Der Akademisierungswahn - Julian Nida-Rümelin - E-Book

Der Akademisierungswahn E-Book

Julian Nida-Rümelin

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Beschreibung

Die deutsche Bildungspolitik ist auf dem Holzweg: Die berufliche Bildung wird vernachlässigt. Im Gegenzug wird die akademische Bildung immer beliebiger und flacher. Anerkennung und Respekt vor dem dualen Ausbildungssystem, um das Deutschland in der ganzen Welt beneidet wird, schwinden immer mehr. Mit klaren Worten und eindeutigen Fakten zeigt Julian Nida-Rümelin auf, wie gefährlich der aktuelle Akademisierungstrend ist, der am Ende sowohl die berufliche als auch die akademische Bildung beschädigen wird. Dabei sind beide Ausbildungen zwar unterschiedliche, aber gleichwertige Wege zu einem gemeinsamen Ziel: jede Person nach ihren Begabungen und Interessen zu bilden. Noch ist es nicht zu spät. Nida-Rümelin zeigt Perspektiven für eine Korrektur des bereits eingeschlagenen Weges auf. Denn es gibt erstaunlich effektive Stellschrauben, über die jedoch nicht allein der Staat verfügt, sondern auch die Wirtschaft, die Gewerkschaften und vor allem diejenigen, die die Bildung durch eigene Berufspraxis und Lebensentscheidungen tragen: die Lehrenden und Lernenden.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
Erster Teil: Grundlegung
Kapitel I: Ein verhängnisvoller bildungsökonomischer Irrtum
Kapitel II: Bildung und Beruf
Kapitel III: Persönlichkeitsbildung
Kapitel IV: Vielfalt der Bildungswege
Kapitel V: Einheit und Vielfalt der Bildung
Kapitel VI: Demokratie und Bildung
Zweiter Teil: Zur Krise beruflicher Bildung
Kapitel VII: Der Irrtum des Intellektualismus
Kapitel VIII: Verwissenschaftlichung beruflicher Bildung
Kapitel IX: Kreativität und Innovation
Kapitel X: Deutsche Bedingungen
Kapitel XI: Quantitäten
Kapitel XII: Respekt
Dritter Teil: Zur Krise akademischer Bildung
Kapitel XIII: Das Erfolgsprojekt Humboldt-Universität
Exkurs
Kapitel XIV: Das Scheitern des Bologna-Prozesses
Kapitel XV: Vielfalt der Wissenschaftskulturen
Kapitel XVI: Europäisierung und Globalisierung akademischer Bildung
Kapitel XVII: Quantitäten
Kapitel XVIII: Respekt
Fazit
Anmerkungen
Anhang
Der nächste Bildungsnotstand
Bildungspolitik auf Abwegen
»Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen«
Tabellen I & II
Der Autor
Impressum

Vorwort

Am 1. September 2013 erschien ein Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem ich mich mit deutlichen Worten gegen den grassierenden »Akademisierungswahn« gewandt habe.1 Entgegen früheren öffentlichen Stellungnahmen von mir, die in eine ähnliche Richtung gingen2, hatte diese ein unerwartet starkes Echo: Bei der CDU-Bildungsministerin Johanna Wanka und der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles schon am Tage darauf ein kritisches, im Verlaufe der nächsten Tage und Wochen aber auch ein zunehmend positives. Der damalige österreichische Bildungsminister Karlheinz Töchterle schrieb mir einen Brief und betonte seine große Übereinstimmung mit meiner Auffassung, ebenso der Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle in einem kurzen mündlichen Austausch, auch die Konrad-Adenauer-Stiftung schloss sich im Wesentlichen dieser Meinung in einem Papier an, das einige Wochen später erschien.3 Sowohl aus den Gewerkschaften als auch aus dem Bereich der mittelständischen Unternehmen kamen überwiegend positive, vereinzelt auch negative Stellungnahmen mit einer interessanten Tendenz: Zustimmung von Seiten der Praktiker, insbesondere der Personalverantwortlichen, Widerspruch von Seiten der Bildungsabteilungen.

