Verraten - Florian Schwiecker - E-Book

Verraten E-Book

Florian Schwiecker

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Beschreibung

Luk Krieger ist Agent einer geheimen Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung. Als im Zentrum von Berlin eine Bombe explodiert und ihn beinahe in den Tod reißt, nimmt er gemeinsam mit der Polizistin Anna Cole die Ermittlungen auf. Alles deutet zunächst auf einen islamistischen Anschlag hin. Doch dann gibt es neue Spuren und Krieger schwört sich, die Verantwortlichen zur Strecke zu bringen. Im Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch riskiert er nicht nur sein eigenes Leben ...

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Über das Buch:

Luk Krieger ist Agent einer geheimen Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung. Als im Zentrum von Berlin eine Bombe explodiert und ihn beinahe in den Tod reißt, nimmt er gemeinsam mit der Polizistin Anna Cole die Ermittlungen auf.  Alles deutet zunächst auf  einen islamistischen Anschlag hin. Doch dann gibt es neue Spuren und Krieger schwört sich, die Verantwortlichen zur Strecke zu bringen. Im Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch riskiert er nicht nur sein eigenes Leben ... 

FLORIAN SCHWIECKER

VERRATEN

DER NEUE LUK-KRIEGER-THRILLER

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Projektkoordination: Gianna SlomkaLektorat: Dr. Kirsten ReimersCovergestaltung: DesignomiconKonvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-9553-0875-9

facebook.com/EdelElementswww.edelelements.de

They who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety, deserve neither liberty nor safety.

Benjamin Franklin

Prolog

Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel, und die kristallklare Luft roch nach Winter. Vor dem Café Vargas am Kurfürstendamm liefen die Kinder in dicken Jacken umher und spielten Fangen, während ihre Eltern unter roten Fleecedecken vor der Kälte geschützt an den kleinen Tischen saßen und Latte macchiato tranken. Die stählernen Gasheizstrahler, die aus dem Berliner Straßenbild nicht mehr wegzudenken waren, spendeten ihnen Wärme, und das Café war wie an jedem Wochenende bis auf den letzten Platz besetzt. An einem Tisch spielte ein kleines Mädchen mit seiner Puppe.

Unbeachtet von den anderen Gästen verließ ein elegant gekleideter Mann das Vargas. Er war mittelgroß, hatte schwarze, nach hinten gekämmte Haare und einen mediterranen Teint. Unter seinem dunkelblauen Wintermantel trug er einen Maßanzug im gleichen Ton, dazu ein hellblaues Hemd. Schuhe und Gürtel waren braun und farblich perfekt aufeinander abgestimmt. In der einen Hand hielt er einen Kaffeebecher aus Pappe, in der anderen eine schlichte Gucci-Sonnenbrille. Er setzte die Brille auf, schaute auf seine Uhr und ging dann zufrieden blickend den Kurfürstendamm in Richtung Breitscheidplatz hinunter. Später würde sich niemand an ihn erinnern. Auch nicht daran, dass er zehn Minuten zuvor das Café mit zwei Aktentaschen betreten hatte, die er jetzt nicht mehr bei sich trug.

1.

Luk Krieger war für das kalte Wetter ungewöhnlich leicht gekleidet, doch Kälte machte ihm nichts aus. Er hatte seinen Körper jahrelang darauf gedrillt, unter den unterschiedlichsten Klimabedingungen zurechtzukommen, ohne zu erkranken. Sein volles, dunkelblondes Haar war leicht zerzaust und einen Tick zu lang für einen Kurzhaarschnitt, sein Fünftagebart dunkel und gleichmäßig. Auf den ersten Blick sah man ihm wegen seiner sportlichen Figur und seines jugendlichen Aussehens seine achtunddreißig Jahre nicht an. Doch bei genauerer Betrachtung erkannte man in seinen Gesichtszügen eine Härte und Entschlossenheit, die die Erfahrungen vieler Jahre widerspiegelte. Er sog die kalte Winterluft genussvoll ein und hielt sie einen Moment lang in seinen Lungen. Kalte, klare Luft – wie sehr hatte er das vermisst in den letzten Wochen, die er in einem Höllennest am Ende der Welt verbracht hatte. Doch das war gestern, und heute war heute. Krieger blinzelte in die Sonne und genoss die Strahlen auf seinem Gesicht. Dann schaute er auf seine Uhr. 12:06 Uhr. Er war eine Minute zu spät dran, denn er hatte nur mit Mühe einen Parkplatz gefunden. Aber er machte sich deshalb keine großen Sorgen. Der Informant, den er treffen würde, kam selbst regelmäßig zu spät. Und bis zum Café Vargas waren es nicht mal mehr hundert Meter. Er überquerte die Straße, als hinter ihm ein Auto hupte. Krieger drehte sich um – und wurde im gleichen Moment brutal von den Beinen gerissen. Eine ungeheure Druckwelle hatte ihn erfasst, und Bruchteile einer Sekunde später schlug er mit einem dumpfen Knall auf das Pflaster des Gehweges auf. Trümmer landeten links und rechts neben ihm, seine Ohren pfiffen und sein Kopf dröhnte, aber er behielt das Bewusstsein. Krieger wusste sofort, was geschehen war, denn es war nicht das erste Mal, dass in seiner unmittelbaren Nähe eine Bombe detonierte.

