Ähren im Wind - Julian Nida-Rümelin - E-Book

Ähren im Wind E-Book

Julian Nida-Rümelin

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Beschreibung

Julian Nida-Rümelin hat Philosophie nie aus dem Elfenbeinturm betrieben, sondern sich immer eingemischt – mutig, engagiert und leidenschaftlich. Gleichzeitig ist sein Denken von dem Vertrauen geprägt, dass vernünftige Argumente auch in hitzigen Debatten Verständigung möglich machen. In diesem Buch aus Anlass seines 70. Geburtstags verbindet er seine persönlichen Erfahrungen mit Reflexionen über die Zivilkultur der Demokratie und ihre Gefährdung durch rechten Populismus und linke Intoleranz. Das bewegende Buch eines Philosophen, der den gesellschaftlichen Diskurs bis heute prägt.

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Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Diane von Schoen

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

Wie Ähren im Wind

1 Ein Kind der Kriegsgeneration

Politische Initiation

Pflichtgefühle

Die 68er-Bewegung

2 Der Einbruch der Ökologie in die Politik

3 Ökonomische Stabilität und Demokratie

Neokeynesianismus

4 Schuld und Verantwortung

Wie hättest du dich verhalten?

Die totalitäre Versuchung

Postmoderne Exkulpationen

5 Kulturkampf und Zivilkultur

Kulturkämpfe

Lebensweltlicher Realismus

Die rechtspopulistische Gefahr

Eine Ethik der Migration

Die Stärkung der Zivilkultur

6 Vom alten und neuen kriegerischen Zeitgeist

Die neue Friedensbewegung

Bin ich Pazifist?

Ein realistisches Bild jenseits der Narrative

Zur Vorgeschichte des neuen Ost-West-Konflikts

Der Ukrainekonflikt

Der Fall Oppenheimer

7 Zwischen Politik und Wissenschaft

Interne Konflikte

Politik ohne Ausbildung und Beruf?

Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik

Das schnelle und das langsame Leben

Was heißt »rational handeln«?

8 Autonomie der Kunst und Verantwortung der Politik

Kammerspiele in München

Zwischen Freiheit der Kunst und kulturpolitischem Gestaltungsanspruch

Beutekunst

Volkskultur

Kulturelle Ordnungspolitik

Politische Kulturverantwortung

9 Von der Gentechnik zur Künstlichen Intelligenz

Digitalisierung

10 Eine Politikintrige

11 Demokratie und Wahrheit

Schluss

Lebenslauf

Ausgewählte Publikationen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.«

Erich Fromm

Vorwort

Die politischen Reflexionen dieses Buches nehmen ihren Ausgang bei persönlichen Erfahrungen. Ich berichte diese, wie ich sie erinnere. Ich habe keine Archive konsultiert oder mir Dokumente geben lassen. Ich erzähle nach bestem Wissen und Gewissen. Sollte ich mich in der einen oder anderen Zeitangabe oder in dem einen oder anderen Detail geirrt haben, bitte ich um Nachsicht und zu berücksichtigen, dass dieses Buch kein Beitrag zur Geschichtsschreibung sein soll, sondern politische Orientierung geben will, vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Reflexionen als Philosoph, Politiker und engagierter Bürger.

Ich hatte bei der Abfassung drei kritische Kommentatoren:[1] Nathalie Weidenfeld, die einen Gutteil des Weges seit dem Jahr 2000 mit mir gemeinsam gegangen ist, Silke Deuringer, die die Diktate transkribiert und den Text vorlektoriert hat, und Martin Janik vom Piper Verlag, der das Buch von Anbeginn begleitet und zusammen mit Steffen Geier lektoriert hat. Bei Kathi Wimmer, die sich in ihrer Dissertation mit meiner Zeit im Kanzleramt befasst hat, bedanke ich mich für die Überprüfung einiger Daten und wertvolle historische Hinweise. Ich danke ihnen und der Verlegerin Felicitas von Lovenberg, die schon vor Jahren die Anregung zu diesem autobiografisch gefärbten politischen Buch gab. Ein besonderer Dank geht an die Körber-Stiftung für unsere intensive Zusammenarbeit zur Stärkung der Demokratie. Das Buch erscheint nicht ganz zufällig zu einem runden Geburtstag – ich kann nur hoffen, dass seine Leserinnen und Leser daraus nicht den voreiligen Schluss ziehen: »Tempi passati.«

Das Buch ist überwiegend in den Sommerwochen 2023 in Italien entstanden, es wurde in München und Berlin, auch auf langen und dank der außerordentlichen Verlässlichkeit der Deutschen Bahn gelegentlich abenteuerlichen Zugfahrten um- und ausgebaut. Ich übergebe es mit gemischten Gefühlen einer breiteren Öffentlichkeit, weil es nicht meinem Naturell entspricht, Persönliches preiszugeben. Hier war es unumgänglich.

 

München und Berlin im Mai 2024

Julian Nida-Rümelin

Wie Ähren im Wind

Es gibt ein Phänomen, das mir immer wieder in meinem politischen, teilweise aber auch in meinem akademischen Leben begegnet ist und das mir bis heute Kopfzerbrechen bereitet. Ich nenne es das Phänomen der »Ähren im Wind«. Wer im Hochsommer an einem windigen Tag auf dem Land war, wird sich daran erinnern, wie es aussieht, wenn sich goldene Weizenfelder im Wind wiegen, nach rechts, nach links – oder auch wechselnd, das Weizenfeld ergibt sich dem Tanz der Natur, es bestimmt nicht selbst, wohin sich die Ähren wiegen. Als Naturschauspiel ist es wunderschön, als Metapher für eine größere Gruppe von Menschen, die in der Menge gemeinsam mal nach links, mal nach rechts tendieren, ist es eher beunruhigend.