Mit diesem Essay möchte ich meine Überzeugung, dass wir uns auf einem gefährlichen Weg befinden, der am Ende sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung beschädigen könnte, in einen größeren Zusammenhang stellen. Dies knüpft an meine Philosophie einer humanen Bildung an, die, 2013 ebenfalls bei der edition Körber-Stiftung erschienen, den überwiegend technokratisch ausgerichteten Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit eine inhaltliche Bildungskonzeption entgegenstellte. Dieser Essay zum Akademisierungswahn kann jedoch ohne Kenntnis der Philosophie einer humanen Bildung gelesen und verstanden werden. Die wichtigsten philosophischen Grundlagen entwickle ich im ersten Teil, um dann darauf aufbauend im zweiten und dritten die Doppelkrise beruflicher und akademischer Bildung zu erörtern. Es bleibt aber nicht lediglich beim Befund: Zunächst geht es mir um eine klare Sicht auf die zuletzt eingetretenen Veränderungen und die Gefährlichkeit des aktuellen Trends, um dann aber – optimistisch – Perspektiven für eine Korrektur dieses Weges aufzuzeigen. Es gibt erstaunlich effektive Stellschrauben. Über diese verfügt nicht einfach der Staat, dazu ist das Bildungswesen in Deutschland zu pluralistisch verfasst, sondern auch die Wirtschaft, die Gewerkschaften und vor allem diejenigen, die die Bildung durch eigene Berufspraxis und Lebensentscheidungen tragen: Die Lehrenden und Lernenden. An diese richtet sich dieser Essay in allererster Linie, aber auch an die Fachleute aus dem Bildungswesen: An Lehrerinnen und Lehrer, Verantwortliche in den Ministerialverwaltungen, bei den Kammern, den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, in der Hochschulpädagogik und Bildungsforschung

Dies ist der Essay eines Philosophen, aber auch eines durchaus besorgten Bürgers. Es will Denkanstöße geben, nicht Rezepte formulieren. Eine Korrektur des aktuellen Trends im Bildungswesen wird nur in enger Kooperation zwischen Theorie und Praxis möglich sein. Ich würde mir wünschen, dass dabei die Reflexion darüber, was – akademische und berufliche – Bildung unter zeitgenössischen Bedingungen ist und soll, eine größere Rolle spielt als bisher. Mit diesem Essay will ich keinen Meinungskampf gewinnen, sondern Anregungen zu einer weiterführenden Debatte und zu einer veränderten Bildungspraxis geben.

Ein besonderer – anonymer – Dank geht an die Präsidenten und Rektoren von siebzehn führenden deutschen Universitäten, mit denen ich im Rahmen eines Forschungsprojektes, das von PricewaterhouseCoopers durchgeführt wurde, in den Jahren 2012 und 2013 intensive und ergiebige Gespräche zur Sicht der Hochschulleitungen auf die aktuellen Bologna-Reformen und die Exzellenzinitiative führen konnte.4 Die hier vorgestellte kritische Sicht auf die Entwicklung der Hochschulbildung in Deutschland ist meine eigene, mit ihr stehe ich aber keineswegs allein.

Ebenso danke ich den Industrie- und Handels- sowie den Handwerkskammern, die mir Gelegenheiten zur Vorstellung meiner Thesen gegeben haben. Der Gedankenaustausch dazu – und die überraschend große Übereinstimmung – haben mich bestätigt, diesen Essay zu verfassen.

Ich danke der Körber-Stiftung – dort besonders Matthias Mayer und Bernd Martin – für die Unterstützung dieses Projektes (auch in Form von Veranstaltungen), Niina Zuber für Recherche und Redaktion sowie den Veranstaltern und Teilnehmenden meiner Vorträge zu Bildungsfragen in den vergangenen Monaten für wichtige Denkanstöße, Kritik und Bestätigung.

München, im September 2014

Julian Nida-Rümelin

Einführung

Eine der meistzitierten Äußerungen eines Philosophen lautet: »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Die Formulierung stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel5 und soll besagen, dass sich die Philosophie (oder generell die Weisheit) immer erst dann einstellt, wenn der Gegenstand der philosophischen Erkenntnis schon seinen Abend erlebt, also im Verfall begriffen ist. Die Nikomachische Ethik des Aristoteles könnte man als einen besonders faszinierenden Beleg für diese These heranziehen: Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelt seine politische Philosophie, in der das Leben in einer Polis, einem Stadtstaat, als das allein menschengemäße beschrieben wird, in der Endphase der griechischen Polis-Kultur und ist, wenn man so will, an ihrem Untergang sogar persönlich beteiligt. Denn schließlich weilte Aristoteles über Jahre am Hof des Makedonier-Königs Philipp (382–336 v. Chr.) und war Erzieher seines Sohnes, des späteren Alexander des Großen (356–323 v. Chr.). Philipp aber erobert Griechenland, sein Sohn errichtet eines der größten Reiche der Geschichte mit einer an asiatische Traditionen angelehnten Herrschaftsform. Die Zeit der mehr oder weniger autonomen Stadtstaaten, in der die freien Bürger ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen – und somit die erste Phase der Demokratie in unserem Kulturkreis –, ist damit beendet. Aristoteles scheint jedoch diesen bevorstehenden Niedergang nicht geahnt zu haben. Mit keinem Wort erwähnt er eine mögliche Gefährdung der griechischen Stadtstaaten oder erörtert den sich abzeichnenden Loyalitätskonflikt zwischen makedonischem Königshaus und athenischer Bürgerschaft. Der griechische Stadtstaat scheint für ihn die einzig denkbare humane Lebensform zu sein.