Vorsichtig öffnete er die Augen und ließ den Blick prüfend über seinen Körper wandern. Es schien, als hätte er noch einmal Glück gehabt und nur einige leichte Schrammen davongetragen. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Boden ab und richtete sich langsam auf. Als er sich umsah, stockte ihm der Atem. Ihm bot sich ein Bild des Grauens. Dort, wo eben noch an die fünfzig Menschen ihren Kaffee genossen hatten, klaffte jetzt ein riesiges Loch in der Fassade des Berliner Altbaus. Schwarzer Rauch drang aus dem Erdgeschoss, und überall auf der Straße lagen Trümmer, zwischen ihnen Tote und Verletzte. Statt in Panik zu verfallen, blieb Krieger vollkommen ruhig. Er war ausgebildet worden, in Ausnahmesituationen einen kühlen Kopf zu bewahren, und begann sofort, die Lage zu analysieren. Er schaute sich nach allen Seiten um und nahm jedes Detail auf. Innerhalb weniger Sekunden hatte die Bombe das Leben vieler Menschen ausgelöscht und unzählige weitere schwer verletzt. Krieger war klar, dass er selbst auch um ein Haar ums Leben gekommen wäre – hätte er rechtzeitig einen Parkplatz gefunden, läge er auch hier.

Die Wucht der Explosion musste ungeheuerlich gewesen sein, denn obwohl er noch ein gutes Stück vom Café entfernt war, lagen direkt neben ihm die Reste eines Stuhls. Die dunklen Metallstreben waren verbogen, und das Holz der Sitzfläche war zersplittert. Daneben sah Krieger eine kleine Puppe.

Ohne weiter darüber nachzudenken, schob er den Stuhl beiseite, griff nach der Puppe und steckte sie in die Tasche seiner Jacke.

Immer mehr Menschen stürmten auf das Café zu, um zu helfen. Krieger hatte ein ungutes Gefühl, und sein Instinkt sagte ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmte. In den Krisengebieten im Mittleren Osten wurden Anschläge an öffentlichen Orten immer häufiger in zwei Stufen ausgeführt. Die erste Bombe kam überraschend und riss viele Menschen in den Tod. Kurz danach wurde eine zweite Bombe gezündet, die das Leben derer nahm, die den Opfern der ersten Bombe helfen wollten. Und genau das befürchtete Krieger auch hier.

Er sah sich um, ob er jemanden entdecken konnte, der für das Attentat verantwortlich war. Irgendjemand, der sich auffällig verhielt. Aber er konnte in der Masse der Menschen, die jetzt auf das Vargas zueilten, niemanden ausmachen.

Er hoffte inständig, dass er sich täuschte, dass ihn sein Gefühl trog und dass seine Sorge unberechtigt war. Und gerade, als er sich den Helfern anschließen wollte, detonierte die zweite Bombe. Dieses Mal riss es ihn in die Bewusstlosigkeit.

2.

Berlin, 12:15 Uhr

Als Krieger wieder zu sich kam, drohte sein Schädel zu zerplatzen. Ohrenbetäubender Lärm drang von allen Seiten auf ihn ein, als würde direkt neben ihm ein Flugzeug starten. Dann erkannte er das Geräusch. Es waren Sirenen. Sie kamen von allen Seiten und wurden immer lauter. Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen. Langsam begann sein Gehirn wieder zu arbeiten, und er erinnerte sich. Eine zweite Bombe. Sie hatten tatsächlich eine zweite Bombe gezündet. Er rollte sich auf den Rücken und biss sich auf die Unterlippe. Sein ganzer Körper war von Schmerz erfüllt. Zwei Bomben mitten in Berlin. Krieger wusste, was das bedeutete. Weitere Menschen waren gestorben. In diesem Moment spürte er, wie sein Handy in seiner Jacke vibrierte. Er fasste mit der rechten Hand in die Tasche und fühlte etwas Weiches. Die Puppe. Er schob das Spielzeug beiseite und holte sein Telefon heraus. Mit der linken Hand stützte er sich auf dem Boden ab, um aufzustehen. Ein scharfes Stechen schoss durch sein Bein, als er mit dem Fuß auftrat, und ihm wurde schwindelig. Er schaute auf seinen Oberschenkel. Seine Jeans waren zerrissen und blutig, aber das konnte warten. Zunächst das Telefon. Er wusste genau, wer am anderen Ende der Leitung war, denn es gab nur eine einzige Person, die seine Nummer kannte: Thomsen, sein Chef und Leiter des SKT – des Sonderkommando Terror, einer streng geheimen Spezialeinheit, die außerhalb der Bundesrepublik den Terror bekämpfte. Krieger nahm das Gespräch an.

»Krieger, wo sind Sie?«, tönte Thomsens Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons.

»Keine hundert Meter von der Explosion entfernt, am Kurfürstendamm.«

»Sind Sie verletzt?«

Neben der Wunde an seinem Bein hatte er diverse Abschürfungen an den Armen. Außerdem hatte er einige Splitter von der Fassade abbekommen. »Nein, nur ein paar Schrammen«, erwiderte er.

»Was ist passiert?«, wollte Thomsen wissen. »Ich habe eben über das Notfallsystem die Meldung bekommen, dass es am Ku’damm eine Explosion gegeben hat.«

»Das stimmt«, sagte Krieger und musste tief durchatmen, ehe er weitersprach. »So wie es aussieht, waren es zwei Bomben. Beide im Abstand von nicht mehr als drei Minuten gezündet.« Er hielt kurz inne. »Eine klassische Sprengfalle.«

Thomsen überlegte einen Moment, was zu tun sei.

»Können die Täter noch in der Nähe sein?«, fragte er dann.

Daran hatte Krieger auch schon gedacht. Oft blieben die Täter am Tatort, um zu sehen, was sie angerichtet hatten. Doch es gab einen entscheidenden Punkt, der dagegen sprach.