Ich habe im Laufe meines Lebens mehrfach beobachtet, wie sich die Ähren im Wind wiegen. War etwa in meiner Kindheit die Mehrheit der Menschen in Deutschland in den Fünfzigerjahren eher rechts und konservativ, wurde es chic und wichtig in den »68ern«, eher links zu sein. Jede Phase hat kraftvolle und gewichtige Vertreter, die den Trend jeweils verschärfen, sozusagen als Windmaschine fungieren und andere Stimmen verstummen lassen.

In den Siebzigern gibt es begeisterte Kulturexperimente zur antiautoritären Erziehung, kurz darauf wird erzieherisches Laisser-faire kritisiert, und eine Bewegung unter dem Schlagwort »Mut zur Erziehung« entsteht. In den Achtzigern schlägt das Meinungsklima wieder ins Konservative um, und ein wuchtiger CDU-Politiker aus der Provinz mit nuschelnder Aussprache und anti-intellektuellem Habitus wird Bundeskanzler. Viele der vormaligen Protagonisten linker Gesinnung resignieren und verstummen, oder sie distanzieren sich von ihren einstigen Überzeugungen wortreich und schließen sich dem konservativen Meinungsklima an.

In einer Spanne von nicht einmal zehn Jahren waren aus überzeugten Kalten Kriegern ebenso überzeugte Befürworter der Entspannungspolitik geworden, die die Charakterisierung der DDR als Diktatur als »anti-kommunistische Propaganda« abtaten. Mir waren sowohl die antisowjetische Hetze, die in Gestalt übler Wahlkampfsprüche der Union einen besonders abstoßenden Ausdruck fand (die SPD als »fünfte Kolonne Moskaus«, das Plakat mit dem sowjetischen Soldaten, der bedrohlich über den Horizont rückt, die Diffamierung von Willy Brandt als uneheliches Kind alias Herbert Frahm, die Charakterisierung von Intellektuellen als »Ratten und Schmeißfliegen« durch Franz Josef Strauß), als auch die Weichspülerei gegenüber kommunistischen Diktaturen im Gefolge der Entspannungspolitik zuwider.

Dann folgt nach langen Jahren Kohl ein Regierungswechsel, das kulturelle Klima der Neunziger ist optimistisch, der Kalte Krieg scheint überwunden, Deutschland fühlt sich liberal und tolerant. Es vergehen einige Jahre, und der zuvor auf intellektuelle Zirkel und die theoretische Ökonomie beschränkte Neoliberalismus wird zur dominierenden Ideologie, die Parteiprogramme umkrempelt und zu einer Erosion der programmatischen Substanz der demokratischen Parteien führt, die schließlich in einen doppelt erstarkten Populismus mündet, dessen linke und rechte Flügel sich wechselseitig hochschaukeln und die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform zunehmend gefährden.

Besonders bedrückend ist dieses Phänomen im eigenen engeren Umfeld. Die Meinungen wiegen in seltsamem Gleichklang hin und her, eben wie Ähren im Wind. Manche sind immer vorne dabei, sie scheinen jedes Lüftchen von Meinungsumschwung frühzeitig zu spüren und sich danach auszurichten. Die Kulturindustrie, Zeitungsredaktionen, Theaterbühnen, Social-Media-Plattformen sind besonders volatil und damit auch besonders anfällig für voreilige Festlegungen und ideologisches Eiferertum.

In politisch brisanten Zeiten müssen diejenigen, die immer vorne dabei sein wollen, einen hohen Preis bezahlen, nämlich den der mangelnden Kohärenz ihrer politischen Biografie. Kommunistische Aktivisten haben dafür den herablassenden Begriff des Renegatentums geprägt, es bezeichnet das Verhalten derjenigen, die ihre eigenen vormaligen, noch linientreuen Positionen aufgeben und möglicherweise zu gegnerischen Auffassungen gelangen. Bewegliche Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger zeigen in den frühen Siebzigerjahren Sympathie für die sogenannte Stadtguerilla-Strategie ultralinker Ausleger der Studentenbewegung, um sich dann von allen linken Fantastereien zu distanzieren und schließlich sogar den neoliberalen Staatsabbau zu befürworten. Nicht nur Enzensberger, sondern zahlreiche dieser geistig beweglichen Akteure sind hochgebildet, viele zweifellos auch intelligent, sodass sich umso mehr die Frage stellt, wie dies mit fehlender politischer Urteilskraft einhergehen kann. Wer seine Meinung dem Zeitgeist anpasst und sich so regelmäßig revidieren muss, der kann für sich keine entwickelte politische Urteilskraft beanspruchen.