Ich mache mir diese, letztlich resignative Sichtweise nicht zu eigen. Ich glaube (noch) nicht, dass alles verloren ist, dass ein humanes Bildungsideal keine Zukunft hat und in diesen Jahren endgültig zu Grabe getragen wird. Ich erwarte nicht, dass dieser Essay und die vorausgegangene Schrift Philosophie einer humanen Bildung6 im Rückblick als philosophischer Abgesang interpretiert werden müssen. Die philosophische Erkenntnis ist in meinen Augen nicht selbstgenügsam; wo sie sich als selbstgenügsam versteht, befindet sie sich in einer Sackgasse. Beide Texte sind aber auch keine Kampfschriften, das wäre mit einer philosophischen Perspektive unverträglich. Eine humanistische7 Philosophie hat eine pragmatische Dimension: Sie beschränkt sich nicht auf die Anleitung der Praxis, aber sie ist für diese relevant. Diese Schrift versteht sich nicht lediglich als philosophisch inspirierte Diskussionsbemerkung. Sie will nachdenklich machen, aufrütteln, bevor es zu spät ist, und für eine grundlegende Korrektur des eingeschlagenen Pfades werben.

Unser Bildungssystem befindet sich in einer Krise: Die Reformanstrengungen der letzten zwei Jahrzehnte haben zweifellos manches verbessert, zugleich waren sie jedoch nicht von einer kulturellen Leitidee getragen. Sie verfolgten bescheidene Ziele, wie das der internationalen Anschlussfähigkeit und der Verbesserung der beruflichen Verwertbarkeit, und haben doch in eine tiefe Krise des Bildungssystems als Ganzes geführt. Wenn meine Diagnose zutrifft, hängt das eine mit dem anderen zusammen: Gerade weil diese Bildungsreformen glaubten, ohne kulturelle Leitidee auskommen zu können, haben sie grundsätzliche Probleme heraufbeschworen, die nicht durch die Korrektur an der einen oder anderen Stelle behoben werden können, sondern nur durch einen Richtungswechsel. Für einen solchen Richtungswechsel plädiert diese Schrift.

Krísis heißt im Altgriechischen »Urteil« oder »Entscheidung«. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist krísis das »Stellhölzchen«. Nimmt man es heraus, verändert sich der weitere Prozess grundlegend. Man kann das Stellhölzchen nach rechts oder nach links einrasten lassen, und entsprechend fließt das Wasser in eine andere Richtung. Somit können gewaltige Veränderungen durch minimale Korrekturen an geeigneter Stelle erreicht werden. Die aktuelle Bildungskrise verlangt nach einer Entscheidung: Das Stellhölzchen muss neu eingerichtet werden, um den gewaltigen Strom einer Reformdynamik auf Humanität, Autonomie und Inklusion zu leiten. Wir müssen die kulturellen Leitideen klären, die unseren Bildungsreformen Orientierung geben.

Der Titel dieser Schrift »Der Akademisierungswahn« weckt Ressentiments. Als ich ihn zum ersten Mal verwendete,8 reagierte ich auf die immer gleichen Argumente einer unterdessen verfestigten Bildungsideologie. Demnach könne es doch nur gut sein, wenn so viele Menschen wie möglich studieren, Bildung sei schließlich eine Investition in Produktivität und wirtschaftliches Wachstum. Zudem globalisiere sich der Arbeitsmarkt und Deutschland habe sich an internationalen Standards zu orientieren, um mithalten zu können. Die Ansprüche an einzelne Berufe seien stetig gestiegen, was für eine Verlagerung der betreffenden Ausbildung an die Hochschulen spreche. Außerdem liege es doch auf der Hand, dass eine weiter steigende Studierendenquote wünschenswert ist, solange Akademiker mehr verdienen als Nichtakademiker. Auch die geringere Arbeitslosigkeit unter Akademikern wird als Argument für eine weiter steigende Studierendenquote vorgebracht.

