von Starbucks eingeloggt. Er war zwar kein IT-Experte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn hier alleine durch seine Log-in-Daten ausfindig machen würde. Schon gar nicht die Jungs vom Cybercrime.

Er ließ seinen Blick durch die Filiale schweifen. Etwa die Hälfte der knapp fünfzig Gäste saß versunken vor ihren Laptops. Besser gesagt MacBooks, denn von Apple waren hier bei Weitem die meisten Geräte. Fuzz war sich sicher, dass im Laufe des Tages noch eine Vielzahl weiterer User das kostenlose Internet der Kaffeehauskette nutzen würden. Hier war er einer unter sehr vielen. Genau das, was er sein wollte.

Er zog sein Basecap tiefer in die Stirn und überprüfte den Post noch einmal, bevor er ihn in die Welt schickte. Es waren nur wenige Worte.

Der Tod des Erzengels im @koenigssohn war kein Unfall

Zufrieden lehnte er sich in seinem Sessel zurück und trank einen Schluck seines Iced Latte.

Dann klickte er auf »Teilen«.

5. Kapitel

Berlin-Moabit, Institut für Rechtsmedizin der Charité, Turmstraße 21, Freitag, 4. August, 13.47 Uhr

Die Klimaanlage im Sektionssaal der Berliner Rechtsmedizin kämpfte lautstark gegen die Hitze des Hochsommertages an. Und hätte man die Mitarbeiter an den glänzenden Stahltischen gefragt, wer diesen Kampf gewinnen würde, wäre das Votum nicht eindeutig ausgefallen.

Sechs Mitarbeiter, Fachärzte und Sektionsassistenten, obduzierten parallel an drei Sektionstischen mehrere Körper in dem weiß gekachelten Raum. Das Knacken der Rippenschere und das leise Sirren der Oszillationssäge wurden immer wieder durch die Diktate unterbrochen, mit denen die Ärzte nach und nach die Befunde und Ergebnisse von äußerer und innerer Leichenschau in ihren Diktiergeräten festhielten.

Doktor Justus Jarmer wischte sich mit dem Handrücken eine Schweißperle von der Stirn und blickte zu Jeanine Öttinger. Er schätzte die Sektionsassistentin für ihre präzise und sachliche Einstellung zur Arbeit ebenso wie für ihr neugieriges Wesen. Sie wollte immer eine Antwort auf die zahlreichen Rätsel finden, die ihnen hier jeden Tag begegneten. Mit ihren gerade mal vierundzwanzig Jahren gehörte sie zu den jüngeren Mitarbeiterinnen, und neulich hatte sie gegenüber Jarmer in einem Nebensatz fallen lassen, dass sie mit dem Gedanken spiele, noch Medizin zu studieren. Jarmer hatte sich darüber gefreut und unterstützte die Ambitionen seiner Mitarbeiterin. Auch wenn das bedeutete, dass er sie als Sektionsassistentin verlieren würde.

»So, was steht als Nächstes an?«

Jeanine Öttinger lächelte und schien sich durch die Frage keineswegs unter Druck gesetzt zu fühlen. Ganz im Gegenteil. Es machte ihr Spaß, wenn ihr Wissen gefordert wurde.

»Jetzt werden wir die Proben, die wir gerade entnommen haben, an Martin in die Toxikologie geben. Also die Herzblutprobe, Urin, Haare und …«, Jeanine Öttinger hielt inne und deutete auf die kleine silberne Schale mit der breiigen Masse, »… das pürierte Gehirn des Verstorbenen.«

Jarmer nickte. So weit, so gut. »Und was ist Ihre Einschätzung, woran er verstorben ist?«

Jeanine Öttinger ließ ihren Blick über den zwischenzeitlich verschlossenen Leichnam von Lukas Wegener schweifen. »Also, woran er genau verstorben ist, können wir natürlich noch nicht sagen, bevor wir die Auswertung der Toxikologie haben. Aber wenn wir uns die bisherigen Informationen anschauen, können wir doch eine erste Einschätzung abgeben.«

»Und die wäre?«, hakte Jarmer nach, der ihre Zurückhaltung vor einer vorschnell geäußerten Theorie durchaus zu schätzen wusste.