»Nein, glaube ich nicht«, sagte Krieger deshalb. »Ich tippe auf Zeitzünder. Hätten sie einige Minuten länger mit der zweiten Detonation gewartet, wäre die Katastrophe weitaus größer gewesen. Es wären noch mehr Helfer und Schaulustige vor Ort gewesen.«

»Wie groß ist der Schaden?«, erkundigte sich Thomsen.

Krieger sah sich um. Der Kurfürstendamm war verwüstet und erinnerte an die Bilder aus Krisenregionen, die man aus den Nachrichten kannte. Die zweite Explosion hatte zusätzliche Menschenleben und Verletzte gefordert. Das Haus, in dem sich das Café befunden hatte, war jetzt vollständig in sich zusammengebrochen und hatte große Teile der beiden Nachbarhäuser mit sich gerissen. Jeden Moment drohte weiterer Schaden. Feuerwehrleute und freiwillige Helfer bargen ohne Rücksicht auf die Gefahr und das eigene Leben die Körper aus den Trümmern, während Polizisten versuchten, den Bereich weiträumig abzusperren. Krieger war sich sicher: Wenn die zweite Bombe erst jetzt explodiert wäre, hätte sie viel mehr Menschen das Leben gekostet.

»Es sieht nicht gut aus«, sagte Krieger. »Ein Haus ist vollkommen zerstört, und die Nachbarhäuser werden auch nicht mehr lange halten.«

»Wer steckt dahinter? IS? Al-Qaida? Ein religiös motiviertes Attentat?«

»Zumindest würde es ins Schema passen«, antwortete Krieger. »Aber … ich weiß es nicht, wir müssen es untersuchen.« Insgeheim fragte er sich, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gab. Offensichtlich hatte sein Chef den gleichen Gedanken, denn die nächste Frage traf genau ins Schwarze.

»Zufall, dass Sie in der Nähe waren? Könnte der Anschlag Ihnen oder Ihrem Informanten gegolten haben?«

»Kann schon sein. Vielleicht war er das Ziel. Oder ich. Oder es war Zufall.« Zu diesem Zeitpunkt gab es einfach zu viele Unbekannte in der Gleichung. Aber konnte der Anschlag wirklich ihm gegolten haben?

»Ich glaube nicht, dass es einen von uns treffen sollte«, sagte er dann. »Wenn die es darauf abgesehen hätten, hätten sie keine zwei Bomben gebraucht. Aber ausschließen können wir es noch nicht.«

Wer wusste alles, wo er war? In jedem Fall sein Chef, der ihn über sein Handy und über den kleinen Sender, der jedem Agenten des SKT in den rechten Unterschenkel implantiert war, orten konnte. Und natürlich der Informant, der ihn treffen wollte. Vielleicht war der Mann beschattet worden, aber das ergab keinen Sinn: Der Informant konnte nicht wissen, wer Krieger wirklich war. Er hatte eine seiner falschen Identitäten genutzt und sich als Mitglied eines der Berliner Mafiaringe ausgegeben, das vertrauliche Informationen kaufen wollte.

»Okay«, sagte Thomsen. »Wir brauchen mehr Anhaltspunkte. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen rausfinden, was dahintersteckt. Wir müssen wissen, ob Sie oder das SKT kompromittiert worden sind. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich weiß, wer die vorläufige Ermittlung leitet, und verschaffe Ihnen Zugang zum Tatort.« Dann legte er auf.

Krieger sah auf die Uhr. 12:25 Uhr. Nach der zweiten Explosion musste er für etwa fünf Minuten das Bewusstsein verloren haben. Jetzt zählte jede Minute. Thomsen hatte recht. Sie mussten so schnell wie möglich die Ursache der Explosionen erforschen. Bislang war die Existenz des SKT nur wenigen Menschen bekannt. Das war auch der Grund, warum sie so erfolgreich im Ausland operieren konnten. Das würde sich mit einem Schlag ändern, wenn sie unterlaufen worden waren. Und das warf eine ganze Reihe von Fragen auf. Er musste und würde Antworten finden, um sich Gewissheit zu verschaffen. Genau dafür brauchte er Zugang zu den Ermittlungen. Denn innerhalb von Deutschland hatte das SKT keinerlei Befugnisse, sodass es auf die Kooperation mit der Polizei angewiesen war.

Mittlerweile war das Entsetzen einer hektischen Geschäftigkeit gewichen. Von überall her kamen neue Rettungsteams dazu, um sich an der Bergung und Versorgung der Verletzten zu beteiligen. Aber es waren immer noch viel zu wenig Helfer. Krieger wusste, was zu tun war. Er hatte im Laufe seiner Dienstzeit wahrscheinlich mehr Kriegswunden versorgt und Tote gesehen als die meisten Ärzte in ihrer gesamten Laufbahn.

In diesem Moment hörte er neben sich ein leises Schluchzen. Unter den Resten eines der zerstörten Tische des Vargas ragte ein winziger Arm in einer rosafarbenen Jacke hervor. Ein kleines Mädchen versuchte, sich mit seiner blutverschmierten Hand aus den Trümmern zu befreien. Doch der Tisch, der auf dem Kind lag, war zu schwer.

»Ganz ruhig«, sagte Krieger, »ich helfe dir. Beweg dich nicht.«

Die Hand blieb still, und das Schluchzen wich einem leisen Wimmern. Krieger hob den Tisch vorsichtig an. Unter der Platte kam ein blondes Mädchen zum Vorschein. Das Gesicht der Kleinen war dreckig und von Schmerzen verzerrt. Ängstlich sah sie Krieger an. Ihr linker Arm stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab. Er war eindeutig gebrochen und musste dringend versorgt werden.