Wir werden sehen, dass keines dieser Argumente bei genauerer Betrachtung haltbar ist. Dies zu erkennen erfordert weder übermäßige Intelligenz noch jahrelange Beschäftigung mit den Befunden der Bildungsforschung. Umso überraschender ist, dass sich diese Argumente so hartnäckig halten. Darin liegt für mich die eigentliche Herausforderung: Eine attraktive Alternative aufzuzeigen, ein anderes, im Kern humanistisch und pragmatistisch geprägtes Bildungsverständnis zu Grunde zu legen und damit mehr Respekt vor Individualität und kultureller Vielfalt zu zeigen. Die These des Akademisierungswahns lässt sich in folgender Weise ausdifferenzieren:

1. Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und dann ein Studium aufnehmen.

Es ist in Sonderheit falsch, die Tatsache zu kritisieren, dass sich ein Teil der Studienberechtigten für einen Ausbildungsberuf entscheidet.

9

Es ist falsch, die gestiegenen Abbrecherquoten pauschal als ein didaktisches Versagen der Hochschullehre zu interpretieren.

2. Der generelle Trend, immer mehr Berufsausbildungsgänge zu Hochschulstudiengängen umzubilden, ist falsch.

Das Bestreben, einen möglichst großen Anteil der Berufsausbildung an die Hochschulen zu verlagern, zeugt von mangelndem Respekt gegenüber der Qualität der beruflichen Bildung.

Auf diese Verlagerung sind die Universitäten und oft auch die Fachhochschulen nicht vorbereitet.

Die Akademisierung der beruflichen Bildung ist in der Regel mit einem Qualitätsverlust und nicht mit einem Qualitätsgewinn verbunden.

3. Die demografische Entwicklung lässt die Jahrgangsstärken jedenfalls für den überschaubaren Zeitraum der nächsten zwei Jahrzehnte sinken. Ein weiteres Anwachsen der Studierendenquote bedeutet daher in der Konsequenz ein – sicher unbeabsichtigtes – Abwracken der nichtakademischen Berufsbildung im dualen System.

Schon heute bestehen die größten Lücken im Arbeitskräfteangebot nicht im akademischen, sondern im nichtakademischen Sektor.

Nur wenn das gesamte Begabungsspektrum auch in nichtakademischen Berufen präsent bleibt, haben diese eine gute Zukunft.

Die Vorstellung, sozialer Aufstieg manifestiere sich in einer Abkehr vom Handwerklichen, Technischen und generell vom Praktischen, ist in vielen Kulturen der Welt aus erklärlichen historischen Gründen tief verankert. Und dies beeinflusst auch solche Kulturen, die aufgrund der zünftischen Tradition einen eigenen Handwerkerstolz, eine Hochschätzung des Haptischen, des Technischen, des Handwerklichen und Gestaltenden kennen. Dazu zählt – möglicherweise sogar an vorderster Stelle weltweit – der deutschsprachige Raum in Europa. Aber auch in Italien gibt es diese Tradition, was wenigstens zum Teil das hohe Niveau des verarbeitenden Gewerbes in Italien erklärt.

Eine zentrale Ursache des Akademisierungswahns der letzten Jahre ist der internationale Vergleich. Es lässt sich allerdings rasch feststellen, dass dieser regelmäßig in die Irre führt. So wird die Akademikerquote in den USA gerne mit über 40% beziffert10, während sie – bei Vergleich des Vergleichbaren11 – nach meiner Einschätzung im Sinne des deutschen Bildungssystems bei unter 10% liegen dürfte. Unterschiedliche Bildungssysteme haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Nichts liegt mir ferner, als zu behaupten, die spezifisch deutsche Bildungstradition, die wir gegenwärtig abwracken, sei anderen Bildungssystemen überlegen. Für Bildungschauvinismus besteht keinerlei Anlass. Was ich aber kritisiere, ist die aktuelle Normierungstendenz, die Standardisierung und Verflachung unter dem Motto der Globalisierung und die damit zusammenhängende Tendenz, Chimären zu entwickeln, das heißt: nicht etwa das US-amerikanische Bildungssystem zu kopieren, sondern einzelne Teile daraus mit anderen Teilen zu kombinieren, ohne dass erkennbar wäre, wie das eine mit dem anderen passend gemacht werden könnte. Ich wende mich mit dieser Schrift also nicht nur gegen eine falsch verstandene Bildungsglobalisierung, sondern auch gegen den verbreiteten Bildungseklektizismus.