»Der Verstorbene weist keinerlei Abwehrverletzungen auf, deshalb gehe ich davon aus, dass er nicht gewaltsam getötet wurde. Des Weiteren gibt es keine frischen oder älteren Injektionsstellen. Die Untersuchung seiner Organe ergab keine vorbestehenden krankhaften Veränderungen, außerdem befand er sich in einem für sein Alter beneidenswert fitten und sportlichen Gesamtzustand.« Triumphierend blickte Jeanine Öttinger ihren Chef an. »Deshalb gehe ich von einer Überdosis irgendeiner Substanz aus, die zum Tod geführt hat. Vermutlich durch Herzstillstand oder Atemlähmung.«

Jarmer nickte zufrieden und blinzelte seiner Mitarbeiterin aufmunternd zu. »Sehr gut, sehe ich auch so.«

Im selben Moment klingelte sein Handy. Nach einem kurzen Gespräch wandte er sich wieder an seine Mitarbeiterin. »Das war Hauptkommissar Ralph Berger vom LKA. Er leitet die Ermittlungen in diesem Todesfall und ist auf dem Weg hierher. Er meint, er habe Neuigkeiten, die uns vielleicht bei der Einordnung des Todes helfen könnten.«

Jeanine Öttinger zog die Augenbrauen hoch. »Alles klar, Chef. Dann kümmere ich mich hier um den Rest und melde mich, wenn wir die Ergebnisse aus der Toxikologie haben.«

»So machen wir das«, erwiderte Jarmer, streifte seine blauen Einmalhandschuhe ab und steckte sein Diktiergerät, mit dem er das Ergebnis der Leichenschau festgehalten hatte und das er seiner Mitarbeiterin zum Abtippen geben wollte, in seine Tasche. Dann zog er einen Kugelschreiber hervor und ließ diesen mit atemberaubendem Tempo um die Finger seiner rechten Hand kreisen. Fast unbewusst, mochte ein unbedarfter Betrachter meinen. Wer ihn kannte, wusste, dass diese Marotte, die er schon in jungen Jahren mehr unbewusst als bewusst entwickelt hatte, ein Zeichen höchster Konzentration war.

Jarmer warf einen letzten Blick auf den Leichnam. Nach seiner Einschätzung gab es nur sehr wenige Ergebnisse, die das General Unknown Screening, also die standardmäßige Suchanalyse ohne genauen Anfangsverdacht, von Wegeners Blutprobe liefern konnte. Er war sich beinahe sicher, dass der junge Mann an den Folgen einer Überdosis gestorben war – welche Substanz, würde sich noch herausstellen. Wenn das der Fall war, stellte sich allerdings die Frage: Hatte er sich diese Überdosis aus Unwissenheit und damit aus Versehen oder in voller Absicht zugeführt? Oder, und das war die zwar deutlich unwahrscheinlichere, aber nicht auszuschließende Variante: War sie ihm gar durch eine dritte Person in Tötungsabsicht verabreicht worden?

6. Kapitel

Berlin-Moabit, Institut für Rechtsmedizin der Charité, Turmstraße 21, Freitag, 4. August, 14.12 Uhr

Das Büro von Justus Jarmer war schlicht und sachlich eingerichtet und fügte sich damit nahtlos in die sterile Einrichtung des Instituts für Rechtsmedizin. Neben einem grauen Schreibtisch stand auf der linken Seite ein kleiner Besprechungstisch. Beide waren nahezu leer bis auf ein paar ordentlich aufeinandergestapelte Dokumentenmappen, während die gegenüberliegende Wand von einem Regal dominiert wurde, das bis auf den letzten Millimeter mit Fachbüchern gefüllt war. Durch die großen Fenster zur Straße fiel helles Sommerlicht in den Raum.

Lediglich ein kleines Magnetbord, das links neben Jarmers Schreibtisch an die Wand geschraubt war, wollte so gar nicht in den ansonsten nüchternen Raum passen. Es war voller aktueller Fotos und bunter, selbst gemalter Bilder seiner beiden Kinder, Frederik und Florentine. Die Atmosphäre auf den Bildern wirkte im Gegensatz zu Jarmers sachlichem und analytischem Wesen fröhlich und ausgelassen. Jarmer musste lächeln, als sein Blick auf die Fotos fiel. Seine Kinder waren sein Ein und Alles, und er freute sich jeden Freitagnachmittag auf das gemeinsame Wochenende – das ihm, wenn er nicht gerade Bereitschaftsdienst hatte, heilig war und ausschließlich seiner Familie gehörte.