Krieger blickte sich um und fing ein Team Sanitäter ab, das gerade mit einem Krankenwagen am Unfallort eingetroffen war. Die Notfallhelfer blieben sofort stehen und gaben dem Mädchen ein Schmerzmittel. Dann richteten sie den Arm und legten ihr einen stabilen Verband mit Schiene an.

Krieger fiel die Puppe wieder ein, die er nach der ersten Explosion eingesteckt hatte. Er griff in die Tasche, zog sie heraus und gab sie der Kleinen. Sie schaute ihn mit großen Augen an und blickte dann zu der Puppe. Kaum wahrnehmbar hauchte sie: »Anni!« Dann blickte sie Krieger an. »Das ist meine Anni. Kann ich sie wiederhaben?«, fragte sie.

Krieger nickte.

Das Mädchen hielt die Puppe fest in ihrem Arm, Tränen rollten ihr über die Wangen. Dann fing sie an, leise auf die Puppe einzureden. »Du musst keine Angst haben, Anni«, sagte sie. »Alles wird wieder gut.«

Sie gab der Puppe einen Kuss auf die Stirn und strich ihr über die Haare. Dann, von einem Moment auf den anderen, forderten die Erschöpfung und das Schmerzmittel ihren Tribut: Dem Mädchen fielen die Augen zu. Krieger nickte den Sanitätern zu. Die beiden Männer legten das Kind auf ihre Trage und brachten es zum Notarztwagen. Krieger hoffte inständig, dass sie keine Waise geworden war.

Dann wandte er sich wieder der Unglücksstelle zu. Solange er keine weiteren Anweisungen von Thomsen erhielt, würde er helfen, die Verletzten zu bergen und zu versorgen. Die beiden Explosionen mussten an die dreißig Tote gefordert und mehr als hundert Menschen schwer verletzt haben. Die Zahl der Leichtverletzten lag weit darüber. Das war ohne Zweifel der schwerste Anschlag auf deutschem Boden seit Bestehen der Bundesrepublik. Und das mitten in Berlin.

Krieger spürte, wie Wut in ihm aufstieg und für einen Moment die Oberhand über seine Gefühle gewann. Anders als bei seinen Einsätzen im Ausland war er dieses Mal persönlich betroffen. Das hier war seine Heimat, das hier war seine Stadt. Den Anschlag würden die Attentäter bereuen. Bitter bereuen. Krieger würde die Verantwortlichen aufspüren, und wenn er sie bis in den hintersten Winkel der Welt verfolgen musste. Er würde sicherstellen, dass sie ihre gerechte Strafe erhielten. Und das wäre bestimmt keine Luxusbehandlung.

3.

Richard Thomsen legte den Hörer auf. Er saß am Schreibtisch seines Büros, mit dem Rücken zur Wand. Diesen Platz hatte er bewusst gewählt, denn vor dem Fenster hätte er jederzeit ein leichtes Ziel für einen Scharfschützen abgegeben.

Der Raum war nüchtern und zweckmäßig eingerichtet: Büromöbel, Besprechungstisch, alles Militärstandardware. Graues Metall, Blech, billiges Holz. An der Wand hinter dem Schreibtisch hingen zwei Bilder. Obwohl beide vor vielen Jahren aufgenommen worden waren, hatte sich Thomsen, mittlerweile vierundsechzig Jahre alt, kaum verändert. Lediglich einige graue Stellen in seinem kurzen dunklen Haar gaben einen Hinweis auf sein wahres Alter. Auf dem einen Foto war er zu sehen, wie er Bill Clinton die Hand schüttelte. Die Aufnahme war kurz vor dem Ende von Clintons zweiter Amtszeit geschossen worden in Camp David, dem offiziellen Feriensitz der amerikanischen Präsidenten. Als die Aufnahme entstand, hatte Thomsen eine geheime Operation geleitet, die der deutsche Auslandsgeheimdienst MAD zusammen mit der US Naval Special Warfare Development Group, besser bekannt unter ihrem ursprünglichen Namen, Navy Seals Team Six, durchgeführt hatte. Gemeinsam hatten sie mehrere amerikanische und deutsche Gefangene aus einer Geiselsituation befreien können.

Auf dem anderen Bild, gehalten von einem mattschwarzen Rahmen, sah man ihn als jungen Mann von Anfang dreißig. Neben ihm standen seine Frau und sein Sohn. Die Frau – sehr attraktiv – hatte schwarze, mittellange Haare und trug ein weißes Sommerkleid. In der Hand hielt sie eine rote Rose. Der Junge war trotz seines jungen Alters – er war gerade erst dreizehn geworden – bereits fast so groß wie der Vater und unverkennbar dessen Sohn. Alle drei lächelten in die Kamera, und in ihren Gesichtern spiegelten sich Glück und Zufriedenheit wider. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch.

Wenige Stunden, nachdem die Aufnahme entstanden war, wurden Thomsen und seine Familie Opfer eines Anschlags. Sie befanden sich auf einer Urlaubsreise in Israel, und als sie in einem kleinen Straßencafé in Tel Aviv zu Mittag aßen, piepste Thomsens Pager. Er ging in das Café, um über den Münzfernsprecher bei den Toiletten sein Büro zurückzurufen. Gerade als er den Hörer abhob, explodierte auf der Straße vor dem Café eine Autobombe. Sie riss Thomsens Frau und seinen Sohn in den Tod.