Unterdessen zeichnet sich selbst bei der OECD ein vorsichtiger Kurswechsel ab. Er drückt sich zwar bislang nicht in einer Korrektur der bisherigen Empfehlungen aus, den tertiären Sektor, also den Anteil der Studierenden, besonders in Deutschland und Österreich, deutlich zu erhöhen, um internationale Standards zu erreichen. Immerhin aber lobte die OECD das duale System in Deutschland mehrfach und regt seine Implementierung auch in anderen Ländern an.12 Den Gesetzen der Logik folgend müsste die OECD ihre bisherigen Empfehlungen korrigieren, denn das duale System hat bei Fortsetzung des jetzigen Akademisierungstrends keine Zukunft. Besonders gefreut hat mich, dass diese Debatte am Ende sogar in die Koalitionsverhandlungen, an denen ich noch für einen anderen Bereich, nämlich die Kulturpolitik, teilgenommen hatte, Eingang fand: »Die berufliche Bildung in Deutschland ist ein Erfolgsmodell und bietet vielen Menschen eine hervorragende Qualifizierung und damit einhergehende positive Karriere- und Lebenschancen. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Sicherung unseres künftigen Fachkräftebedarfs und Wohlstands. Die Koalition wird einen Schwerpunkt auf die Stärkung der beruflichen Bildung legen.«13 Später: »Wir wollen die duale Ausbildung stärken und modernisieren.«14

Zur Zeit der Veröffentlichung des Interviews leitete ich die Grundwerte-Kommission der SPD (2009–2013), und schon von daher wurden meine Stellungnahmen mit großer Verwunderung aufgenommen. War es nicht die SPD, die jahrelang für eine unbegrenzte Ausweitung des Hochschulzugangs eingetreten war und das Leistungsprinzip an den Schulen in Frage stellte? Hatten nicht die Konservativen dagegengehalten und vor einem Qualitätsverlust des Gymnasiums gewarnt? Tatsächlich gab es diese parteipolitischen Frontstellungen vor allem in den 1970er Jahren, aber das ist lange her. Seit Beginn dieses Jahrhunderts hat sich eine allumfassende Koalition gebildet, die den OECD-Standards oder das, was dafür gehalten wird, auch in Deutschland nacheifert. Selbst die CSU in Bayern rühmt sich unterdessen der Verdoppelung des Jahrgangsanteils der Hochschulzugangsberechtigten innerhalb weniger Jahre. Die Auseinandersetzungen fokussierten seit Ende der 1990er Jahre zunehmend auf Strukturfragen und klammerten die Bildungsinhalte und die gesellschaftlichen und kulturellen Leitideen in auffälligem Gegensatz zu den Bildungsreformen Anfang des 19. Jahrhunderts, aber auch in den 1960er Jahren weitgehend aus. Entgegen der Vermutung vieler Journalisten erfuhr ich aus allen Teilen des politischen Spektrums ein erstaunliches Maß an Zustimmung, aber auch gelegentlich deutliche Ablehnung – aus BDI und Grünen-Milieus kam die heftigste Kritik, der »bildungs-ökonomische Komplex« reagierte teilweise allergisch, aus dem Mittelstand, den Handwerkskammern, den Industrie- und Handelskammern, aus der IG Metall und beiden Volksparteien kam dagegen überwiegend Zustimmung.