Für meine Generation war die NS-Zeit der auf der Bundesrepublik Deutschland lastende Fluch der Eltern und Großeltern. Sie, die Altvorderen, hatten dieses politische Desaster und die humane Katastrophe zu verantworten, während die Jungen sich gegen die Überreste dieser Gesinnung und das Verschweigen der eigenen Tatbeteiligung auflehnten und so erst den Weg zu einer substanziellen Demokratie ebneten. Viele meiner Generation fühlten sich moralisch überlegen, da sie sich insgeheim sicher waren, dass ihnen derartige politische und ideologische Verirrungen nie zustoßen würden. Aber auch die NS-Bewegung war in ihren Anfängen eine politische Ideologie, die vor allem die Jungen faszinierte, die sie gegen den überkommenen Konservatismus und die alten politischen Formationen der Sozialdemokratie und des Nationalliberalismus, gegen die Konservativen des Zentrums und den Kommunismus der radikalen Linken stellten. Wiegende Ähren können dramatische Auswirkungen auf ein Land haben, der Nationalsozialismus ist ein besonders drastisches Beispiel dafür.

Der Nationalsozialismus beginnt in Deutschland auch als Jugendbewegung mit akademischer Schlagseite. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, gegründet 1926, behindert die Vorlesungen missliebiger liberaler oder linker oder jüdischer Professoren, er sprengt Veranstaltungen von Organisationen, die ihm zuwider sind, diffamiert bis weit ins Persönliche hinein Intellektuelle und Schriftsteller, die ihm nicht national genug erscheinen, und bereitet damit ein Meinungsklima, in dem es en vogue ist, sich den jungen Leuten der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber wohlgesonnen zu zeigen. Es sind dann die alten Eliten aus der Industrie, aber auch aus der Kultur, die den stümperhaften ehemaligen Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler unter ihre Fittiche nehmen, ihm Tischsitten beibringen, während ihn geneigte Damen der oberen Gesellschaftsschichten Münchens bemuttern. Das staunenswerte Phänomen eines formal Ungebildeten ohne Beruf, der sich mit Gelegenheitsarbeiten und kitschiger Postkartenmalerei über Wasser hält, der aber, von heiligem Ernst beseelt, an die nationale Wiederauferstehung Deutschlands glaubt und sich in hysterische rhetorische Tiraden hineinsteigert, die zumindest in süddeutschen Gastwirtschaften starken Widerhall finden. Die Extreme, die antidemokratischen Kräfte links und rechts, schaukeln sich in ihrem Fanatismus und in ihrer Gewaltbereitschaft wechselseitig hoch, die demokratischen Kräfte der Republik erlahmen, am Ende bleibt nur eine einzige demokratische Partei, die die Republik verteidigt, die SPD. Die Ähren neigen sich im scharfen Wind nach ganz rechts außen, und damit sind die Diktatur, der Völkermord an den Juden und der nationalsozialistische Angriffskrieg in alle Himmelsrichtungen nicht mehr aufzuhalten.

Mich hat dieses Phänomen der »Ähren im Wind« immer wieder fassungslos gemacht, manchmal auch sprachlos. Meine Stärke ist das verlässliche politische Urteil, das auch im Rückblick Bestand hat, aber ich gehe Konflikten, wenn es geht, aus dem Weg, es bereitet mir kein Vergnügen, Kontroversen auszufechten, ich vermeide es, andere zu beschädigen oder selbst beschädigt zu werden. Vermutlich wäre ich in der NS-Zeit nicht im aktiven Widerstand gewesen. Vermutlich wäre ich den Weg meines Vaters gegangen, den der »inneren Emigration«: sich raushalten, wenn man nur noch unter großen persönlichen Opfern etwas erreichen kann. Aber in meinem politischen Urteil bin ich nicht leicht beeinflussbar, die Stimmungslagen machen mich eher skeptisch, ich traue nicht dem, was durch andauernde Wiederholung an Suggestivkraft gewinnt, ohne sachlich begründet zu sein.

Urteilskraft hat etwas zu tun mit Zivilcourage, sich nicht bequem den jeweiligen Mehrheitsmeinungen anzupassen, sondern kritisch zu prüfen, ob diese gerechtfertigt sind. Bildung und Intelligenz schaden dabei nicht, aber sie sind keine Garantie für eine verlässliche politische Urteilskraft, wie die Kulturgeschichte Deutschlands in besonderer Eindrücklichkeit zeigt. Der renommierteste, jedenfalls einflussreichste deutsche Philosoph, Martin Heidegger, mit dessen Philosophie ich persönlich zwar wenig anfangen kann, der aber zweifellos zu den Intelligentesten seines Fachs gehörte, mutierte innerhalb weniger Monate zu einem Parteigänger des Nationalsozialismus. Hilary Putnam, ein faszinierender Vertreter der modernen Analytischen Philosophie, ein logisch brillanter Kopf, der in einer dichten Kaskade von Publikationen immer wieder neue philosophische Argumente und Positionen entwickelt, hat im Laufe seines langen Lebens fast das gesamte politische Spektrum abgeschritten, von einem maoistischen Kommunismus bis zu einem eher kulturkonservativen Judentum und philosophisch von einem marxistisch inspirierten Objektivismus über eine Kritik des metaphysischen Realismus bis hin zu einer humanistischen Philosophie des Alterswerks. Er war ein überaus sympathischer Zeitgenosse, ein am offenen Dialog interessierter Mensch, der trotz aller Berühmtheit jedem sein Ohr zu schenken schien, der sich für alles interessierte, auch für den Deutschen Idealismus, obwohl dieser mit seiner Analytischen Philosophie nicht in Einklang zu bringen war, kurz: einer der brillantesten und faszinierendsten Köpfe der Gegenwartsphilosophie und doch mit dem Makel mangelnder philosophischer und politischer Urteilskraft behaftet. Nein, Intellektualität und Intelligenz sind keine Garanten gegen ideologische Ansteckung.