Thomsen hatte sich das nie verziehen. Die Jahre nach dem Attentat fand er keinen Schlaf. Jede Nacht wurde er von demselben Albtraum geplagt. Er durchlebte den Verlust seiner Familie immer und immer wieder. Die letzten gemeinsamen Momente vergingen dabei wie in Zeitlupe, und immer in dem Augenblick, in dem die Bombe explodierte, schreckte er schweißgebadet hoch. In diesen Nächten wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass er derjenige gewesen wäre, der gestorben wäre, und dass seine Frau und sein Sohn noch lebten. Im dritten Jahr nach dem Attentat beschloss er, dass die Zeit der Trauer vorbei sei. Für ihn begann die Zeit der Rache. Er ließ sich drei Monate beurlauben und reiste direkt nach Israel. Was dort dann geschehen war, wusste niemand, aber es ging das Gerücht um, er hätte die beiden Männer, die für den Tod seiner Familie verantwortlich waren, ausfindig gemacht und zur Rechenschaft gezogen. Sechs Wochen später kehrte er nach Deutschland zurück und begann, für den Geheimdienst zu arbeiten. Aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten, seines messerscharfen Verstandes und weil er kein Privatleben mehr kannte, durchlief er die Ränge im Eiltempo. Es dauerte keine fünf Jahre, da leitete er eine Abteilung, die für verdeckte Operationen zuständig war. Offiziell existierte diese Einheit gar nicht, denn über ihre Einsätze gab es keine Aufzeichnungen, und sie wurde ausschließlich aus geheimen Kassen finanziert. In den folgenden Jahren kämpften Thomsen und sein Team erfolgreich und von der Öffentlichkeit unbemerkt gegen den internationalen Terrorismus.

Bis am 11. September 2001 die Welt für einen Moment stillzustehen drohte und der Schrecken ein Gesicht bekam. Das veränderte auch die Einstellung der Bevölkerung, und nach dem Einsturz der Twin Towers wurde der Kampf gegen den Terror salonfähig.

Das ermöglichte es Thomsen und seiner Abteilung, aus dem Schattendasein herauszutreten. Mit Unterstützung des Militärischen Abschirmdienstes und des Verteidigungsministeriums wurde das SKT gegründet, dessen erster und bislang einziger Chef Thomsen war. Zunächst unterstand die Einheit direkt dem Bundeskanzler, der ihr völlig freie Hand ließ. Nach dem Regierungswechsel wurden die Mittel des SKT erheblich gekürzt und aufgrund der veränderten Schwerpunkte in der Politik der Kanzlerin schließlich dem Verteidigungsministerium unter der Leitung von Hugo Karch unterstellt. Im Gegensatz zur Kanzlerin hatte Karch großes Interesse an den Einsätzen und der Planung des SKT, da er ebenso wie Thomsen daran glaubte, dass die Gefahr des Terrors auch in Deutschland allgegenwärtig war und unbedingt bekämpft werden musste. Doch im Unterschied zu Thomsen war er der Überzeugung, dem Terror müsse ausschließlich mit legalen Mitteln im Rahmen der bestehenden Gesetze und Vorschriften Einhalt geboten werden. Thomsen, im Kalten Krieg groß geworden, hielt das für die naiven Ansichten eines Theoretikers. Und auch wenn sie das gleiche Ziel verfolgten, sah er in seinem Chef einen Mann ohne jegliche Erfahrung. Kurzum, er hatte nur wenig Respekt vor Karch und hielt alle Informationen, soweit es ihm möglich war, vom Minister fern.

Nur hin und wieder, wenn es die Situation erforderte, nahm er von sich aus Kontakt auf. Und in der aktuellen Situation brauchte er die Unterstützung des Ministers. Krieger war am Tatort und verfügte über die nötigen Kenntnisse, um schnell und mit Erfolg dem oder den Tätern auf die Spur zu kommen.

Thomsen griff zum Hörer und wählte die Nummer seines Chefs.

»Karch«, meldete sich der Verteidigungsminister.

»Thomsen hier. Guten Tag, Herr Minister. Ich brauche Ihre Unterstützung. Wir haben ein ernstes Problem.«

»Sie rufen doch nicht wegen des Unglücks am Ku’damm an, oder?«

»Doch, genau deshalb. Ich habe einen Mann am Tatort.«

»Was hat das SKT mit der Sache zu tun, Thomsen?« Der Verteidigungsminister klang überrascht.

»Er ist beinahe von der Bombe getötet worden. Er ist zufällig dort gewesen. Wahrscheinlich zumindest. Aber das spielt momentan keine Rolle. Wir müssen jetzt so schnell wie möglich handeln. Fakt ist: Krieger ist vor Ort. Es sieht ganz so aus, als hätten wir einen weiteren terroristischen Anschlag in Deutschland. Der Kripo fehlt jede Erfahrung in diesem Bereich.«

»Thomsen, dem SKT sind im Inland die Hände gebunden. Krieger wird nichts unternehmen, bis wir Näheres wissen!«, erwiderte der Politiker bestimmt.