Das Thema eignet sich einfach nicht für die übliche vordergründige Politisierung. Es ist nicht grundsätzlich konservativ, sich gegen eine weitere Akademisierung auszusprechen, und es ist nicht grundsätzlich progressiv, diese zu befürworten. Nicht nur die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sondern auch die Bildungsabteilung des Bundes Deutscher Industrie blieben ihrer bisherigen Linie treu und befürworten eine weitere Akademisierung15, obwohl im Jahre 2013 zum ersten Mal die Zahl derjenigen, die ein Studium aufnahmen, höher war als die Zahl derjenigen, die eine Lehre begannen.16 Aber die Einsicht wächst, dass eine Fortsetzung des eingeschlagenen Pfades in der Tat schon bald in eine »Bildungskatastrophe« münden könnte. Diese Bildungskatastrophe bestünde dann nicht mehr darin, dass ein Großteil der Bevölkerung, insbesondere aus bildungsfernen Schichten, nur unzureichend gebildet wäre, wie Georg Picht zu Recht beklagte17, sondern in einer umfassenden Dequalifizierung in beiden Bereichen, sowohl dem der beruflichen als auch dem der akademischen Bildung. Das duale System aus staatlicher Berufsschule und Ausbildung im Unternehmen oder im Handwerksbetrieb würde kollabieren, die Verlagerung von nichtakademischen Ausbildungen an die Universitäten würde diese ihrer Praxisorientierung berauben. Das Spezifikum eines wissenschaftlichen Studiums, nämlich die Forschungsorientierung, ginge verloren, und eine allgemeine oberflächliche Kompetenzorientierung würde Fachwissen generell entwerten. Einige Spitzenuniversitäten würden sich in der Forschung hervortun und wissenschaftliche Nachwuchskräfte heranbilden, während das Gros der Studierenden mit Wissenschaft nicht wirklich in Kontakt kommt: Kaum Bildung für die Vielen, Exzellenz für ganz Wenige. Die privaten Angebote im Bildungssektor würden den Zusammenhang zwischen Geldbeutel der Eltern und eigenem Bildungserfolg verdichten und die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland zunehmend erkennbare Bildungsklassengesellschaft verfestigen. Die USA sind – entgegen ihrer Tradition – im Bildungswesen sozial noch selektiver als Deutschland. Das Vorbild würde, jedenfalls vor dem Hintergrund der deutschen und europäischen Bildungstradition, zum Albtraum. Das verarbeitende Gewerbe in Deutschland, das nach wie vor, anders als in fast allen übrigen westlichen Ländern, eine zentrale Rolle spielt, würde mangels geeigneter akademischer und nichtakademischer Fachkräfte ins Ausland abwandern. Made in Germany verlöre seinen Glanz. Das 80-Millionen-Volk, das zusammen mit den USA (317 Mio. Einwohner) und China (1,34 Mrd. Einwohner) um den ersten Platz als Exportnation ringt, würde auf die mittleren Plätze abrutschen. Die deutsche Bildungs-Jeremiade hätte endlich Substanz.

Damit es nicht so weit kommt, ist eine neue Reformperspektive erforderlich, die Humanisierung und Leistungsanspruch, Differenzierung und gleiche Anerkennung, Globalisierung und Vielfalt verbindet. Zu dieser Perspektive möchte die vorliegende Schrift einen Beitrag leisten. Entsprechend gliedert sich diese in drei Teile:

Einen grundlegenden Teil, in dem ich die bildungsökonomische Ausgangsthese kritisiere, die schon Georg Pichts aufrüttelnde Schrift von 196418 enthielt, in der er eine deutsche Bildungskatastrophe prophezeite und die bis heute eine gelegentlich segensreiche, aber immer wieder auch verhängnisvolle Wirkung hatte (I). Ich werde mich mit dem so wichtigen Verhältnis von Bildung und Beruf auseinandersetzen (II) und dafür plädieren, die Persönlichkeitsbildung wieder ins Zentrum zu rücken (III). Ich werde mich gegen Selektion, aber auch gegen Gleichmacherei und für eine humane Differenzierung aussprechen (IV), ohne dabei die Einheit der Bildung in Gestalt kanonischen Wissens und gemeinsamen Lernens aus den Augen zu verlieren (V). Schließlich ist Bildung die wichtigste Ressource einer demokratischen Gesellschaft, und je nach ihrer Gestaltung hängt von ihr auch die Zukunft der Demokratie ab (VI).

Ein zweiter Teil wird sich mit der Krise beruflicher Bildung befassen, ihre Ursachen analysieren, aktuelle Fehlentwicklungen beschreiben und Zukunftsperspektiven aufzeigen. Hierfür ist es erforderlich, zunächst den Stellenwert von Handwerk und Technik zu diskutieren (VII). Daraufhin werde ich mich – was manche überraschen mag – für eine gewisse Verwissenschaftlichung beruflicher Bildung aussprechen (VIII). Anschließend wird die Rolle von Kreativität und künstlerischem Schaffen jenseits der akademischen Bildung und akademischer Berufe erörtert (IX) sowie die spezifischen Bedingungen Deutschlands als eines der letzten verbliebenen westlichen Industrieländer dargelegt (X). Auf dieser Grundlage versuche ich die quantitativen Erfordernisse in Anbetracht der demografischen Entwicklung und des Trends zum Studium abzuschätzen (XI). Schließlich werde ich für mehr Respekt gegenüber beruflichen Qualifikationen und nichtakademischen Berufen werben (XII).