Jarmer blickte auf die Uhr. Nur noch drei Stunden. Alles, was noch anstand, war normaler Bürokram. Und das Treffen mit Hauptkommissar Berger. Jarmer vermutete, dass der Ermittler einen Verdacht hatte, was im Königssohn geschehen war, und abgleichen wollte, ob seine Überlegungen mit dem Ergebnis der Obduktion im Einklang standen. Noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es auch schon an der Tür, und Berger betrat das Büro.

»Hallo, Herr Doktor Jarmer«, begrüßte ihn der Kripobeamte. »Danke, dass Sie so spontan Zeit für mich haben.«

»Kein Problem, sehr gerne. Ist mein Job, nicht wahr?«, erwiderte Jarmer und deutete auf den Besprechungstisch. Die beiden Männer nahmen Platz. »Also, wie genau kann ich Ihnen helfen?«

»Ganz einfach. Wissen Sie schon, woran Wegener gestorben ist?«, fragte Berger.

»Nein. Das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung steht noch aus. Aber eine erste Einschätzung kann ich Ihnen geben.«

In den nächsten fünf Minuten teilte Jarmer dem Hauptkommissar alles mit, was sie bisher herausgefunden hatten. Der Ermittler machte sich Aufzeichnungen in ein schwarzes Notizbuch.

Als Jarmer zum Ende gekommen war, biss Berger sich nachdenklich auf die Unterlippe. Offensichtlich dachte er nach, wie die Informationen mit den anderen Spuren zusammenpassten. Dann blickte er auf und sah Jarmer direkt an. »Ich glaube, dass Wegener ermordet wurde.«

Jarmer, der sich nicht sicher war, ob der Hauptkommissar seine Meinung dazu hören oder weitere Informationen teilen wollte, schwieg zunächst.

Nach einer kleinen Pause fuhr Berger fort: »Wir wissen, dass Lukas Wegener sich im Königssohn mit zwei anderen Männern getroffen hat. Wobei er mit einem von den beiden den überwiegenden Teil der Zeit verbracht hat. Und ich vermute, dass genau diese Person ihm dann irgendwann im Laufe des Abends eine Substanz verabreicht hat, die schließlich zu seinem Tod geführt hat. Vermutlich sogar, ohne dass Wegener das mitbekommen hat.«

Berger hielt inne und sah Jarmer mit fragendem Gesichtsausdruck an.

Nachdem Jarmer aber selbst noch keinerlei Ergebnisse hatte, um Bergers Theorie forensisch zu untermauern oder zu verwerfen, konnte er dazu nichts substanziell Erhellendes sagen. Den Gedanken, dass dem Opfer eine Überdosis von einer dritten Person verabreicht worden sein könnte, hielt er zum derzeitigen Zeitpunkt für durchaus realistisch, ebenso realistisch wie die Möglichkeit, dass der Tod Folge einer unsachgemäßen Dosierung bei Selbsteinnahme war. Und somit ein Unfall. Der Tod als Preis für den Kick … Zugegebenermaßen fand man nur äußerst selten Drogentote in einem Club auf. Dass man aufgrund dieses Umstands Ermittlungen einleitete, war deshalb naheliegend. Und wenn Berger sich zu diesem Zeitpunkt schon auf Mord festlegte, musste er bereits belastende Informationen zusammengetragen haben. Jarmer wartete gespannt ab, was Berger des Weiteren zu berichten hatte.