»Das sehe ich anders. Wenn wir es mit einem terroristischen Attentat zu tun haben, ist die Kripo vollkommen überfordert. Sie wissen das, und ich weiß es auch. Nur die Kripo weiß es nicht. Zumindest werden sie es nicht zugeben.« Thomsen war bei aller Professionalität ein sehr impulsiver Mann. Und jetzt wurde er ungeduldig. Er hasste es, Zeit zu verlieren. Er wurde lauter. »Herr Minister, Sie können sich sicher an unsere letzten beiden Einsätze in Afghanistan erinnern, bei denen wir zwei Anschläge verhindern konnten. Und auch an den Anschlag auf die Botschafterin im Jemen, der aufgrund des absoluten Versagens der örtlichen Behörde ein Menschenleben gekostet hat.«

Thomsen wusste, dass er damit einen wunden Punkt von Karch getroffen hatte. Das Opfer im Jemen war ein ehemaliger Mitarbeiter von Karch gewesen. Und dem Minister war auch klar, dass Krieger im Falle eines Terroranschlags weit mehr Erfahrung hatte und besser helfen konnte als jeder Polizist vor Ort. Krieger war ein Experte auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung, einer der besten, die es weltweit gab. Er war in dieser Hinsicht den Beamten weit überlegen, denn auch wenn diese fachlich noch so gut ausgebildet waren, fehlte es ihnen an der nötigen Erfahrung.

Nach einem Moment der Stille gab der Minister nach: »Okay, ich kläre das mit Siebert. Als Innenminister ist er für die Polizei verantwortlich. Krieger erhält Zugriff auf die Informationen, aber vorerst nur als Beobachter. Die Kripo ermittelt hier. Dabei bleibt es.«

Thomsen nickte zufrieden und legte den Hörer auf. Sein Mann war jetzt im Rennen. Er war sich sicher, dass er die Informationen finden würde, auf die es ankam.

4.

Krieger war beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Berliner. Immer mehr Freiwillige meldeten sich bei der Einsatzleitung, um den Verunglückten zu helfen. Da die Versorgung der Schwerverletzten Vorrang hatte, waren die Leichtverletzten dankbar für die Unterstützung der Anwohner. Decken wurden ausgegeben, heißer Kaffee und dampfender Tee verteilt, tröstende Worte gespendet.

Krieger hatte sich einem Team von Sanitätern angeschlossen, das sich um eine Gruppe schwerverletzter Jugendlicher kümmerte, als sein Handy klingelte.

»Hallo, Krieger, wie sieht es inzwischen vor Ort aus?«, fragte Thomsen.

»Der Ku’damm gleicht nach wie vor einem Krisengebiet, aber die Einsatzleitung der Feuerwehr und die Sanis leisten gute Arbeit. Die Leute wissen, was sie tun. Ich schätze, wir haben knapp dreißig Tote und etwa einhundert Schwerverletzte.« Krieger machte eine Pause. »Und wie sieht es bei Ihnen aus?«

»Ich habe gerade mit Karch gesprochen«, erwiderte Thomsen. »Er hat seine Kontakte genutzt und Ihnen Zugang zu den Ermittlungen verschafft. Zunächst als Beobachter, aber das sollte reichen, um einzuschätzen, womit wir es hier zu tun haben. Die Leitung liegt in den Händen der Kripo, genauer gesagt in der Verantwortung von Anna Cole. Ich habe ein paar Dinge über sie in Erfahrung gebracht, die Sie wissen sollten.«

Thomsen machte eine Pause und man hörte Papier rascheln, ehe er fortfuhr.

»Cole ist Kriminalhauptkommissarin, Anfang dreißig und die Tochter eines US-amerikanischen Generals außer Dienst. Ihre Mutter ist Deutsche. Ihre Eltern haben sich nach dem Krieg in Berlin kennengelernt. Sie ist eine Einzelgängerin und dafür bekannt, die Dinge auf ihre Weise zu erledigen. Aber der Erfolg gibt ihr bisher recht. Sie hat eine nahezu hundertprozentige Erfolgsquote und ist bereits mehrfach für Beförderungen in Planstellen vorgeschlagen worden. Sie hat diese allerdings jedes Mal mit der immer gleichen Begründung ausgeschlagen: dass ihr Platz auf der Straße und nicht hinter einem Schreibtisch sei. Ich habe mit ihrem Chef, Kriminalrat Wegener, gesprochen. Wie erwartet, hat er unsere Unterstützung strikt abgelehnt. Allerdings hat er Weisung von oben bekommen, uns Zugang zu allen Informationen zu verschaffen. Das hat ihn wenig begeistert, was er mir auch unmissverständlich klargemacht hat.« Thomsen machte eine Pause und räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Er weiß allerdings auch, dass der Anschlag politisch hochbrisant ist. Nach den Pegida-Demonstrationen, der wachsenden Popularität extremer Parteien, der ablehnenden Haltung gegenüber den Flüchtlingen und den Attentaten der vergangenen Wochen werden sich die Anhänger der islamfeindlichen Organisationen in ihrem Glauben bestätigt fühlen, dass alles Fremde gefährlich für Deutschland ist. Deshalb hat eine schnelle Aufklärung für ihn höchste Priorität. Er befindet sich also in einer Zwickmühle. Er braucht uns, aber er will uns nicht. Gehen Sie also nicht davon aus, dass man Sie mit offenen Armen empfängt. Und melden Sie sich in spätestens zwei Stunden mit einem ersten Bericht.«

Krieger bestätigte kurz und legte auf.

Es war ein offenes Geheimnis, dass die einzelnen Behörden in einem ständigen Kompetenzkampf miteinander standen und keine es gerne sah, wenn ihr jemand in die Ermittlungen pfuschte. Hinzu kam, dass gerade die Geheimdienste und Sonderkommandos in einem besonders kritischen Licht gesehen wurden. Nach Ansicht der Polizei verschwendeten die Spione den größten Teil des Geldes, ohne Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen zu müssen. Man erfuhr so gut wie nie, was sie eigentlich machten. Einsätze wie der legendäre GSG-9-Erfolg in Mogadischu waren die absolute Ausnahme.