Letztgenannter Philosoph übrigens hat in seiner Spätphase den Weg zum klassischen US-Pragmatismus insbesondere in Gestalt von John Dewey gefunden. Dewey kann als echter Antipode zum ideologischen Denken gesehen werden, er verstieg sich nie zu extremen Positionen, blieb nahe am Common Sense und hatte doch seine sehr eigene philosophische Position entwickelt. Er schrieb zahlreiche Bücher, die sich gut lesen, aber nicht dem Standard akademischer Publikationen mit ausufernden Literaturverweisen und Belegen entsprachen, die jedoch das kulturelle Klima in den USA beeinflussten und wichtige Bildungsreformen initiierten. Er hatte ein Verständnis von Demokratie entwickelt, das auf die gemeinsame Suche nach humanem Fortschritt gerichtet ist, das von den Bürgern erwartet, dass sie sich am öffentlichen Vernunftgebrauch beteiligen und untereinander kooperieren. Dewey ist für mich eine philosophische Leitfigur. In einer Zeit wie heute, in der sich politische und kulturelle Ideologien herausbilden und radikalisieren, lohnt es sich besonders, für Deweys Vision einer Gesellschaft, bestehend aus aufgeklärten Bürgern, einzutreten. Wenn sich zu viele von uns dagegen wie Ähren im Wind verhalten, rückt diese Vision in weite Ferne.

1 Ein Kind der Kriegsgeneration

Ich bin ein Nachkriegskind, neun Jahre nach Kriegsende geboren.

Meine Mutter, geboren 1928, war fünf Jahre alt, als Hitler die Macht ergriff, 17 Jahre, als das sogenannte Dritte Reich »unterging«. Ihre Eltern waren, soweit ich weiß, keine NS-Parteigänger, sie gehörten dem gehobenen Bürgertum an, waren aber auch keine Widerständler. Mein Eindruck ist, dass meine Mutter ohne jedes politische Bewusstsein aufgewachsen ist, und sie hielt sich vorsichtshalber ihr gesamtes Leben daran.

Ganz anders mein Vater. Schon 23 Jahre alt bei Hitlers Machtergreifung, entstammte er einer kulturell störrischen Familie, die in einer Freidenkertradition stand. Sein eigener Vater, der immer wieder Schwierigkeiten mit dem NS-Regime bekommen hatte, trat dann ausgerechnet in den letzten Kriegsjahren aus Angst vor der Barbarei der von ihm als siegreich erwarteten Bolschewiken der NSDAP bei. Ein Schock für seine Frau, eine selbstbewusste Kunst- und Sportlehrerin, die Hitler verachtete und seinen Parteibeitritt in Briefen kritisierte. Sie lebten da schon getrennt – er in Nürnberg mit junger Geliebter, sie in München mit den beiden Söhnen. Als der Krieg sich dem Ende zuneigte, brachte sich der Vater meines Vaters um. Er hinterließ eine Witwe und seine zwei Söhne, meinen Vater Rolf und dessen älteren Bruder Arthur Nida-Rümelin, der das NS-Regime, so wie seine Mutter, vehement ablehnte. Mein Vater hatte sich für die innere Emigration entschieden, hielt Distanz, ließ sich als Freskomaler und Bildhauer von der üppigen Kunstförderung des NS-Staates nicht zur Regimenähe verführen, tat seine Arbeit und überlebte sechs Jahre Kriegseinsatz.

Als der Krieg vorbei war, tauchte mein Vater unerwartet bei seiner Mutter in Starnberg auf. Er war unter abenteuerlichen Bedingungen aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Ungarn geflohen. Die Szene seiner Ankunft, wie er plötzlich vor der Tür stand, völlig abgerissen, mit geschwollenen Knien und schwer erkrankt, hat meine Großmutter, die von uns »Buba« genannt wurde, immer wieder erzählt. Das jahrelange Warten auf ihren jüngeren Sohn während der Kriegsjahre hatte sie so geprägt, dass sie später, als sie an Alzheimer erkrankte, täglich viele Stunden am Fenster verbrachte, um weiter auf die Rückkehr ihres Sohnes zu warten.

Zunächst versuchte mein Vater, dort anzuknüpfen, wo er vor Beginn des Krieges 1939 aufgehört hatte: als Künstler, für den es nur diese eine berufliche Option, die seines Vaters, gab. Doch aus dem gut aussehenden, lebenslustigen Libertin der Dreißigerjahre, der zeitweise in einer Ménage-à-trois durchaus komfortabel lebte, war unterdessen ein ernster Mann geworden, der sich zu seiner eigenen Überraschung, wie er mir später erzählte, von seinem ursprünglichen Lebensentwurf entfernt hatte, als er 1951 eine fast zwanzig Jahre jüngere, rehäugige Schöne aus gutbürgerlichem Hause heiratete und mit ihr zwei Kinder, mich, geboren 1954, und meine Schwester Martine, geboren 1957, großzog. Für einen von weiblicher Zuwendung verwöhnten individualistischen Künstler, der materielle Bescheidenheit schätzte und sein Leben in einer Schlafecke in seinem Atelier mit Bollerofen eingerichtet hatte, eine existenzielle Wende. Die Verehrerinnen mussten nun – jedenfalls weitgehend – auf Distanz gehalten werden, was nicht ohne Konflikte abging. Vor allem aber musste seine Kunst nun eine Familie ernähren, was zunächst nicht gut gelang. Also übernahm seine Ehefrau, für die Fünfzigerjahre durchaus untypisch, einen Großteil des Familieneinkommens als Bibliothekarin am Deutschen Museum und später als Leiterin des Forschungsinstituts.