»Ich habe noch keinen Beweis, aber auf jeden Fall eine Idee … einen Hinweis, wer der Täter sein könnte«, setzte Berger wieder an. »Dazu werde ich heute hoffentlich mehr in Erfahrung bringen. Wir sind mit den Zeugenvernehmungen der Gäste des … äh …« Berger machte eine Pause, suchte nach den richtigen Worten. »… des Etablissements noch nicht ganz fertig. Aber nach allem, was wir bis jetzt wissen, sieht es so aus, als kämen nur zwei Personen infrage. Eine davon wie gesagt ganz besonders.«

Jarmer nickte. »Und wie kann ich Ihnen jetzt helfen?«

»Gar nicht, lieber Doktor, gar nicht. Ich wollte nur wissen, ob nach dem bisherigen Stand Ihrer Untersuchung die Möglichkeit des Todes durch die Verabreichung einer Überdosis irgendeines Giftes möglich ist. Und das haben Sie mir ja bestätigt.«

»Habe ich«, stimmte Jarmer zu. »Aber das Ergebnis der Toxikologie steht noch aus. Somit ist Tod durch eine Überdosierung nicht mehr als ein bloßer Verdacht. Und ob die Überdosierung selbst verschuldet ist oder beigebracht wurde, dazu geben meine Untersuchungen keinen Aufschluss.«

»Weiß ich ja, weiß ich ja«, erwiderte Berger. »Aber es deutet schon mal in die richtige Richtung. Also tun Sie mir doch bitte einen Gefallen und rufen mich kurz an, wenn das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung vorliegt.«

»Na klar, mache ich gerne«, sagte Jarmer und verabschiedete den Kommissar.

Nachdem Berger gegangen war, setzte Jarmer sich an seinen Schreibtisch und ließ seinen Kugelschreiber kreisen. Er hatte mit der Kripo schon in einigen Hundert Todesermittlungen zusammengearbeitet. Und auch wenn die Beamten alle ihren ganz eigenen Stil hatten, gab es doch ein grundsätzliches Muster, wie sie vorgingen. Bei Berger kam es ihm allerdings so vor, als ob der Kommissar seine Ermittlungen anders aufzog. Ganz so, als suche er nicht nach Spuren und Beweisen, die darauf schließen ließen, was genau geschehen war, sondern als ob er sich ganz von seiner Theorie leiten ließ. Um dann vielleicht die Spuren passend zu machen? Jarmer war sich nicht sicher. So eine Vorgehensweise war gewiss menschlich, und auch bei ermittelnden Beamten war ein solches Vorgehen nicht auszuschließen, vor allem wenn sie noch jung und unerfahren waren – oder aber, und so war es vielleicht auch bei Berger, die umgekehrt so viel Erfahrung hatten, dass Fälle, die sich ähnelten, nach gleichem Schema abgespult wurden. Doch Jarmer stieß sich, auch nach so vielen Jahren, immer noch an einem solchen Vorgehen, auch wenn er es oft genug erlebt hatte. Für ihn war die oberste Regel: Nie nach Belegen für eine vorgefasste Hypothese suchen, sondern sich einzig von den Ergebnissen leiten lassen, die sich bei exakter, sorgfältiger und akribischer Untersuchung präsentierten. Ergebnisoffen. Das war das Credo, das er seinen Mitarbeitern immer und immer wieder einhämmerte, bis es ihnen in Mark und Bein übergegangen war.

Allerdings wusste Jarmer nur zu gut, dass es nicht überall so exakt zuging wie in der Rechtsmedizin. Er lehnte sich zurück, gönnte sich einen Moment Ruhe und machte sich dann an den letzten Bürokram vor seinem lang ersehnten Wochenende.

7. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Winterfeldstraße 46, Sonntag, 6. August, 6.13 Uhr

Die Zeugenaussagen des gestrigen Tages hatten Berger genug Munition für seine nächsten Schritte an die Hand gegeben. Und die würde er jetzt in die Tat umsetzen.

Seine Begleiter, eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes sowie ein junger Kollege von der Kripo und zwei Beamte von der Schutzpolizei, postierten sich vor der Wohnungstür. Hinterhaus, dritter Stock, rechte Wohnung. Das Klingelschild mit dem Namen »Staiger« sagte ihnen, dass sie richtig waren. Einer der beiden Uniformierten drückte auf die Klingel, woraufhin ein schrilles Geräusch aus dem Inneren der Wohnung zu hören war. Danach Stille. Er drückte die Klingel erneut, und nachdem nichts passierte, hielt er den Knopf für mehrere Sekunden gedrückt. Anschließend hämmerte er ein paarmal stark gegen die Tür und rief: »Polizei, aufmachen!« Dann wieder das schrille Kreischen des Klingeltons. Als er noch mal und diesmal kräftiger seine Faust gegen die Tür donnern ließ, hörten sie, wie ein Schlüssel von innen im Schloss gedreht wurde. Die zwei Beamten brachten sich in Sekundenschnelle in Position, vorbereitet auf jede Form des Widerstands, eine Hand an der Pistole im Holster.