Krieger wusste, dass diese Einschätzung sehr oberflächlich war, und er hielt nichts von politischen Spielchen. Schwarze Schafe gab es in den Reihen der Polizei genauso wie aufseiten der Geheimdienste. Er war der festen Überzeugung, dass die Arbeit zuerst kam: Das Team, das die besten Chancen auf Erfolg hatte, sollte auch das Team sein, das den Job übernahm. So einfach war das. Und jetzt kam es darauf an, so schnell wie möglich zu handeln. Je mehr Zeit verging, desto mehr würden die Spuren verwischen. Außerdem ließ Krieger eine Befürchtung nicht los: Was, wenn dies nicht der einzige Anschlag bleiben würde?

Er machte sich auf den Weg zur mobilen Einsatzleitung der Polizei, die gerade in einem großen Mercedes-Bus aufgebaut wurde. Vor dem Fahrzeug gab eine mittelgroße Frau mit schulterlangen dunkelbraunen Haaren Anweisungen. Mit ihrem schmalen Gesicht, ihrem dunklen Teint und ihrer sportlichen Figur war sie von auffallender Schönheit. Dies stand im Gegensatz zu ihrer zweckmäßigen Kleidung – Jeans, schwarze, taillierte Jacke, Biker-Stiefel – und ihrem Auftreten: Obwohl sie von zahlreichen Polizisten in Uniform und Zivil umgeben war, war klar zu erkennen, wer hier die Chefin war.

Krieger hatte im Laufe seiner Karriere schon in vielen Einsätzen mit Frauen zusammengearbeitet. Einige davon zählten zu den besten Agenten der Welt und übertrafen viele ihrer männlichen Kollegen in jeglicher Hinsicht. Im Einsatz kam es darauf an, sich blind aufeinander verlassen zu können. Dabei spielte das Geschlecht keine Rolle. Für Krieger zählte alleine die Qualität der Arbeit und nicht die Frage, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Vorurteile und Voreingenommenheit hatten schon viel Schaden angerichtet. Dafür war in seinem Job kein Platz.

5.

Obwohl sie mit dem Rücken zu Krieger stand, bemerkte Anna Cole ihn schon, bevor er sie erreicht hatte. Ihr Chef hatte sie eben informiert, dass ein Mitarbeiter des SKT auf Anweisung »von ganz oben« Zugang zu allen Informationen bekommen sollte. Er hatte ihr aber freie Hand gelassen, ob sie mit ihm zusammenarbeiten wollte oder nicht. Wenn er helfen konnte, sollte er helfen, wenn nicht, musste er auch nicht alles wissen. Er überließ ihr die Entscheidung.

Ohne ihn gesehen zu haben, wusste sie schon, wie ihre Entscheidung ausfallen würde. Denn Anna Cole hielt nichts davon, sich auf andere zu verlassen. Hilfe brauchten Menschen, die es nicht alleine schafften. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt. Verlasse dich nur auf dich selbst, hatte er ihr immer wieder gesagt. Danach hatte sie ihr Leben ausgerichtet. Seitdem sie die Schule verlassen hatte, hatte sie für die gleichen Jobs härter und mehr arbeiten müssen als ihre männlichen Kollegen. Auch wenn das nicht gerecht war, haderte sie nicht damit. So waren die Regeln, ob sie das nun mochte oder nicht. Es hatte sie ja keiner gezwungen, zur Polizei zu gehen. Das war ausschließlich ihre Entscheidung. Und diese Entscheidung hatte sie zu keiner Zeit bereut.

Deshalb brauchte sie auch jetzt keine Hilfe.

Sie drehte sich um, bevor Krieger sie ansprechen konnte, und war überrascht von dem, was sie da vor sich sah. Er war ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte, und insgeheim ärgerte sie sich, dass ihre Vorurteile nicht bestätigt wurden. Sie hatte mit einem Spießer in Anzug und Krawatte gerechnet. Doch der Mann, der jetzt vor ihr stand, hatte so gar nichts Spießiges. Er war groß und auf eine männliche Art sehr attraktiv. Doch am meisten faszinierten sie seine Augen. Sie strahlten eine außergewöhnliche Härte und gleichzeitig Ruhe und Gelassenheit aus. Dann wanderte ihr Blick weiter nach unten. Seiner Kleidung nach zu urteilen, musste er in unmittelbarer Nähe der Explosion gewesen sein. Seine Jeans waren zerrissen, seine Arme voller Blut. Um die rechte Hand trug er einen Verband. Er blieb vor ihr stehen und blickte sie herausfordernd und offen an. »Sie müssen Anna Cole sein«, sagte er. »Mein Name ist Krieger. Luk Krieger.«

»Ich weiß«, antwortete sie und fuhr selbstbewusst fort: »Mein Chef hat mich eben informiert. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht gerade auf Sie gewartet.« Sie hielt inne, weil sie mit Widerspruch oder Erklärungen von ihm rechnete. Doch zu ihrer Überraschung blieb Krieger vollkommen ruhig. Er erwiderte zwar ihren Blick, doch er unterbrach sie nicht. Ganz so, als wenn er wüsste, was in ihr vorging. Ungewöhnlich, dachte sie. Ungewöhnlich, aber auf eine gute Art.

»Okay«, sagte sie spontan, mehr einem Impuls als ihrem Kopf folgend. »Wo Sie schon mal da sind, können Sie auch bleiben.«

Für einen Moment glaubte sie, so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht gesehen zu haben.