Wie es wohl typisch ist für die Generation der Kinder von Kriegsheimkehrern, war auch ich zusammen mit meiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester mit schweigsamen Eltern konfrontiert. Weder meine Mutter noch mein Vater erzählten von ihren Erfahrungen in der NS-Zeit und im Krieg, von wenigen dramatischen Episoden abgesehen. Obwohl noch ein Kind, war mir damals instinktiv klar, dass dieses Schweigen für sie in psychologischer Hinsicht überlebenswichtig war. Nach zwölf Jahren NS-Diktatur, sechs Jahren Krieg, einer ökonomischen, sozialen und kulturellen Katastrophe, versuchten sie, sich nun ein Leben in der neuen Normalität aufzubauen. Mein Vater musste seine Kriegserfahrungen, vor allem die an der Ostfront, bewältigen, meine Mutter die traumatischen Erfahrungen der Bombennächte im Ruhrgebiet verarbeiten.

Erst später erfuhr ich ein wenig mehr aus dem Leben meines Vaters im Krieg. Es waren die Jahre, in denen ich mit Studium und Promotion beschäftigt war, abends meist in politischen Angelegenheiten unterwegs, tagsüber am Schreibtisch. Meine Schwester war längst ausgezogen, meine Mutter bis in die Abendstunden hinein am Deutschen Museum, ich hatte die Einliegerwohnung, die zuvor an Gastdozenten vermietet war, selbst angemietet, legte darauf Wert, den vollen Mietpreis zu entrichten und über einen eigenständigen Eingang zu verfügen – und so telefonierte ich mich mit meinem Vater häufig gegen Mittag zusammen, und wir verabredeten uns, um gemeinsam in einem nahe gelegenen Wirtshaus Mittag zu essen oder – weit häufiger – zu entscheiden, wer von uns beiden die immer gleiche, aber wohlschmeckende Mittagsspeise vorbereiten würde (in der Regel handelte es sich um Kurzgebratenes mit Spaghetti). Die Gespräche verliefen oft schleppend, weil wir beide noch unseren Gedanken nachhingen, aber mein verschlossener Vater begann sich zunehmend zu öffnen. Erinnerungssplitter aus der Vergangenheit, die Szene, als ein russischer Soldat seinen Kameraden erschossen hatte, weil er eine Fotokamera dabeihatte, und mein Vater damit rechnete, als Nächster dran zu sein. Oder der Moment, in dem ein russischer Offizier, der angekündigt hatte, ihn mit den anderen Kriegsgefangenen demnächst nach Sibirien zu bringen, ihn mit den Worten trösten wollte: »Keine Sorge, nicht schlimm, viel Wodka, wenig Arbeit, dann tot« – ein Kommentar, der ihn letztlich zu seiner gefährlichen Flucht bewegt hatte. Die Art und Weise, wie er diese Dinge erzählte, erinnerte mich an Ernest Hemingways Fiesta: derselbe lapidare Ton, der für Kriegsteilnehmer vielleicht typisch sein mag.

Und doch war es meinen Eltern – wie vielen anderen auch – gelungen, sich ein Leben in der Nachkriegszeit aufzubauen, Kinder in die Welt zu setzen und sich der neuen Zeit anzupassen. Sie erlebten, wie Deutschland ökonomisch wieder Fuß fasste, ja sogar manche, wie etwa der beste Freund meines Vaters, Werner Voeth, wohlhabend wurden. Mein Vater hatte allerdings für die neue Oberschicht nicht viel Sympathie übrig. Er spottete über die geld- und karriereorientierten Menschen im Nachkriegsdeutschland. Einer seiner sarkastischen Sprüche lautete: »In Deutschland gibt es eine Fettschicht, die hält sich für die Oberschicht.« Materiell gesehen war er bescheiden und blieb es.

Ich bin in einem Künstleratelier aufgewachsen, das ehemalige Ausführungsatelier des aus Italien nach München zurückgekehrten Künstlerfürsten Adolf von Hildebrand. Eine großbürgerliche Villa am Isarhochufer in München-Bogenhausen, nach Entwürfen Hildebrands um die Jahrhundertwende erbaut. Dabei war unsere Lebenssituation selbst alles andere als großbürgerlich. Um die Familie unterzubringen, hatte mein Vater, unterstützt von einem Freund, eigenhändig eine kleine Wohnung auf Holzstelzen in sein großes Atelier – wohl illegal – eingebaut. Zwei Zimmer von jeweils vier mal vier Metern, eine kleine Küche, eine kleine Musikkammer, eine steile Wendeltreppe, ein sehr kleines Bad, alles aus Holz und so organisiert, dass Betten und Tische weggeklappt werden konnten, um Platz zu sparen. Noch heute liebe ich kleine Räume, in denen alles seinen Ort hat und nichts überflüssig ist. In Japan ist diese Wohnpraxis weitverbreitet, ich habe mich dort bei einem Aufenthalt 2024 entsprechend wohlgefühlt.