Der junge blonde Mann, der ihnen schließlich die Tür öffnete, trug außer seinen Boxershorts keine Kleidung und wirkte völlig benommen. Er schüttelte den Kopf, als müsse er erst zu sich kommen. Dann hob er den Blick, schaute von links nach rechts. Und erst jetzt schien er zu begreifen, wer vor ihm stand.

Er rieb sich die Augen, schlang die Arme um seinen Oberkörper und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, da drückten die Beamten schlagartig die Tür ganz auf und schoben den Mann nach hinten in die Wohnung. Völlig überrumpelt von dem, was mit ihm geschah, taumelte er rückwärts und kam ins Stolpern, konnte sich aber gerade noch mit einer Hand am Türrahmen festhalten. Die beiden Beamten packten ihn unsanft an seinen Oberarmen und zogen ihn zu sich, drehten ihm zuerst den einen, dann den anderen Arm auf den Rücken und hielten ihn fest.

Nachdem sie die Situation unter Kontrolle gebracht hatten, betrat Berger die Wohnung. Die etwa vier Meter hohen Wände der Altbauwohnung waren in hellem Grau gestrichen. Den Boden zierten abgeschliffene Dielen. Auf der rechten Seite des Flurs waren einige Haken in die Wand geschraubt, an denen eine schwarze Lederjacke und ein paar Blousons hingen. Darunter standen ein Paar Doc Martens und zwei Paar Sneaker. Berger trat so dicht an Staiger heran, dass ihre Augen keine zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. Dann verharrte er in dieser Pose für ein paar endlos erscheinende Sekunden, von denen er jede einzelne genoss.

»Hey, verdammt noch mal«, rief der Mann Berger ins Gesicht und versuchte erfolglos, sich von den Beamten zu befreien. »Was soll der Scheiß? Was wollt ihr von mir?«

Berger ließ sich nicht irritierten. Er verzog keine Miene, und seine Augen spiegelten eine professionelle Härte wider, die keinen Widerstand duldete.

Das wiederum schien den jungen Mann nur noch mehr herauszufordern. Erneut nahm er all seine Kraft zusammen, um sich loszureißen. Er schüttelte sich und zerrte an den Armen, die ihn hielten, doch gegen die routinierten Beamten hatte er keine Chance. Ihr Griff war eisenhart, und je mehr er sich wehrte, desto fester packten sie zu, bis er schließlich aufgab und sich in sein Schicksal zu fügen schien.

8. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Winterfeldstraße 46, Sonntag, 6. August, 6.15 Uhr

Kriminalhauptkommissar Ralph Berger hatte für einen Moment überlegt, ob er seine Waffe ziehen sollte. Ihm war klar, dass er sie nicht brauchen würde, da die Kollegen Staiger ohne allzu viel Aufhebens festgesetzt hatten. Es wäre lediglich eine weitere Geste der Einschüchterung gewesen. Der Gedanke daran trieb ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Für Berger war es nicht das erste Mal, dass er bei einer Festnahme ruppiger vorging und den Verdächtigen überrumpelte. Manchmal war es sogar nötig, das SEK mitzunehmen, wenn sie etwa mit erheblichem Widerstand rechnen mussten. Oder wenn die Tatverdächtigen bewaffnet waren. Manchmal galt es auch nur, den Festzunehmenden so einzuschüchtern, dass dieser in der Vernehmung Informationen preisgab, die er ansonsten für sich behalten hätte. Und genau das hatte Berger hier vor. Aber seiner Einschätzung nach war von Staiger keine große Gegenwehr zu erwarten gewesen, weshalb der Trupp eher Staffage war als alles andere. Staigers Gefährlichkeit lag nicht in seiner körperlichen Präsenz, und auch dass er bewaffnet sein könnte, mussten sie nicht fürchten. Staiger stellte eine andere Art der Bedrohung dar. Eine für junge, unbedarfte Männer, die auf ihn hereinfielen. Die sich von ihm überrumpeln ließen und die Gefahr, die von ihm ausging, nicht erkannten.