»Ich bin mir sicher, dass Sie Ihren Job sehr gut machen, und ich weiß, dass ich nur zur Beobachtung hier sein soll«, begann er dann mit ruhiger Stimme. »Sie müssen aber auch wissen, dass ich mich mit Situationen wie dieser hier sehr gut auskenne. Ich biete Ihnen meine aktive Unterstützung an.« Er hielt kurz inne und sah ihr direkt in die Augen »Ob Sie meine Hilfe annehmen wollen, ist allerdings ganz allein Ihre Entscheidung. Aber Sie müssen sich jetzt entscheiden. Wir haben nur sehr, sehr wenig Zeit, die nächsten Schritte einzuleiten.«

Er wollte also nicht nur zuschauen, sondern mitmischen, dachte sie. Insgeheim fühlte sie sich überfordert. Eigentlich hätte sie ihn spätestens jetzt zum Teufel jagen müssen, jeder ihrer Kollegen hätte das verstanden, auch ihr Chef. Das ging deutlich zu weit. Doch aus einem ihr unerklärlichen Grund hielt etwas sie davon ab, ihm sofort den Laufpass zu geben. Und das lag nicht allein daran, dass ihr klar war, wie wenig Erfahrung sie mit solchen Attentaten hatte und dass sie über jede Art von Unterstützung dankbar sein musste. Das hier war zu ungewöhnlich. Ein Spion, der aus dem Nichts kam. Auf der einen Seite warnte ihr Verstand sie, dass sie ihm nicht vertrauen konnte, ja gar nicht erst durfte. Doch ihr Gefühl sagte etwas anderes. Sie hatte den Eindruck, dass er es ehrlich meinte. Sie fühlte sich auch nicht von ihm unter Druck gesetzt. Es schien, als legte er die Entscheidung, ob sie seine Hilfe annehmen wollte oder nicht, wirklich in ihre Hände. Das gefiel ihr. Aber ihr blieb keine Zeit für eine weitere Abwägung. Er hatte recht. Direkt nach einem Verbrechen konnte man am meisten richtig machen. Oder eben auch nicht. Sie musste sich jetzt entscheiden. Und wenn sie in sich hineinhörte, war ihr klar, dass sie ihre Entscheidung längst getroffen hatte. Ihr Gefühl sagte ihr, sie sollte diesem rätselhaften Mann vertrauen. Und ihr Gefühl hatte sie noch nie enttäuscht.

»Was würden Sie denn als Nächstes tun?«, fragte sie ihn deshalb.

»Das ist sehr einfach«, erwiderte er. »Wir müssen den Täter fassen, solange uns das möglich ist. Das heißt, wir müssen schnell handeln, denn er kann noch nicht weit sein. Haben Sie die Flughäfen und Bahnhöfe gecheckt? Züge und Flieger, die in den letzten dreißig Minuten Berlin verlassen haben? Passagiere, die nur einen One-Way-Flug gebucht haben oder ohne Gepäck gereist sind?«

Das hatte sie nicht. Noch nicht. Sie musste doch erst mal den Tatort untersuchen und verstehen, was passiert war. Es war ja noch nicht einmal klar, ob es ein Unfall oder ein Anschlag gewesen war. Vielleicht war einfach nur eine Gasleitung explodiert. Außerdem war sie doch gerade erst am Tatort eingetroffen, da konnte sie doch noch gar keine Fahndung in die Wege geleitet haben. Und woher wusste er überhaupt schon, wonach er suchte? Oder bluffte er?

Doch bevor sie ihn all das fragen konnte, fuhr Krieger genauso sachlich wie ruhig fort: »Ich vermute, dass wir es hier mit einer Sprengfalle mit Zeitzünder zu tun haben. Der Täter war nicht mehr am Tatort, sonst hätte er die zweite Bombe später gezündet. Dann hätte er mit all den Helfern und Schaulustigen noch mehr Schaden anrichten können. Und nur darum ist es hier gegangen. Zerstörung. Chaos. Außerdem muss er die Bomben heute platziert haben, sonst hätten die Putzkräfte sie gestern Nacht finden können. Das wäre zu riskant gewesen. Wahrscheinlich hat er die Stadt bereits verlassen, das kann aber noch nicht lange her sein. Ich tippe auf Flugzeug.«

Anna Cole wurde schlagartig eins klar: Er wusste tatsächlich, wovon er redete. Und sie hatte keine Ahnung, was hier gerade passiert war. Gewalttäter, Bankräuber oder Drogendealer – damit kannte sie sich aus. Da machte ihr keiner etwas vor, das war ihre Welt. Aber das jetzt: radikaler Terrorismus. Maximale und gezielte Vernichtung von Menschenleben. Das gab es in Berlin nicht. Das konnte es hier nicht geben. So was durfte nicht sein. Und doch war es eben passiert. Anna Cole wurde noch etwas klar. Sie war überfordert. Sie brauchte für diesen Fall Unterstützung. Gerade als sie Krieger fragen wollte, woher er die Sicherheit nahm, die Lage zu beurteilen, und ob es nicht auch anders gewesen sein könnte, kam einer ihrer Kollegen aus den Trümmern auf sie zu. Er trug eine Schutzweste mit einem Aufdruck, der ihn als Mitglied des Bombenentschärfungsteams auswies. Sein Gesicht und seine Hände waren rußverschmiert. In seinen Augen spiegelte sich große Sorge wider.

»Chefin, ich kann dir kein hundertprozentiges Ergebnis präsentieren, dafür müssen wir auf die Laborauswertungen warten. Aber ich habe eine erste Einschätzung, und die wird dir nicht gefallen.«

Sie sah ihn an und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie zutiefst beunruhigt sie war.