Abends wurde es oft eng, Freunde kamen, es wurde gegessen und getrunken und vor allem geraucht und diskutiert. Merkwürdigerweise erlaubten meine Eltern, dass wir Kinder stundenlang, hinter dem Rücken der Erwachsenen auf einer Couch liegend, dabeiblieben. Wir verstanden von den Auseinandersetzungen nicht viel, aber sie waren teils heftig, und der so zurückgezogen und konzentriert wirkende Künstlervater, der stundenlang auf seinem kleinen Hocker im Atelier saß, rauchte und Entwürfe aus Wachs anfertigte, verwandelte sich in einen lebhaften und ziemlich dominanten Debattierer. Zum Freundeskreis gehörten Schriftsteller, Architekten und Künstler: Erich Kuby, Hellmut von Cube, Walter Wimmer, Hans Jürgen Kallmann und viele mehr. In einem waren sie sich einig, dass nämlich die Restauration der Adenauerzeit ein Unglück sei und dass die geistige Erneuerung des Landes nach dem Ende der NS-Zeit noch geleistet werden müsse.

Meine Mutter, die in den Debatten meist still blieb und in der Regel die jüngste Erwachsene war, teilte mit dieser Intellektuellenrunde eine pazifistische Einstellung, die wiederum vom Engagement ihrer Mutter Margarete Ploeger geprägt war. Sie war es, nicht mein Vater, die auf einen gewissen Bildungskanon Wert legte, in dessen Mittelpunkt die Deutsche Klassik mit Goethe und Schiller stand. Es war ihr wichtig, dass wir ein Instrument lernten und an selbst organisierten Hauskonzerten teilnahmen. In meinem Fall verlief dieses Experiment wenig erfolgreich, und nachdem sich meine Interessen in der Pubertät verschoben hatten, brach ich es ab. Stattdessen las ich, teilweise wie ein Besessener: vor allem russische Autoren, wie Turgenjew, Tolstoi und mit besonderer Begeisterung Dostojewski, später Boris Pasternak.

Politische Initiation

Zur Stimmungslage, in die ich hineingeboren war, gehörte die Überzeugung, dass das Alte so nicht fortbestehen konnte. Was an seine Stelle treten sollte, war ungeklärt. Dennoch hatte ich bereits in der Schule das Gefühl, dass ich mich diesen Fragen stellen und mich politisch einbringen sollte. Meine »politische Initiation« fand an einem Herbsttag im Jahre 1972 in der großen Turnhalle des Wilhelmsgymnasiums statt, das ich neun Jahre bis zum Abitur besuchte. Es ging um die Wahl des neuen Schulsprechers, und ich kandidierte.

Das humanistische Wilhelmsgymnasium ist eines der ältesten in Deutschland, im Lehrkörper damals, wie wohl auch heute, überwiegend konservativ, im Direktorium erkennbar CSU-geneigt und – damals noch – eine reine Jungenschule. Die Turnhalle war überfüllt, alle Schüler durften wählen, Lehrer traten nicht in Erscheinung. Die Stimmung war aufgeheizt. Verständlicherweise. Auf der einen Seite das Kollektiv der Aktivisten der Roten Schülerfront und anderer linker Gruppierungen, die untereinander zerstritten waren, auch schon Jungkonservative, darunter auch der spätere bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle, die zunächst in den Schulen und an den Universitäten nur eine marginale Rolle spielten, aber dann im Laufe der 1970er und frühen 1980er an Einfluss gewannen. Letztere fielen in dieser Szenerie schon äußerlich auf, mit ihren akkurat geschnittenen Haaren und der ordentlichen Kleidung.

Auch wenn mich die Volatilität und die Anpassungsbereitschaft meiner Zeitgenossen über die Jahre immer einmal wieder verwundert, ja sogar verstört hat, kann ich nicht leugnen, ebenfalls Kind meiner Zeit gewesen zu sein, geprägt von kulturellen Entwicklungen, die man erst im Nachhinein richtig einschätzen kann. So hatte damals auch mich die neue Lässigkeit der späten Sechzigerjahre ergriffen, die recht plötzlich eine Nachkriegsgeneration erfasste, die noch aufgewachsen war im ängstlichen Bemühen, die Vergangenheit vergessen zu machen und in verklemmter Spießigkeit den Biedermann zu spielen, autoritätsgläubig und zur Konformität geneigt. Auf einmal wurden die Stoffhosen mit Bügelfalten beiseitegelegt, und der akkurate Seitenscheitel wich wild wucherndem Haupthaar, die US-amerikanische Alltagskluft in Gestalt von Jeans und T-Shirt wurde zur neuen Uniform, jedenfalls des progressiven Teils junger Menschen. Bis zu meinem 13. Lebensjahr war ich mit einer Lederbundhose im Winter und einer Kurzlederhose im Sommer unterwegs gewesen und bekam daher am 28. November 1968 das Gefühl, schlagartig erwachsen geworden zu sein, nicht nur, weil da schon meine erste sexuelle Erfahrung hinter mir lag, sondern weil ich von meiner Mutter eine ausgestellte Jeans mit einem Gürtel knapp über dem Po geschenkt bekam und fürderhin das Tragen von Lederhosen sommers wie winters verweigerte – bis ich dies Wiesn-bedingt in den Neunzigerjahren wieder veränderte. Ich hatte meine lockigen, dichten Haare bis über die Schultern wachsen lassen, hielt sie mit einem hellen Band zusammen, da sie anders schwer zu bändigen waren, und pflegte einen wiegenden Gang, der mir in meinem Schwimmverein den Spitznamen »Cowboy Türlich« eingebracht hatte (eine Verbindung aus »Cowboy« und meiner gern gesprochenen Abkürzung von »natürlich«) – was meinen streng konservativen, von »subalternen Existenzen« sprechenden Geschichtslehrer dazu veranlasste, meiner Mutter bei einem Elternsprechtag anzuraten, doch einen genaueren Blick auf mein Aussehen und vor allem meinen Gang zu werfen, denn da könne man die Verwahrlosung der heutigen Jugend generell und meiner Person im Besonderen deutlich erkennen. Meine Umhängetasche trug ein Peace-Zeichen, oben stand von mir mit Filzstift geschrieben »no revolution« und unter dem großen Peace-Zeichen »peaceful evolution«. Und genau darum ging es mir: Veränderung unbedingt, aber nur auf humane und gewaltlose Weise, ohne diese sich ausbreitende Wut auf das »Schweinesystem«, verbunden gar mit der kindischen Verehrung ferner Diktatoren, wie Mao oder Fidel Castro, und der Romantisierung von Revolutionen, bei der Französischen angefangen, die regelmäßig in Blutbädern und Größenwahn endeten.