Diese Gefahr würde er, Berger, beseitigen. Allerdings war ihm klar, dass er dabei sehr sorgfältig vorgehen musste. Er würde alle Regeln beachten. Zumindest würde er diejenigen nicht brechen, deren Missachtung ihm später auf die Füße fallen würde. Aber es gab durchaus Interpretationsspielraum, solange er sich innerhalb eines gewissen Rahmens bewegte. Tat er das nicht, könnte das fatale Folgen habe. Das hatte er in der Vergangenheit schmerzlich gelernt. Wie die Schmeißfliegen stürzten sich die Strafverteidiger auf jeden möglichen Fehler, den er im Laufe des Ermittlungsverfahrens begangen haben konnte. Aber nicht etwa, weil sie der Wahrheit verpflichtet waren. Davon konnte man bei diesen Aasgeiern wahrlich nicht sprechen. Denen ging es einzig und allein darum, Verbrecher vor dem Gefängnis zu bewahren. Sie schreckten nicht im Geringsten davor zurück, integre Beamte wie ihn selbst vor Gericht in der Luft zu zerreißen. Ihnen die Worte derart im Munde herumzudrehen, bis sie am Ende für deren Mandanten sprachen. Und das eine kleine Haar in der Suppe zu finden. Berger war das zwei Mal passiert. Ein Versehen bei der Festnahme und ein nicht ordnungsgemäß erhobener Beweis. Beide Male kamen die Täter auf freien Fuß. Und wozu? Nur um danach ungestraft weitere Verbrechen begehen zu können.

Doch Berger hatte aus der Vergangenheit gelernt. Dieses Mal würde man ihm nichts vorwerfen. Dieses Mal würde auch der findigste Anwalt keinen Verfahrensfehler konstruieren. Dieses Mal würde er streng nach Vorschrift vorgehen. Zumindest da, wo er gesehen wurde.

Berger wandte sich an seine beiden Kollegen und an die Mitarbeiterin vom Ordnungsamt. Patricia Paetow. Er hatte sie als Zeugin mitgenommen. Normalerweise war das bei solchen Einsätzen nicht üblich. Doch nach den ganzen Vorwürfen, die der Polizei in den vergangenen Jahren immer wieder in der Presse gemacht wurden, dass sie bei Festnahmen übers Ziel hinausschießen und unangemessen gewalttätig vorgehen würden, wollte Berger auf Nummer sicher gehen. Paetow würde im Bedarfsfall vor Gericht bestätigen können, dass Berger und sein Team keine Regeln gebrochen und die Rechte des Tatverdächtigen beachtet hatten. Da Berger wusste, dass eine körperliche Festsetzung durchaus abschreckend wirken konnte, nickte er den beiden Beamten zu, die daraufhin den Griff etwas lockerten. Ein Seitenblick zu Paetow bestätigte ihm, dass seine Einschätzung richtig gewesen war, denn ihre Gesichtszüge entspannten sich merklich.

Berger musterte Staiger von oben bis unten. Sportlich, etwa einen Meter achtzig groß, stand er mit mittellangen, vom Schlaf zerzausten, hellblond gefärbten Haaren zwischen den Beamten. Voller Hass blickte er ihn aus seinen hellblauen Augen an. Er zitterte leicht, was allerdings nicht an der Temperatur liegen konnte. Das Wetter der vergangenen Wochen hatte die Stadt so sehr aufgeheizt, dass es in den meisten Wohnungen unerträglich heiß war.