In einem dritten und letzten Teil werde ich die Krise der akademischen Bildung erörtern und für einen Kurswechsel in der Hochschulbildung plädieren. Ausgangspunkt ist dabei das Erfolgsprojekt der an den Ideen Wilhelm von Humboldts orientierten preußischen Reform-Universität (XIII) und das offenkundige Scheitern des Bologna-Prozesses (XIV), der die Vielfalt der Wissenschaftskulturen (XV) beschädigt und das Spezifikum der Europäischen Universität zu zerstören droht. Ich werde mich für eine Europäisierung und Globalisierung akademischer Bildung ohne Nivellierung aussprechen (XVI), für eine erneuerte Einheit von Forschung und Lehre als definierendes Merkmal der europäischen Universität plädieren (Exkurs), die quantitativen Erfordernisse im akademischen Bereich diskutieren (XVII) und für Respekt gegenüber den Besonderheiten von akademischer Bildung und akademischer Berufstätigkeit werben (XVIII).

Ein Fazit fasst die sieben wichtigsten Thesen am Ende zusammen.

Erster Teil:

Kapitel I: Ein verhängnisvoller bildungsökonomischer Irrtum

Akademiker verdienen mehr als Nichtakademiker. Das gilt nicht nur in Deutschland und trifft sowohl auf die Monats- als auch auf die Lebenseinkommen zu, wobei Letztere wesentlich schwächer divergieren.19 Akademiker leisten einen deutlich größeren Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt als Nichtakademiker. Und auch die Arbeitslosigkeit ist unter Akademikern durchschnittlich geringer als unter Nichtakademikern. Selbst wenn man den viel zu hohen Anteil derjenigen aus dem Vergleich herausnimmt, die gar keine Berufsausbildung – im Extremfall nicht mal eine abgeschlossene Schulbildung – haben, bleiben diese Differenzen bestehen: Akademiker verdienen mehr, sie tragen pro Kopf mehr zum Bruttoinlandsprodukt bei (sofern sich dieser Beitrag überhaupt verlässlich berechnen lässt) und haben gegenüber nichtakademischen Fachkräften ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden. Eine naheliegende Schlussfolgerung ist, dass ein erhöhter Anteil von Akademikern an der Gesamtbevölkerung das Durchschnittseinkommen erhöhen würde, zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts beitrüge und die durchschnittliche Arbeitslosigkeit absenken würde. Diese These beruht jedoch auf einem Denkfehler, der erstaunlicherweise weit verbreitet ist. An dieser These scheint alle Kritik am Akademisierungswahn abzuprallen. Nicht einmal die empirischen Daten, die diese These zweifelsfrei widerlegen, scheinen zu helfen (siehe Tabelle I im Anhang).

Zunächst einige Hinweise zur Empirie, bevor wir zum Denkfehler selbst kommen: Deutschland und Österreich verzeichnen im internationalen Vergleich ungewöhnlich niedrige Akademikerquoten, obwohl gerade diese beiden Länder eine sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit und ein hohes Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Großbritannien mit einer knapp doppelt so hohen Akademikerquote wie Deutschland und vergleichbaren ökonomischen Bedingungen hat eine mehr als doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland und ein deutlich niedrigeres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Auch die Schweiz gehörte jahrelang zu den Ländern mit einer sehr niedrigen Akademiker- und Absolventenquote (im Jahr 2000 lag Letztere lediglich bei 12%, während der OECD-Durchschnitt damals schon 28% betrug).20 Dem ökonomischen Erfolg dieses Landes war das über Jahrzehnte nicht abträglich.

Eigentlich müssten die empirischen Daten hinreichend Irritationen um die bildungsökonomische Grundthese auslösen, wonach sich aus dem individuellen Vorteil des Akademikers gegenüber der nichtakademischen Fachkraft ein volkswirtschaftlicher ergebe. Dies ist nicht der Fall, weil das Denken in mathematischen Strukturen nicht weit verbreitet ist. Die Hartnäckigkeit der bildungsökonomischen These und die auf dieser These beruhende Bildungsideologie einer kontinuierlichen und im Prinzip unbegrenzten Ausweitung des Akademikeranteils21 beruhen auf einem fundamentalen Denkfehler.