So also stand ich in der Turnhalle. Ich hatte noch nie vor einer so großen Zahl von Personen und erst recht nicht unter solchen Bedingungen reden müssen. Ich hatte mir zuvor nichts zurechtgelegt, keine Rede vorformuliert, keine Stichworte notiert. Ich nahm mir nicht vor, eine Show abzuziehen. Auch wenn ich auf der Bühne stand, das Mikro in der Hand, wodurch immer eine Art natürliches Machtgefälle entsteht, wollte ich einfach nur mit den Einzelnen da vor mir, die mir zuhörten, sprechen. Ich klammerte mich nicht an Spickzettel, sondern sah meine Mitschüler an. Nicht immer dieselben, denn das würde diese nervös machen. Und es funktionierte. Ich konnte all das sagen, was ich sagen wollte – und wurde gehört. Diese Art des Redenhaltens hat mich mein ganzes politisches Leben später begleitet. Ich weiß nicht mehr im Detail, was ich bei dieser Gelegenheit sagte. Ich weiß aber, dass es um (Fehl-)Entwicklungen in der Schulbildung ging und ich die Ansammlung von Faktenwissen, den Mangel an Diskussionszeit und die unzureichende Berücksichtigung der Persönlichkeitsbildung, wie sie in der Bayerischen Verfassung Artikel 131 gefordert wird, kritisierte – alles Dinge, die mich bis heute umtreiben und die ich in einem Buch vierzig Jahre später aufgeschrieben habe.[2] Aber ich sagte auch etwas zu den weltpolitischen Herausforderungen, wie dem Vietnamkrieg als Ausdruck der westlichen Hybris, sich in fernen Weltgegenden zum eigenen Vorteil einzumischen und dabei das Leid und den Tod unzähliger Menschen in Kauf zu nehmen.

Entgegen allen Erwartungen und der von mir empfundenen Stimmungslage setzte ich mich mit meiner Kandidatur durch – ich weiß zwar nicht mehr, in welchem Stimmenverhältnis, aber es war deutlich genug. Es wurden noch Unter-, Mittel- und Oberstufensprecher gewählt, manche boten an, bei den weiteren Aktionen zu helfen. Die Rote Schülerfront zog sich kurz danach, als wäre sie beleidigt, aus allen Schulaktivitäten zurück.

Dass sich ein eher introvertierter Junge, wie ich es damals war, einer solchen Situation aussetzte, erscheint im Nachhinein seltsam. Schließlich mochte ich es von jeher, allein zu sein. In größeren Menschenansammlungen, etwa in einem überfüllten Supermarkt oder Bus, habe ich mich lange sehr unwohl gefühlt. Aber auch das vermeintlich so lockere Zusammensein im kleineren Kreis oder auf einer privaten Party war und ist für mich selten ein Vergnügen, und ich bin dann meist froh, wenn es wieder vorbei ist. Wie das zusammenpasst mit politischem Engagement, mit der Notwendigkeit, sich auf andere einzulassen, eine Vielzahl von Versammlungen über sich ergehen zu lassen, angewiesen zu sein auf die permanente Kommunikation und Interaktionen, ist eine berechtigte Frage. Ich kann sie eigentlich nicht beantworten, allenfalls durch den Verweis darauf, dass ich dies als eine Art Verpflichtung empfunden habe, der ich mich zu stellen hätte.

Pflichtgefühle

Woher dieses Gefühl einer Verpflichtung genau rührte, kann ich nur vermuten. Beide Eltern waren von einem geradezu puritanischen Pflicht-Ethos geprägt. Mein Vater arbeitete sein ganzes Leben bis kurz vor seinem Tod von der Früh, mit einer Mittagsunterbrechung, bis in den Abend. Er saß immer auf demselben, eigentlich viel zu kleinen Stuhl, beschäftigte sich mit Entwürfen, rauchte fast permanent und pfiff leise vor sich hin, unterbrochen von Phasen schwerer körperlicher Arbeit – der Gerüstbau, das Herausschlagen von Steinreliefs, das Anfertigen großer Tonplastiken etc. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern fehlte meinem Vater alles Exaltierte. Mir gegenüber – wir hatten später viele und lange Gespräche – meinte er, das sei eine Reaktion auf das Übermaß an Pathos während der zwölf Jahre NS-Diktatur. Nur kein Pathos, keine Selbstüberhebung, kein Größenwahn mehr. Der Künstler sollte hinter seinem Werk zurücktreten, geradezu dahinter verschwinden, allenfalls ein kleines »RNR« an schwer einsehbarer Stelle sollte auf den Urheber hinweisen.