»Herr Staiger, mein Name ist Berger«, begann er in einem Ton, dem man seine Genugtuung mit jeder einzelnen Silbe anhörte. »Ich bin Hauptkommissar bei der Kripo Berlin. Ich nehme Sie hiermit wegen des Verdachts des Mordes an Lukas Wegener fest.«

Berger spürte eine befriedigende Aufregung. Er hatte lange auf diesen Moment gewartet, auf den Zeitpunkt, der der Gerechtigkeit Genüge tun würde. Er ließ die Worte für einen Moment wirken und beobachtete Staiger dabei ganz genau. Es schien, als wenn dieser ehrlich überrascht war, so als müsse er erst einmal begreifen, was er da gerade gehört hatte. Und im nächsten Moment, als er die Tragweite der Worte realisierte, wandelte sich der Blick in pures Entsetzen. Und gerade als er etwas sagen wollte, schnitt Berger ihm mit einer Geste das Wort ab.

Zum einen musste er Staiger erst ausführlich über seine Rechte belehren. Das war Vorschrift, und damit bezeugt werden konnte, dass er diese penibel befolgte, hatte er Frau Paetow mitgenommen. Zum anderen hatte er nicht im Geringsten vor, Staiger an Ort und Stelle, vor allen Beteiligten, zu vernehmen. Das würde er in aller Ruhe auf dem Revier machen. Nachdem er ihn ein bisschen zappeln gelassen hatte. Berger wusste genau, wie einschüchternd die Atmosphäre in den kahlen Vernehmungszimmern war und wie sich die Aufregung mit jeder Minute steigerte. Das kam Berger nur entgegen. Denn diesmal würde er Staiger nicht davonkommen lassen. Staiger würde für sein Verbrechen bezahlen.

Mit eindringlicher Stimme sagte Berger: »Ich werde Sie nun über Ihre Rechte belehren. Als Beschuldigter im Strafverfahren müssen Sie zu dem Vorwurf, den ich Ihnen gerade unterbreitet habe, keine Angaben machen. Nicht hier, nicht später auf dem Revier und auch im Verfahren vor Gericht nicht. Sie müssen nichts sagen, was Sie selbst belasten könnte. Sie können die Aussage verweigern und schweigen. Sie haben das Recht, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen.«

Berger machte eine Pause. Er wollte sichergehen, dass seine Worte ihre Wirkung entfalteten. Staigers Gesicht wirkte starr, geradezu verzerrt. Es sah aus, als ob er seinen Kiefer mit aller Kraft zusammenbiss. Seine Augen wanderten suchend umher, und Berger vermutete, dass Staiger verzweifelt Sinn in all das bringen wollte, was gerade in seiner Wohnung passierte. Nun, das würde ihm so schnell nicht gelingen, dachte Berger und fuhr mit seiner Belehrung fort.

»Wenn Sie jetzt noch keinen Anwalt beauftragen möchten, können Sie das später im Verfahren nachholen. Außerdem können Sie Beweise vorlegen, die Sie entlasten oder zur Aufklärung der Tat beitragen können. Das können Zeugen oder aber auch andere Beweismittel sein, die für Sie sprechen.«

Nachdem er die Belehrung abgeschlossen und sich mit einem Blick bei Frau Paetow versichert hatte, dass diese alles mitbekommen hatte, eröffnete er den Durchsuchungsbeschluss und den Haftbefehl. Das waren weitere Formalien, die er zwingend einhalten musste, um im späteren Verfahren ein mögliches Beweiserhebungs- oder Beweisverwertungsverbot auszuschließen. Und wieder stellte er sicher, dass seine Zeugin vom Amt alles notierte.

Dann wandte er sich an seine Kollegen in Uniform. »Merz, du und dein Kollege bleibt bei unserem Freund. Hoffmann, du kommst mit mir, und Sie, geschätzte Frau Paetow, passen ganz genau auf, was wir hier machen. Sie sind eine unabhängige Zeugin. Ich möchte sichergehen, dass der zukünftige Anwalt des Beschuldigten einen genauen Einblick in alles erhält, was wir hier machen, und kein Zweifel daran aufkommt, dass die Festnahme ordnungsgemäß erfolgt. Es ist wichtig, dass wir Herrn Staigers Rechte wahren.«

Patricia Paetow blickte von ihrer Kladde auf und nickte. Ihre Augen verrieten, dass sie aufgeregt war und auf keinen Fall einen Fehler machen wollte. Eifrig machte sie sich weitere Notizen. Dann hielt sie kurz inne und räusperte sich: »Ob sich der Festgenommene wohl etwas überziehen dürfte?«