Damit wir uns diesen Denkfehler klarmachen können, legen wir für einen Augenblick eine idealisierte Modellwelt zugrunde und vergleichen dort zwei Zustände: Der erste Zustand weist eine Akademikerquote von 20% gegenüber 60% nichtakademischen Fachkräften und 20% ohne Berufsausbildung auf. Das Einkommen der Akademiker sei um 50% höher als das der nichtakademischen Fachkräfte und um 100% höher als das derjenigen ohne Berufsausbildung. Im zweiten Zustand dieser Modellwelt hat sich der Akademikeranteil auf 40% verdoppelt. Der Anteil der nichtakademischen Fachkräfte hat sich entsprechend auf 40% abgesenkt, der Anteil derjenigen ohne Berufsausbildung stagniert bei 20%. Akademiker verdienen nun gegenüber nichtakademischen Fachkräften nach wie vor deutlich mehr, der Unterschied ist allerdings leicht von 50% auf 40% geschrumpft. Wegen des Verdrängungseffektes auf dem Arbeitsmarkt (Akademiker übernehmen Berufstätigkeiten, die zuvor hochqualifizierte nichtakademische Fachkräfte übernommen haben) sinkt das Realeinkommen der nichtakademischen Fachkräfte um 10%, und wegen der geringen Nachfrage nach beruflich Nichtqualifizierten und verschärfter Konkurrenz mit beruflich Gebildeten sinkt das Realeinkommen in diesem Sektor um 20% ab. Der geringere Unterschied zwischen Akademikern und nichtakademischen Fachkräften ist ebenfalls auf den Verdrängungseffekt zurückzuführen: Zunehmend übernehmen Akademiker berufliche Aufgaben, die zuvor Nichtakademiker wahrgenommen haben, was zu einer Absenkung der durchschnittlichen Einkommen von Akademikern führt. Trotz einer Verdoppelung des Akademikeranteils ist das Einkommen insgesamt pro Kopf um 6,3% rückläufig.22

Diese Modellwelt soll lediglich zeigen, dass die bildungsökonomische These, wonach es wünschenswert sei, den Anteil Hochqualifizierter so lange zu erhöhen, wie diese (pro Kopf) mehr verdienen oder (pro Kopf) mehr zum BIP beitragen, nicht generell zutrifft, sondern von ganz spezifischen Bedingungen abhängig ist.

Die reale Welt in Deutschland unterscheidet sich von dieser Modellwelt in vielerlei Hinsicht, hat mit ihr aber auch einiges gemeinsam: eine Konvergenz (nicht Divergenz, wie oft behauptet wird!) der Lebensarbeitseinkommen von Akademikern mancher Fachbereiche und von nichtakademischen Fachkräften. Ein bloß schwaches Ansteigen der Realeinkommen seit den 1990er Jahren und ihr Rückgang von 2004 bis 200823 trotz ansteigender Studierendenquoten.24 Der zu erwartende Anstieg der Realeinkommen aufgrund eines gestiegenen Bildungsniveaus ist nicht eingetreten.25 So stellen Christiane Mück und Karen Mühlbein bereits für den Zeitraum zwischen 1991 und 2001 einen Einkommensverlust für ein Viertel aller Akademiker in Westdeutschland und somit eine Sättigung des Arbeitsmarktes fest.26 Auch der prognostizierte Arbeitskräftebedarf verweist auf einen ungefähr stetigen und relativ höheren Bedarf an mittleren Qualifikationsstufen im Vergleich zu Akademikern. Gerhard Bosch zeigt in einer Studie von 2011, dass sich auch bis 2025 die Verteilung des Arbeitskräftebedarfs nach Qualifikationen voraussichtlich nicht wesentlich ändern wird (im Vergleich zu 2005), sodass es bei einer zunehmenden Akademisierung der Gesellschaft zu Engpässen in den mittleren Qualifikationsniveaus und zu einem Überangebot an Akademikern auf dem Arbeitsmarkt kommen muss.27

Wie die Tabelle 1 zeigt, erzielen zwar einige Akademikerberufe, wie z.B. Ingenieure und Ärzte, hohe Einkommen. Dies gilt allerdings nicht für Absolventen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, deren Einkommen unter denen von Meistern und Technikern liegen. Bei Betrachtung der Lebenseinkommen dürfte sich dies noch stärker bemerkbar machen, da der Meister oder Techniker schnellere Ausbildungszeiten und schnellere Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Auch in Bezug auf die Arbeitslosenquoten lässt sich Folgendes feststellen: Bis zum Wirksamwerden der Agenda-Reformen ist über die Konjunkturzyklen hinweg eine ansteigende Arbeitslosigkeit trotz parallel steigender Studierendenquote zu beobachten. Das Risiko, arbeitslos zu werden, bleibt zwar für Akademiker weiterhin geringer als für nichtakademische Fachkräfte. Ein wirklich hohes Risiko, arbeitslos zu werden, besteht aber insbesondere für den viel zu hohen Anteil derjenigen, die ganz ohne Berufsabschluss bleiben (2012 verfügten 14,3% der 25- bis 65-Jährigen über keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss).35