Plastiken im öffentlichen Raum bewähren sich an ihrer Aufnahme durch die, die sich dort aufhalten. Sie fügen sich ein in die Konstellation der gebauten Räume und die Alltagspraxis der Passanten und Bewohner. Site-specificity wurde Jahrzehnte später von der bildenden Kunst im öffentlichen Raum gefordert und gegen die drop art gestellt, die wirkt, als wäre sie vom Himmel gefallen und zufällig an dieser Stelle aufgeprallt. Mein Vater war ein überzeugter Vertreter von site-specificityavant la lettre. Meine Mutter war den ganzen Tag im Deutschen Museum, edierte und organisierte im Forschungsinstitut, kämpfte mit ungeordneten Nachlässen bedeutender verstorbener Naturwissenschaftler und kam meist abends erst gegen sieben Uhr nach Hause. Ich hatte den Eindruck, sie lebe mehr im Museum als zu Hause.

Die 68er-Bewegung

Der ideologische Kampf, der damals in der Turnhalle des Wilhelmsgymnasiums getobt hatte, stand nicht nur exemplarisch für einen tiefen Riss, der durch die Gesellschaft ging, sondern auch für das Lebensgefühl einer ganzen Generation, die der Auffassung war, dass es ihre Aufgabe sei, die Welt zu verändern, und die auf unterschiedlichen Pfaden zur Selbstfindung unterwegs war. Im Laufe der Siebzigerjahre verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass ich in eine Generation hineingeboren war, oder jedenfalls zu ihren Ausläufern gehörte, deren aktivste und sichtbarste Vertreter die Orientierung verloren hatten. Auch der Boom der Esoterik-Moden schien mir dafür Indiz zu sein. Man übte sich in Meditation, um den Kapitalismus, den Konsumismus, den Autoritarismus und die Sexfeindlichkeit für immer zu überwinden. Der spirituelle Weg der Selbstfindung und der Mitnahme anderer in eine friedvolle Existenz war mir suspekt. Zu viele der spirituellen Jünger folgten indischen Gurus dubiosen Charakters, andere verbanden ihre Spiritualität mit exzessivem Drogenkonsum und schienen mir in jeder Hinsicht kraftlos zu sein: handlungsarm und urteilsschwach. Mein eigenes Interesse an Zen-Buddhismus, das sich später, ab meinem 26. Lebensjahr, auch in der regelmäßigen Praxis des Zazen bis heute niedergeschlagen hat, war auch ein Gegenentwurf zu diesen Formen selbstbezogener Exaltiertheit.

Andere waren der Auffassung, für die Lösung aller Probleme sei eine gewaltsame sozialistische Revolution erforderlich. Diese organisierten sich in kleineren oder größeren politischen Gruppen, auch kommunistischen Parteien. Auch wenn ich die Kritik an den Ausbeutungsverhältnissen weltweit mit ihnen teilte, glaubte ich nicht an die Möglichkeit einer globalen oder auch nur nationalen sozialistischen Revolution. Ich war überzeugt, dass der Marxismus die falsche Begrifflichkeit bereitstellt, sich wissenschaftlich allenfalls in kleineren Teilen rechtfertigen lässt und seine Anhänger zu engstirnigen Dogmatikern macht. Die Bewegung hatte sich unterdessen verhärtet, zerlegte sich in immer kleinere und immer dogmatischere und militantere Gruppen und Grüppchen, darunter insbesondere die sogenannten K-Gruppen, kommunistische Kaderparteien, die maoistischen Politikmodellen anhingen, Mao-Bibeln verteilten, sich die Haare kurz schnitten und von der proletarischen Revolution in Deutschland träumten. Ihr Idealismus ging einher mit einer rigorosen, ja militanten Einstellung gegenüber anderen, der Diffamierung Andersdenkender und einer mich zutiefst abstoßenden Neigung, historische Gewaltexzesse, wie die Kulturrevolution, zu verherrlichen und von zukünftigen Gewaltexzessen, natürlich im Namen der sozialistischen Revolution, zu schwärmen.

Als die exzessive Gewalt der Hamas am 7. Oktober 2023 den schrecklichen Nahostkrieg im Gazastreifen entfesselte, war dieser Zynismus linker Aktivisten wieder zurück. Sie verloren kaum ein Wort zu dieser offenkundig strategisch geplanten menschenverachtenden Aktion mit Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Erschießungen von mehr als tausend arglosen jüdischen Zivilisten, die in der Grenzregion mit ihren Familien und Kindern lebten, manche äußerten sogar Genugtuung. Als Israel dann ohne Schonung der Zivilbevölkerung im dicht besiedelten Gazastreifen militärisch zurückschlug, um die Hamas zu vernichten, zeigte sich auch auf israelischer Seite eine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung, die einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft unwürdig ist. Die Philosophin, Jüdin und linke Israelin Susan Neiman hat dazu das Wesentliche gesagt: Sie stehe auf der Seite der Menschenrechte und der Gerechtigkeit und werde sich von ihrer universalistischen Sicht auch im Krieg nicht abbringen lassen.[3]