Das war eine völlig legitime Forderung, doch Berger würde einen Teufel tun und ihm das erlauben. »Aber natürlich, liebe Frau Paetow«, sagte er deshalb beschwichtigend, »sobald wir mit der Wohnungsdurchsuchung fertig sind. Wir halten uns ja an die vorgegebenen Abläufe, nicht wahr?« Berger musste aufpassen, nicht sein Gesicht zu verziehen. Natürlich läge es in seinem Ermessen, Staiger zu gestatten, sich etwas überzuziehen. Aber das kam gar nicht infrage. Staiger sollte ruhig spüren, in welch kläglicher Situation er sich befand.

Patricia Paetow nickte hektisch. Sie würde den Ablauf wohl nicht mehr stören. Berger hatte erreicht, dass sie bei Staiger bleiben würde, um auf die Wahrung seiner Rechte zu achten und sie genau zu dokumentieren. Das ermöglichte ihm wiederum, in aller Ruhe die Wohnung zu durchsuchen. Und das war für ihn von ganz erheblicher Bedeutung. Denn wer wusste schon, was er da überraschenderweise alles finden würde?

Er wandte sich an die beiden Beamten in Uniform und Kommissar Hoffmann, seinen jungen Kollegen von der Kripo. »Alles klar? Alles verstanden?« Die Männer nickten. Die beiden Uniformierten blieben bei Staiger und Paetow, und Kommissar Hoffmann folgte Berger. »Dann lass uns an die Arbeit gehen. Durchsuch du die Küche, ich nehme mir das Wohnzimmer vor.«

9. Kapitel

Berlin-Schöneberg, Winterfeldstraße 46, Sonntag, 6. August, 6.32 Uhr

Die Morgensonne, die zu dieser frühen Uhrzeit noch nicht allzu hoch am Himmel stand, hatte die Altbaufenster bislang nicht erreicht, sodass das knapp zwanzig Quadratmeter große Wohnzimmer in einem schummrigen Halbdunkel lag. Berger blickte sich um und trat auf den Bodenschalter eines Strahlers. Nach kurzem Flackern erleuchtete er das Zimmer mit kaltem Neonlicht. Auf der anderen Seite des Raumes führte eine Tür auf einen kleinen Balkon. Links davon stand ein schwarzes Ledersofa unter einem riesigen Druck von Andy Warhols Marilyn Monroe. Die rechte Seite des Zimmers nahm eine Regalwand voller Bücher, gerahmter Fotos und allem möglichen Krimskrams ein.

Berger dachte nicht lange nach. Im Laufe seiner Karriere hatte er Hunderte von Wohnungen durchsucht. Er ging dabei genauso schematisch wie effektiv vor. Hier handelte es sich um einen Todesfall, und Staiger war der Beschuldigte. Rücksicht war Bergers Meinung nach weder nötig noch angebracht.

Berger ging auf das Regal zu und griff sich als Erstes die Bücher. Er blätterte sie grob durch und ließ eins nach dem anderen auf den Boden fallen, ohne etwas zu finden. Als Nächstes kamen die Fotos an die Reihe. Er riss die Bilder aus den Rahmen und ließ diese ebenfalls fallen. Ebenfalls ohne Erfolg. Neben den Fotos standen zwei Becher von Starbucks. Einer aus Hamburg, der andere aus Berlin. Beide waren leer.

Schließlich wandte er sich der antiken Kommode zu, die neben der Tür zum Flur den größten Teil der Wand einnahm. Er war sich sicher, dass er hier finden würde, was er suchte. In der obersten der drei gut achtzig Zentimeter breiten Schubladen lagen zwei Feuerzeuge, eine Streichholzschachtel und ein paar Kugelschreiber. In der mittleren Schublade befand sich eine mittelgroße, schlichte Holzkiste. Berger nahm sie heraus und klappte das goldene Scharnier des Verschlusses nach oben.

Wäre doch gelacht, wenn in der Kiste nichts zu finden wäre.

Dann griff er in die linke Tasche seiner Jacke und holte einen Beweismittelbeutel heraus.